Ein Gentleman in Arles – Mörderische Machenschaften - Anthony Coles - E-Book

Ein Gentleman in Arles – Mörderische Machenschaften E-Book

Anthony Coles

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Peter Smith hat ein bewegtes Leben als Unternehmensberater, Lehrer für Kunstgeschichte und britischer Geheimdienstler hinter sich und beschließt nun, in mittleren Jahren, dem verregneten England den Rücken zu kehren und sich zusammen mit seinem Windhund Arthur im schönen Arles zur Ruhe zu setzen. Schluss mit Trubel und Nebelwetter, sein knurriges Temperament sehnt sich nach Sonne, köstlichem französischem Essen und Ruhe. Doch genau die ist ihm nicht vergönnt: Kaum hat Smith das berühmte römische Amphitheater nach einem Stierkampf verlassen, wird ihm plötzlich ein Schlag auf den Hinterkopf versetzt. Als er wieder zu sich kommt, findet er sich unter einer auffallend gut gekleideten Leiche wieder. Ohne es zu wollen, stolpert er mitten hinein in einen mysteriösen Mordfall, ein Netz aus Intrigen und eine provenzalische Verschwörung ...

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ISBN 978-3-492-99004-2 © Piper Verlag GmbH, München 2018 Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano Covermotiv: Leonid Andronov / Dreamstime Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck   Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

1. Tod und Wiederauferstehung

2. Treten Sie ein, Madame

3. Begegnung und Bekanntschaften

4. Déjeuner und ein Angebot

5. Ermittlungen und gutes Essen

6. Gentry, guter Glaube und Schwimmunterricht

7. Gangster und Großmütter

8. Le Sambuc

9. Großmutter und Puccini

10. Dénouement

Guide

1. Tod und Wiederauferstehung

Es war viel kleiner als in seiner Erinnerung. So war es immer. Wie früher, wenn er den renommierten Lord’s Cricket Ground in London aufgesucht hatte, damals noch hartnäckig bemüht, gesellschaftsfähig zu sein. Auch der war ihm jedes Mal winzig vorgekommen wie ein Dorf-Spielfeld, obwohl auf den Tribünen achtundzwanzigtausend Zuschauer Platz fanden. Allerdings schien das Stadion im Laufe des Spiels heimlich zu wachsen, bis es zum Ende hin in seiner Wahrnehmung enorme Ausmaße angenommen hatte. Mit dem Rugbystadion in Twickenham ging es ihm genauso. Anfangs hatte er das Phänomen auf den stetigen, über den Tag verteilten Alkoholkonsum geschoben. Schließlich erinnerte er sich nicht daran, das Lord’s oder die Spielstätte in Twickenham jemals nüchtern verlassen zu haben. Bei den corridas in der Arena hingegen trank er ausschließlich Wasser, unterlag hier aber dennoch dieser altbekannten Sinnestäuschung.

Von Stierkämpfen hielten Peter Smiths englische Freunde wenig bis nichts – auch jene nicht, die sich je nach Arles bequemt hatten. Aber weil es davon ohnehin nur sehr wenige gab, kümmerte ihn das nicht weiter. Für ihn waren die Stierkämpfe aus der Stadtkultur nicht wegzudenken. Natürlich gab es auch hier Leute – und davon sicherlich nicht wenige –, die diese Spektakel ablehnten oder sogar verabscheuten, aber die meisten liebten sie leidenschaftlich, und der Rest übte sich in Toleranz, die, typisch für provenzalische Verhältnisse, nicht zuletzt auch geschäftliche Gründe hatte. Stierkämpfe lockten Touristen, und Touristen füllten Restaurants, Bodegas und Hotels. Die frenetische Begeisterung von zwanzigtausend offenbar sachkundigen Zuschauern wiederum hatte schon so manchen skeptischen Besucher zum glühenden Fan bekehrt oder ihm zumindest das zähneknirschende Zugeständnis abgerungen, dass es so schlimm/blutig/grausam wie befürchtet dann doch nicht gewesen sei und irgendwie sogar ein bisschen an Ballett erinnere.

Auch jetzt kam Smith die Arena ziemlich klein vor und – es war halb zwei an einem sonnigen Septembertag – sengend heiß. Man konnte die Hitze buchstäblich sehen. Außerdem war der Ort momentan noch fast leer. Abgesehen von den knalligen Plakaten draußen an der Umzäunung, die Touristen davon abhielt, ohne zu zahlen das Gebäude zu betreten, wies nichts darauf hin, dass in drei Wochen die Feria beginnen würde. In der Stadt würde es dann vor Besuchern nur so wimmeln, und die Arena schier bersten vor Lärm, Leidenschaft, Kunst und Tod, wenn in acht Kämpfen an die achtundvierzig Stiere zur Strecke gebracht werden würden. Die okzitanische Sprache würde fast ebenso häufig zu hören sein wie Französisch oder Englisch. Noch aber wirkte alles ziemlich heruntergekommen und zugegebenermaßen regelrecht deprimierend. Die grandiose Fassade mit ihren doppelstöckigen Rundbogenarkaden war vom Innenraum aus nicht zu sehen. Lediglich ein paar Touristen schlenderten ziellos in der Hitze umher. Eine kleine Gruppe von Japanern umringte einen genervten Fremdenführer, der seinen Regenschirm wie ein signum militarum in die Luft hielt.

Selbst die Japaner waren ungewöhnlich leise und lauschten dem immer gleichen Geschwafel. Nein, dachte er, der mit einem Ohr zuhörte, es hatte nie aus drei Geschossen bestanden wie das Kolosseum in Rom; nein, hier wurden nie Christen umgebracht; nein, Gladiatoren waren keine gewöhnlichen, untrainierten Kriminellen, die zur Unterhaltung des gallorömischen Publikums kaltblütig abgeschlachtet wurden; ja, bei den Kämpfen in der Arena werden die Stiere getötet, alles andere wäre eine Beleidigung für das Tier. Nein, die hiesige Arena ist nicht kleiner als die von Nîmes. Letztere ist nur besser in Schuss und sieht größer aus. Die in Arles ist sogar drei Meter länger und sechs Meter breiter, was zwar kaum zu Buche schlägt, aber für die arlesianische Gesellschaft, in der Größe zählt, doch wichtig ist. Dass die Touristen kaum einen Laut von sich gaben, war vielleicht der Hitze geschuldet; vielleicht hatten sie auch bloß Hunger. Wie dem auch sei, er genoss das ungewohnte, wenn auch nur kurzlebige Schweigen einer japanischen Touristengruppe.

Die eigentliche Arena, das mit Sand gefüllte Oval in der Mitte des Bauwerks, in dem die Kämpfe stattfanden, war ungefähr siebzig Meter lang und vierzig breit. Zu klein, wie er fand, für eine in Rage gebrachte und mit spitzen Hörnern bewaffnete Tonne Muskelfleisch im Kampf gegen einen Fetzen violett-gelber Leinwand und der tänzerischen Wendigkeit des Matadors. Begrenzt wurde die Arena von einer terrakottafarbenen Bretterwand, der barrestre, die für einen in Bedrängnis geratenen Stierkämpfer drei enge Fluchtwege offen hielt. Ein schmaler Streifen in der Art eines flachen Grabens trennte die barrestre von den ansteigenden Rängen, die, früher aus Stein, jetzt aus von Metallgestänge unterfangenen Holzsitzen bestanden. Recycling war in Arles schon vor Jahrhunderten praktiziert worden. Aus der Arena hatte man immer wieder Steine herausgebrochen und für den Bau von Stadthäusern verwendet.

