Auf alten Handelsrouten - Mechthild Venjakob - E-Book

Auf alten Handelsrouten E-Book

Mechthild Venjakob

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Beschreibung

Fünftausend Kilometer auf dem Fahrrad und fünftausend Kilometer mit Bussen durch Indien, Pakistan und China: durch die Wüste Thar in Rajasthan, durch den indischen Himalaja nach Badrinath und Rishikesh, über den Karakorum Highway mit dem 4733 Meter hohen Khunjerab-Pass durch Pakistan und China, auf der Südroute um die Taklamakan, der „Wüste ohne Wiederkehr“, entlang der Seidenstraße bis Xian, dem „Tor zur Welt“. Die Autorin beschreibt ein abenteuerliches Reisejahr, das sich in der sengenden Hitze des indischen und pakistanischen Sommers und in der frostigen Winterkälte Nordchinas abspielt. Zahlreiche Farbfotos zeigen einige der Paläste, Tempel und Moscheen in den Ländern, Menschen, grandiose Berge, Gletscher, Seen und einsame Wüstenstriche.

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Die Autorin

Mechthild Venjakob, am 29. April 1943 in Paderborn geboren, war fünfzehn Jahre als Lehrerin im Schuldienst tätig. Zwei Jahre unterrichtete sie an der Deutschen Schule in Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Ende 1980 kündigte sie den Schuldienst und löste ihre Wohnung auf, um sich die nächsten zwanzig Jahre dem Reisen zu widmen. Sie hielt sich überwiegend in asiatischen Ländern auf, aber auch in Australien, Neuseeland, den Vereinigten Staaten, Mittelamerika und Europa. Doch Asien mit seinen alten Kulturen und östlichen Weisheiten erkundete sie am intensivsten. Dort verbrachte sie insgesamt zehn Jahre.

Hilfsarbeiten in Australien, Neuseeland, Alaska, Colorado und England halfen ihr in den ersten zehn Jahren ihres Reiselebens über die Runden. Dann unterrichtete sie Deutsch als Fremdsprache an Instituten in Bremen und Hongkong und 1997 an der Chung-Ang-Universität in Ansong in Südkorea.

Seit 1989 reiste sie mit dem Fahrrad und machte mehrmonatige Radtouren in den USA, Südeuropa und in Asien: Sie radelte durch Indien, Thailand, Laos, Pakistan, Japan und immer wieder trieb es sie durch China. Drei Touren führten über das Qinghai-Tibet-Plateau. Im Jahr 2000 kehrte sie über Land nach Deutschland zurück. In neun Monaten legte sie 12700 Kilometer mit dem Fahrrad zurück und durchquerte dabei die Wüste Gobi in der Mongolei. Ein großartiges „Nomadendasein“ ging zu Ende. Sie ließ sich in ihrem Geburtsort Paderborn nieder, um ihre Reiseberichte zu schreiben und über ihr Leben nachzudenken, das fantastischer war als ein Traum, den manch einer träumt.

