Ein Herz für Kängurus - Chris Barns - E-Book

Ein Herz für Kängurus E-Book

Chris Barns

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Beschreibung

Chris Barns lebt im Outback Australiens und zieht dort Kängurubabys auf, die ihre Familie verloren haben. Viele der Känguru-Mütter sind bei Autounfällen ums Leben gekommen. Die hilflosen kleinen Wesen werden vom »Kangaroo Dundee« liebevoll aufgepäppelt, nachts in Kissenbezüge gekuschelt und morgens gebadet und mit der Flasche gefüttert. In seinem Buch erzählt Chris Barns von seiner Liebe zu diesen verrückten kleinen Wesen und vom Kampf gegen das sinnlose Sterben der Tiere. Eine herzergreifende Geschichte, von einem besonderen Mann und seinem Leben mit Beuteltieren.

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Das Buch

Eine herzergreifende Geschichte aus der australischen Wildnis: Chris Barns zieht im Outback Kängurubabys auf, die alles verloren haben. Viele der Kängurumütter sind bei Autounfällen ums Leben gekommen, mit ihren Babys noch im Beutel. Barns hat sein Leben ganz diesen verrückten kleinen Wesen verschrieben und versucht, von den Kängurumüttern zu lernen, um ihre Babys gut versorgen zu können. Die Joeys, traumatisiert von dem Verlust, werden von ihm liebevoll umsorgt, bis sie groß und stark genug für die Wildnis sind. Jedes Känguru hat seine ganz eigene Geschichte, aber alles beginnt mit Palau, dem allerersten Tier, das Barns rettet und dessen Überleben ganz und gar unwahrscheinlich war …

Der Autor

Chris Barns lebt auf einer Farm in Alice Springs, Australien, wo er sich seit 2005 in einer Aufzuchtstation um gerettete Kängurubabys kümmert. Er ist der Star der BBC-Serie »Kangaroo Dundee«.

www.kangaroosanctuary.com

www.facebook.com/kangaroosanctuary

CHRIS BARNS

Ein Herz fürKängurus

Beutelweise Glück in Australien

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1292-7

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© Chris Barns, 2013Titel der englischen Originalausgabe: Kangaroo Dundee, erschienen 2013 bei Hodder & Stoughton, LondonUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto und Bildteil: © Chris Barns

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Kapitel 1

Manche Leute haben Fernseher, ich habe mein Feuer draußen vor der Hütte. Keine amerikanische Krimiepisode, nur knisternde Flammen, in die ich stundenlang schauen kann. Meine Gedanken verlieren sich darin. Über mir spannt sich eine Kinoleinwand: der Nachthimmel voller Sterne. Wer braucht Pyrotechnik für sündhaft viel Geld, wenn es die Milchstraße umsonst gibt? Ihr Funkeln verschlägt mir den Atem. So auch die Landschaft ringsum. Jetzt, da es dunkel ist, kann ich sie nicht sehen, aber ich fühle sie, schmecke sie, spüre sie unter meinen Stiefeln. Das Outback. Es ist ein Teil von mir. Oder bin ich ein Teil von ihm? Wie dem auch sei, ich weiß, dass ich hierhin gehöre. Dieses Land, diese enorme Weite, die überwältigend wirken kann, hat mir geholfen, zu dem zu werden, der ich bin. Momentan starre ich in die Flammen und denke über mein Leben nach, über die Reise, die mich herführte, zu dieser Zufluchtsstätte, um die ich so sehr gekämpft habe. Ich bin keiner, der das Scheinwerferlicht sucht, finde mich aber trotzdem plötzlich in Wohnzimmern auf der ganzen Welt wieder. Der einzige Grund dafür ist die Ikone Australiens, das Känguru. Roger, Ella, Abi, Monty, mein kleiner Kumpel Ned Kelly, Molly Fleur, Nigel, die arme Daisy und Hunderte mehr.

Angefangen hat alles mit einem tapferen kleinen Joey, einem Kängurujungen. Den Tag, an dem ich es entdeckte, werde ich nie vergessen.

Es war irgendwann im Jahr 2005, vielleicht im August, jedenfalls an einem herrlichen, warmen Tag mit Temperaturen um die dreißig Grad. Ich fuhr einen Bus voller Rucksacktouristen aus aller Welt, ungefähr zwanzig Personen, alle in ihren Zwanzigern. Wir waren auf dem Weg zum Uluru, einem der bekanntesten Wahrzeichen Australiens, und wollten rechtzeitig zum Sonnenuntergang dort ankommen. Dann nämlich bietet sich ein Bild, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Die Farbe des riesigen Felsens – ein heiliger Ort für die Ureinwohner – geht von einem prunkvollen Rot in Gelb- und Orangeschattierungen über, die mit den Blau-, Rosa- und Violetttönen des Himmels zu verschmelzen scheinen. Ein magischer Moment. Viele Touristen kommen nur deswegen ins Outback. Ich begleitete meine Gruppe als Reiseführer auf einem Zwei-Tage-Trip, und obwohl den Teilnehmern nicht zugesichert worden war, dass sie Fotos vom Sonnenuntergang machen können, beeilte ich mich, meinen Leuten eine solche Gelegenheit zu bieten.

Der Tag hatte schon hektisch begonnen. Wir waren früh in Alice Springs aufgebrochen und zum dreihundert Meilen entfernten Kings Canyon gefahren, wo wir eine Wanderung machten und zu Mittag aßen. Wieder im Bus, hatten wir noch zweihundert Meilen bis zum Uluru zurückzulegen.

Mit dem Anhänger voller Gepäck schafften wir nur knapp neunzig Stundenkilometer. Hätte ich aufs Gas gedrückt, wäre mir womöglich der Keilriemen oder sonst was um die Ohren geflogen. Am Ende aber war es kein mechanischer Defekt, der uns an diesem Tag aufhielt, sondern ein Roadkill, ein überfahrenes Tier auf der Straße. Ein in Australien häufiger Anblick.

Ich hielt an, um das Tier von der Straße zu schaffen, und eilte auf das Häufchen Elend zu. Es war ein weibliches Känguru, für das, wie ich sofort sehen konnte, jede Hilfe zu spät kam. Ich checkte auch seinen Beutel. Nichts. Schweren Herzens schleifte ich den Kadaver von der Straße, wischte mir die Hände an meinen Shorts ab und stieg zurück in den Bus.