Wie immer saß Smith auf seinem Platz in der fünfundzwanzigsten Reihe der secondes, einem Bereich in der Mitte der Westtribüne. Es war sein Lieblingsplatz seit Jahren und in seiner Wahl ein optimaler Kompromiss: Der Ticketpreis war gerade noch bezahlbar, und der Sitz würde nach nur wenigen Stunden praller Mittagssonne im Schatten liegen. Außerdem fanden die Kämpfe meist auf dieser Seite der Arena statt, und die Zuschauer ringsum setzten sich mehrheitlich aus Ortsansässigen und Kennern, aficionados, zusammen. Dieser Teil der Arena war laut, aber auch respektvoll, anspruchsvoll, aber auch begeisterungsfähig.

Jetzt, am frühen Nachmittag, sah hier alles ziemlich schäbig aus. Von den Abermillionen Euros für die Restaurierung des Baudenkmals war für eine Auffrischung der Tribünen nicht viel übrig geblieben, nachdem man sich erst einmal für das Äußere stark gemacht hatte, und zwar mit jenem französisch aggressiven Perfektionsstreben, das in Hollywood bestimmt wertgeschätzt würde, ihn aber abstieß. Das Innere zeigte jedoch immer noch die wunderbar marode Grandezza, die ihn schon vor über fünfzig Jahren für die Stadt eingenommen hatte. Die Arena war die erste Sehenswürdigkeit von Arles gewesen, die er besichtigt hatte – das erste römische Amphitheater überhaupt für ihn –, und sooft er es betrat, erinnerte er sich an seine ersten Eindrücke. Nunmehr aber kam er nicht als Tourist, sondern als Nachbar in die Arena. Er konnte es vom Fenster seines Arbeitszimmers aus sehen, hatte dabei aber immer auch die Gerüste und das Maschinenarsenal der Restauratoren vor Augen. Dankenswerterweise hatten sie die Arbeiten derzeit unterbrochen und waren noch nicht auf »seine« Ostseite vorgedrungen. So Gott wollte, würde ihnen das Geld ausgehen, bevor sie die Arbeit an der Fassade des alten Bauwerks wieder aufnahmen. Umso mehr durfte man sich auf die Feria freuen, denn was diesen Ort eigentlich attraktiv machte, waren seine Besuchermassen. Bauwerke, auch und gerade dann, wenn sie zweitausend Jahre alt sind, werden nicht dadurch lebendig, dass man sie anschaut, sondern durch ihre Nutzung. Passive Betrachtung taugt nur zur Sammlung sinnloser Informationen. Alte Steine aber, die benutzt werden, fangen wieder zu atmen an. Der Stierkampf war nur einer von vielen Gründen, warum er die Feria so sehr liebte.

Etwas überrascht stellte Smith fest, dass er mittlerweile ganz allein war. Die Touristen hatten sich verzogen, vermutlich zu einem späten Mittagessen, und ihre nachmittäglichen Ersatzmannschaften hatten ihres noch nicht beendet. Ihm wurde bewusst, dass er in der Sonne brütete, völlig leer im Kopf war und zufrieden lächelte, ohne zu wissen, warum. Er saß, wie er sich klarmachte, an der womöglich heißesten Stelle von ganz Arles, die für einen hellhäutigen, leicht übergewichtigen Fünfundsechzigjährigen mit schwachem Herzen beileibe kein günstiger Ort war. Der Strohhut von Lock würde ihn auf Dauer nicht schützen. Also stand er auf, ganz langsam, als wollte er die Geister der verflossenen Jahrhunderte nicht stören, ging die Sitzreihe entlang und bog in einen der zahlreichen Gänge ein, die nach draußen führten. Im Schatten war es angenehm dunkel und kühl. Vorsichtig tappte er auf den dünnen Sohlen seiner Segelschuhe durch die verwinkelten Katakomben dem Ausgang entgegen, der auf die Place de la Major mündete, auf deren gegenüberliegender Seite sein Haus stand. Seine Körpertemperatur war wieder auf ein Normalmaß abgeklungen, und er sah sich imstande, nun auch selbst zu Mittag zu essen.

Nur was?, fragte er sich in der Dunkelheit. Das Fischfilet braten, das vom Vorabend übrig geblieben war? Dazu fühlte er sich zu schlaff. Nein, er wollte sich begnügen mit seinem üblichen gros pain, das er früher am Tag bei Madame Henri gekauft hatte, und etwas pâté und Camembert dazu essen. Das würde auch Arthur gefallen, dem großen Windhund, der sich an seinem einsamen Ruhestand beteiligte und nicht zuletzt auch an den Mahlzeiten. Im Kühlschrank stand noch eine Flasche Provence Rosé. Der Wein würde ihn bis mindestens fünf Uhr aller Gedanken über eine sinnvolle Gestaltung des Tages entheben. Siesta zu halten wollte gelernt sein. Nach dem Aufwachen fühlte er sich immer elend, aber ein Nachmittag vor dem Fernseher mit einem per Satellit aus England empfangenen Kricket-Match war selbst bei mangelhafter Übertragung einigermaßen verlockend.

Zufrieden mit sich und seinen Plänen, bog Smith im rechten Winkel in den Gang ab, an dessen Ende er den Ausgang erblickte. Er wollte gerade einen Schritt zulegen, als ein explosionsartiger Schmerz seinen Hinterkopf erfasste. Er sah einen hellen Blitz, bevor ihm, wie man so schön sagt, schwarz vor Augen wurde.

Hätte er sich jemals Gedanken darüber gemacht, wäre er vielleicht darauf verfallen, dass der Himmel weiß und goldfleckig sein mochte, die Hölle dagegen ein dunkles Flammenrot. Jedenfalls hätte er sich nicht träumen lassen, dass sowohl der eine als auch der andere Ort viel eher dem Himmel über der Sydney Harbour Bridge zur Mitternacht der Jahrtausendwende gleichen würde. Mit einem solchen Willkommensgruß hätte er beim besten Willen nicht gerechnet, wenn ihm denn beschieden worden wäre, die Ewigkeit da oder dort zuzubringen. Absolute Finsternis mit einer gelegentlichen Lichtexplosion war zwar unerwartet, aber durchaus nicht ohne Reiz und das ganze Drumherum des Todes sehr viel interessanter als gedacht.

Ebenso unerwartet waren seine Atembeschwerden an diesem neuen Ort. Vielleicht brauchte man nicht mehr zu atmen, wenn man tot war. Das ergab Sinn. Aber unter den Schmerzen der Bestrafung für ein missratenes und erfolgloses Leben hatte er sich dann doch etwas anderes vorgestellt.

Die Dunkelheit lichtete sich ein wenig. Sehr langsam nur, aber immerhin. Genauer: Ihm dämmerte eine Art Bewusstsein, das zwar immer noch dunkel war, sich aber nun nach und nach füllte mit dem, was gemeinhin als sinnliche Wahrnehmung bezeichnet wird. Die Finsternis war nicht aus Teer, sondern aus Schlamm, grau, nicht schwarz. Er spürte etwas, das ihn an die Aufseherin im Internat erinnerte, die den Schülern leere Garnröllchen an die Pyjamajacken genäht hatte, sodass sie daran gehindert wurden, auf dem Rücken zu liegen und zu schnarchen. Deshalb schlief er seitdem immer nackt. Jetzt tat ihm das Kreuz weh. Unter den ausgestreckten Händen spürte er Kieselsteine, und trotz der drückenden Last auf seiner Brust wurde ihm – nicht ohne einen Anflug von Enttäuschung – allmählich klar, dass er in Wirklichkeit nicht tot war, sondern noch lebte.

Scheiße. Das konnte nur bedeuten, dass seine Schmerzen real waren und er immer noch der echten Welt angehörte. Mit einer gezielten und schmerzhaften Willensanstrengung ging er daran, sich gute Gründe für ein Überleben aufzuzählen, die seine Enttäuschung wettmachen würden, doch viel mehr als die Möglichkeit, seine Töchter wiederzusehen, fiel ihm nicht ein. Gin trinken zu können war auch nicht schlecht, aber davon gab es sicher auch im Jenseits genug. Er kam weiter zu Sinnen und erkannte mit einiger Klarheit, dass er tatsächlich noch lebte, an zahlreichen Stellen Schmerzen litt und ein lebloser Körper auf ihm lastete.

