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Der größte Schatz ist die Liebe
Als Heiler ist Rory Buchanan viel zu beschäftigt, um auf Brautschau zu gehen. Doch als er den Auftrag erhält, einen "Schatz" in die Highlands zu geleiten, stellt er überrascht fest, dass es sich dabei um eine junge Frau handelt. Lady Elysande ist übel mitgenommen aus englischer Gefangenschaft entkommen und noch immer in Gefahr. Und auch wenn Rory sich einredet, dass es lediglich seine Aufgabe als Heiler ist, sie zu beschützen und ihre Verletzungen zu versorgen, merkt er doch schon bald, dass es sein eigenes Herz ist, das am meisten der Heilung bedarf - und Elysande die Einzige, die dies zu erreichen vermag.
"Dieses Buch war ein wahrer Genuss!" LONG AND SHORT BOOK REVIEWS
Band 9 der HIGHLANDER-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Lynsay Sands
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Seitenzahl: 499
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Ein Highlander für alle Fälle
Roman
Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold
Heirat und Eheleben sind etwas, das Rory Buchanan gern seinen zahlreichen Brüdern überlässt. Seine Aufgabe als Heiler nimmt ihn viel zu sehr in Anspruch, um sich auf die Suche nach einer Braut zu begeben. Doch als er den Auftrag erhält, für einen Freund einen »Schatz« in die Highlands zu geleiten, stellt er zu seiner großen Überraschung fest, dass es sich nicht um Gold und Silber handelt, sondern um eine schöne junge Frau. Lady Elysande de Valance ist nur mit knapper Not den englischen Soldaten entkommen, die sie verschleppt hatten, und ist noch immer in Gefahr. Rory ist entsetzt, als er sieht, dass Elysande offenbar übel mitgespielt wurde, und kümmert sich aufopfernd um ihre Verletzungen. Und auch wenn er sich einzureden versucht, dass es lediglich seine Pflicht als Heilkundiger ist, sie zu versorgen und vor allen Gefahren zu beschützen, merkt er doch schon bald, dass es sein eigenes Herz ist, das am meisten der Heilung bedarf – und Elysande die Einzige, die dies zu erreichen vermag.
Elysande erwachte durch das leise Klirren von Schlüsseln aus einem unruhigen Schlaf. Sie konnte nicht sehen, wer da kam, denn sie lag zusammengekrümmt auf dem feuchten Boden aus festgetretener Erde, den Blick auf die Wand gerichtet. Es interessierte sie auch nicht besonders. Es war entweder de Buci oder einer seiner Männer, der sie zurück in die Große Halle zerren würde, um sie wieder zu schlagen. Vielleicht würde de Buci ihr dieses Mal sogar noch etwas viel Schlimmeres antun, da er bisher trotz der Schläge nicht das bekommen hatte, was er wollte.
Bei dem Gedanken an die noch schlimmeren Dinge krampften sich ihre Finger in die stinkende, zerschlissene Decke, die sie wegen der Kälte hier unten im Kerker über sich gezogen hatte. Bevor sie von de Bucis Männern weggebracht worden war, hatte er ihr für das nächste Mal das Foltern angedroht: Vergewaltigung, das Abtrennen einer Hand oder eines Fußes, das Brandmarken ihres Gesichts mit einem glühenden Eisen, so dass alle sie voller Abscheu ansehen würden. Er hatte noch weitere Drohungen ausgestoßen, aber die hatte sie nicht mehr richtig gehört, da seine Stimme mehr und mehr zu einem gedämpften Knurren geworden war, als sie in die Eingeweide der Hölle – den Kerker von Kynardersley – gezerrt wurde.
Elysande hatte nie viel darüber nachgedacht, ob sie wohl eine mutige Frau war. Was ihr jetzt widerfuhr, verriet ihr, dass sie es nicht war. Hätte sie eine Antwort auf das gehabt, was de Buci von ihr wissen wollte, hätte sie ihm diese schon nach der Hälfte der Schläge gegeben. Doch sie kannte die Antwort nicht, so oft und hartnäckig er auch immer wieder gebrüllt hatte: »Wo ist es?«
»Was denn?«, hatte sie jedes Mal zurückgeschrien und nichts anderes gewollt, als dass die Misshandlungen endlich aufhörten. Aber alles, was sie zu hören bekommen hatte, war: »Du weißt, was! Wo ist es?«
Aber Elysande wusste es wirklich nicht. Am Morgen war sie noch glücklich und unbeschwert in ihrem Bett aufgewacht – in dem Zuhause, in dem sie aufgewachsen war, umgeben von liebevollen Eltern und Bediensteten und Soldaten, die sie als Familie betrachtet hatte. Aber jetzt …
Das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels brachte sie schließlich dazu, den Kopf zu heben und einen Blick über die Schulter zu werfen. Verblüfft starrte sie auf die Dienerin ihrer Mutter, die vor der Tür der Kerkerzelle stand. Überrascht setzte Elysande sich auf, spürte, wie die abrupte Bewegung sofort eine Woge von Schmerz durch ihren Körper schickte. Sie achtete jedoch nicht darauf, sondern krächzte verwirrt: »Betty?«
Die Augen der Dienerin weiteten sich alarmiert, und sie legte rasch einen Finger an die Lippen, um Elysande zum Schweigen zu bringen. Dann sah sie besorgt zu dem Wachposten, der zusammengesunken auf dem Stuhl beim Tisch vor der Zelle saß und schlief. Als der Mann weiter laut schnarchte, richtete Betty ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schlüsselbund in ihrer Hand. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und probierte es mit dem nächsten, der sich an dem Ring mit etwa einem halben Dutzend großer Schlüssel befand.
Elysande sah schweigend zu; halb fürchtete sie, dass sie das alles nur träumte. Dann, als Betty es mit dem dritten Schlüssel versuchte, öffnete sich die Tür endlich. Sie zuckten beide zusammen, so laut quietschte die Tür in den Angeln, und ihre Blicke schossen sofort zur Wache. Der Mann schnarchte jedoch immer noch laut vor sich hin.
»Könnt Ihr aufstehen?«, flüsterte Betty.
Bei diesen Worten sah Elysande wieder zur Dienerin hin, ein bisschen verblüfft, dass sie plötzlich direkt vor ihr stand. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie sich bewegt hatte. Statt die Frage zu beantworten, ließ Elysande die schäbige Decke los und streckte die Hand nach Betty aus. Sie wollte sie anfassen, um sicher zu sein, dass sie echt war, aber die Dienerin musste es für eine stumme Bitte um Hilfe gehalten haben, denn sie nahm sofort Elysandes Arm und fing an, sie hochzuziehen.
Elysande wappnete sich gegen den Schmerz, und mit Bettys Hilfe gelang es ihr, taumelnd auf die Beine zu kommen. Am Ende war sie schweißnass und schwankte, während sie gegen den Schmerz und die Benommenheit ankämpfte.
»Könnt Ihr gehen, Mylady?«, flüsterte Betty besorgt; sie schien den Tränen nahe zu sein, als sie Elysande am Arm festhielt, um sie zu stützen.
Elysande schluckte die in der Kehle aufsteigende Galle hinunter und nickte grimmig. Sie würde gehen, auch wenn es sie umbrachte.
Betty legte sich Elysandes Arm über die Schultern und half ihr, sich zur Tür zu schleppen. Es ging langsam, war mühsam und anstrengend, aber als sie schließlich vor der Zelle standen, bedeutete sie ihr, stehen zu bleiben und sich an dem Riegel festzuhalten. Dann eilte sie ans andere Ende des kurzen Ganges und griff nach einer Tasche, die dort gegen die Wand gelehnt stand. Elysande runzelte leicht die Stirn, stellte aber keine Fragen; sie sah, wie Betty ein Kleid aus der Tasche zog und es rasch mit dem stinkenden Stroh füllte, das überall auf dem Gang lag. Zum Schluss packte sie auch Stroh in die Tasche und hastete in die Zelle, wo sie beides auf den Boden legte und die schäbige Decke darüber ausbreitete. Als Betty sich schließlich aufrichtete und ihr Werk betrachtete, verstand Elysande, was sie getan hatte. Was dort an der hinteren Wand der Zelle auf dem Boden lag, sah aus wie eine Gestalt, die sich zusammengerollt hatte. Als läge sie immer noch da, begriff Elysande, während die Zofe die Zelle verließ und die Tür hinter sich schloss.