»Wär doch schön, wenn wir irgendwann am Uluru ankämen«, rief jemand ruppig.

»Yeah, ich beeile mich. Aber das musste gemacht werden«, antwortete ich.

Ich erklärte allen, warum ich angehalten hatte. Lag eine tote Kängurumutter auf der Straße, steckte in ihrem Beutel möglicherweise noch ein lebendiges Baby, und wer wollte, dass es leiden musste? Auf der Fahrbahn stellte das tote Tier außerdem eine Gefahr für andere Tiere dar, zum Beispiel für Keilschwanzadler, die sich gelegentlich auch über Aas hermachten.

Wir fuhren weiter. Ich klappte die Sonnenblende herunter und versuchte, Zeit gutzumachen. Es sah alles danach aus, dass wir vor Einbruch der Dunkelheit am Uluru ankommen würden. Wir hatten noch ungefähr eine Stunde bis dorthin.

Wir erreichten Curtin Springs, ein Rasthaus, an dem ich normalerweise haltmachte, damit meine Fahrgäste etwas einkaufen konnten. Diesmal fuhr ich vorbei und sah wenig später schon von weitem das nächste Verkehrsopfer auf der Straße liegen, ein Känguru, aufgedunsen und offenbar schon länger als einen Tag tot. Zwei Keilschwanzadler hockten auf dem Kadaver. Ich fragte mich, warum sie hier waren und nicht bei dem erst kürzlich getöteten Tier, das sie aus der Höhe, in der sie für gewöhnlich kreisten, hätten erspähen können. Keilschwanzadler bevorzugen frisches Fleisch. Warum faulige Reste fressen, wenn ganz in der Nähe ein Fünf-Sterne-Dinner wartete?

Ich hielt wieder an, griff zum Mikrofon und erklärte, was ich vorhatte. Mehrere Fahrgäste verdrehten die Augen, einer raufte sich die Haare und stöhnte frustriert auf. Es war deutlich, die meisten dachten: Lass das Känguru liegen! Du bist unser Guide. Mach deinen Job und bring uns rechtzeitig ans Ziel.

Aber ich konnte nicht weiterfahren. Was, wenn das nächste Auto mit hundert Sachen vorbeikam und die Keilschwänze über den Haufen fuhr? Das konnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Außerdem beschäftigte mich die Frage, warum die Vögel ausgerechnet hier herumhingen. Nur in äußerster Not oder wenn ein anderes totes Tier Hunderte von Kilometern entfernt wäre, würden sie sich mit derart altem Fleisch begnügen.

Als ich ausstieg, fluchte der Typ hinten im Bus.

Die Keilschwänze flogen auf und landeten in sicherer Entfernung. So ohne weiteres wollten sie ihr Abendessen nicht aufgeben. Es waren zwei ausgewachsene, große schwarze Vögel, vielleicht ein Brutpaar. Ich ging über die weiße Linie am Straßenrand, warf einen Blick auf die Sonne und musste einsehen, dass es heute keine Fotos vom Sonnenuntergang am roten Fels mehr geben würde.

Ein ekelhafter Gestank schlug mir entgegen. Doch davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich trat näher an den Kadaver und bemerkte, dass aus dem Beutel ein kleines Bein und eine Schwanzspitze herausragten, beide schrecklich zugerichtet. Auch die Brust des Babys war von den Adlern verletzt worden, wie ich feststellen musste. Der Anblick erschütterte mich so sehr, dass ich am liebsten kehrtgemacht hätte, doch ich zwang mich zu bleiben.

Mir war klar, dass ich die Leute im Bus gegen mich aufbrachte, aber ich konnte das arme kleine Ding nicht so zurücklassen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ich hätte meine Reisegäste besser darüber aufklären sollen, wie wichtig es ist, dass man sich um überfahrene Tiere kümmert. Vor ein oder zwei Tagen hätte das Baby noch gerettet werden können. Dafür war es jetzt offenbar zu spät. Ich würde es nur noch aus dem Beutel ziehen und unter einen Busch am Straßenrand legen können. Als ich nach dem Beinchen griff, stockte mir der Atem. Es zog sich ruckartig in den Beutel zurück!

Ich sprang auf und eilte zum Bus.

»Da ist noch ein Joey im Beutel des Kängurus«, rief ich. »Sieht alles andere als niedlich aus. Aber deshalb halte ich immer wieder an. Wie wär’s, wenn mir jemand helfen würde?«

Wenn jemand, fügte ich hinzu, ein Bild vom Sonnenuntergang über dem Uluru haben wolle, könne er sich auch eine Postkarte kaufen. Man muss mir angemerkt haben, wie bestürzt ich war. Bevor ich ausfallend wurde, meldete sich eine junge Frau und sagte, sie sei Krankenschwester. Ich erklärte ihr und allen, die daran interessiert waren, dass man normalerweise nur mit der Hand in den Beutel greifen müsse; die Haut des überfahrenen Kängurus habe sich aber im Tod so fest über den Bauch gespannt, dass man nicht mehr hineinlangen könne.

Als ich mit der jungen Frau den Unfallort erreichte, stiegen auch noch andere aus dem Bus und zückten ihre Kameras. Manche wurden von dem Verwesungsgestank überrascht. Ein großer, athletischer Kerl sprang in die Büsche und übergab sich.

Wir bargen ein noch unbehaartes kleines Pinkie, ungefähr vier Monate alt und mit schon geöffneten Augen. Es war von einer trockenen Blutkruste überzogen. Ich hielt es in beiden Händen und untersuchte seine Verletzungen. Alle schwiegen. Ich ließ meine Gruppe wissen, dass wir einen neuen Passagier mit an Bord nehmen würden. Die Sonne ging unter, die goldene Stunde war angebrochen. Anstatt Fotos vom Uluru zu schießen, parkten wir am Straßenrand und machten auf dem Gaskocher Wasser warm, das wir mit einem Tropfen Spülmittel in eine Plastikschale schütteten, um das Kängurubaby zu waschen. Inzwischen beklagte sich niemand mehr über den verpassten Sonnenuntergang. Die Krankenschwester packte mit an, während andere zum Bus zurückliefen, um den Erste-Hilfe-Koffer zu holen. Wir legten dem Jungen Gazeverbände an, trockneten es und wickelten es in ein Handtuch. Es schrie nun nach seiner Mutter und stieß einen Laut aus, der so klang, als hustete jemand das Wort hair.