Okay, dachte er. Was nun? So konnte er nicht liegen bleiben, außerdem hatte er noch nichts zu Mittag gegessen und Arthur auch nicht.

Zügig kehrte er nun in die Wirklichkeit zurück und kroch unter der drückenden Last hervor, einem Mann, der sich, nachdem er ihn in Augenschein nehmen konnte, als sehr viel schlanker herausstellte, als sein Gewicht hatte vermuten lassen. Smith richtete sich auf wackligen Beinen auf, stützte sich mit der Hand an der Mauer des Gewölbes ab und blickte auf die dunkle Gestalt herab, die, adrett in Hemd und Hose gekleidet, leblos ausgestreckt zu seinen Füßen lag. Er bückte sich, um ihr den Puls zu fühlen, wie er es vor fünfzig Jahren bei den Pfadfindern gelernt hatte (mit drei Fingern und nicht mit dem Daumen, denn der hatte seinen eigenen Puls, erinnerte er sich vage). Kein Zweifel, der Mann war tot. Sein Blick wanderte den Körper entlang bis zu den Schuhen, die immer am klarsten auf Persönlichkeit und Status schließen ließen. Sie waren aus glatt poliertem Leder und hatten jene kleinen Lederquasten, die nur dann nicht affektiert oder prätentiös aussahen, wenn sie von den besten italienischen Schuhmachern gemacht und von sehr reichen Männern getragen wurden.

An dieser Stelle geriet Smiths Genesung wieder ins Stocken. Langsam verlor er den Fokus auf die zurückgewonnene Wirklichkeit, die gleichermaßen enttäuschend und faszinierend war. Sein Vertrauen in die Festigkeit der Mauer, an der er lehnte, schwand. Die Umrisse der Leiche lösten sich auf. Die Welt fing an zu kreisen, und wieder wurde ihm schwarz vor Augen.

Diesmal fand er sich nach dem Aufwachen sofort zurecht. Denn diese Situation kam ihm bekannt vor: Vor Jahren war er in einem Krankenwagen auf dem Weg zum Londoner Barnet General Hospital aufgewacht, wo er sich hektischen Krankenschwestern, gleichgültigen, selbstgefälligen Ärzten und aufdringlichen Pflegern ausgesetzt gesehen hatte. Myokardinfarkt hatte die Diagnose damals gelautet.

Jetzt lag Smith festgeschnallt auf einer schmalen Rolltrage mit verchromten Seitenteilen. Am Steuer des Krankenwagens wiederum saß offenbar jemand, der es eilig hatte. Die Sirenen heulten, und die Welt schaukelte, was diesmal keine Sinnestäuschung war. Er schloss für einen Moment die Augen und brachte die Geräusche, die er hörte, mit einer Filmszene in Verbindung: Inspektor Maigret jagte in seinem Traction Avant über die Rue Saint-Honoré.

Ihm gegenüber saß ein Rettungssanitäter in einem schwarzen Overall und schwarzen Stiefeln, der wie ein Obersturmbannführer der Gestapo aussah und mit einem barmherzigen Engel nicht viel gemein hatte. Offenbar wurde er, das Unfallopfer, nicht in einem zivilen Krankenwagen befördert, sondern in einem der Transporter der sapeurs-pompiers, die alle möglichen Einsätze durchführten, sei es nach einem Verkehrsunfall oder einem Atomangriff.

»Hallo«, krächzte Smith versuchsweise, in der Hoffnung auf eine mitfühlende oder wie auch immer geartete Reaktion. Ohne Erfolg. Der Kerl schaute ihn nicht einmal an, sondern blickte mit finsterer Miene zum Fenster hinaus auf die vorbeifliegende Stadt.

Hmm, dachte Smith. Mit dem viel gerühmten französischen Gesundheitssystem war es wohl doch nicht so weit her. Zeit für eine Bestandsaufnahme: Allem Anschein nach lebte er immer noch. Die Hände taten ihm weh nach dem Sturz auf die Kiesel, und der Kopf schmerzte ihm sowohl an der Stirn als auch in der Schädelbasis. Die Beschwerden im Rest seines Körpers waren kaum weniger heftig. Er fühlte sich an Somalia und an die Torturen erinnert, die er vor wenigen Jahren dort erfahren hatte. Aber dass ihm sein Begleiter, so unfreundlich er auch aussehen mochte, Elektroden am Hodensack befestigen und ihn mit einer dreckigen Bajonettspitze traktieren würde, war zum Glück nicht zu erwarten. Während der Krankenwagen polternd über die schlechten Straßen von Arles raste, ließ er sich durch den Kopf gehen, welche Möglichkeiten ihm in dieser misslichen Lage blieben, und er kam zu dem Schluss, dass er so gut wie keine hatte.

Lärmend bog der Transporter auf den Vorplatz des Centre Hospitalier d’Arles ein. Die Hecktüren wurden geöffnet, und man rollte ihn wort- und schonungslos durch den Eingang zur Notaufnahme.

Das Krankenhaus unterschied sich nur in Kleinigkeiten von anderen Einrichtungen dieser Art, die Smith im Laufe seines Lebens leider mehrfach hatte kennenlernen müssen. Die Lethargie war bedrückend. Und es roch wie überall in solchen Anstalten nach Staub und Desinfektionsmitteln. Nur gut, dass die Vertrautheit der Gerüche, zumindest diesmal, beruhigend auf ihn wirkte.

Eine Wanduhr, auf die sein Blick zufällig fiel, zeigte Viertel nach zwei an. Er hatte den Eindruck, dass seit seinem Kollaps sehr viel mehr Zeit verstrichen war. Die Sanitäter rollten ihn zu einer Stelle, die am weitesten von der angenehm kühlen Klimaanlage entfernt war, und machten sich davon, als wollten sie schnellstens ihr versäumtes Mittagessen nachholen. Er blieb allein zurück – allein mit dem leisen Ticken der Uhr, dem sachten Surren der Klimaanlage und dem Schlagbohrer in seinem Kopf. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen, woran ihn jedoch die Gurte hinderten.

Smith versuchte, die Augen zu schließen, doch weil die Schmerzen zu aufsässig wurden, öffnete er sie wieder. So trostlos seine unmittelbare Umgebung auch war, lenkte ihn das, was er sah, doch immerhin ein wenig ab von dem, was er fühlte. Die Bodenfliesen waren rot, Wände und Decke weiß gestrichen. Für Licht sorgten grelle Neonröhren und schmale Fenster unter der Decke. An den Wänden reihten sich Tische mit allerlei Notfallzubehör auf: Sauerstoffflaschen und -masken, Gegenständen, mit denen er nichts anzufangen wusste, ein roter Feuerlöscher sowie ein großes Schaubild mit der Darstellung von Wiederbelebungsmaßnahmen, was ihm an diesem Ort überflüssig vorkam. Dass es sich bei einem anderen Gerät um einen Defibrillator handelte, hatte er während seines letzten Krankenhausaufenthalts gelernt. Ihm wurde mulmig, als er sich daran erinnerte.

Seine Bestandsaufnahme endete mit dem Auftritt einer Krankenschwester und eines Arztes, der ihr Sohn hätte sein können.

»Ah, Monsieur Smith«, lächelte er mit der Aufrichtigkeit eines Mannes, dem völlig egal war, welche Reaktion seine Begrüßung hervorrufen mochte. »Ich bin Dr Dumont. Wie fühlen Sie sich?«

Wie war es möglich, dass alle Ärzte derart dumme Fragen stellten?, wunderte Smith sich im Stillen.