Als deren Angeln dabei erneut laut und protestierend quietschten, spannten die beiden Frauen sich an und sahen argwöhnisch zu der Wache hin. Aber der Mann schlief weiter.
Elysande stieß einen erleichterten Atemzug aus und holte erneut Luft, die sie jedoch anhielt, als Betty vorsichtig zu dem Mann ging. Sie legte die Schlüssel behutsam auf den Tisch vor ihm, von wo sie sie offensichtlich genommen hatte. Obwohl die Zofe vorsichtig zu Werke ging, war ein leises Klirren zu hören, der Mann regte sich aber immer noch nicht.
Betty stieß einen kleinen, zittrigen Seufzer aus, dann kehrte sie rasch zu Elysande zurück und legte sich deren Arm wieder über die Schultern.
»Hier entlang«, flüsterte sie und führte sie zum Ende des Ganges, wo sich die Tasche befunden hatte.
»Mutter?«, fragte Elysande leise, als die Zofe auf einen der Steine in der Mauer drückte und ihn drehte.
»Aye. Sie hat mir erklärt, wie ich den Geheimgang öffne«, erklärte Betty.
Das hatte Elysande nicht gemeint; sie hatte wissen wollen, wie es ihrer Mutter ging. Dann schwang ein Teil der Wand auf, und eine Million Treppenstufen schien sich vor ihr nach oben zu erstrecken. Elysande kam zu dem Schluss, dass es ihrer Mutter gut gehen musste, wenn sie ihrer Dienerin Befehle erteilt hatte. Daher sparte sie sich den Atem und betrat schweigend den Geheimgang.
Die Stufen waren in den Fels gehauen worden und verschwanden in der Dunkelheit; sie waren zu schmal, als dass sie nebeneinander hätten gehen können. Hier konnte Betty ihr nicht helfen. Elysande würde alleine klarkommen müssen. Und das würde sie auch, sagte sie sich fest entschlossen, und wenn sie sich auf dem Bauch kriechend voranschleppen müsste. Und so kam es auch fast. Elysande war auf den Händen und Knien, als sie oben an der Treppe ankam.
Sie keuchte, als sie die letzte Stufe hinter sich brachte. Dann sackte sie erleichtert auf dem kalten Stein zusammen. Jeder Muskel in ihrem Körper zitterte vor Erschöpfung.
»Mylady?«
Elysande seufzte, als sie Betty flüstern hörte. Sie wollte einfach nur liegen bleiben und sterben, aber das konnte sie nicht. Ihre Mutter …
Kühler Stoff strich über ihren Arm und ihre Wange, und sie öffnete die Augen. Sie konnte in der Dunkelheit nichts sehen, aber sie vermutete, dass Betty in dem schmalen Gang vorsichtig über sie hinweggestiegen war und jetzt neben ihr stand; vermutlich hatte sie ihr Kleid gespürt.
»Mylady? Viel weiter ist es jetzt nicht mehr.« Während Betty die Worte flüsterte, packte sie Elysande an den Schultern und versuchte, sie aufzurichten.
Elysande achtete nicht auf ihre Schmerzen, sondern biss die Zähne zusammen und kämpfte sich auf die Knie. Dann stützte sie sich mit einer Hand an der Wand ab, griff mit der anderen nach dem Arm des Mädchens und schaffte es, auf die Beine zu kommen.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Betty besorgt.
»Es geht mir gut«, sagte Elysande keuchend und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Gehen wir weiter. Ich möchte Mutter sehen.«
Sie spürte jetzt eher als dass sie sah, dass das Mädchen sich von ihr fortbewegte. Elysande atmete noch einmal tief durch, dann stützte sie sich mit den Händen zu beiden Seiten an den Wänden ab und kämpfte sich voran. Wie weit sie hinter Betty zurückgefallen war, begriff sie erst, als die Zofe gute zehn Fuß voraus die Tür zum Zimmer von Elysandes Mutter öffnete und Licht von dort in den Gang fiel.
Sie streckte die Schultern und versuchte, schneller zu gehen. Doch es kam ihr vor, als würde sie ewig brauchen, den Durchgang zu erreichen – und bis das Licht im Zimmer sie blendete. Es brannten nur zwei kleine Kerzen, aber nach ihrer Zeit im dunklen Kerker empfand sie das Kerzenlicht als so grell, als würde sie in die Sonne blicken. Sie musste die Augen schließen, um sie zu schützen. Glücklicherweise bemerkte Betty das sofort, ergriff sie am Arm und führte sie durch das Zimmer zum Bett ihrer Mutter.
Als Elysande sich neben dem Bett auf die Knie sinken ließ, hatten sich ihre Augen einigermaßen an die Helligkeit gewöhnt, auch wenn sie noch immer blinzeln musste, um etwas sehen zu können. Ihr Blick glitt über die zerbrechliche Gestalt ihrer Mutter, und sie hätte weinen können angesichts der vielen Blutergüsse, die auf jedem Zoll von Mairghread de Valances Körper zu sehen waren, der nicht von den Fellen auf dem Bett bedeckt war.
»Mutter?«, fragte sie leise und nahm deren Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, als sie fühlte, wie geschwollen die Finger waren. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass de Buci sie ihr gebrochen hatte.
»Oh Mama«, stöhnte sie und legte verzweifelt die Stirn auf das Bett.
»Ellie.«
Als sie die brüchige Stimme hörte, hob sie sofort den Kopf. »Ja, ich bin hier.«
»Die Buchanans«, brachte ihre Mutter hervor; ihre Stimme war so schwach, dass Elysande nicht sicher war, ob sie richtig gehört hatte.
»Die Buchanans?«, fragte sie verwirrt. Elysande war müde, und ihr tat alles weh, in ihrem Kopf wirbelte ein einziges Durcheinander aus Sorgen, Schmerz und Angst. Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, warum ihre Mutter ausgerechnet jetzt den Clan erwähnte.
»Der Buchanan-Heiler ist zurzeit in England. Du musst zu ihm gehen. Er kann dich zu meiner Schwester bringen.«
»Nein, ich werde dich nicht allein lassen«, widersprach Elysande sofort, und ihre Mutter öffnete in diesem Moment die Augen. Feuer brannte darin, und Entschlossenheit.
»Das musst du aber«, befahl ihre Mutter und trug ihr auf, was sie tun sollte.
»Himmel, Buchanan«, sagte Ralph FitzBaderon fröhlich. Der Baron von Monmouth griff nach seinem Bier, während er weitersprach. »Ich dachte schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Ihr habt ein wahres Wunder vollbracht und mir das Leben gerettet. Ich kann es immer noch nicht fassen. Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht zum Teil Engländer seid?«
»Aye«, antwortete Rory. Er war nicht ganz bei der Sache, da er rasch die Nachricht überflog, die sein Bruder Alick ihm gerade gegeben hatte.
»Nun«, sagte der Baron mit einem Kopfschütteln. »Ich denke, irgendwo in Euch muss etwas Englisches sein.«
»Wieso?«, fragte Alick neben ihm, und Rory hätte beinahe leise geseufzt; er wusste, dass seinem Bruder die Antwort genauso wenig gefallen würde wie ihm. An die hundert Mal hatte er sich in den letzten zwei Wochen so etwas anhören müssen.