»Hair, hair, hair …«

Wir nannten es Anna, nach einer Mitreisenden aus Deutschland, die sich bereit erklärte, sich um das Kleine zu kümmern. Alle waren wieder an Bord, und mir fiel sofort auf, wie sehr sich die Stimmung verändert hatte. Nach dem Murren herrschte jetzt Heiterkeit.

In Yulara, der letzten Station vor dem Uluru, machte ich einen Mitarbeiter der Regierungsbehörde Parks and Wildlife ausfindig, bei dem ich Anna übernachten lassen konnte. Danach widmete ich mich wieder meinen Pflichten als Reiseleiter und kochte über dem offenen Feuer ein Abendessen für meine Gruppe. Später, als ich allein am Feuer saß, ärgerte ich mich immer noch darüber, dass Anna das Roo solche Qualen hatte erleiden müssen. Wie viele Kollegen und andere Touristen waren wohl an dem toten Muttertier vorbeigekommen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden? Wie konnten sie nur? Ich erging mich noch in meiner Wut, als der junge Mann, der sich am meisten über die Verzögerung durch die Rettungsaktion aufgeregt hatte, herbeikam und neben mir Platz nahm. Wir hatten den ganzen Abend über kein Wort miteinander gewechselt. Auch jetzt starrten wir stumm in die Flammen und nippten an unseren Bierdosen. Schließlich sagte er: »Keine Ahnung, vielleicht machst du so was jeden Tag, aber was ich da heute erlebt habe … Mann, ich kann’s kaum glauben.«

Um Entschuldigung dafür, dass er so ungeduldig und barsch gewesen war, bat er nicht, aber das war mir auch egal. Vielleicht sah er in der kurzen Reiseunterbrechung nur eine coole Anekdote. Möglich aber auch, dass Annas Rettung ihn gelehrt hatte, dass sich sogar im Tod Leben finden lässt.

Anna hatte die Nacht überlebt. Wir holten sie am nächsten Morgen ab und fuhren die vierhundertfünfzig Kilometer zurück nach Alice Springs, wo ich sie in die Obhut von Sadie gab, einer älteren Tierpflegerin, die eine gute Freundin von mir werden sollte. Bevor sie sich ihrer wirklich annehmen konnte, mussten wir Anna von einem Tierarzt untersuchen lassen. Damals lief die US-Serie Survivor: Palau im Fernsehen, und nachdem ich ihr die Geschichte von Annas Rettung erzählt hatte, taufte Sadie sie in Palau um. Der Name passte. Anna war eine wahre Überlebenskünstlerin.

Ich besuchte Palau während der folgenden Monate mehrere Male. Sie wuchs unter einigen anderen Waisenkindern auf, die alle viel größer waren als sie. Was sie zusätzlich von ihnen unterschied, waren zwei mächtige Ohren und ein Stummelschwanz, der fast zehn Zentimeter zu kurz war. Ihr schien das nichts auszumachen. Sie vertrug sich gut mit ihren Leidensgenossen, erholte sich von ihren Verletzungen und wurde schließlich wieder in den Busch entlassen. Ihre Geschichte hatte ein glückliches Ende genommen; umso trauriger stimmte mich das Schicksal der Waisen, die weniger Glück hatten. Und so fasste ich den Entschluss, möglichst vielen Leuten von dem Kängurubaby am Straßenrand zu erzählen, ob sie diese Geschichte nun hören wollten oder nicht.

Jetzt sitze ich vor meinem Feuer, blicke in die Flammen und kann selbst kaum glauben, was Palau in Bewegung gesetzt hat. Ich habe im Laufe der Jahre allerhand erlebt, erstaunliche Bekanntschaften gemacht – mit Pflegerinnen wie Cynthia oder Anne-Marie, die mir sofort in den Sinn kommen – und führe genau das Leben, das ich mir als Junge erträumt habe.

Ich schätze mich glücklich.

Kapitel 2

Als Teenager erwischte ich meine Eltern manchmal in der Küche beim Knutschen. Sehr peinlich für einen pubertierenden Jungen, mit dem die Hormone durchgingen. Ich dachte: O Mann, was soll das? Können die das nicht woanders machen? Inzwischen ist mir klargeworden: Meine Tierliebe gründet auf der Liebe, die meine Eltern einander und mir und meinem Bruder Ron entgegenbrachten und -bringen. Was sie für mich als Kind bedeuteten, zeigte sich unter anderem, wenn sie das Haus verließen und ich jedes Mal die Minuten zählte, bis sie heil zurückkehrten. Ich fühlte mich sehr eng mit ihnen verbunden. Wenn ich mir ein Knie aufschürfte, war Mum immer mit einem Antiseptikum zur Stelle. Bis zu meinem Aufbruch in die Selbständigkeit gab sie mir jeden Abend einen Gutenachtkuss. Dad nahm Ron und mich mit zum Fußball, ermutigte uns aber auch, eigenen Interessen zu folgen. Rückblickend verstehe ich, inwieweit mir meine Herkunft dabei hilft, Waisen aufzuziehen: Auch Joeys haben eine viel größere Chance auf ein glückliches Leben, wenn eine Familie ihnen Rückhalt bietet.