Inhalt

Vorwort

Indien

Gastfreundschaft in Gujarat

Chaotische Fahrt von Mumbai nach Bhiwandi

Auf ruhigen Straßen nach Nashik

Auf Irrwegen nach Rajpipla

Über Champaner-Pavagadh nach Rajasthan

Rajasthan – im Land der Rajputen

Udaipur, die Stadt der Seen und Paläste

Über Ranakpur und Ajmer nach Pushkar

Über Shekawati nach Jaipur durch die Wüste Thar

Im indischen Himalaja

Von Delhi ins höchste Gebirge der Welt

Pilgerorte und heilige Stätten auf dem Weg nach Pakistan

Pakistan

Über Lahore nach Islamabad und Taxila

Der Karakorum Highway: von Rawalpindi zum Khunjerab-Pass

Der Karakorum Highway

Durch das „wilde Kohistan“ nach Gilgit

Im Hunza-Tal

In den Gletschertälern der Passu- und Batura-Berge

Aufstieg zum 4733 Meter hohen Khunjerab-Pass

China

Der Karakorum Highway: vom Khunjerab-Pass nach Kashgar

Tashkurgan – am westlichen Ende eines Riesenreichs

Am Muztagh Ata, dem „Vater der Eisberge“, und am Karakul-See

Kashgar, Hauptstadt der Uiguren in Xinjiang

Auf der Südroute um die Taklamakan-Wüste

Durst, Wind und ein lädierter Reifen

Hotan (Khotan, Hetian), die Stadt der Jade

In der tiefsten Wüste

Der lange Weg nach Norden

Auf der Nordroute um die Taklamakan-Wüste

Von Ürümqi über Hami nach Dunhuang

Von Dunhuang über Jiayuguan nach Zhangje

Durch das Qilian-Gebirge nach Xining

Gelbes Land am Gelben Fluss

Von Xining über Lanzhou nach Dingxi

Von Dingxi über Pinglian nach Xi’an

Xi’an, uralte Kaiserstadt und östliches Ende der Seidenstraße

Anhang

Die Routen im Überblick

Dank

Weitere Bücher

Vorwort

Ein ruhiger Tag nach wochenlangem Stress brach an, ein Tag ohne Pflichten und Aufgaben.Wir hatten unsere Arbeitsverhältnisse beendet, unser möbliertes Zimmer aufgelöst, die Kisten im Keller meines Bruders verstaut, unser Reisegepäck zusammengestellt, die Campingausrüstung vervollständigt, das Visum für Indien besorgt und eine Abschiedsfete gefeiert. Einige unserer Freunde waren von auswärts gekommen und ein paar Tage geblieben. Es war der ungünstigste Zeitpunkt für Besuche gewesen, denn unsere Reisevorbereitungen waren in vollem Gang. Tausende Dinge hatten wir erledigt. Jetzt waren die Fahrräder bepackt und mit Rückenwind radelten wir aus Bremen hinaus.

David hatte ich 1987 in Aspen, Colorado, in den USA kennengelernt. Er, gebürtiger Engländer mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, arbeitete gerade als Tellerwäscher in einem kleinen Restaurant und ich putzte die Häuser der Reichen, um mein Reisebudget aufzufrischen. Wir verliebten uns ineinander, arbeiteten den Winter über in Aspen und starteten im Frühjahr eine neunmonatige Fahrradtour durch die USA. Anschließend flogen wir nach Amsterdam. Wir arbeiteten in England und Deutschland und eine zweite gemeinsame Fahrradtour führte uns durch Italien, Sizilien und Griechenland. Nach einer Phase des Geldverdienens stand jetzt die dritte Reise an: Wir wollten durch Indien, Pakistan und China radeln. Besonders der Karakorum Highway, eine Bergstraße, die Pakistan mit China verbindet, erregte unser Interesse. Sie führt über den 4700 Meter hohen Khunjerab-Pass.

Ich hatte bereits viele asiatische Länder in den Achtzigerjahren bereist, Indien, Nepal, Thailand, Südostasien, China, Japan. Damals war ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs gewesen und hatte viele der großen Sehenswürdigkeiten in den jeweiligen Ländern besucht. Eine Fahrradtour würde nun neue Perspektiven eröffnen: Wir würden die in Reiseführern nicht erwähnten Regionen außerhalb der Touristenziele entdecken. Eine Reise ins Ungewisse stand bevor. Für David war Asien Neuland.

Mit der holländischen Fluggesellschaft KLM ging unser Flug von Hamburg über Amsterdam nach Mumbai. Am KLM-Schalter in Hamburg kauften wir zwei große Kartons für die Fahrräder. Wir mussten nur die Lenker und die Pedale umdrehen, damit die Räder hineinpassten. Glücklich schoben wir die Fracht zum Schalter, gaben unser Gepäck ab und mussten für das Übergewicht von je zwanzig Kilogramm nichts zuzahlen.