»Weil die Schotten ungebildete Heiden sind«, erklärte Baron Monmouth. »Wohl kaum in der Lage, es zu einer solchen Meisterschaft im Heilen zu bringen wie Euer Bruder. Nein. Irgendwo in Eurer Familiengeschichte muss es etwas Englisches geben.«
»Und doch ist es nicht so«, sagte Rory leichthin, während Alick neben ihm erstarrte. Er rollte die Nachricht wieder zusammen, die er zu Ende gelesen hatte, steckte sie in sein Plaid und stand auf, um den Tisch zu verlassen. »Wir müssen los, Alick.«
»Aye«, knurrte sein jüngerer Bruder, erhob sich ebenfalls sofort und folgte ihm. »Gott sei Dank.«
»Wartet!«, wandte Baron Monmouth ein, sprang auf und beeilte sich, Rory einzuholen, der seinem Bruder voraus auf die großen Türen des Wohnturms der Burg zuging. »Was ist mit FitzAlan? Ich habe Euch doch gesagt, dass er ein Leiden hat und möchte, dass Ihr ihn Euch anseht.«
»Es gibt keine Vereinbarung mit FitzAlan«, entgegnete Rory ungerührt, riss die Tür auf und trat hinaus in den beißenden Wind. Es schien eher Januar oder Februar zu sein und nicht später November. Der Geruch von Schnee hing in der Luft. Es sah so aus, als würde der Winter in diesem Jahr früh einsetzen.
»Aber ich habe Euch ein kleines Vermögen gezahlt!« Baron Monmouth folgte ihm hastig die Stufen hinunter. »Ihr könntet Euch den Mann zumindest einmal ansehen. Er müsste schon bald hier sein. Er –«
»Ihr habt mich dafür bezahlt, Euch zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen, und das habe ich getan«, hielt Rory ihm sanft entgegen. Er zog sich den oberen Teil seines Plaids über die Schultern, während er mit langen, raschen Schritten den Burghof durchquerte. »Es geht Euch gut, der Handel ist beendet, und wir brechen auf.«
»Gott sei Dank«, murmelte Alick neben ihm mit einer Mischung aus Erleichterung und Abscheu, was Rory nur zu gut verstand. Das hier war nicht sein erster Besuch in England, aber er war fest entschlossen, dass es sein letzter sein würde. Er hatte eigentlich auch gar nicht herkommen wollen, doch Monmouth hatte ihm ein Vermögen angeboten, damit er in dieses gottverlassene Land reiste und ihn heilte. Zwei Wochen in England waren aber bereits zwei zu viel, und selbst das Vermögen, das er gerade gemacht hatte, war es nicht wert, sich ständig die höhnischen Äußerungen über sein Heimatland und seine Landsleute anhören zu müssen, die er, Alick und ihre Männer hatten erdulden müssen.
Dabei war das, was Monmouth gerade gesagt hatte, sogar noch freundlich im Vergleich zu dem, was die Soldaten des Barons im Laufe der letzten Wochen an Beleidigungen von sich gegeben hatten. Zwei Tage lang hatten sie sich diesen Unsinn angehört, und drei Mal hatte das zu Kämpfen zwischen den englischen Soldaten und den schottischen Kriegern geführt, die ihn und Alick auf der Reise begleiteten. Danach hatte Rory seinem Bruder erklärt, er und ihre Begleiter sollten besser im Wald vor den Mauern von Monmouth lagern. Dort hatten sie dann geduldig darauf gewartet, dass er seine Arbeit beendete und sie endlich aufbrechen konnten.
»FitzAlan wird Euch dafür bezahlen, dass Ihr Euch um ihn kümmert!«, rief Monmouth. Der Mann folgte ihnen immer noch, konnte letztlich aber nicht mithalten und fing an zu schnaufen und zu keuchen, während er hinter ihnen zurück blieb.
»Geht wieder ins Haus, Mylord«, rief Rory entschlossen, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu ihm umzudrehen. »Ihr seid zwar auf dem Wege der Besserung, aber noch nicht kräftig genug, um hier herumzulaufen, schon gar nicht bei dieser Kälte.«
»FitzAlan wird Euch geben, was immer Ihr verlangt«, beharrte Monmouth, der jetzt nach Luft schnappte.
Rory blieb stehen.
»Gott, nein, Bruder«, zischte Alick neben ihm. Er klang alarmiert. Rory beachtete ihn nicht und wandte sich jetzt doch zu dem Baron um.
»Was immer Ihr verlangt«, wiederholte Monmouth mit krächzender Stimme. Er bückte sich, stützte die Hände auf die Knie, als würde er versuchen, zu Atem zu kommen.
»Baron, es gibt in der ganzen Christenwelt nicht genug Münzen, um mich dazu zu bringen, noch eine weitere Nacht in England zu bleiben«, sagte er ruhig. »Und jetzt geht wieder hinein, bevor Ihr wieder krank werdet. Denn ich werde nicht bleiben, um Euch erneut zu heilen.«
Alicks Erleichterung war unübersehbar, als Rory seinen Weg zu den Ställen fortsetzte, aus denen bereits ihre Pferde herausgeführt wurden.
Baron Monmouth gab es auf, Rory zu folgen.
»Ich hatte schon befürchtet, du würdest dich von den Münzen doch verlocken lassen und wärst einverstanden, diesen FitzAlan zu sehen.«
Rory schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich will nach Hause. Ich habe genug von diesem gottverlassenen Land.«
»Aye«, murmelte Alick und starrte die Leute, die im Burghof herumliefen, finster an.
Rory dankte dem Jungen, der sein Pferd gesattelt hatte und nach draußen führte, stieg rasch auf und wartete, dass Alick ebenfalls bereit zum Aufbruch war. »Abgesehen davon haben wir etwas anderes zu tun.«
Alick nahm die Zügel und sah ihn überrascht an. »Und das wäre?«
»Einen Schatz abholen und nach Sinclair bringen.«
»Stand das in der Nachricht?«, fragte Alick. Er kniff die Augen zusammen.
Rory nickte, schnalzte mit der Zunge und drängte sein Pferd, sich in Bewegung zu setzen.
»Was ist das für ein Schatz?«, rief Alick.
Als Rory auf die Frage nicht antwortete und nur noch schneller davonritt, folgte Alick ihm fluchend. Rory wollte nicht darüber sprechen, ehe sie nicht ein gutes Stück von Monmouth entfernt waren, und ritt in raschem Trab über die Zugbrücke. Als sie das offene Gelände vor den Burgmauern erreicht hatten, trieb er sein Pferd im Galopp über das von Frost überzogene Gras.
Er hörte Alick hinter sich pfeifen, woraufhin die vier Krieger, die ihr Bruder Aulay ihnen mitgegeben hatte, auf ihren Pferden aus dem Wald auftauchten. Rory ritt sofort auf sie zu.
»Habt ihr das Lager abgebrochen und seid so weit, dass wir nach Hause zurückkehren können?«, fragte er und zügelte sein Pferd vor ihnen. Es überraschte ihn nicht, dass sie schweigend nickten. Auf Reisen hatten sie für gewöhnlich nur wenig Gepäck bei sich, da es ihnen genügte, sich des Nachts in ihre Plaids zu wickeln. Es gab daher nicht viel zu tun, um das Lager abzubrechen. Lediglich das, was vom abendlichen Lagerfeuer noch übrig war, musste endgültig gelöscht werden.
»Was hast du vorhin gemeint? Was für ein Schatz soll das sein?«, fragte Alick, als er sein Pferd neben ihm zum Stehen brachte. »Und von wem stammt diese Nachricht, die du heute Morgen bekommen hast?«
Rory wölbte bei der zweiten Frage überrascht eine Braue. »Hat der Bote das nicht gesagt, der sie dir ausgehändigt hat?«
»Nein«, erwiderte Alick grimmig. »Und er ist auch nicht lange genug geblieben, dass ich irgendwelche Fragen hätte stellen können. Er ist kurz hier aufgetaucht, hat Conn die Nachricht zugeworfen und gesagt, sie sei für Rory Buchanan bestimmt. Ehe irgendwer sich auch nur rühren konnte, war er schon wieder auf und davon. Da ich ohnehin zu dir wollte, um mich zu vergewissern, dass wir wirklich heute aufbrechen, habe ich sie dir mitgebracht.«
Noch bevor Rory etwas dazu sagen konnte, neigte Conn plötzlich den Kopf zur Seite und spannte sich an.
»Reiter«, murmelte Alick einen Moment später.
Sie alle schauten sofort zum anderen Ende der Lichtung, aber noch war niemand zwischen den Bäumen zu sehen. Trotzdem drängte Rory sein Pferd rasch weiter den Pfad entlang, damit sie vor Blicken geschützt wären. Die anderen taten es ihm gleich und saßen still und leise im Schutz des Waldes auf ihren Pferden, um zu sehen, wer sich ihnen näherte. Nicht lange, und ein großes Kontingent Soldaten kam aus dem Wald am anderen Ende der Lichtung geritten und hielt auf die Tore von Monmouth zu.