Mum und Dad, June und Jim, waren Lehrer an einer Highschool. Sie hatten sich 1963 am Claremont Teachers College in Perth, der Hauptstadt von Western Australia, kennengelernt und vier Jahre später geheiratet. Ron kam 1970 zur Welt, ich folgte zwei Jahre darauf. Wir wohnten in einem Haus aus roten Ziegeln in Greenwood, einem Vorort von Perth, typisch für die Mittelschicht mit vier Schlafzimmern, zwei Badezimmern und Garten. Ein paar Jahre verbrachten wir auch in Karratha, einer Kleinstadt in der Region Pilbara hoch oben im Norden von Western Australia, wo Eisenerz abgebaut wird. Ich war damals noch so klein, dass ich mich an diese Zeit nicht mehr erinnern kann. Aber ich bin mir sicher, dass mich die Landschaft mit ihrem roten Staub, den goldenen Gräsern und dem endlosen blauen Himmel nachhaltig geprägt hat, was sich später in meiner Sehnsucht nach dem Outback äußerte und schließlich zu der Gewissheit führte, dass ich nirgendwo anders leben kann. Sehr wohl in Erinnerung geblieben sind mir manche Fernsehprogramme mit markigen Aussie-Typen, die ich verehrte und nachahmen wollte: Malcolm Douglas zum Beispiel, der mit seinem Truck durch die Wüste fuhr und eine Staubwolke hinter sich herzog; Alby Mangels, der sich von Angehörigen eines mir völlig unbekannten Stammes einladen ließ, exotische Speisen mit ihnen zu teilen; oder Harry Butler, der durch den Busch spazierte und plötzlich losrannte, um eine Eidechse zu fangen. Sie machten Eindruck auf mich wie die Sendungen von David Attenborough, die wir uns im Kreis der Familie regelmäßig sonntagabends anschauten.

Dad saß dann in seinem Sessel und sagte: »Das wäre doch auch was für dich, oder? Du könntest hinter der Kamera stehen. Such dir etwas, wozu du wirklich Lust hast. Und steck deine Ziele möglichst hoch.«

Wie wohl jedes australische Kind jener Zeit liebte ich Skippy, die legendäre Fernsehserie mit dem Jungen Sonny und seinem Känguru Skippy. Sie erlebten alle möglichen Abenteuer in einem Nationalpark nahe Sydney an der fernen Ostküste. Das Schönste daran war, dass Kindern erlaubt wurde, Kinder zu sein. Ich selbst habe keine Kinder – jedenfalls keine menschlichen –, aber es gefällt mir, ihnen beim Spielen zuzusehen oder besser noch, wenn sie zum Beispiel aus ein paar Holzbrettern ein Flugzeug bauen. Man merkt ihnen an, dass sie tatsächlich glauben, damit fliegen zu können, und nichts hält sie auf. Skippy übte eine ähnliche Wirkung auf mich aus. Ich bildete mir ein, mich mit einem eigenen Känguru unterhalten zu können. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass ich heute im Umgang mit meinen Roos dieselben »T-t-t-t«-Laute von mir gebe wie Skippy, wenn sie sich mit Sonny unterhielt. Beeinflusst haben mich auch andere Serien wie Lassie und Flipper. Je älter ich wurde, desto deutlicher wurde mir meine Tierliebe bewusst.

Mum und Dad meinen, der Auslöser für meine besondere Hinwendung zu Tieren sei unsere gemeinsame Reise nach England und Irland gewesen. Im Vorfeld waren meine Eltern häufig gefragt worden: »Was passiert mit Ron und Chris?« Alle glaubten, sie würden ohne uns fliegen und uns mit einem Babysitter zurücklassen. Ich war damals sieben. Für unsere Eltern aber stand von vornherein fest, dass wir mitkommen würden. Sie glaubten, die Reise würde für mich und meinen Bruder besonders lehrreich sein, lehrreicher jedenfalls als der Schulunterricht, von dem wir ein halbes Jahr verpassen würden.

Auf dem Schiff Kota Bali fuhren wir von Fremantle, einer Hafenstadt nahe Perth, nach Singapur; von dort aus ging es im Flugzeug weiter nach London. Nach sechs Monaten, Tausenden von Kilometern im Auto und dreißig Zwischenstationen in Jugendherbergen kehrten wir zurück. Mein Reisetagebuch lässt keinen Zweifel an meinen Interessen:

19. Juli 1980

Ort: an Bord der Kota Bali

Wetter: windig und kühl

Habe heute Kapsturmvögel durch die Luft gleiten sehen. Sie fressen Krill. Ich war dann auch im Frachtraum, wo ich mir ein paar Pferde und Schafe angeguckt habe.

27. Juli

Ort: Sheringham

Wetter: warm

Heute Morgen haben wir einen Bootsausflug auf dem Hickling Broad unternommen. Wir sahen etliche Vögel, unter anderem Blesshühner, Schwäne, Enten und Möwen.

14. September

Ort: Glencoe

Wetter: kalt

Heute habe ich Geburtstag. Ich habe ein T-Shirt bekommen mit der Aufschrift »I am a Monster«, Bücher und einen kleinen Kuscheligel. Später sind wir spazieren gegangen. Ich sah die Pfotenabdrücke von einem Wiesel und einem Dachs.

Natürlich gab es auch noch andere Highlights: den Buckingham-Palast, Big Ben, London-Tower, Fahrten mit der U-Bahn, Küsse auf den Stein der Sprachgewandtheit in Blarney Castle, eine Pantomimenaufführung oder eine Ritterfigur in voller Rüstung im Warwick Castle. Letztere hat großen Eindruck auf mich gemacht, worauf ich später noch einmal zurückkommen werde. Mum und Dad unterrichteten Ron und mich en passant und verließen sich darauf, dass wir am meisten aus eigener Anschauung lernen würden. Es schadete uns auch nicht, dass Dad Geschichtslehrer war. Und obendrein sehr geduldig. Mein Bruder und ich waren Fußballfans und begeistert davon, zu Besuch in dem Land zu sein, das wir für den Ursprungsort dieses Sports hielten. Wie viel Glück konnte man haben? Wir sahen Motherwell gegen Hibernian in Edinburgh und Arsenal gegen Sunderland in Highbury. Auch Rugby, Gaelic Football und Hurling haben wir uns angeschaut. Von allen Abenteuern, die wir erlebten, erscheint mir eines besonders bedeutend im Hinblick auf meine späteren Jahre:

7. Dezember 1980

Ort: Land’s End

Wetter: schön, aber kalt

Heute Vormittag sind wir die Felsküste entlang nach St. Ives gegangen. Wir haben eine Zinngrube entdeckt. Dann sind wir zu einem Meeresaquarium gefahren, in dem Seehunde gehalten werden, Tiere, die an Land gespült wurden und sehr krank sind. Die Männer füttern sie und päppeln sie auf. Wenn sie wieder gesund sind, kommen sie zurück ins Meer.