Während die Krankenschwester die Gurte losschnallte, griff Dumont, der mit einer Antwort auf seine Frage offenbar gar nicht rechnete, nach Smiths Handgelenk, um seinen Puls zu fühlen, ohne dabei allerdings auf die Uhr zu schauen.

»Wie ich sehe, haben Sie eine hässliche Kopfnuss abbekommen.«

Mein Gott, es wurde ja noch schlimmer! Smith lag es auf der Zunge, den Arzt zu fragen, wie er zu seiner Diagnose komme, wenn er sich nicht einmal die Mühe machte, seinen Schädel genauer zu untersuchen, doch weil er sich von einer Antwort nicht wirklich etwas versprach, hielt er den Mund.

»Es scheint, dass Sie gestürzt und eine Weile bewusstlos gewesen sind.«

Erst jetzt blickte der Arzt ihm kurz in die Augen, und Smith glaubte einen flüchtigen Ausdruck von Unbehagen in dem jugendlichen Gesicht wahrzunehmen. Aber vielleicht irrte er sich, denn sofort war das, was er zu sehen meinte, wieder verschwunden.

»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, Monsieur.« Und an die Krankenschwester gewandt: »Säubern Sie bitte die Wunden an Kopf und Händen.« Dr Dumont drehte sich weg, offenbar hatte er seine Untersuchung abgeschlossen. »Er kann nach Hause gehen, aber geben Sie ihm Schmerztabletten für eine Woche mit.«

Sichtlich missmutig machte sich die Schwester an ihre Aufgabe, die ihr, wahrscheinlich schon lange bevor der Arzt das Licht der Welt erblickt hatte, zur lästigen Pflicht geworden war. Dumont, der sich schon einige Schritte entfernt hatte, hielt kurz inne, warf noch einen Blick über die Schulter und riet Smith zu ein paar Tagen Bettruhe. Dann war er verschwunden.

»Er hat wohl viel zu tun, oder, Schwester Thier?«, fragte Smith, der mit einiger Mühe das Namensschild auf ihrem gestärkten Kittel entziffert hatte.

»Ja«, antwortete sie kurz angebunden.

Himmel, dachte er. Gehörte es etwa zum therapeutischen Programm, so unhöflich wie möglich zu sein? Je eher er hier rauskam, desto besser.

Die Behandlung war beendet, die Verbände angelegt, ein paar Pillen, wahrscheinlich Schmerzmittel, mit einem Schluck lauwarmen Wassers aus einem kleinen transparenten Plastikbecher heruntergespült. Das war’s dann wohl.

»Monsieur Smith, Sie werden gleich nach Hause gefahren, mit einem Vorrat an Medikamenten. Schlimmstenfalls haben Sie noch ein, zwei Tage Kopfschmerzen.«

Die Nachlässigkeit, die in dieser Klinik zu herrschen schien, ging Smith langsam auf die Nerven. Er hatte erwartet, dass man wenigstens seinen Schädel röntgen und seine medizinische Vorgeschichte studieren würde. Aber dafür schien sich hier niemand zu interessieren. Er war drauf und dran, die Schwester gegen sich aufzubringen, indem er ihr entsprechende Vorschläge machte, als sich ein Mann in einem schick geschnittenen dunklen Anzug näherte. Er steuerte mit selbstbewusster Miene und schnellen Schritten auf Smiths Rolltrage zu, gab der Schwester mit einem deutlichen Blick zu verstehen, dass sie sich entfernen möge, rückte sich einen Stuhl zurecht und nahm darauf Platz, wobei er die Beine übereinanderschlug, was recht elegant aussah. Sorgfältig achtete er darauf, seine makellos gebügelten Hosenbeine nicht zu zerknittern.

»Monsieur Smith«, sagte er in einem kultivierten Tonfall. »Ich hoffe, es geht Ihnen wieder halbwegs gut.« Es gelang ihm, besorgt und gleichzeitig desinteressiert zu klingen. Anders als der Rettungssanitäter, der Arzt und die Krankenschwester blickte er ihm fest und gerade in die Augen.

Smith sagte nichts. Trotz seines leicht benebelten Zustands glaubte er zu spüren, dass es ratsam war, abzuwarten und nicht selbst in die Offensive zu gehen.

»Ich bin Hauptkommissar Blanchard, Monsieur Smith. Sie hatten einen Schock, nicht wahr? Hoffentlich keinen allzu schweren.«

»Guten Tag, Hauptkommissar Blanchard«, erwiderte er betont sang-froid, wie es sich für einen Engländer gehörte. Auch er konnte kurz angebunden sein.

Blanchard zeigte ein Lächeln, das unter anderen, eher angelsächsischen Umständen als weltmännisch hätte interpretiert werden können. Allerdings schlug er jetzt einen etwas schärferen Tonfall an.

»Sie waren heute, wenn ich richtig informiert bin, in einen Unfall verwickelt. In der Arena. Sie sind gestürzt und auf den Kopf gefallen.«

In Smiths Ohren klangen die Worte des Hauptkommissars nicht wie eine Frage, die einer Antwort bedurfte. Entsprechend verhielt er sich.

»Man hat Sie bewusstlos auf einer Leiche liegend gefunden, wenn ich nicht irre«, fuhr Blanchard fort, wieder im Modus einer Feststellung.

Jeder andere Polizist, dachte Smith, hätte wohl jetzt ein Notizbuch oder dergleichen konsultiert, doch so etwas hatte Blanchard offenbar nicht nötig.

»Sie sind über den Toten gestolpert, Monsieur Smith, mit dem Kopf aufgeschlagen und ohnmächtig geworden. Man fand Sie auf der Leiche von Monsieur Robert DuGresson, einem prominenten Bürger unserer Stadt.«

»Monsieur DuGresson?«

»Ja, ein Geschäftsmann, der dem ersten Anschein nach einer Herzattacke erlegen ist, als er sich während seiner Mittagspause die Beine vertreten und den Schatten der Arena aufgesucht hat. Monsieur DuGresson war ein bedeutendes Mitglied der hiesigen Unternehmerschaft, und wir sind alle désolés über sein plötzliches Ableben.«

Smith realisierte, dass er gar nicht vernommen wurde. Der Polizist hatte seine Geschichte bereits rund und zeigte keinerlei Interesse, daran etwas zu verändern. Er wollte sie nicht einmal bestätigt wissen. Sein Bericht erschien Smith jedoch einigermaßen ungenau und lückenhaft, wenn er ihn mit seinen eigenen, zugegebenermaßen verschwommenen Erinnerungen verglich.

Fast im Plauderton fuhr Blanchard fort: »Ein Tourist hat Sie gefunden und sofort einen Notruf abgesetzt.« Er wiederholte sich: »Sie lagen bewusstlos auf Monsieur DuGresson. Es scheint, dass Sie gestolpert und mit dem Kopf gegen die Mauer geprallt sind. Ein Unglück.«

»Vor allem für Monsieur DuGresson, nehme ich an«, bemerkte Smith, der nicht gewillt war, dem elegant gekleideten Hauptkommissar vollständig die Regie zu überlassen.

Dessen Lächeln gefror für einen Moment. »Gewiss, Monsieur«, murmelte er. »Das versteht sich wohl von selbst.«

»Vielleicht verraten Sie mir, wie der Tourist, der mich gerettet hat, zu erreichen ist. Ich würde mich gern bei ihm bedanken.«

Blanchard erlaubte sich einen etwas betrübten Gesichtsausdruck. »Leider reist er schon heute Nachmittag ab, Monsieur«, entgegnete er mit einem typisch gallischen Achselzucken.