Straßenleben in Bhiwandi, Gujarat

Indien

Gastfreundschaft in Gujarat

855 Kilometer mit dem Fahrrad

Chaotische Fahrt von Mumbai nach Bhiwandi

Kurz vor Mitternacht landet die Maschine in Mumbai, dem damaligen Bombay. Nachdem wir über zwei Stunden beim Zoll zugebracht haben, baut David in der grauen Ankunftshalle unsere Fahrräder zusammen. Sofort sind wir umringt von neugierigen Indern. Sie finden die Gangschaltungen phänomenal und probieren sie aus, klicken und schalten. Draußen drücken sich einige Leute die Nasen an der Scheibe platt. Die Halle darf nur betreten, wer im Besitz eines Flugscheins ist. Soldaten bewachen die Eingänge.

Wir radeln zur Abflugshalle hinauf und trinken dort unseren ersten Chai, den stark gesüßten indischen Milchtee. Das heiße Getränk wird mit Kardamom gewürzt und in kleinen Gläsern gereicht. In einer Ecke der Halle breiten wir unsere Matten aus und versuchen etwas zu schlafen.

Am Morgen hole ich heißes Wasser aus einem Restaurant. Wir bereiten uns einen starken Nescafé zu, der die Müdigkeit aus den Gliedern vertreiben soll, denn unsere große Radtour von Indien über Pakistan nach China beginnt. Wir befinden uns 27 Kilometer nördlich des Zentrums und wollen möglichst schnell aufs Land. In die Millionenstadt trauen wir uns mit unseren Fahrrädern wegen des Verkehrs nicht hinein.

Die Sonne strahlt. Die Temperatur von 24 Grad Celsius ist angenehm, jetzt, Anfang Februar. Wir verlassen den schützenden Flughafen.

Die Straße ist ruhig – bis zur Kreuzung. Abrupt werden wir in das Verkehrsgetümmel der Hauptstraße gespült: Lkws, Pkws, Taxis, Motorrikschas, Ochsenkarren, Motorroller und Fahrradfahrer lavieren an den vielen Fußgängern vorbei, die an die Seite gedrängt werden. Staub, Abgase und ein Höllenlärm erfüllen die Luft. Am unbefestigten Straßenrand ziehen sich Hütten hin, Verschläge, Häuser und Häuschen. Straßenverkäufer und Stände stehen im Weg. Wer überholen will, hupt oder klingelt. Überholen wollen alle, und so klingelt und hupt jeder am laufenden Band. Der Verkehr flutet reibungslos. Ohne Aggressionen reagieren alle schnell. David fährt forsch voran, ich bin sehr vorsichtig und schiebe manchmal. Immer wieder stauen sich Fahrzeuge und Fußgänger. Dann stehen alle.

Wir biegen auf eine ruhigere Nebenstrecke ab, die in einem Armenviertel endet. Freundlich weist uns ein Mann den Weg zurück. Mittlerweile ist es heiß geworden. Schwitzend erreichen wir endlich die Ausfallstraße nach Nashik und Indore und der Verkehr lässt ein wenig nach.

In Bhiwandi, noch gut eine Fahrstunde entfernt, wollen wir ein Hotel suchen, um uns von dem langen Flug, der kurzen Nacht und der Zeitverschiebung zu erholen. Je näher wir unserem heutigen Ziel kommen, umso dichter wird der Verkehr – alles wie gehabt! Wir drohen, im tosenden Wirrwarr unterzugehen. In Bhiwandi, einem kleinen Ort, finden wir kein besseres Hotel. Wir müssen mit einer Absteige vorliebnehmen und werden gnadenlos und ohne Eingewöhnungsphase in das indische Leben geworfen.

Wir schleppen unser Gepäck durch enge Gänge eine Treppe hoch in ein kleines, finsteres und schmutziges Zimmer mit schmutzigem Bad. Ich gucke in Davids erschöpftes Gesicht und fühle mich nicht besser. Das Wasser ist abgestellt. Wir gehen essen. Im Restaurant neben der Lodge werden wir freundlich bedient. Der Wirt stellt uns unser erstes Curry auf den Tisch, eine mit Chili scharf gewürzte und mit Kreuzkümmel und Kurkuma verfeinerte Bohnenpaste, und einen Teller Fladenbrote, Chapati genannt. Wir zerreißen die Chapati und tunken sie ins Curry. Gabel und Messer gibt es nicht. Inder benutzen die Finger und so bekommt das Essen für uns eine neue Qualität. Wir spüren die Konsistenz des Fladenbrots zwischen den Fingern und die Wärme des Bohnencurrys an den Fingerkuppen. Das Auge isst mit und in Indien isst auch die Hand mit. Wie wir als Kinder den Umgang mit Messer und Gabel erlernen, erlernen die Inder die Kunst, den Reis zu Bällchen zu formen, bevor sie ihn verzehren. In allen Restaurants gibt es ein Waschbecken, wo der Gast sich vor und nach dem Mahl die Hände wäscht.