Meine erste Erfahrung mit einer Naturschutzzone war, wie mir scheint, prägend.

Zurück in Australien, wollte ich unbedingt ein Haustier haben. Ich war acht, als ich mein erstes bekam, ein flauschiges weißes Meerschweinchen. Ich kann mich nicht erinnern, warum wir es Flora nannten, weiß aber noch, warum unser zweites Meerschweinchen Takeaway hieß. Wir hatten uns nämlich eigentlich nur eine Mahlzeit zum Mitnehmen besorgen wollen und waren zufällig auch an einer Tierhandlung vorbeigekommen. Unsere beiden Meerschweinchen bezogen ein Gehege im Garten. Als ihr erstes Junges auf die Welt gekommen war, schrieb ich mit Kreide auf die Hauswand: »Flora und Takeaway haben geheiratet.« Es war für mich als Kind der einzig logische Schluss, denn meine Eltern hatten uns erklärt, dass Mann und Frau heirateten, bevor sie Kinder bekamen.

Meerschweinchen waren Teil meines Lebens, und ich hatte im Lauf der Jahre nicht wenige. Ihr Futter bestand im Wesentlichen aus Salatresten, die im Abfallcontainer des Supermarkts gelandet waren. Wenn meine Tiere eine Plastiktüte rascheln hörten, fingen sie immer an zu quieken, weil sie ahnten, dass es etwas zu fressen geben würde.

Mein Liebling war Herbert, ein großes, einfarbig braunes Männchen, das aussah wie ein kleines Capybara, jenes auch Wasserschwein genannte, in Südamerika beheimatete Tier, das als der größte Nager überhaupt gilt. Abends durfte ich ihn mit ins Wohnzimmer nehmen. Im Winter war es mir ein besonderes Vergnügen, ihn im Kreis der Familie vor dem offenen Kaminfeuer zu sehen. Natürlich machte er auch mal auf den Teppich, doch Mum und Dad schien das nicht zu stören. Jedenfalls meckerten sie nie.

Von den Meerschweinchen lernte ich einiges über den Kreislauf des Lebens. Eine meiner nachhaltigsten Erinnerungen ist die, wie Flora starb. Sie lag in einem Pappkarton im Arbeitszimmer meiner Eltern und hatte die Augen geschlossen. Ich legte meine Hand auf ihre flauschige Brust und spürte, wie es darunter immer schwächer pochte, bis das Herz schließlich stillstand. Es war ein sehr trauriger, aber auch kostbarer Moment voller Dankbarkeit für die Freude, die Flora mir gemacht hatte. Ungefähr zur selben Zeit sprach mein Vater mit mir über den Tod. Kurz danach war ich mit ihm beim Arzt, wo mir im Wartezimmer ein alter Mann auffiel. Wohl etwas zu laut sagte ich: »He, Dad, ich glaube, der Mann muss bald sterben.« Ein besonders taktvolles Kind war ich nicht.

Meine Kindheit war durchzogen von Lehren über das Leben und den Tod. Ich sehnte mich nach einem Hund – alle meine Freunde hatten Hunde –, doch waren meine Wahlmöglichkeiten begrenzt. Mein Vater war entschieden gegen solche, die bellten; außerdem machte er sich Sorgen um seinen gepflegten Garten. Aber weil auch er mit einem Hund namens Cobber groß geworden war und in ihm über viele Jahre einen guten Kumpel gehabt hatte, wusste er, wie wichtig ein solcher Begleiter war. Wir entschieden uns schließlich für einen Basenji, einen afrikanischen Jagdhund von ruhigem Naturell. Bei dem Welpen, den wir uns ausgesucht hatten und mit nach Hause nehmen wollten, sobald er groß genug war, wurde leider eine Krankheit diagnostiziert, die zu einer Lähmung der Hinterbeine führte, und er musste eingeschläfert werden. Ein harter Schlag für mich. Wir hatten uns so sehr darauf gefreut, den kleinen Burschen durch unseren Garten rennen zu sehen.

Um mich wieder aufzuheitern, fragte Dad: »Wie wär’s mit einer Voliere?«

»In echt?«

Er nickte. »Aber du musst dich auch darum kümmern. Auf mich kannst du dich nicht verlassen.«

Seit unserer Rückkehr aus Europa war ich eingetragenes Mitglied der Gould League, des Vereins der Vogelfreunde von Australien. Es wäre wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen, wenn ich während meiner Kindheit nicht irgendwann Vögel gehalten hätte.

Von allen wilden Tieren, die Australien zu bieten hat, waren es wohl die Krähen, für die ich die größte Sympathie empfand. Ich liebte sie schlichtweg. Warum, weiß ich selbst nicht; vielleicht lag es daran, dass ich sie in Fernsehsendungen wie der von Malcolm Douglas gesehen und mir vorgestellt hatte, im Outback zu leben und ihrem tröstlichen Krächzen zu lauschen.

Eines Tages, nicht lange nach unserem Auslandstrip, bat ich meine Mutter in der Küche um die Knochen, die sie für eine Erbsensuppe ausgekocht hatte. Sie war überrascht, aber als ich ihr den Grund nannte, erfüllte sie mir meinen Wunsch, woraufhin ich geradewegs zu dem alten grauen Blechschuppen in unserem Garten lief. Auf dessen Dach verteilte ich die Knochen und wartete. Am späten Nachmittag kamen die Krähen und ließen es sich schmecken, woran ich meine Freude hatte.

Die Krähen hatten mein Interesse am Vogelbeobachten geweckt. Unser Garten wurde für mich bald ein kleines Paradies, in dem ich zahllose Vögel herumschwirren sah, von denen einige Nektar aus den Blüten heimischer Bäume und Sträucher tranken. Mit Dad fuhr ich an manchen Wochenenden in den Busch, um Vögel zu beobachten. Wahrscheinlich dachte er, dass ich nur eine Phase durchmachte – nächstes Jahr fährst du bestimmt auf BMX-Räder ab –, doch er unterstützte mich und förderte meine Wertschätzung der Natur.