»Denkst du, das ist FitzAlan?«, fragte Alick.
»Nein«, sagte Rory stirnrunzelnd. »Bei diesem Haufen sind keine Adeligen. Das sind alles Soldaten.« Er sah schweigend zu, wie sich ein halbes Dutzend Männer von der Gruppe löste und die Zugbrücke überquerte, während die anderen davor warteten. Rory wendete sein Pferd und spornte es wieder zum Galopp an. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Männer etwas mit der Nachricht zu tun hatten, die er erhalten hatte, und dass es gut wäre, wenn er so rasch wie möglich den erwähnten Schatz fand und sie dann nach Norden ritten. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf ließ er sein Pferd weiter galoppieren, bis sie eine halbe Stunde später eine Stelle erreichten, an der der Pfad durch den Fluss führte. Rory durchquerte das flache Wasser, zügelte dann sein Pferd und sah sich um. Er musterte die Bäume beiderseits des Weges.
Es überraschte ihn nicht, dass Alick sofort wieder zu ihm kam. Um den Fragen zuvorzukommen, die – wie er wusste – seinem Bruder auf der Zunge lagen, sagte er rasch: »Die Nachricht, die du mir gebracht hast, stammt von Lady Mairghread de Valance, Baroness von Kynardersley. Sie ist die Schwester von Lady Sinclair.«
»Sie ist die Schwester von Jo?«, fragte Alick verblüfft.
Lady Jo Sinclair war die teure Freundin ihrer Schwester Saidh, Gemahlin von Laird Campbell Sinclair und die einzige Lady Sinclair, der sie bisher begegnet waren.
»Nein. Von Lady Bearnas Sinclair. Cams Mutter«, antwortete Rory geistesabwesend, während er gleichzeitig den Wald um sie herum eingehend musterte und nach dem Hinweis suchte, von dem in der Nachricht die Rede gewesen war.
»Oh«, murmelte Alick. »Dann stammt die Nachricht also von Cams Tante, die möchte, dass du einen Schatz von hier zu den Sinclairs bringst.« Als Rory darauf nicht reagierte, fragte er: »Wonach suchst du?«
»Irgendwo hier muss ein –« Rory machte eine Pause und lächelte. »– eine Schleife sein.«
»Eine Schleife?«, fragte Alick und rückte näher zu ihm. »Ich kann keine –«
Er sprach nicht weiter, als Rory auf die schmale, weiße Schleife deutete, die links von ihnen an einem Baumstamm befestigt war. Daneben befand sich ein schmaler Pfad, der tiefer in den Wald führte. Man hätte ihn leicht übersehen können, hätte dort nicht die Schleife gehangen und ihnen den Weg gewiesen.
»Soweit ich mich erinnere, hat Cam nie erwähnt, dass er eine Tante hat, aber selbst wenn es so ist – was hat sie dann in England zu suchen?«, fragte Alick und rückte sich unbehaglich im Sattel zurecht. »Vielleicht ist es ein Trick oder eine Falle.«
»Vielleicht«, stimmte Rory ihm zu. Er war sich nur zu sehr bewusst, dass die anderen sich bei seinen Worten noch etwas mehr aufrichteten und mit ihren Blicken die Umgebung nach irgendwelchen Hinweisen auf Probleme absuchten.
Sie schwiegen alle ein paar Momente, lauschten den Geräuschen, mit denen der beißende Wind durch die Bäume fegte. Dann drehte Rory sich im Sattel zu den vier Kriegern um, die mit ihnen ritten. »Fearghas und Donnghail, ihr beide bleibt hier und haltet die Augen offen. Holt uns, wenn ihr denkt, dass es irgendwie Ärger geben könnte.«
Er wartete gerade lang genug, dass er die Männer nicken sah, dann wandte er sich an die anderen: »Der Rest kommt mit mir.«
Rory drängte sein Pferd den neuen Pfad entlang, legte dabei eine Hand an sein Schwert, um es beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten ziehen zu können. Der schmale Pfad – wenn er überhaupt als solcher bezeichnet werden konnte – zwang sie dazu, hintereinander zu reiten. Sie ließen die Pferde, angeführt von Rory, im Schritttempo gehen. Alick folgte ihm dichtauf, und Conn und Inan bildeten die Nachhut. Niemand sagte ein Wort, alle beobachteten aufmerksam den sie umgebenden Wald. Schließlich stieß Rory auf eine kleine Lichtung, auf der ein einsamer Wagen stand. Niemand war zu sehen. Als Rory am Rand der Lichtung im Schutz der Bäume haltmachte, kam Alick zu ihm geritten, um ebenfalls einen besseren Blick darauf werfen zu können.
»Wo ist das Pferd?«, fragte Conn mit seiner polternden Stimme. Der Krieger hatte sein Pferd links neben Rory gebracht, während Inan hinter ihnen blieb und ihnen Rückendeckung gab.
Rory verengte die Augen, um die Lichtung genauer zu mustern. Der Wagen musste mit einem Pferd hierher geschafft worden sein, aber es war keines zu sehen.
»Was genau hat Sinclairs Tante in der Nachricht geschrieben?«, fragte Alick grimmig mit wachsamem Blick, während er auf die Antwort wartete.
»Dass wir, wie sie gehört hätte, in der Gegend sind, und dass sie von ihrer Schwester wüsste, wie gut wir Buchanans mit den Sinclairs befreundet sind. Deshalb bittet sie uns um Hilfe. Es gehe um einen großen Schatz, den wir am Ende eines mit einem Band gekennzeichneten Weges finden würden, gleich jenseits des Flusses in den Wäldern außerhalb von Monmouth. Und sie würde uns auf ewig dankbar sein, wenn wir diesen Schatz sicher nach Sinclair bringen.«
»Auf ewig dankbar, ja?«, murmelte Alick und wandte den Kopf, um den Pfad hinter ihnen zu betrachten. »Von einer Belohnung steht da nichts?«
»Nein.«
»Nun ja, wäre es eine Falle, hätte man uns vermutlich eine Belohnung in Aussicht gestellt«, sagte Alick.
»Aye«, murmelte Rory, ehe er Conn und Inan bedeutete, im Schutz der Bäume zu warten, während er sein Pferd vorsichtig aus dem Wald auf die kleine Lichtung lenkte. Er ritt zu dem Wagen und warf einen Blick hinein. Da lag etwas auf dem Boden, ein undefinierbares Bündel, bedeckt von einem großen Fell. Rory zögerte und sah noch einmal zum Wald, bevor er sich vorbeugte, eine Ecke des Fells nahm und es zur Seite zog.
»Was ist es?«, fragte Alick und drängte sein Pferd ebenfalls neben den Wagen.
Rory machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Sein Bruder war bereits nahe genug, um es selbst sehen zu können. Er griff nach einem der vier unförmigen Beutel, die von dem Fell verborgen gewesen waren. Er war so leicht, dass er überrascht die Brauen wölbte. Nicht so leicht wie eine Feder, aber auch nicht schwer genug, dass Juwelen oder Gold darin sein konnten. Er vermutete, dass es Stoffe waren, was sich auch bewahrheitete, als er den Beutel öffnete und hineinsah. Blauer Samt lag zuoberst, verbarg andere Stoffe darunter. Rory nahm sich einen Moment Zeit, um den Grund des Beutels zu ertasten und herauszufinden, ob sich dort irgendetwas Festes befand, aber er fühlte nur noch mehr Stoff.
Er zog an den Schnüren, um den Beutel wieder zu schließen, ehe er ihn an den Sattel hängte, damit er ihm nicht im Weg war. Dann griff er nach einem anderen Beutel. Er war genauso leicht wie der erste, enthielt hauptsächlich Stoff und etwas, das sich anfühlte wie eine Bürste, als er den Beutel von außen betastete.