Zurückgekehrt ins Hotel, gibt es endlich die ersehnte, wohltuende, aber kalte Dusche. Vom Erdgeschoss tönt die Alarmanlage herauf. David hat sie selbst konzipiert, gebaut und am Rahmen angebracht, wie auch die Solarzellen auf seinem Lenker, die Batterien und Akkus aufladen sollen. Wir laufen hinunter. Ein Mann steht vor unseren Rädern und probiert die Gangschaltung aus. Er schaltet hinauf und hinunter. Wir tragen die Räder die Treppe hoch und quetschen sie neben die Betten in den engen Raum, um nicht mehr gestört zu werden. — Heute haben wir viel, viel Staub geschluckt.

In Bhiwandi, einer hässlichen Industriestadt, vermischt sich das Klacken der Webstühle in den vielen Webereien mit dem Verkehrslärm in den staubigen Straßen. Die Männer verrichten Schwerstarbeit. Sie befördern riesige Garnrollen auf zweirädrigen Karren. Einer zieht, der andere schiebt. Es fehlen Gäule, Maultiere, Ochsen oder Wasserbüffel, der Mensch wird selbst zum Zugtier.

„Why did you come to Bhiwandi? Here is nothing.“ Das fragen uns die Inder wiederholt. Stimmt! Hier gibt es nichts! Der Hund ist hier verfroren! Diese unaufgeräumte Stadt bietet keinerlei touristische Attraktionen. Und dennoch, hier erleben wir das indische Leben, wie es sich in allen indischen Städten abspielt. Es ist einmalig auf der Welt! Wir werden nicht müde, immer wieder loszugehen, um uns das Treiben draußen anzugucken. David setzt sich auf die Stufen einer Treppe und kommt aus dem Staunen nicht heraus. Auch mich faszinieren die mit Menschen und Fahrzeugen überbordenden Straßen wie bei meinem Besuch Indiens vor vierzehn Jahren.

Läden reihen sich aneinander, Frucht-, Getränke- und Gemüsestände stehen auf den Erdstreifen, die sich vor den Häusern hinziehen. Obdachlosenverschläge gibt es hier und da, grau, verstaubt, und armselig. Die Fassaden der Häuser bröckeln. Schwammige, grün-dunkle Fetzen blättern ab. Kanalisationsrohre werden gerade gelegt. Die aufgerissenen Seitenstreifen und die Erd- und Steinhaufen daneben vergrößern das Durcheinander. Unrat füllt die Ecken, Papier, Pappe, Gemüsereste, Glas- und Tonscherben, Plastikbecher, Plastiktüten, Kohlestückchen. Ziegen, Kühe und Hunde schnüffeln in den Abfällen. Die heiligen Kühe fressen das Papier, um ihren Pansen zu füllen. Es riecht muffig und faulig. Ein Gewirr von Stromleitungen überspannt die Straßen. Unordnung allerorten!

Viele Muslime wohnen in Bhiwandi. Die grün-weiße Moschee gleißt in der Sonne. Schwarz gekleidete Frauen unter schwarzen Kopftüchern gehen neben den in farbenprächtige Saris gekleidete Hindi-Frauen.