An unseren Garten, der nur etwa zehn Schritt maß, grenzte der des Nachbarn, und so reihte sich Grundstück an Grundstück in dieser typischen Vorstadtbebauung, Haus an Haus und Blechschuppen an Blechschuppen. Die Vögel ließen sich davon nicht stören, sie kannten keine Grenzen. Sie waren frei, und das faszinierte mich an ihnen. Entsprechend aufgeregt war ich, als Dad die Sache mit der Voliere vorschlug. Heute ist mir klar, dass wir den Vögeln damit die Freiheit raubten, doch damals zählte für mich nur der Gedanke, durch sie der Wildnis ein Stück näher zu kommen.

Wir kauften die Voliere im Zoohandel. Sie umfasste knapp sieben oder acht Kubikmeter, doch Dad, der gut schreinern konnte, zeigte mir, wie sich ihre Größe mit relativ einfachen Mitteln fast verdoppeln ließ. Schließlich sollte es nicht nur ein Käfig sein mit einer Stange in der Mitte, auf der die Vögel hockten. Ich wollte ihnen ein möglichst natürliches Zuhause bieten, mit Gräsern am Boden und vielen Holzoberflächen. An den Wochenenden grub ich das abgestorbene Gras aus und pflanzte frisches, das ich in einer Schubkarre heranschaffte. Später gelang es mir sogar, kleine Wasserfälle anzulegen.

Die Vögel, die wir hielten, waren vor allem Finken, insbesondere Zebrafinken, die im australischen Grasland häufig anzutreffen sind und durch ihren schwarz-weiß gebänderten Schwanz auffallen. Wir hatten allerdings auch Wachteln, Kanarienvögel und manchmal einen kleinen Papageien. Auf dem Boden der Voliere hoppelten Meerschweinchen und Kaninchen herum. Wegen der Kaninchen musste die Voliere einen mit Maschendraht abgesicherten Boden haben, denn diese langohrigen Ausbruchskünstler buddelten sich sonst in Windeseile frei.

Nach einer Weile betrieb ich ein kleines Gewerbe, züchtete Jungvögel heran und tauschte sie im Zoohandel gegen Vertreter einer anderen Art. Bald hatte ich mir eine stattliche Sammlung zugelegt.

Ich war ungefähr dreizehn, als ich auch einen frei fliegenden Vogel als mein Haustier bezeichnete, eine junge Elster. Eines Morgens nach einem nächtlichen Sturm hatte ich sie im Garten entdeckt. Ich nannte sie Melvin. Vermutlich war Melvin aus einem Nest gefallen und vom Wind herbeigeweht worden. Jedenfalls setzte ich ihn zu seinem eigenen Schutz in einen Käfig und bemutterte ihn. Abends nahm ich ihn mit ins Haus, wo er es warm hatte. Tagsüber fütterte ich ihn mit kleingehackten Fleischresten aus der Küche oder Regenwürmern, die ich im Garten ausgrub. Melvin wuchs rasch heran und war bald so groß, dass er den Käfig nicht mehr nötig hatte. Stattdessen flatterte er in die Bäume auf, kam aber jedes Mal herbeigesegelt, wenn er mich sah, und sprang vom Schuppendach auf den Boden, mir vor die Füße. Er war ein hungriger kleiner Kerl, rannte hinter mir her und schrie auf seine typische Elsternart »gib mir gib mir gib mir«. Er hörte einfach nicht auf damit und folgte mir wie ein Hund, was Probleme mit sich brachte, wenn ich zur Schule wollte. Ich musste mich dann unbemerkt aus dem Haus schleichen.

Elstern haben schöne Stimmen, ihre Lieder erfüllen die Luft. Ich habe fleißig geübt, sie zu imitieren, und war schließlich halbwegs in der Lage, mich mit Melvin zu unterhalten. Wer weiß, worüber? Ihm schien es jedenfalls zu gefallen.

Als Melvin älter wurde, schaute er immer häufiger mit geneigtem Kopf zum Himmel auf. Elstern sind Reviertiere. Vielleicht, so dachte ich, blieb er deshalb bei mir, womöglich aus Angst, von anderen seiner Art attackiert zu werden. Eines Tages aber landeten mehrere Elstern in einem Baum nahe unserem Garten. Ich versuchte, mit ihnen zu reden. Sie gaben mir Antwort. Auch Melvin krächzte drauflos und flatterte ihnen freudig entgegen. Und plötzlich war er mit ihnen auf und davon. Wir haben uns nie wiedergesehen, aber ich konnte zum ersten Mal von mir behaupten, ein echter Tierpfleger zu sein, denn ich hatte ihn gepflegt, bis er in sein natürliches Umfeld zurückkehren konnte. Ich tat mir ein bisschen leid, freute mich aber umso mehr für Melvin.

Bei aller Liebe zur Natur war ich doch ein typischer Aussie-Junge, der mit seinen Freunden leidenschaftlich gern Fußball, Cricket und Tennis spielte, oft auf der Straße vor dem Haus. In der Schule war ich Durchschnitt und ragte nur aufgrund meiner Größe hervor. Mit dreizehn, im ersten Jahr auf der Highschool, maß ich eins fünfundachtzig und hatte Schuhgröße siebenundvierzig. Dies und mein Faible für Vögel waren immer wieder Anlass für Scherze auf meine Kosten. Ich hatte die üblichen Spitznamen wie »Bohnenstange«, »Laternenmast« oder auch »Langkorn« in Anspielung auf eine TV-Werbung für Reis. Selbst von Erwachsenen hörte ich ständig: »Mann, ist der groß!« Manchmal hätte ich gern erwidert: »Immerhin nicht klein und dick!« Aber so kess war ich nicht.

Wegen meiner Größe entwickelte ich Komplexe. Nie vergessen werde ich, wie wir in der Highschool einmal eine Tanzstunde hatten und Walzer oder etwas in der Art zu tanzen versuchten. Die Partnerin, die mir zugewiesen wurde, war das heißeste Mädchen des gesamten Jahrgangs. Wir fingen an zu tanzen, und plötzlich rief sie: »Eh, Perversling, was guckst du in mein Top? Er glotzt mir von oben in den Ausschnitt!«

Die Musik setzte aus. An die fünfzig Schüler und Schülerinnen und die Lehrerin bildeten einen Kreis um uns und starrten mich an. Bei dem Größenunterschied war mir gar nichts anderes übriggeblieben, als auf meine Partnerin hinabzublicken, doch sie behauptete, ich hätte sie begafft. Die Sache war mir schrecklich peinlich.