Da er in diesem Gespräch jetzt halbwegs Fuß gefasst hatte, setzte Smith nach: »Möchten Sie vielleicht eine Aussage von mir zu Protokoll nehmen?«

Zum ersten Mal zeigte Blanchard Anzeichen von Verärgerung. »Wozu denn, Monsieur Smith? Sie waren bewusstlos. Wie könnten Sie sich da an irgendetwas erinnern? Ich werde den Fahrdienst bitten, Sie nach Hause zu bringen, und hoffe, dass Sie den unschönen Zwischenfall schnell vergessen. Auf Wiedersehen, Monsieur Smith.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Blanchard auf, lächelte und streckte unwillkürlich die Hand aus. Als er Smiths Verbände sah, zog er sie aber zurück.

»Verzeihung«, murmelte er befangen und ging. Smith war wieder allein mit der Uhr und der Klimaanlage.

Die Fahrt zurück nach Hause verlief ohne Zwischenfälle. Ein freundlicher Sanitäter in weißer Uniform führte ihn zu einem privaten Krankenwagen, half ihm auf den Beifahrersitz und fuhr ihn langsam nach Hause. Der Mann bestand darauf, ihm die vier Stufen zum Eingang hinaufzuhelfen, ließ sich den Schlüssel geben und öffnete die Tür. Arthur war natürlich außer sich vor Freude, ihn wiederzusehen. Er stand für einen Augenblick sogar von seinem geliebten Sofa auf.

Der Sanitäter stellte eine kleine Papiertüte auf der Kommode im Flur ab, die, wie Smith vermutete, seine neuen Medikamente enthielt.

»Sie sollten sich gleich ins Bett legen und ein paar Stunden ausruhen, Monsieur.«

Kurzerhand griff ihm der Sanitäter unter den Ellbogen und führte ihn hinauf ins Schlafzimmer. Smith ließ es sich gern gefallen, zumal er immer noch wacklig auf den Beinen war. Das Angebot des jungen Mannes, ihn auszuziehen und ins Bett zu bringen, lehnte er jedoch entschieden ab. Das schaffte er wohl noch selbst.

»Finden Sie allein hinaus?«, fragte er seinen Helfer und bedankte sich für dessen Arbeit.

Der junge Mann verabschiedete sich und zog sich, mit der geölten Beflissenheit eines Oberkellners nach dem Blick auf die Platin-Kreditkarte eines Gastes, zurück. Smith wiederum legte sich hin und ließ die vergangenen zwei oder drei Stunden Revue passieren.

Sicher, die Geschichte des Kommissars klang durchaus plausibel. Man hatte ihn bewusstlos und mit angeschlagenem Kopf auf einer Leiche aufgefunden – aber sein Kopf hatte vorn und hinten Verletzungen. Außerdem erinnerte er sich vage daran, unter der Leiche gelegen zu haben und nicht darauf. Zugegeben, diese Erinnerung war mehr als schemenhaft, zumal das Schlafzimmer langsam zu kreisen anfing. Während er allmählich in den Schlaf hinüberdämmerte, kamen ihm drei Fragen in den Sinn: Wenn eine der Pillen, die man ihm im Krankenhaus gegeben hatte, ein Schmerzmittel war, was war dann die andere? Warum stand auf dem Schildchen an Dr Dumonts weißem Kittel der Name Dr Alfonse Prieur? Und warum hatte er die Eingangstür unten nicht ins Schloss fallen hören?

Die beiden ritten mit einer Lässigkeit, die darauf schließen ließ, dass sie im Sattel zur Welt gekommen waren und sich in ihrem ganzen bisherigen Leben nicht weit davon entfernt hatten. Die beiden Camargue-Pferde gingen in der Nachmittagshitze Seite an Seite. Ihre unbeschlagenen Hufe verursachten auf dem Schotterpfad kaum ein Geräusch. Sie waren von einem schmutzigen Grau wie alle Vertreter ihrer Rasse, aber sehr viel zierlicher als diejenigen, die man sonst bei der Arbeit mit Viehherden oder bei touristischen Veranstaltungen sehen konnte. In vieler Hinsicht mangelt es diesen Pferden, die nur unwesentlich höher als große Ponys sind, an der Anmut und Eleganz von Vollblütern. Diese beiden aber gehörten vielleicht zu den edelsten Exemplaren ihrer zähen und verlässlichen Art, die sich rühmen kann, eine der ältesten überhaupt zu sein. Sie waren gut ausgebildet, bei bester Gesundheit und ohne jene Blessuren, wie sie häufig auf den Flanken arbeitender Camargue-Pferde zu finden sind.

Die Frau saß aufrecht. Die Hände entspannt im Schoß, lenkte sie ihr Pferd lediglich mit leichten, kaum bewussten Gewichtsverlagerungen und fein dosiertem Schenkeldruck. So auch der Reiter neben ihr, ein Herr älteren Jahrgangs. Beide trugen Hirtenstiefel, Jeans, weiße Hemden und schwarze Filzhüte. Die Ähnlichkeit war unbeabsichtigt, aber naheliegend für Vater und Tochter. Sie unterhielten sich in ernstem Ton.

»Na ja, dann ist das eben so«, seufzte der Alte. So aufrecht er auch im Sattel saß, waren seine Schultern doch zusammengesunken.

»Ja«, antwortete die Frau leise. Ihr schönes Gesicht war ernst, aber Tränen zeigten sich darauf nicht.

»Was spricht man darüber?«

»Die Polizei sagt, es war Selbstmord.«

»Mein Gott. Lächerlich.«

»Ja. Ich schätze, selbst sie finden die Geschichte peinlich. Sie waren ziemlich in Panik.«

»Werden wir damit in Zusammenhang gebracht?« Der alte Mann warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Das weiß ich nicht. Suzanne glaubt nicht.«

Er schüttelte missbilligend den Kopf.

»Papa, du musst es endlich vergessen oder es zumindest ignorieren. Suzanne ist zwanzig Jahre nach Kriegsende zur Welt gekommen. Du kannst sie nicht für die Taten deines Bruders und deiner Cousins verantwortlich machen.«

»Das tue ich auch nicht. So ein Unsinn. Aber sie hatten damals böses Blut in sich und haben es immer noch.«

Die Frau seufzte. Es war eine alte Wunde, die sie in stillschweigendem Einverständnis sonst nie zum Thema machten. Der Teil der Familie, von dem die Rede war, hatte sich schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg entfremdet – jener Katastrophe, die alle, die unter der Besatzung lebten, mit einer folgenschweren Entscheidung konfrontierte. Ihr Vater und ihr Großvater hatten sich der Résistance angeschlossen, die anderen hatten kollaboriert. Sie betrachtete den Mann an ihrer Seite voller Zärtlichkeit und Mitleid. Einen Tag nach der Befreiung von Arles im Juni 1944 – er war noch ein Teenager gewesen – hatte er beschlossen, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Er hatte die Kollaborateure aufgesucht und erschossen.

»Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist, Papa, aber wir müssen wissen, was passiert ist, und Suzanne weiß mehr als die meisten.«

»Und Claude?«

Jetzt war es an der Frau, einen verächtlichen Tonfall anzuschlagen. »Er weiß das, was Suzanne ihm erzählt.«

»Was hat es mit diesem Engländer auf sich?«

»Tja, das ist etwas merkwürdig. Ich nehme an, er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Und wird er es dabei belassen?«

»Er könnte zum Problem werden. Aber das schließt Claude aus, auch wenn er den Eindruck hat, dass hinter dem Mann – ich glaube, sein Name ist Smith – mehr steckt, als es den Anschein hat.«

»Was weiß er über ihn?«

»Er ist zweifach geschieden, hat zwei erwachsene Töchter. Vor ein paar Jahren hat er sich ein Haus in Arles gekauft und sich darin zur Ruhe gesetzt. Er lebt dort allein mit seinem Hund. Zahlt alle Rechnungen pünktlich. Ist Mitglied der Stadtbücherei und schreibt offenbar selbst ein Buch. Über römische Sarkophage. Er hat noch einige wenige Verwandte in England und lebt sehr zurückgezogen. Seinem Hausarzt liegen keine britischen Krankenakten von ihm vor, und Smith hat sich bisher auch keine Kopien für ihn kommen lassen. Den flics ist er bislang angeblich nicht aufgefallen. Suzanne quetscht sie gerade aus. Aber es liegt einfach nichts gegen ihn vor, wie es aussieht.«

»Hat man ihn denn überhaupt mal genauer unter die Lupe genommen?«

»Tja, an der Stelle tun sich einige Fragen auf. Suzanne sagt, sie habe höflich bei Interpol angeklopft und darum gebeten, bei den englischen Behörden Erkundigungen über sein Vorleben einzuholen. Aber dieser Smith scheint dort wie vom Bildschirm verschwunden zu sein. Suzanne ist mit ihren Nachfragen buchstäblich auf eine Mauer gestoßen. Nun ja, das kennt man ja, dass die Engländer kaum mit Informationen rausrücken und die Daten ihrer Bürger schützen, wenn sie denn überhaupt welche erheben. Aber dass sich über diesen Smith gar nichts erfahren lässt, ist selbst nach britischen Standards ungewöhnlich. Suzanne hat den Eindruck, dass seine Akten unter Verschluss liegen. Bekannt ist nur, dass er nicht viel Geld hat, aber trotzdem schuldenfrei ist.«

»Wir wissen also so gut wie nichts über ihn.«

»Richtig.«

»Sonst noch was?«

»Nein.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Ich fürchte, wir müssen uns damit abfinden, Papa.«

»Wie wär’s, mein Liebling, wenn du ihm einen Besuch abstattest?«

»Ich?« Sie klang erschrocken.

Er schaute seiner Tochter ins Gesicht. »Warum nicht? Du bist schließlich die trauernde Witwe, und er hat deinen verblichenen Gatten aufgefunden.«

Die elegante Frau schnaubte so laut, dass beide Pferde die Ohren nach hinten drehten.

»Hab dich nicht so, mein Schatz. Du, eine wunderschöne Frau. Er, der einsame geschiedene Mann. Wenn du ihm nicht auf die Schliche kommst, dann niemand. Wir müssen wissen, ob er uns gefährlich werden kann.«

Sie seufzte. »Na schön. Ich werde ihn anrufen.«

»Nein. Es ist besser, du überfällst ihn an seiner Haustür. Ein englischer Gentleman ist ein höfliches Wesen. Er wird dich hereinbitten. Wenn du ihn anrufst, gibst du ihm die Möglichkeit, dich abzuwimmeln oder sich auf deinen Besuch vorzubereiten.«

Sie runzelte die Stirn, erklärte sich aber mit einem Kopfnicken einverstanden.

2. Treten Sie ein, Madame

Smith erwachte mit einem nassen Ohr. Schuld daran war Arthurs Schnauze. Der Windhund hatte über den langen Schlaf seines Herrn nicht nur die Geduld verloren, sondern auch die Angst vor den rutschigen Stufen der Treppe, und so war er hinauf ins Schlafzimmer gekommen. Er wollte endlich sein Mittagessen, Abendessen und wohlverdienten Ausgang. Als ein Hund, der nur im äußersten Notfall bellte, dann etwa, wenn sich Katzen in den Garten wagten, hatte er entschieden, dass eine nasse Schnauze am Ohr seines Herrchens das Mittel der Wahl sein würde, um ans Ziel zu gelangen.

Die Schmerzen waren zurückgegangen, aber Smith fühlte sich noch matt. Nachdem er nach unten gegangen war und den Hund gefüttert hatte, der sich über das Dosenfutter etwas enttäuscht zeigte, beschloss er deshalb, auf seinen üblichen Gang um die Häuser zu verzichten. Er öffnete stattdessen die Türen zu dem kleinen Garten und ließ Arthur dort sein Geschäft verrichten. Dann ging er hinaus, setzte sich mit einem Glas gekühltem Mineralwasser behutsam in seinen Gartenstuhl im Schatten der Weinranken, die zusammen mit einem Jasminstrauch ein Blätterdach über der Terrasse bildeten, und dachte über die jüngsten Ereignisse nach. Arthur, der ein wenig verwirrt über die nicht eingehaltene Routine war, legte sich zu Smiths Füßen, ein Auge halb geöffnet auf der Hut vor weiteren besorgniserregenden Anomalien.

Auch wenn Smith den Umstand berücksichtigte, dass er während der vergangenen Stunden nicht ganz bei sich gewesen war, gab es ihm dennoch zu denken, dass sich seine Version des Geschehenen und die Ausführungen Hauptkommissar Blanchards in nicht unwesentlichen Punkten voneinander unterschieden. Ja, er hatte in der Tat das Bewusstsein verloren, allerdings aufgrund eines Schlages, der ihn am Hinterkopf getroffen hatte, und nicht weil er über den Toten am Boden gestolpert war. Die schmerzende Beule, die sich mit den Fingern unfehlbar ertasten ließ, war ein unfehlbarer Beweis dafür. Auch seine Erinnerung daran, unter der Leiche gefangen gewesen zu sein, stand im krassen Widerspruch zur Version des Polizisten. Warum hatte Blanchard ihm keine Fragen gestellt? Auch der behandelnde Arzt hatte kaum Interesse an seinem Gesundheitszustand gezeigt. Dass auf dessen Schild am Kittel ein anderer Name gestanden hatte, mochte Zufall gewesen sein, eine Verwechslung vielleicht, schließlich glich dort ein weißer Kittel dem anderen. Stutzig machte ihn im Nachhinein allerdings, dass sich der so elegant und teuer gekleidete Polizist nicht ausgewiesen hatte. Er dachte an den samariterhaften Touristen, der den Unfall gemeldet hatte, aber dann verschwunden war. An den unkommunikativen sapeur-pompier und den wortlosen Aufbruch des Pflegers, der ihn nach Hause gebracht hatte. Und was waren das überhaupt für Pillen, die man ihm im Krankenhaus gegeben hatte?

»Himmel«, sagte er zu Arthur. »Leide ich jetzt unter Verfolgungswahn?«

Der Hund hatte sich offenbar mit dem veränderten Tagesablauf arrangiert und schloss zum Zeichen seines Einverständnisses nun auch das andere Auge.

Nach einer nochmaligen Rekapitulation des Unfallhergangs und seiner Folgen blieb Smith nur wenig zu tun. Vielleicht musste er sich einfach damit abfinden, dass merkwürdige Dinge hin und wieder einmal geschahen, gerade in Arles. Er ahnte zwar, dass hier etwas im Argen lag, hatte aber auch das unabweisbare Gefühl, dass er sich für die Hintergründe nicht zu interessieren hatte und erst recht nicht versuchen sollte, eigene Ermittlungen aufzunehmen. Die Polizei war zufrieden – warum sollte er da die Ruhe seines Lebensabends als pensionierter englischer Exzentriker aufs Spiel setzen und in einer Sache, die ihn nichts anging und von der er sich keinen Vorteil versprach, Nachforschungen anstrengen? Er hatte in seinem Berufsleben immer versucht, »das Richtige« zu tun, und sich dabei mehr als einmal einen Tritt in den Hintern eingehandelt. Die Unfähigkeit, auf Durchzug zu schalten und sich aus dem Staub zu machen, war ihm immer eine Last gewesen. Umso mehr wünschte er sich, den in seinem pochenden Schädel hartnäckig festgehakten Wunsch zu unterdrücken, eine Erklärung für das zu finden, was ihm widerfahren war. Hatte er nicht genug zu tun mit seinem Buchprojekt über die römischen Sarkophage im Museum von Arles? Außerdem waren zahllose kleine Aufgaben in Haus und Garten zu erledigen. Arthur konnte von ausgedehnten Spaziergängen nicht genug bekommen, und es galt noch Trinquetaille und Pont-de-Crau zu erkunden, was er sich schon lange vorgenommen hatte, ganz zu schweigen von der Umgebung, die mit dem Auto erreichbar war. Apropos, bei seinem letzten Ausflug am Mittwoch hatte er vor einem Marktstand haltgemacht und ein Beefsteak gekauft, das nicht umkommen durfte, wie sehr ihm auch der Schädel brummte.