Ich kaufe mir einen leichten Baumwollstoff und lasse mir eine Pumphose nähen, die in der Hitze angenehm zu tragen und zum Fahrradfahren geeignet ist. Den Schneider finde ich in einer Seitenstraße. Auf seiner altertümlichen Tretmaschine fertigt er die Hose am selben Tag an. Am späten Nachmittag hole ich sie ab. David hat seine Wäsche in einer Wäscherei abgegeben und glaubt allen Ernstes, dass die Waschfrau sie mit heißem Wasser wäscht. Nach ein paar Tagen packen wir und verlassen das Hotel Wir radeln zur „Power Laundry“, um die Wäsche abzuholen, bevor wir zur Stadt hinausfahren. Doch der Mann rückt sie nicht heraus, denn heute, am Freitag, ist für die Muslime ein Feiertag. Heute arbeiten sie nicht, sondern beten in der Moschee. Wir bitten und flehen – Please! – es nützt nichts. Erst um neunzehn Uhr, dann, wenn es dunkel ist, dürfen wir die Wäsche abholen.

Wir kehren zu unserem Hotel zurück und schleppen alle Sachen wieder hoch in den ersten Stock. Am nächsten Morgen bezahlt David in der Wäscherei 28 Rupien, etwa 80 Cent. Alle Umstehenden lachen freundlich und amüsiert über den für Inder offensichtlich zu hohen Preis. Die Wäsche ist noch ziemlich grau. Mit heißem Wasser dürfte die Waschfrau sie nicht gewaschen haben, noch nicht einmal mit Waschpulver. Vermutlich hat sie sie durch den Fluss gezogen und zum Trocknen ans Ufer gelegt. – Am Samstagmorgen beginnen wir unsere lange Fahrt nach Norden.

Auf dem Land in Gujarat

Auf ruhigen Straßen nach Nashik

Kaum zu glauben, aber in Indien gibt es einsame Straßen und kleine, intakte Dörfer. Auf unserer Nelles-Landkarte mit dem vielversprechenden Maßstab 1:1500000 (1 cm auf der Karte entspricht 15 km in der Wirklichkeit, die Karte mit dem größten Maßstab, die wir in Deutschland auftreiben konnten), finden wir Nebenstraßen und durchfahren Orte, von denen die Welt noch nichts gehört hat, zum Beispiel Vada, Khodala, Javar und Trimbak.

Die Temperaturen steigen von Tag zu Tag. In sengender Hitze mühen wir uns durch eine weit geschwungene Berglandschaft, die uns von Nashik, einer größeren Stadt, trennt. Ausgedörrtes Gras bedeckt die Hänge und webt einen samtbraunen Teppich unter einem lichten, blauen Himmel.

Jedes Dorf besitzt einen Brunnen. Dort treffen sich die Frauen, plaudern und bedienen die Pumpe, um ihre eimergroßen Wasserbehälter aus Metall zu füllen. Auf dem mit einem Stoffring geschützten Kopf tragen sie ihre Last grazilen Schrittes heim. Ich stelle mich an und fülle unsere beiden Wassersäcke, die je zwei Liter fassen. Mit einem Keramikfilter filtern wir das Wasser in Flaschen und kommen so jederzeit in den Genuss von Trinkwasser. Der Bedarf ist groß, ständig sind wir durstig.

Abends schlagen wir unser Zelt fernab von Ortschaften in der Natur auf und bleiben ungestört. Wir kochen auf unserem Benzinkocher. An jeder Tankstelle bekommen wir Brennstoff. Unser Wasservorrat ist so groß, dass wir uns sogar den Salzfilm von der Haut waschen und die Zähne putzen können.

Die Hitze ist gewaltig, sie macht mir zu schaffen. Beide verbrennen wir zusehends. Davids Gesicht und Arme leuchten krebsrot. Bei der Ankunft in Nashik habe ich zum ersten Mal im Leben einen Sonnenbrand auf den Handrücken. Am nächsten Tag kaufe ich mir eine langärmelige, weite Bluse, in die ich mich von nun an hülle.

In der Santosh-Lodge kurz vor Nashik wohnen wir in einem großen, sauberen Zimmer mit Bad für etwa 4,50 Euro. Im dazugehörenden Restaurant werden wir freundlich bedient. Wir treffen einen jungen indischen Chemiker, der geschäftlich unterwegs ist, und unterhalten uns an jedem der drei Abende, die wir dort sind, mit ihm. Er erzählt uns viel von Indien, von sehenswerten Regionen und Städten, von Tempeln und Palästen, von seinem Studium, vom Bildungssystem und von der Politik. Nashik liegt am Godavari, einem heiligen Fluss.