Es lag wohl an meiner hoch aufgeschossenen Statur, dass ich über viele Jahre keine Freundin hatte. Mehr als einmal bekam ich zu hören: »Bist ’n netter Typ, aber ein bisschen zu groß für mich.«

Richtig wohl fühlte ich mich nur in meiner Familie oder mit meinen Tieren. Nicht, dass ich ein Einzelgänger oder Ausgestoßener gewesen wäre, der sich mit Gleichaltrigen nicht verstanden hätte. Ich war einfach glücklich, mein eigenes Ding zu machen, auch auf die Gefahr hin, dass es auf andere sonderbar wirkte. Es machte mir nichts aus, ein komischer Kauz zu sein, zumal mir Mum und Dad den Rücken stärkten. Sie wussten, wann es angebracht war, zu trösten, Rat anzubieten oder sich einfach nur zurückzuhalten und nichts zu sagen.

Meine Eltern schärften auch unseren Sinn für das, was in der Welt passierte. Sie ließen zu, dass Ron und ich zum Beispiel in den Fernsehnachrichten Bilder von Hungersnöten in Afrika oder kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sahen. Wenn wir unseren Teller nicht leerten, hieß es: »Seid dankbar. Es gibt Kinder, die nicht regelmäßig zu essen bekommen.« Dad wusste, wovon er sprach. Er arbeitete ehrenamtlich als Entwicklungshelfer und reiste häufig nach Indien. Und er war sehr großzügig. Besonders toll an ihm fand ich, dass er zu Weihnachten immer zwei große Flaschen Bier als Dankeschön für die Müllwerker vor die Haustür stellte.

Wie mein Vater hatte auch Mum einen ausgeprägten Sinn für soziale Verantwortung und Mitgefühl. Sie unterrichtete Englisch als Zweitsprache, und ihre Schüler und Schülerinnen kamen aus verschiedenen Ländern, vor allem aus Vietnam, zu einer Zeit, als das Flüchtlingsthema in Australien die Schlagzeilen bestimmte. Dann und wann lud Mum vietnamesische Kinder zu uns nach Hause ein, und wir hatten immer viel Spaß miteinander.

Im Rückblick auf meinen Lebensweg glaube ich, dass eine der wichtigsten Lehren meiner Eltern der vernünftige Umgang mit Geld war. Wenn wir mit Dad im Fußballstadion waren, gehörten wir zu den wenigen, die keine Teigtaschen und Wurstbrötchen kauften. Stattdessen aßen wir die Reste des Eintopfs vom Vorabend. Einmal saß ich neben einem Jungen, der einen Hotdog und Pommes futterte. Ich war neidisch, weil ich selbst mit einer Möhre vorliebnehmen musste, doch Dad erinnerte mich daran, dass wir des Spiels wegen gekommen waren und nicht, um zu essen.

Schon früh bekamen Ron und ich Geld, mit dem wir unsere Schulkleidung kaufen mussten, und obwohl Mum oder Dad uns beim Shopping begleitete, waren wir allein verantwortlich für unser Budget. Hatte ich hundert Dollar im Portemonnaie und wollte unbedingt ein Paar Schuhe haben, die, sagen wir, achtzig Dollar kosteten, musste ich an anderer Stelle sparen und eventuell auf Shorts, Shirts, Socken oder Unterwäsche verzichten. Ich hielt darum lieber nach günstigen Angeboten Ausschau und bilde mir bis heute ein, dass ich mein Geld vernünftig einsetze. Dass ich schon in frühen Jahren lernte, mit bescheidenen Mitteln zurechtzukommen, half mir später, finanzielle Notlagen zu überstehen. Und in die sollte ich oft genug geraten.

An fast jedem Wochenende besuchten wir die Eltern meiner Mum, die, wie ich vermute, nicht so recht ins Klischee von Großeltern passten. In ihrem Wohnzimmer hing ein Schwarzweißfoto an der Wand, das Grandad zeigte, wie er von der Queen zum Ritter geschlagen wurde. Erinnern Sie sich an die Ritterfigur in Warwick Castle? Zwei Tage nach unserem Besuch dort erhielt meine Mutter die Nachricht von der Erhebung ihres Vaters in den Ritterstand. Ich war von den Socken und stellte mir vor, wie er in einem Harnisch aus Eisenplatten und Ketten durch die Gegend klapperte. Doch anstatt ein Schwert zu schwingen, war Grandad wegen seiner Verdienste um die Musik geadelt worden. Er hatte als Lehrer, Professor, Verwaltungsrat und Komponist gearbeitet und war Mitglied einer Vielzahl nationaler und internationaler Verbände gewesen, so etwa des International Music Council der UNESCO, dem er als Präsident vorgestanden hatte. Wenn ich ihn Freunden von mir als »Sir Frank« vorstellte, antwortete er jedes Mal: »Freut mich, Sie kennenzulernen, junger Mann.«

Das Haus meiner Großeltern war voller Musikinstrumente aus aller Welt – es gab ein Didgeridoo, afrikanische Trommeln, Panflöten –, doch Grandad ließ meist ein Transistorradio laufen. Beim Abendessen stand es neben seinem Brettchen. Oft nahm er es in die Hand und hielt es sich ans Ohr. Nicht etwa Mozart hörte er, sondern Nachrichten von der Börse. Sir Frank war ein seltsamer Vogel.

Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, meine Großmutter als »Lady Callaway« vorzustellen. Sie war immer nur Grandma. Ich werde nie vergessen, wie sie einmal darum bat, sich am Murmelspiel mit mir und einem Freund, den ich mitgebracht hatte, beteiligen zu dürfen. Mein Freund pupste, woraufhin wir einander entsetzt anstarrten, doch Grandma lachte sich halb kringelig. Sir Frank hätte anders reagiert, glauben Sie mir.

Meine Großeltern väterlicherseits – Roland, ein Krankenpfleger in der Psychiatrie, und seine Frau Doris – habe ich leider nie kennengelernt, weil sie früh verstorben sind. Dad hatte sie sehr lieb; manchmal wurden seine Augen feucht, wenn er von ihnen sprach.