Den Anstoß für den Einkauf hatte, wie so häufig, Arthur gegeben. Auf den gemeinsamen ausgedehnten Rundgängen durch das Quartier begegnete ihnen fast täglich ein Nachbar, Monsieur Enscreva, der zur selben Zeit seinen Basset Snoopy ausführte, ein freundliches Tier, das sich mit seinem wurstigen Leib auf extrem kurzen Beinen fortbewegte und sich darum mit nur einer Runde um die Arena begnügte. Arthur brachte Artgenossen wenig Sympathie entgegen und war sozialen Kontakten nicht eben förderlich, weil aber Monsieur Enscreva liebend gern längere Spaziergänge unternahm, hatten er und Smith es sich zur Gewohnheit werden lassen, mit Arthur einmal in der Woche zum Wandern in die Alpillen hinauszufahren, ein Mittelgebirge gut fünfzehn Kilometer östlich von Arles. Es war während eines dieser Ausflüge, dass Monsieur Enscreva einen guten Metzger auf dem Markt empfohlen hatte. Wie kommt es eigentlich, dachte Smith einmal in einer seiner vielen Mußestunden, dass offenbar jeder einen »guten« Metzger kannte? Schlechte Metzger kamen nie zur Sprache, aber alle wussten einen »guten kleinen Metzger/Fischhändler/Änderungsschneider/Schreiner« zu empfehlen, und sie taten es, als offenbarten sie ein persönliches Geheimnis. Logischerweise musste jeder Geschäftsmann, der derart geheim zu sein schien, eigentlich in kürzester Zeit pleitegehen. Wirklich seltsam, fand Smith. Dennoch war er der Empfehlung gefolgt und hatte Monsieur Angelole, den angeblich besten Metzger auf dem legendären Straßenmarkt von Arles, besucht.

Smith war kein Experte in Sachen Fleisch – wahrscheinlich weil er einfach keinen guten Metzger kannte –, aber was er in der Auslage gesehen hatte, hatte einen wirklich ausgezeichneten Eindruck gemacht, und so hatte er sich dazu verleiten lassen, ein Stück Rindfleisch zu kaufen, um daraus das köstliche provenzalische Gericht Bœuf en daube zuzubereiten. Natürlich brauchte es für diese regionale Köstlichkeit Bullenfleisch und keines von Kühen. Für Arthur hingegen musste ein ordentlicher Knochen abfallen. Monsieur Angelole hatte ihm versichert, dass der Bulle noch vor wenigen Tagen in seiner manade in der Camargue sorglos umhergetollt sei – sorglos war er auch jetzt noch, aber nicht mehr so agil.

Der Preis für das gute Stück hatte Smith fast die Tränen in die Augen getrieben, aber der »geheime« Marktstand war nicht der richtige Ort, um Beschwerde einzulegen. Hätte er sich beklagt oder nach einem kleineren Stück verlangt, wäre er wahrscheinlich schief angesehen worden und hätte nicht nur alle Engländer in Verruf gebracht, sondern auch seinen Wandergefährten und dessen Frau, die, wenn er richtig verstanden hatte, eine pensionierte Steuerprüferin und persönliche gute Freundin des Metzgers war. Ob Monsieur Angelole sein Entsetzen bei der Nennung des Preises bemerkt hatte oder nicht, stand dahin, jedenfalls war er so nett, die drei großen Knochen für Arthur, den er ausgiebig bewunderte, nicht zu berechnen. Er selbst hielt auf seinem Hof mehrere Rottweiler und kannte sich entsprechend gut mit Hunden aus. Mit den Knochen hatte Arthur seitdem viel Arbeit und Vergnügen.

Smith kramte das Rezept für Bœuf en daube hervor. Es war von Madame Enscreva und in der schnörkeligen Handschrift verfasst, die anscheinend allen Franzosen so oder ähnlich eigen ist. Das Fleisch, so las er, musste mariniert werden. Er holte es aus dem Kühlschrank, worin es seit seinem Einkauf lag, entfernte das teuerste Fett der ganzen Provence, würfelte, was übrig blieb, und rührte eine Marinade aus Olivenöl, Zitronensaft, klein geschnittenem Wurzelgemüse und einem bouquet garni zusammen, das aus seinem eigenen winzigen Kräutergarten stammte. Auch anderer Kleinkram durfte laut Rezept nicht fehlen, darunter einige Wacholderbeeren, deren Funktion ihm schleierhaft war. Wie viele nur mäßig ambitionierte Gelegenheitsköche hatte Smith seit Ewigkeiten ein unangebrochenes Glas Wacholderbeeren unter seinen Vorräten. Er wusste nur, dass damit angeblich Gin aromatisiert wurde, und das sprach, wie er fand, durchaus für eine gewinnbringende Verwendung.

Mit dem Gefühl, etwas geleistet zu haben, stellte Smith das eingelegte Fleisch wieder in den Kühlschrank. Der Rest des Nachmittags gestaltete sich weniger produktiv. Er rückte seinen Stuhl in einen schattigen Winkel des Gartens und las.

Gegen sieben, er hatte sich die ganze Zeit nicht vom Fleck gerührt, wurde er unversehens aus seiner Rückenlage aufgeschreckt, als Georges, sein direkter Nachbar, am Zaun auftauchte und ihn daran erinnerte, dass Freitag war und die Bar geöffnet hatte.

Smith ließ sich in schöner Regelmäßigkeit zu einem Besuch dieser sehr eigentümlichen Bar überreden, die sich in dem Gebäude befand, von dem aus der Lokalmatador der äußersten Rechten seinen Wahlkampf für das Bürgermeisteramt führte. Arles hatte zwar schon seit einiger Zeit einen kommunistischen Bürgermeister, aber davon ließ sich der konservative Kandidat offenbar nicht beirren. Im Gegenteil, er strotzte vor jenem stupiden Selbstbewusstsein, das alle Politiker vor Wahlen auszeichnet. Auch als Smith noch aktiv im Leben gestanden hatte, hatte er sich nicht im Geringsten für Politik interessiert und noch weniger Respekt für diejenigen gehegt, die Politik zu ihrem Beruf gemacht hatten. In seiner Heimat hatte er zwar gelegentlich an Wahlen teilgenommen, aber nie aus Überzeugung und im Grunde mit einem Gefühl der Heuchelei. Er fand es zwecklos und überflüssig, da er immer an Orten mit stabilen konservativen Mehrheiten gelebt hatte, gegen die sein Kreuzchen nichts ausrichten konnte. Wenn er also in die, wie er sie nannte, »Faschistenbodega« ging, so hatte er nicht im Sinn, sich über Politik zu streiten, geschweige denn den adretten jungen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl zu sehen. Es gefiel ihm einfach, sich unter die Gäste zu mischen, die einen soziologisch durchaus interessanten Querschnitt bildeten. Auch Arthur, gefüttert mit Kartoffelchips, kam auf seine Kosten, und der Pastis für einen Euro das Glas war ein Schnäppchen. Er hatte nur wenige Freunde in Arles – oder auch sonst wo –, und die ungezwungene Oberflächlichkeit von Kneipenbekanntschaften erfüllte in vollem Maße sein Bedürfnis nach Gesellschaft ohne Verpflichtungen.