Nashik am Godavari, Gujarat

Alle zwölf Jahre findet das Kumbh-Mela-Fest statt, das größte Fest der Hindus. Millionen von Pilgern aus ganz Indien treffen sich zu rituellen Waschungen an diesem Ort, auf den einst ein Nektartropfen der Unsterblichkeit fiel. Der Legende nach quirlten Götter und Dämonen am Anfang der Welt den Milchozean auf, um den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen. Sie füllten ihn in einen Krug. Im Streit um die Kostbarkeit verschütteten sie vier Tropfen, die auf Allahabad, Haridwar, Ujjain und Nashik fielen. Seit Jahrhunderten feiern die Hindus dieses „Fest des Kruges“ in den vier Städten.

Wir fahren mit den Rädern ins Zentrum. Am heiligen Fluss reihen sich große und kleine Tempel und Schreine oberhalb der Ghats, den Steinstufen, die sich am Fluss entlangziehen. Frauen waschen ihre Wäsche. Menschen baden. In den Gassen drängen sich die Leute an den Marktständen vorbei. Alte, verwitterte Häuser stehen oberhalb des Zentrums. In den breiten Straßen spenden Regenbäume zu beiden Seiten Schatten.

Nicht weit von unserem Hotel ragt ein Berg aus der Ebene empor. Wir steigen zu ihm hinauf und besuchen 2000 Jahre alte buddhistische Höhlen, die die Menschen in grauer Vorzeit in die Felsen schlugen. Wir sind allein und genießen die Ruhe und den weiten Blick über die Ebene. Wir akklimatisieren uns langsam und sind nicht mehr so erschöpft wie zu Beginn unserer Reise.

Auf Irrwegen nach Rajpipla

Auf dem Weg nach Norden durchfahren wir eine Hochebene, aus der pyramiden- und kegelförmige Erhebungen und Tafelberge aufragen. Die Landschaft erinnert mich an das Monument Valley in den USA. In den Dörfern stehen Steinhäuschen. Die Frauen tragen den traditionellen Sari, die Männer oft weiße, weite Hosen, über denen locker ein weißes Hemd hängt. Auf den Häuptern über bärtigen Gesichtern sitzen die schiffchenförmigen Nehru-Kappen. Zum Plausch hocken die Männer sich ins Restaurant oder auf den Gehsteig. Auf dem Land geht es geruhsam zu. Die bittere Armut, die in den Slums der Großstädte, in Straßen und unter Brücken herrscht, ist hier nicht sichtbar. Die Dorfbewohner mögen nicht reich sein, sie scheinen aber ihr Auskommen zu haben.

Auf den Straßen ist wenig Verkehr. Dindori, ein Straßendorf, empfängt uns mit vielen bunten Reklameschildern. Wir essen in einem Restaurant und trinken Tee am Stand eines alten Mannes. Zu beiden Seiten der Straße breiten sich Felder aus. Die aus Stein errichteten Bauernhäuser liegen verstreut dazwischen. Am Abend schlagen wir unser Zelt in einem ausgetrockneten Flussbett auf. Die Dorfbewohner entdecken uns, gucken kurz ins Zelt und gehen wieder. Wir blicken über eine goldene Abendlandschaft, der Halbmond steht am Himmel. Als es dunkel wird, leuchten die Sterne auf, das Sternbild des Orion steht fast im Zenit. Wir befinden uns 900 Meter über dem Meeresspiegel.

Unsere Fahrräder erregen immer wieder Interesse. Sobald wir in einem Dorf anhalten, sind wir in Sekundenschnelle umringt von einer Menschenmenge. Der Tachometer und die Gangschaltung wirken wie ein Magnet auf die Männer. Beides müssen sie anfassen, ob sie wollen oder nicht. Den Tachometer können wir gar nicht schnell genug in Sicherheit bringen, sonst sind die Knöpfchen schon gedrückt. Die Hebel der Gangschaltung knacken und krachen, sobald wir wegschauen. Die neugierigen Menschen nerven uns, wenn wir müde sind. Doch niemals fühlen wir uns bedroht wie damals in Tunesien, wenn Jugendliche mit Stöcken in den Händen zur Straße stürmten und nach Zigaretten und Geld fragten. In Indien packt niemand das Gepäck an, sondern nur die Gangschaltung und den Tachometer, unser liebstes Spielzeug.