Je älter Ron und ich wurden, desto häufiger drängten uns unsere Eltern, an unsere berufliche Zukunft zu denken. Dad hatte seine eigenen Ansichten dazu. Er sagte, es käme auf die Balance an: Ein gutes Bett würde uns acht Stunden Behaglichkeit versprechen; ein Job, den wir gern ausübten, böte uns Zufriedenheit für weitere acht Stunden; und wenn wir auch noch gute Freunde und das eine oder andere Hobby hätten, wären wir rundum glücklich. Mein Bruder Ron, mein engster Vertrauter in jenen frühen Jahren, war sehr viel zielstrebiger als ich. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er Dads Rat beherzigt hat, jedenfalls hat er allen Grund, zufrieden zu sein: Als sehr erfolgreicher Immobilienmakler kann er inzwischen viel Zeit für seine Familie erübrigen. Seit Jahr und Tag lebt er am selben Ort. Für mich wäre das nie in Frage gekommen.

Anfangs frustrierte mich meine Sehnsucht nach Freiheit. Ich ahnte, dass es die Freiheit irgendwo gab, wusste aber nicht, woran ich sie erkennen konnte. Und wie sie erlangen? Mir schwebte einfach nur vor, in weiter, offener Landschaft zu leben, doch mit den Jahren wurde ich realistischer und hielt es für durchaus möglich, dass ich mich am Ende wie die meisten Menschen darauf einlassen würde, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen, am Abend zurückzukehren und müde ins Bett zu fallen. Mit anderen Worten, auf ein Leben in Gefangenschaft.

Mit vierzehn hatte ich Gelegenheit, für ein paar Wochen im Zoo von Perth erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt zu sammeln und eine berufliche Perspektive ins Auge zu fassen. Viel gab es nicht für mich zu tun, zumal ich nur samstags Dienst hatte. Ich schleppte Eimer umher, sammelte den einen oder anderen Dunghaufen auf und folgte Tierpflegern hinter die Kulissen der Vogel- und Reptilienanlagen. Auf diese Weise gewann ich eine recht gute Vorstellung davon, was einen Zoo ausmachte und wie er funktionierte. Zum ersten Mal sah ich nun auch so etwas wie ein berufliches Ziel vor mir. Nur hatte die Sache einen Haken. Die meisten Pfleger hatten eine Ausbildung absolviert und viele von ihnen sogar vier Jahre an der Universität studiert. Diese Aussicht entmutigte mich ein wenig, denn ich war kein guter Schüler und hatte keine Lust, zur höheren Schule zu gehen, zumal ich in meiner Klasse immer noch die Zielscheibe für Hohn und Spott war. Als ein Lehrer mich einmal fragte, was ich später werden wolle, rief ein Klassenkamerad: »Er würde sich gut als Baum machen!« Unsere Schuluniform bestand aus einem grünen Hemd und braunen Hosen – keine günstige Kombination für einen langen Kerl wie mich.

Im Jahr darauf begann für mich die Oberstufe. Auch wenn ich viel Verlockendes über das Studentenleben hörte, kam eine akademische Ausbildung für mich nicht in Betracht. Ich hatte von der Schule schon die Nase voll. Meine Eltern akzeptierten das, bestanden aber darauf, dass ich die Schule fortsetzte, bis ich einen Job gefunden hatte. Dad verhalf mir zu einem Vorstellungsgespräch bei der Sunday Times im Geschäftsviertel von Perth, in einer Welt also, die von Outback und Zoo nicht weiter hätte entfernt sein können. Trotzdem war diese Etappe sehr wichtig für mich, wie sich herausstellte, und zwar dank einer ganz besonderen Person.

Mein Bewerbungsgespräch führte ich mit der Leiterin der Anzeigenabteilung, einer Frau namens Bev. Sie war sehr mager und trug eine Mütze. Sie habe Krebs, erklärte sie mir, sei aber auf dem Weg der Besserung. Ich mochte sie sofort, und auch sie schien mich zu mögen und stellte mich ohne Umschweife als Hilfskraft ein. Ich war fünfzehn. Meine Aufgabe bestand darin, als Kurier mit dem Fahrrad durch die Stadt zu flitzen.

Bev wurde so etwas wie meine zweite Großmutter. Manchmal aßen wir zusammen zu Mittag. Ich quatschte ihr die Ohren voll von meiner Voliere und meiner Liebe zu Tieren, was ihr offenbar gefiel, denn sie bestärkte mich in meinen Wünschen. Ich war ungefähr sechs Monate bei der Sunday Times, als sich Bev eines Tages krankmeldete. Ich ging zu ihr nach Hause und erfuhr, dass sich in ihrem Körper wieder Metastasen gebildet hatten. Ich besuchte sie daraufhin regelmäßig an den Wochenenden und musste mit ansehen, wie sie immer hinfälliger wurde und den Kampf gegen die Krankheit schließlich verlor.

Sie beim Sterben ein wenig begleitet zu haben, war eine wichtige Lehre für mich. Ich war alt genug, um zu erkennen, dass der Tod uns allen jederzeit drohte und dass es umso wichtiger war, aus jedem Tag das Beste zu machen. Meine größte Furcht bestand darin, dass meinen Eltern etwas Schlimmes zustoßen könnte, insbesondere meinem Vater, der seit vielen Jahren Probleme mit dem Herzen hatte und auf einen Schrittmacher angewiesen war. Manchmal war er so krank, dass er für längere Zeit das Bett hüten musste und nicht arbeiten konnte. Als kleiner Junge war mir nicht klar gewesen, wie ernst es um ihn stand, nun aber wusste ich um die Zerbrechlichkeit des Lebens, die mir meine Familie umso teurer machte.

Als ich zu arbeiten anfing, legten meine Eltern Wert darauf, dass mir bewusst wurde, eine weniger gut geschützte Lebenswelt betreten zu haben. Denn für alle Tiere einschließlich der Menschen kommt die Zeit der Unabhängigkeit. Ich wohnte immer noch bei Mum und Dad, musste aber jetzt Miete zahlen und für meine Belange selbst aufkommen. So gewöhnte ich mich allmählich an meine neue Rolle im Leben. Mit dem Herzen aber war ich nicht bei meiner Arbeit, denn ich sehnte mich nach wie vor nach Freiheit und dem weiten Himmel über dem Buschland.

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