»Danke für den Hinweis, Georges. In einer halben Stunde bin ich da.«

Ohne an die Verbände an Kopf und Händen zu denken, sprang er schnell unter die Dusche, wo sie, vom Wasser aufgeweicht, abfielen und den Abfluss verstopften. Vor die Wahl gestellt, ob er sie erneuern sollte oder nicht, entschied er sich für Letzteres. So sah er wieder halbwegs normal aus, als er mit Arthur an der Leine auf die Bar zusteuerte.

Für gewöhnlich wurde er, wenn er die Bodega betrat, von denen, die ihn kannten, mit höflicher Zurückhaltung begrüßt und von den anderen allenfalls gleichgültig zur Kenntnis genommen. Arthur weckte stets sehr viel mehr Aufmerksamkeit, aber immerhin war Smith inzwischen so gut eingeführt, dass, wenn das obligatorische Händeschütteln erledigt war, ein Pastis am Ende der kurzen Theke auf ihn wartete, wo üblicherweise auch schon Georges und Adrien, ein groß gewachsener, gutmütiger Pferdeschwanzträger und Motorradfahrer, der sein Geld als Schwarzmarkthändler mit Zahnarztutensilien verdiente, Platz genommen hatten. Doch diesmal war es anders. Die Gespräche rissen ab, und alle Köpfe drehten sich um, als Smith durch die Tür trat. Die Hände, die er schüttelte, waren schlaff, manche sogar feucht. Smith musste sogar mit einer Münze auf die Theke klopfen, damit der Barmann ihm einen Pastis einschenkte. Nach und nach wurden die Gespräche unter den ungefähr zwanzig Gästen wieder aufgenommen. Auch an der Bar kehrte langsam wieder Normalität ein. Adrien und Georges redeten über die Tour de France, die vor wenigen Wochen durch die Stadt geführt und zum verständnislosen Staunen aller für eine regelrechte Massenhysterie gesorgt hatte. Smith übte sich in Zurückhaltung, was immer dann von Vorteil war, wenn man ohnehin nichts zu sagen wusste. Es war schließlich Adrien, der in seiner Gutwilligkeit das Wort an ihn richtete.

»Wie man hört, hast du gestern einiges mitgemacht.«

Noch unter dem Eindruck des frostigen Empfangs und nicht willens, gute Miene zu machen, antwortete Smith mit einem knappen »Ach ja?«.

Das darauffolgende Schweigen hing im Raum wie eine Salami, die an ihrem Fleischerhaken träge in der Zugluft pendelt. Die Beklommenheit provozierte ihn. Wäre er ein bisschen herzlicher begrüßt worden, hätte er an die jüngsten Vorfälle kaum gedacht, aber jetzt sah er sich doch erinnert und war nicht bereit, die ihm entgegengebrachte Taktlosigkeit durchgehen zu lassen und seinen Kneipenbekanntschaften aus der Verlegenheit zu helfen.

»Muss schrecklich gewesen sein, den armen Robert so vorzufinden«, lenkte Georges schließlich ein.

»Robert?«

»DuGresson. Der, über den du in der Arena gestolpert bist.«

»Ah, der war das? Ein Freund von dir?« Smith war sich über seine Bosheit im Klaren. Georges, ein Müllwerker im Vorruhestand, der »nebenher« im Baugewerbe arbeitete, verkehrte gewiss nicht in den Kreisen des hoch angesehenen und ehrgeizigen Geschäftsmannes, der DuGresson dem Vernehmen nach gewesen war, und doch schien er, wie offenbar alle anderen, über die gestrigen Geschehnisse informiert zu sein.

»Nicht direkt ein Freund, aber wir hatten ein paar gemeinsame Interessen«, antwortete Georges mit einem Anflug von Wichtigtuerei. Er warf einen Blick in die Runde der anderen Gäste, die heimlich die Ohren spitzten. »Er hat uns unterstützt«, fuhr er fort und spielte damit auf die Wahlkampagne an.

Dass sich ein erfolgreicher Unternehmer für eine erzkonservative Lokalpolitik stark machte, ergab in Smiths Augen durchaus Sinn.

Da alle zu wissen schienen, was vorgefallen war, und darüber reden wollten, nahm er Abstand von seinem zuvor gefassten Entschluss, kein Wort darüber zu verlieren. Dabei half ihm das eine und andere Glas Pastis, das ihm heute ungewöhnlich großzügig eingeschenkt wurde.

»Nun ja, ich bin nicht sicher, ob die Polizei richtigliegt. Meine Erinnerung an den Zwischenfall unterscheidet sich ein bisschen von deren Version.«

In einer Gruppe weiter vorn am Tresen gab jemand den Anschein, nicht zuzuhören, auf und rief: »Was soll das heißen?«

»Ach, nichts Besonderes. Es gibt bloß ein paar Details, die ich anders in Erinnerung habe als die Polizei«, antwortete er lahm und realisierte sofort, dass er der Polizei eine Erinnerung an die Vorfälle in der Arena unterstellte, die sie gar nicht haben konnte. Zeugen des tatsächlichen Geschehens gab es jedenfalls keine.

Der Jemand hakte nach: »Welche Details?« Smith schaute die Reihe der Gesichter entlang, die ihm zugewandt waren, und entdeckte den Fragesteller. Es war ein großer, hässlicher Mann in einem Outfit, das viele Einheimische trugen, das aber nur entfernt an die traditionellen Trachten der Camargue erinnerte: Cowboystiefel, Jeans, ein gemustertes Hemd und eine offene schwarze Weste. Er lächelte nicht.

Smith ging langsam den Tresen entlang und blieb dicht vor ihm stehen. »Wie gesagt, nichts Besonderes. Nur ein bisschen anders.«

Der Mann blinzelte und wich eine Winzigkeit zurück. Sein Ton wurde eine Spur grober. »Könnte ein Fehler sein, die Version der Polizei in Zweifel zu ziehen.«

Smith rückte ein paar Zentimeter vor und setzte ein breites Grinsen auf, das aber auf halbem Weg zu den Augen hängen blieb. »Mir fällt es ausgesprochen schwer, Ratschläge wie die Ihrigen zu beherzigen, Monsieur. Sie wollten mir doch einen Rat erteilen, oder irre ich mich?«

Der Mann trat einen Schritt zurück. Smith beendete den Dialog, indem er sich umdrehte und zu Georges und Adrien zurückkehrte. Sein Verhalten war, wie er sich selbst eingestehen musste, ziemlich rüde und ungeschickt, aber der allgemeine Tenor der heutigen Versammlung passte ihm nicht und reizte ihn zunehmend. Eigentlich hatte er auch keine Lust, sich über die Tour zu unterhalten oder wie sonst durch den Gastraum zu schlendern, um mit anderen ein Gespräch anzufangen. Sogar Arthur schien sich unwohl zu fühlen. Vielleicht spürte er die Spannung, die in der Luft lag, oder er vermisste die gewohnten Kartoffelchips und Schmeicheleien. Kurzum, Smith entschuldigte sich mit dem Hinweis auf seine Kopfschmerzen und verließ die Bar, um mit seinem Hund noch eine Runde um den Block zu gehen. Dass ihm alle Augen zum Ausgang folgten, war ihm mehr als bewusst.

Es war halb neun, als er nach Hause zurückkehrte. Er verzichtete aufs Essen, schaltete den Fernseher ein, fand aber kein Programm, das ihn interessierte, und schenkte sich stattdessen ein Glas Whisky mit viel Soda ein. Mit seiner aktuellen Lektüre, Panofskys Grabplastik, machte er es sich in seinem Sessel im Garten bequem und genoss die letzte Abendsonne. Arthur legte sich neben ihm auf die Terrasse, seufzte und schlief ein.

Ende der Leseprobe