Wir steigen zum Ferienort Saputara auf. Er liegt gut 800 Meter hoch. Weiß getünchte Häuser stehen hinter trockenen Rasenflächen. Verkaufs- und Teestände reihen sich aneinander. Ein See glänzt blau in der braunen Landschaft, Boote liegen zum Verleih am Ufer und Pferde stehen zum Vermieten bereit.

Eine steile Abfahrt bringt uns hinunter zu einer Kreuzung. Auf den Hinweisschildern stehen die Namen der Orte in verschnörkelten Schriftzeichen, in Devanagari, der Hindi-Schrift. Wohin nun? Kaum jemand spricht Englisch auf dem Land. Weit und breit ist ohnehin kein Mensch zu sehen, den wir fragen könnten. Auf gut Glück fahren wir weiter Richtung Norden und hoffen, die Straße nach Songadh gewählt zu haben.

Teakbäume gruppieren sich zu Wäldchen in weiten Tälern. Am Rande brauner Weiden tauchen Siedlungen auf. Die mit Ziegeln bedeckten Häuschen bestehen aus Mattenwänden, die die Einheimischen mit Lehm verkleistert haben. Wir zelten unter Teakbäumen, an denen große, trockene Blätter hängen. Wo sind wir bloß? Wohin mögen uns die verlassenen Straßen führen? Nach Songadh? Wir sind gespannt.

Noch einen Tag lang radeln wir durch weite Hochtäler, bis die Straße zur Tiefebene abfällt. Wir erreichen Nawapu. Unser Ziel Songadh haben wir um 24 Kilometer verfehlt. An einem Stand kaufen wir in Öl gebackene Gemüsebällchen. Der Verkäufer serviert sie uns auf Zeitungspapier. Eine alte, dürre Bettlerin packt hastig alle Bällchen ein, als wir ihr welche anbieten. Wir kaufen neue.

Wir kämpfen gegen den Wind und erreichen schließlich doch noch Songadh, einen Lkw-Stopp. Wir steuern ihn an, weil er auf unserer Route liegt, die uns nach Norden führen soll. Viele Automechaniker arbeiten hinter Verschlägen in ihren Werkstätten. Die Luft ist voll von Staub. In einem schmutzigen Restaurant essen wir ein hervorragendes Mahl: Omelette, Chapati und ein mit Chili scharf gewürztes Erbsencurry. In einem Laden erstehen wir Nescafé, Milchpulver, Kekse, Reis und Zigaretten. Immer wenn wir stehen bleiben, umringen uns neugierige Menschen. Sie drängen sich mit uns in die Läden, um zu sehen, wie und was die Ausländer einkaufen.

Ukai, ein Straßendorf an einem riesigen Staudamm, liegt auf unserem Weg. Schon wieder können wir die Straßenschilder nicht lesen, studieren die

Dorfleben, Menschenauflauf

Wohin jetzt?

Karte und fahren aufs Geratewohl weiter. Die Asphaltdecke der Straße, die nach Norden führt, ist abgefahren und zerbröckelt. Wir holpern über spitze Steine und durch Schlaglöcher bergauf und bergab. Manchmal schieben wir, um die Speichen zu schonen. Die Straße wendet sich nach Osten. Da wollen wir nicht hin! Auf der Karte existiert die Straße, die wir jetzt entlangradeln, gar nicht. Schließlich erreichen wir, schon ziemlich erschöpft, den nördlichen Teil des Stausees und das Dorf Borda. Saubere Lehmbauten stehen nebeneinander. Als wir angehalten haben, geben wir wieder eine Audienz. Niemand interessiert sich für das Gepäck, nach wie vor sind die Gangschaltung und der Geschwindigkeitsmesser die großen Attraktionen.