»Kleidung?«, sagte Alick und musterte den Beutel, den er in der Hand hielt, und als Rory zustimmend knurrte, fragte er: »Wo ist dann der Schatz, den wir mitnehmen sollen?«
Rory wollte schon zugeben, dass er keine Ahnung hatte, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der anderen Seite der Lichtung wahrnahm. Sie sahen schweigend zu, wie zwei Reiter aus dem Wald kamen. Es waren englische Soldaten, die sehr langsam ritten, so dass einige Zeit verging, bevor sie den Waldrand hinter sich ließen und hinter ihnen ein drittes Pferd auftauchte. Auf diesem saß eine Frau, die jedoch nicht zu erkennen war, denn sie war in einen fellgesäumten silberblauen Umhang gehüllt, dazu trug sie eine Bundhaube und einen Schleier in der gleichen Farbe.
Rory zog die Augenbrauen hoch. Er hatte schon viele Frauen mit einer solchen Kopfbedeckung gesehen, doch für gewöhnlich bedeckte der Schleier nur den unteren Teil des Gesichts. Diese Frau hatte ihr Gesicht so vollständig verhüllt, dass er sich fragte, wie sie überhaupt etwas sehen konnte. Ihre Gesichtszüge waren jedenfalls nicht zu erkennen.
»Lady de Valance?«, fragte er. Er vermutete, dass sie persönlich hergekommen war, um ihnen den Schatz zu übergeben.
»Aye.«
Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern, und er beugte sich über den Hals seines Pferdes vor, um ihre nächsten Worte besser verstehen zu können.
»Ich bin Rory Buchanan, und das ist mein Bruder Alick«, stellte er sich vor, als sie schwieg. »Ihr habt uns um Hilfe gebeten, einen Schatz nach Sinclair zu befördern?«
»Nein.« Obwohl Rory sich weit nach vorn gebeugt hatte, konnte er das Wort nur mit Mühe verstehen. Aber dann räusperte sie sich und sagte etwas lauter: »Meine Mutter, Lady Mairghread de Valance, hat Euch geschrieben. Ich bin Elysande de Valance. Sie möchte, dass Ihr mich nach Sinclair bringt.«
Rory richtete sich auf, während ihre Worte über ihn hinwegströmten. Lady Mairghread de Valances größter Schatz war ihre Tochter, und sie wollte, dass er Elysande nach Norden zu den Sinclairs eskortierte.
Ein Blick auf Alick verriet ihm, dass diese Neuigkeit auch ihn verblüffte. Während er die Nachricht immer noch verdaute, fügte Elysande hinzu: »Ich war mir sicher, dass Tom und Simon genügen würden, um mich nach Norden zu begleiten. Als kleine Gruppe würden wir schnell vorankommen. Mutter schien allerdings zu glauben, dass es besser wäre, wir hätten Schotten bei uns. Sie sagte, dass Engländer in den Highlands nicht besonders gut gelitten sind und es sicherer wäre, auch eine schottische Eskorte zu haben.«
Als Rory nicht sofort antwortete, richtete sie sich leicht auf und fügte hinzu: »Mutter sagte auch, dass Ihr mit unseren Verwandten, den Sinclairs, befreundet seid und deshalb vielleicht einverstanden sein werdet, uns zu helfen. Jedoch würde ich es verstehen, wenn Euch das zu viele Umstände bereitet. Wir werden auch allein zurechtkommen.«
»Nein«, sagte Rory sofort, als sie nach den Zügeln ihres Pferdes griff und Anstalten machte, wegzureiten. »Die Sinclairs sind tatsächlich gute Freunde von uns. Wir bringen Euch gerne zu ihnen.«
Rory bemerkte, wie sich ihre Schultern ein bisschen entspannten, aber statt sich zu bedanken, nickte sie nur knapp und fragte: »Wollen wir dann?«
Einen ganz kleinen Moment zögerte Rory. Er dachte darüber nach, dass ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, dass er Gründe haben könnte, nicht sofort aufzubrechen. Sie konnte schließlich nicht wissen, dass er ohnehin geplant hatte, an diesem Morgen zur Rückreise nach Schottland aufzubrechen. Noch wichtiger war die Tatsache, dass sie ihm keinerlei Erklärung für diese Reise bot. Dabei wusste er, dass es eine geben musste – eine interessante noch dazu. Hätte sie einfach nur Verwandte besuchen wollen, wäre sie von einem großen Gefolge aus Soldaten und Bediensteten begleitet worden, zusammen mit Wagen, in denen Zelte und Ähnliches transportiert wurden, damit die Lady es bequem hatte. Ganz sicher wären auch andere Frauen dabei gewesen. Aber sie reiste allein, nur von zwei Soldaten begleitet.
Ein scharfes Pfeifen unterbrach abrupt die Gedanken, die ihm im Kopf herumgingen. Es kam von dort, wo er Conn und Inan zurückgelassen hatte. Er sah zu den beiden Kriegern hin, zu denen sich jetzt auch Fearghas und Donnghail gesellt hatten. Die vier lösten sich vom Waldrand und kamen über die Lichtung zu ihnen geritten.
Rory wölbte die Brauen, als er ihnen entgegenritt; er wusste, dass etwas passiert sein musste. Donnghail und Fearghas hätten den Befehl, Wache zu stehen, sonst niemals gebrochen, um zu ihnen zu reiten.
»Reiter«, erklärte Fearghas, kaum dass Rory nah genug war, um ihn hören zu können. »Eine große Gruppe. Mindestens zwanzig, aber dem Lärm nach, den sie veranstalten, müssen es noch mehr sein. Ich vermute, es handelt sich um die Soldaten, die nach Monmouth unterwegs waren, als wir von dort aufgebrochen sind.«
Rory runzelte die Stirn und warf einen Blick zu der Frau und deren beiden Begleitern; einer von ihnen nahm gerade die letzten beiden Beutel und das Fell aus dem Wagen. Er reichte das Fell seinem Kameraden, der es an seinem Sattel befestigte, während er die Beutel an seinen eigenen hängte. Dies erinnerte Rory daran, dass er immer noch den zweiten Beutel in der Hand hielt, den er sich angesehen hatte. Er hängte ihn zu dem ersten an seinen Sattel und überdachte die Situation, in der sie sich befanden. Er hatte keine Ahnung, ob die Soldaten, die nach Monmouth geritten waren, nach dem Mädchen suchten, aber es spielte auch keine Rolle. So oder so zog er es vor, ihnen aus dem Weg zu gehen. Es konnte immer Probleme geben, wenn man auf Reisen einer größeren Gruppe Soldaten begegnete, und das war etwas, das er auf jeden Fall vermeiden wollte, wenn eine Lady mit ihnen ritt.
»Wir werden uns von der Hauptstraße fernhalten und so schnell wie möglich durch die Wälder reiten«, entschied er und richtete sich im Sattel auf. Er wartete nicht darauf, dass die anderen ihm zustimmten, sondern führte sie zu den Engländern, um ihnen seine Entscheidung mitzuteilen. Die grimmigen Mienen der Soldaten und die Art und Weise, wie sich die Frau anspannte, als sie von den sich nähernden Soldaten hörte, verriet ihm, dass sie wirklich mit Schwierigkeiten zu rechnen haben würden. Er unterließ es aber, sie in diesem Moment dazu zu befragen; dafür hatten sie jetzt nicht die Zeit. Die Antworten, die er brauchte, konnte er auch später bekommen, dachte Rory und brachte sie alle dazu, sofort loszureiten.
»Seid Ihr in Ordnung, Mylady? Möchtet Ihr eine Pause machen?«
Die Worte machten Elysande klar, dass sie in sich zusammengesunken war und ein bisschen schwankte. Sie richtete sich sofort wieder auf und machte ein finsteres Gesicht, obwohl sie wusste, dass Tom ihre Miene durch den Schleier hindurch gar nicht sehen konnte. Oder vielleicht auch gerade deshalb, weil er es nicht sehen konnte. Sie wusste, dass der Soldat gefragt hatte, weil er um sie besorgt war, und sie hätte dies ganz sicher zu schätzen gewusst – hätte er mit seiner Frage nicht ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Schmerzen gelenkt, die sie die letzten paar Stunden ihrer Reise zu ignorieren versucht hatte.