In einem Laden kaufen wir Mehl, Eier und Zucker ein, ein Restaurant gibt es leider nicht. Außerhalb des Dorfes lassen wir uns hungrig unter einem Baum nieder. David holt den Benzinkocher heraus und backt Pfannkuchen. Schnell haben uns die Einheimischen entdeckt. Sie umringen uns und schauen uns beim Essen zu. Ein Dutzend Radfahrer begleitet uns, als wir unsere Pause beendet haben. Auf dem Erdweg, auf dem wir uns nun befinden, lässt es sich besser radeln als auf der schlechten Teerstraße. Wir sind froh, nicht in einer Sackgasse zu landen. Schnell erreichen wir das nächste Dorf. Wir füllen alle Behälter mit Wasser und übernachten kurz darauf hinter einer Kaktushecke auf einem abgeernteten Feld. Die ganze Nacht schallt Musik vom Dorf zu uns hinüber, dort feiern die Leute vermutlich eine Hochzeit.

Im Restaurant

Die Belohnung für die Mühsal der vergangenen Tage folgt bald: Eine gute, glatte Asphaltstraße beginnt und wir surren über Sagadh nach Dediapada. Viele Shops und Marktstände säumen die Hauptstraße, die voll mit Menschen ist. Wir trinken Tee, stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und suchen nach einer Tankstelle: Wir brauchen Benzin für den Kocher. In Dediapada gäbe es keine Tankstelle, erfahren wir. Ein Inder drängt sich durch den Menschenauflauf: „Do you need anything?“ Wir erklären ihm, dass wir Benzin benötigen. „No problem! Come!“ Er führt uns in sein Haus und lädt uns ein, über Nacht zu bleiben. Er heiße Krishna Mohan. In jungen Jahren sei er ein begeisterter Radfahrer gewesen, erzählt er. Über Land sei er nach Europa geradelt. Er zeigt uns Zeitungsartikel, die darüber berichten. Dann kramt er Auszeichnungen und Fotos aus einer Schublade, die ihn mit dem indischen Premierminister zeigen. Hockey habe er auch gespielt. Heute hat Krishna Familie, züchtet Beetpflanzen und verkauft die Ableger. Er zeigt uns sein neues Steinhaus, das oben an der Straße entsteht.

Einladung in Dediapada, Gujarat

Wir duschen indisch, wir schöpfen Wasser aus einer Tonne und schütten es uns über den Kopf. Dann sitzen wir im alten Haus in tiefen, selbst gezimmerten Holzsesseln und unterhalten uns mit Krishna und drei Schwägern, die zu Besuch gekommen sind. Manchmal setzt sich Krishnas junge Frau dazu. Am späten Abend serviert die Familie uns eine leckere Mahlzeit: eine Schale Suppe mit Klößen, einen Salat aus Erbsen, Tomaten, Joghurt und Chapati. Alle gucken uns beim Essen zu, dann zieht sich die Familie in die Küche zurück. Wir machen es uns auf zwei Bettgestellen bequem. Die Plagegeister der Nacht sind erwacht, Moskitos. Die sirren und stechen. Nach dem süßen Milchtee zum Frühstück verabschieden wir uns. Krishna und einer seiner Schwäger begleiten uns im Jeep zum Dorf hinaus. Eine gute Straße führt über die Berge nach Rajpipla, unserem nächsten Ziel. Wir kommen schnell voran. An einer Tankstelle an der Straße kaufen wir Benzin.

Rajpipla, ein altes Fürstentum der Rajputen, besteht zum Teil aus alten, villenähnlichen Häusern und gefällt uns sofort. Wir stärken uns im Restaurant, das sich im ersten Stock eines Hauses befindet, und kommen mit einem Inder ins Gespräch, der Englisch spricht. Er heißt Vispi, zeigt uns ein Hotel in der Nähe, spendiert einen Tee und verabredet sich mit uns für den nächsten Abend.

Das Hotel ist neu, sauber und preiswert. In den Gemeinschaftstoiletten gibt es sogar heiße Duschen. Es ist ruhig. Kein Verkehrslärm dringt ins Zimmer. Für den Rest des Tages ruhen wir uns aus, denn die Sonne und die Hitze haben uns stark mitgenommen.