Die Wahrheit war, dass es Elysande gar nicht gut ging. Sie war müde, und alles tat ihr weh. Am liebsten hätte sie haltgemacht und sich ausgeruht. Aber das durften sie jetzt nicht. Sie würde erst in Sicherheit sein, wenn sie Sinclair erreicht hatten. Dort würde sie sich ausgiebig ausruhen können, und wenn sie wollte, eine ganze Woche lang schlafen.
Aber guter Gott, ihr ganzer Körper tat so furchtbar weh, dass sie sich nur noch hinlegen und sterben wollte. Und die Schmerzen betrafen nicht nur ihren Körper. Ihre Mutter und ihr Vater –
Elysande unterbrach den Gedankenstrom abrupt, um nicht in Tränen auszubrechen, und zwang sich, ihr Rückgrat gerade zu halten. Sie würde nicht sterben. Zumindest nicht ohne einen ordentlichen Kampf. Sie würde ihre Verluste und diesen höllischen Ritt überleben und Sinclair erreichen. Es war das Letzte, das sie für ihre Mutter tun konnte.
»Ich werde dem Buchanan sagen, dass Ihr eine Pause braucht.«
Toms Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und sie schüttelte wieder den Kopf. »Nein, es geht mir gut. Wir werden nicht anhalten.«
Der Soldat zögerte kurz, aber dann lehnte er sich mit einem missbilligenden Knurren im Sattel zurück. Es überraschte sie nicht. Tom wusste, wie schlimm sie verletzt war. Er hatte sie aus dem Zimmer ihrer Mutter getragen, den Geheimgang benutzt, um sie zum Wagen und den Pferden zu bringen, die er und Simon im Wald vor den Burgmauern bereitgestellt hatten. Er hatte sie sanft in den Wagen gelegt, und dann waren sie aufgebrochen, und obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, nicht zu stöhnen und zu schreien vor Schmerzen, war es ihr nicht möglich gewesen. Dazu war sie auf dem Weg nach Monmouth zu sehr hin und her geschüttelt worden.
Sie waren ein paar Stunden vor der Morgendämmerung auf der Lichtung angekommen, und Elysande hatte sich bis zum Sonnenaufgang ausruhen können. Erst als Simon zurückgekehrt war, nachdem er Rory Buchanan die Nachricht ihrer Mutter überbracht hatte, war sie auf ihre Stute gestiegen. Die beiden Männer waren dagegen gewesen und hatten darauf beharrt, dass sie sich im Wagen fahren ließ, aber Elysande hatte genauso darauf beharrt, dass sie reiten würde. Am Ende hatte sie sich durchgesetzt. Sie hatte nicht auf dem Rücken liegen wollen, wenn sie den Buchanans begegnete. Sie hatte nicht gewollt, dass sie wussten, dass sie verletzt war, und sie wollte nicht die Demütigung erleben, wenn sie zusahen, wie ihre Männer ihr halfen, irgendwie in den Sattel zu kommen. Tom und Simon hatten sich ziemlich viel Mühe geben müssen, um sie auf ihr Pferd zu hieven. Allein hätte sie es niemals geschafft, aber als sie erst dort saß, fühlte sie sich tatsächlich ein bisschen besser. Auf dem Wagen war sie fürchterlich durchgeschüttelt worden, während sie nach Monmouth unterwegs gewesen waren, und sie hatte ununterbrochen Schmerzen gehabt. Es fühlte sich besser an, aufrecht im Sattel zu sitzen. Zumindest solange, bis sie losgeritten waren. Jetzt war es fast so schlimm wie zuvor im Wagen. Im Liegen hatte sie zumindest nicht ihre zitternden Muskeln anstrengen müssen, um aufrecht sitzen zu bleiben.
Als Tom plötzlich zurückfiel, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Weg vor ihnen, und sie bemerkte, dass er wieder schmaler wurde und sie hintereinander reiten mussten. Sofern man es überhaupt als Weg bezeichnen konnte. Der Schotte an der Spitze ihrer Gruppe schien die halbe Zeit selbst einen Weg durch den Wald zu schlagen. Aber vielleicht war das auch normal. Sie konnte es nicht beurteilen; Elysande war bisher nie über den Wald um Burg Kynardersley hinausgekommen, während die Buchanans aus Schottland stammten und wissen mussten, wie sie zurückkamen.
Der Gedanke ließ sie den Blick auf den Mann richten, der vor ihr ritt. Sie musterte das dunkle Plaid, das er trug. Rory Buchanan. Er hatte sie überrascht, als er auf der Lichtung aufgetaucht war. Der Mann war größer als Tom und Simon. Seine Kleidung war skandalös, denn zwischen den Stiefeln und dem Rock, den er trug, waren seine Knie und ein Stück der Unterschenkel unbedeckt. Elysande hatte blinzeln müssen, und sie hatte sich des Anstands willen gezwungen, nur auf sein Gesicht zu blicken. Nicht, dass ihr das besonders schwergefallen wäre. Sogar durch den Schleier hindurch konnte sie erkennen, dass der Mann gut aussah und ein nettes Gesicht, strahlend grüne Augen und lange, dunkle Haare hatte, die rot durchsetzt waren. Außerdem war er groß und muskulös, aber nicht sehr massig. Es schien, als wäre das eine Statur, die sie ansprach. Allerdings war der andere Buchanan von gleicher Gestalt, ohne dass sie sich von seinem Anblick auf die gleiche Weise berührt fühlte. Alick, fiel ihr wieder ein, und die Art und Weise, wie er hinter Rory zurücktrat, deutete darauf hin, dass er der jüngere der beiden Brüder war. Dabei ähnelte er dem älteren sehr, hatte die gleichen rötlich-braunen Haare und grünen Augen. Sie sahen beide gut aus, aber Rory Buchanan umgab eine Aura aus Selbstvertrauen, die dem jüngeren Mann fehlte. Vielleicht fand sie ihn deshalb attraktiver.
Als hätten ihre Gedanken ihn gerufen, ritt der jüngere Bruder plötzlich an ihr vorbei, als der Pfad wieder breiter wurde. Sie sah neugierig zu, wie er sein Pferd neben seinen Bruder lenkte und zu sprechen begann. Sie konnte seine leise, tiefe Stimme hören, aber keine Worte verstehen. Elysande war sich jedoch sicher, dass es um sie ging, denn Rory Buchanan warf plötzlich über die Schulter einen Blick zu ihr.
Der Blick verriet ihr, dass sie wieder zusammengesackt war, und sofort zwang sie sich, aufrechter zu sitzen. Sie achtete nicht auf ihre Muskeln und darauf, wie ihre Haut schmerzte. Sie hielt sich steif im Sattel und hob das Kinn. Sie würde keine Schwäche zeigen. Sie konnte das hier schaffen. Abgesehen davon musste es inzwischen fast Mittag sein, versicherte sie sich. Sie würden ohnehin bald anhalten, wenn auch nur, um etwas zu essen und sich zu erleichtern. Zumindest hoffte sie das.
Rory ließ den Blick über die verhüllte Gestalt hinter ihm gleiten. Lady Elysande hatte zusammengesunken im Sattel gesessen, als er sich umgedreht hatte, aber in dem Moment, als sie begriff, dass er zu ihr hinsah, richtete sie sich auf. Es war von ihr wenig zu sehen, da die Kopfbedeckung und der Schleier ihre Haare und ihr Gesicht verbargen. Den üppigen, warmen Umhang zog sie mit einer behandschuhten Hand gegen die Kälte eng um sich, während sie mit der anderen die Zügel hielt. Genau genommen hätte darunter auch eine Leiche oder ein Mann sitzen können, aber es war nicht besorgniserregend, wie sie auf ihrer Stute saß.
»Es sieht so aus, als würde es ihr gut gehen«, sagte Rory schließlich, als er sich wieder nach vorn wandte.
»Aye. Jetzt ja«, sagte Alick irritiert. »Aber ich schwöre dir, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie war in sich zusammengesackt und hat im Sattel geschwankt, bis du hingesehen hast.«
Rory sah sie noch einmal an, aber sie saß immer noch aufrecht da, und es schien ihr wirklich gut zu gehen.
»Was denkst du, wieso sie diesen Schleier trägt?«, fragte Alick plötzlich.
Rory zuckte nur mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung.
»Denkst du, sie ist so hässlich, dass ihre Mutter Angst hatte, wir würden uns weigern, sie zu begleiten, wenn wir ihr Gesicht sehen würden?«
Das brachte Rory dazu, verblüfft zu lachen, und er wölbte die Brauen, als er seinen Bruder ansah. »Was für einen Unterschied würde ihr Gesicht machen? Wir machen das hier, um den Sinclairs einen Gefallen zu tun, nicht wegen des Aussehens dieser Frau.«
»Aye«, pflichtete Alick ihm seufzend bei. »Trotzdem kommt es mir ziemlich seltsam vor, dass sie sich so vollständig bedeckt. Es muss schwer für sie sein, etwas zu sehen.«
»Sie muss mir nur folgen«, entgegnete Rory unbesorgt. »Der Schleier behindert ihre Sicht offenbar nicht so sehr, dass sie das nicht tun könnte.«
»Hmm.« Alick rückte unglücklich in seinem Sattel hin und her. »Wir wissen noch nicht einmal, wieso sie unsere Eskorte überhaupt braucht. Warum hat sie nicht ein großes Gefolge aus Soldaten und Bediensteten, die sich um ihr Wohlergehen kümmern? Sie hat nicht mal eine persönliche Dienerin als Anstandsdame bei sich.«
Rory brummte bei dieser Bemerkung leise; darüber hatte er auch schon nachgedacht, aber er wusste keine Antwort darauf. Auf der Lichtung war keine Zeit dafür gewesen nachzufragen, als ihm klar geworden war, dass ihnen Soldaten folgten. Er wusste, dass die Soldaten von Monmouth aus die nordöstliche Straße genommen hätten, jetzt aber die nordwestliche nahmen. Er hatte daher beschlossen, dass sie selbst den weniger stark benutzten Weg nach Schottland nehmen würden. Dadurch würde es unwahrscheinlicher werden, dass sie den Soldaten begegneten, die vielleicht Probleme verursachen könnten. Außerdem reduzierte sich so auch das Risiko, von Banditen überfallen zu werden, da solche Schurken ihrem Gewerbe lieber auf den belebteren Straßen nachgingen, wo es mehr Reisende gab, die man überfallen konnte.
»Was denkst du – verdammt.« Alick unterbrach sich und ließ sein Pferd langsamer gehen, um hinter Rory zurückzufallen. Rory richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf die Tatsache, dass der Weg wieder schmaler wurde. Er wurde auch steiler, wie er bemerkte, und so zügelte er sein Pferd ein wenig stärker, um zu verhindern, dass er gegen Inan stieß, der jetzt ebenso wie Conn vor ihm langsamer ritt, um den steilen Abstieg zu schaffen.
Der Pfad brachte sie hinunter in ein Tal, auf dessen anderer Seite es fast genauso steil wieder bergauf ging, wie Rory sah. Er beschloss, dass sie dort unten anhalten würden, um etwas zu essen und den Pferden ein wenig Erholung zu gönnen, bevor sie sich an den Aufstieg machten. Das würde ihm auch die Möglichkeit geben, Lady Elysande all die Fragen zu stellen, die ihm seit ihrem Aufbruch von der Lichtung durch den Kopf gingen. Vielleicht bekam er sogar die Gelegenheit, das Gesicht der Frau zu sehen. Sicherlich würde sie den Schleier doch zum Essen abnehmen?
Er ritt ein Stück zur Seite, um ihr seine Pläne mitzuteilen, und vielleicht auch, um herauszufinden, ob Alick recht hatte und sie wirklich Mühe hatte, mit dem Tempo Schritt zu halten, das er für diesen Ritt vorgegeben hatte. Er wartete also neben dem Pfad darauf, dass Alick an ihm vorbeiritt und Lady Elysande näher kam. Nur deshalb bemerkte er, wie sehr sie kämpfte, und nur deshalb konnte er sie noch rechtzeitig auffangen, als sie aus dem Sattel zu rutschen und zu Boden zu fallen drohte.
»Mylady!«
Es war ein Wunder, dass Rory den Ruf überhaupt hörte, denn Lady Elysande schrie vor Schmerzen, als er sie auf seinen Schoß zog. Aber er hörte ihn und sah sich um. Der englische Soldat versuchte, an dem reiterlosen Tier vorbei zu ihr zu gelangen. »Halt ihr Pferd fest!«, brüllte Rory, während er spürte, wie Lady Elysande in seinen Armen erschlaffte.
Zu seiner großen Erleichterung reagierte der Mann sofort und griff nach den Zügeln des Pferdes seiner Herrin, auch wenn sein Gesicht Unzufriedenheit und Besorgnis verriet.
Rory schaute auf die Frau, die reglos in seinen Armen lag. Ihr Schleier hatte sich verschoben und gab den Blick auf ihre Wange frei. Er konnte die Schwellung sehen, die dunklen Blutergüsse. Er presste die Lippen aufeinander und legte einen Arm fest um sie, dann lenkte er sein Pferd den steilen Pass hinunter ins Tal. Er würde warten müssen, bis sie den Talgrund erreicht hatten, ehe er sie untersuchen konnte, und er wollte jetzt so schnell wie möglich dort unten ankommen. Jemand hatte das Mädchen geschlagen. Ihre Verletzungen mussten versorgt werden.
Es dauerte den vierten Teil einer Stunde, bis sie im Talgrund angekommen waren und anhielten. Elysande begann, sich zu rühren. Sie stöhnte leise, als sie nach Luft rang, was Rory verriet, dass sie wirklich sehr leiden musste. Er wusste nicht, was sie so sehr peinigte, bis Tom und Simon von ihren Pferden sprangen und zu ihm liefen, um ihm Elysande abzunehmen. Die Art und Weise, wie sie mit ihr umgingen, verriet ihm, dass nicht nur ihr Gesicht verletzt war. Die beiden Männer gingen sehr behutsam mit der noch immer bewusstlosen Frau um, als sie sie zu einer grasbewachsenen Stelle trugen und dort langsam und vorsichtig auf ihre linke Seite betteten. Rory schloss daraus, dass etwas mit ihrem Rücken nicht in Ordnung war oder vielleicht mit ihrer rechten Seite oder mit beidem.
Fluchend stieg er ab.
»Lasst sie mich ansehen«, sagte er rau, während er zu den Männern ging. »Ich bin ein Heiler. Ich kann ihr helfen.«
Zu seiner großen Überraschung versuchte Lady de Valance sich aufzurichten. »Ich brauche keinen Heiler.«
Rory blieb vor ihr stehen und starrte auf sie hinunter, als er sie so fauchen hörte. Sie war wach.
»Ihr habt Blutergüsse im Gesicht«, sagte er schließlich, als niemand ihn beachtete. Tom und Simon hockten neben ihrer Herrin und musterten sie besorgt. Elysande starrte auf ihre im Schoß zu Fäusten geballten Hände. Rory vermutete, dass sie versuchte, die Fassung zu bewahren, oder darauf wartete, dass der Schmerzanfall vorüberging. So etwas hatte er oft genug bei Verletzten gesehen. Die vollkommene Reglosigkeit, dieses beinahe Nichtatmen, während sie darauf warteten, dass die Qual nachließ.
Rory schätzte, dass der ärgste Schmerz vorüber war, als sie seufzte und leicht in sich zusammensackte. Nach einem Moment hob sie den Kopf, sah ihn durch den hauchdünnen Schleier an und sagte mit einem Anflug von Ironie in der Stimme: »Ich habe überall Blutergüsse. Aber dagegen kann man nichts tun, nicht wahr? Abgesehen davon, Mylord, brauche ich Euch nicht wegen Eurer Heilkünste, sondern als Eskorte und wegen Eures Schwertarms für den Fall, dass es Schwierigkeiten geben sollte.«
Rory kniff bei diesen Worten die Augen zusammen. Er war es nicht gewohnt, für etwas anderes als seine Heilfähigkeiten gebraucht zu werden. Genau genommen konnte er sich nicht daran erinnern, dass jemals jemand etwas anderes von ihm gewollt hatte, schon gar nicht einen starken Schwertarm. Es war nicht so, dass er in einer Schlacht nicht seinen Mann stehen konnte. In den letzten Jahren hatten seine Brüder darauf bestanden, dass er mit ihnen auf dem Übungsplatz trainierte. Angesichts der Probleme, die sie in letzter Zeit gehabt hatten, hatte er eingesehen, wie sinnvoll das war, und sich an die Arbeit gemacht. Die Übungen hatten seine Statur gekräftigt, und jetzt war er mit dem Schwert fast so gut wie Aulay. Er war es nur nicht gewohnt, dass jemand Bedarf an dieser neuen Fähigkeit hatte. Ihr Ansinnen machte ihn deshalb für einen Moment sprachlos, gleichzeitig empfand er so etwas wie Stolz, der seine Brust ein wenig anschwellen ließ. Sie brauchte ihn als Eskorte und Schutz.
»Richtig«, entgegnete er laut und nickte, bevor er hinzufügte: »Ihr seid wahrscheinlich hungrig. Ich werde Euch einen Haferfladen holen –«
»Wir haben etwas zu essen mitgenommen«, unterbrach sie ihn, wandte sich an Tom und wies ihn an: »Hol den Beutel mit dem Hühnchen und dem Käse. Wir werden mit den Buchanans teilen.«
In Elysandes Beutel befand sich mehr als Hühnchen und Käse. Es waren zwei gebratene Hühnchen darin, Käse, Brot und Äpfel. Genug, dass alle sich sattessen konnten, zumindest für diese eine Mahlzeit. Es war sogar noch etwas übrig, als sie fertig waren und wieder aufstiegen.
Rory sah stirnrunzelnd zu, wie die englischen Soldaten mit ihrer Lady darüber stritten, wie sie am besten in den Sattel gesetzt werden sollte, bevor sie sich schließlich der Notwendigkeit fügte und ihnen gestattete, sie auf das Pferd zu heben. Er hätte ihr anbieten können, wieder mit ihm zu reiten, aber da er vermutete, dass sie das Angebot nicht schätzen würde, hielt er den Mund.
»Wird sie es durchstehen?«, fragte Alick leise neben ihm, während sie darauf warteten, dass die beiden englischen Soldaten ebenfalls aufsaßen und ihrer Herrin folgten, die jetzt zu ihnen ritt.
Rory schüttelte den Kopf; er wusste es nicht. Wenn ihr Rücken ebenso schlimm zugerichtet worden war wie ihr Gesicht, würde der Ritt für sie nicht angenehm sein.
»Wir werden langsam reiten«, entschied er, aber Elysande hatte seine Worte beim Näherkommen gehört und schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht meinetwegen. Ich möchte Sinclair so schnell wie möglich erreichen«, sagte sie fest entschlossen.
Rory blickte etwas finster drein, denn er hielt es für einen Fehler, aber er äußerte seine Besorgnis nicht. Er richtete seinen Blick auf Conn, zuckte mit den Schultern und sagte: »Ihr habt sie gehört.«
Conn nickte und setzte sein Pferd in Bewegung; er führte die Gruppe an, als sie die Lichtung verließen. Inan folgte gleich hinter ihm, aber dieses Mal ließ Rory das Mädchen und ihre Soldaten vor sich reiten, ehe er und Alick kamen. Fearghas und Donnghail bildeten die Nachhut. Er wollte Elysande im Auge behalten, um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, wie sie sich machte. Wenn irgendetwas darauf hindeutete, dass sie Schwierigkeiten hatte, bei dem strapaziösen Tempo mitzuhalten, würde er Conn ein Zeichen geben, langsamer zu reiten. Oder er würde sie wieder zu sich auf sein Pferd holen, ob ihr das gefiel oder nicht. Allerdings vermutete Rory, dass es ihr nicht besonders gefallen würde, sich bei ihm anlehnen zu müssen, ob ihr Rücken sie schmerzte oder nicht.
Er dachte in den nächsten zwei Stunden darüber nach, während sie durch den frühen Nachmittag galoppierten. Es war kalt gewesen, als sie Monmouth verlassen hatten, und im Laufe des Tages war es noch kälter geworden. Es herrschte eine empfindliche Kälte, als Lady de Valance im Sattel zu schwanken begann. Rory pfiff, um Conn das Signal zu geben, haltzumachen, dann lenkte er sein Pferd an den englischen Soldaten vorbei zu der Lady.
»Ihr werdet müde«, sagte er ohne große Vorrede, als Elysande ihre Stute zum Halten brachte, sich zu ihm umdrehte und ihn ansah.
»Es geht mir gut«, versicherte sie ihm und setzte sich etwas aufrechter hin. »Es ist nicht nötig, schon so früh für die Nacht anzuhalten. Ich werde es schaffen.«
»Es geht Euch nicht gut«, widersprach Rory. »Ihr habt Euch gut gehalten, aber Ihr fangt an zu kämpfen, und ich möchte nur ungern eine Kopfwunde vernähen oder Euch gar begraben müssen, wenn Ihr Euch beim Sturz vom Pferd den Hals brecht.«
Er konnte ihre Miene nicht sehen, aber die Art, wie sie mit der einen Hand ihren Umhang und mit der anderen die Zügel packte, verriet ihm, dass sie nicht glücklich war. »Ich möchte nicht so früh schon anhalten. Ich möchte so weit wie möglich wegkommen von –«
»Ich hatte nicht gemeint, dass wir anhalten müssen«, unterbrach er sie, und als sie schwieg und den Kopf neigte, sagte Rory: »Ihr könnt mit mir reiten.«
Er sah, wie sich ihr Schleier leicht aufblähte, als sie seufzte und den Kopf schüttelte. »Euch im Rücken zu haben wäre noch schmerzhafter, als allein zu reiten.«
»Aye, so etwas hatte ich mir schon gedacht«, räumte er ein. »Aber was ist, wenn Ihr hinter mir sitzen würdet? Wäre das auch so schmerzhaft?«
Bei diesen Worten wurde sie einen Moment still, und er konnte ihre Unsicherheit förmlich spüren. »Hinter Euch?«
»Aye, hinter mir. Ihr könnt mir die Arme um die Taille legen und Euch an mich lehnen. Wir können Eure Hände zusammenbinden, damit Ihr nicht runterfallt, solltet Ihr einschlafen.«
Es verging ein weiterer Moment des Schweigens, und dann sagte sie: »Aye.«
Rory nickte und beugte sich zur Seite, um das kurze Seil aus der Tasche mit den Heilmitteln zu nehmen, die an seinem Sattel hing. Als er sich aufrichtete, waren ihre Soldaten abgestiegen und bereit, ihrer Herrin von ihrem Pferd auf seines zu helfen. Rory wartete ab und sah zu, bereit, seine Hilfe anzubieten, sollte es nötig werden. Allerdings wollte er sie nicht anfassen, ohne die Erlaubnis dazu zu haben.
Von seiner Position aus konnte er sehen, dass Elysande rittlings auf dem Pferd gesessen hatte und nicht im Damensattel. Er hatte das schon vermutet, aber der dicke, voluminöse fellgesäumte Umhang hatte ganz ihre Gestalt verborgen, so dass er sich nicht hatte sicher sein können. Jetzt öffnete sich der Umhang leicht, und Rory sah, dass nicht nur ihre Reitposition für Frauen unüblich war, sondern auch ihre Kleidung. Lady de Valance trug unter den Röcken, die hochgeschoben worden waren, damit sie rittlings im Sattel sitzen konnte, eine Männerhose. Er musste unwillkürlich an Saidh denken, die absolut keine Skrupel hatte, Männerkleidung zu tragen, wenn sie es wollte. Es brachte ihn dazu, über den Charakter dieser Frau nachzudenken. War sie genauso kühn und waghalsig wie Saidh? Oder hatte sie die Hose nur angezogen, weil es notwendig gewesen war?
Rory wusste es nicht. Zur Hölle, er wusste überhaupt nichts über sie, abgesehen von ihrem Namen und dass sie die halb-englische Kusine von Campbell Sinclair war. Er hatte ihr zwar während ihrer Rast einige Fragen stellen wollen, es dann aber doch gelassen. Sie hatte einfach zu erschöpft und abweisend gewirkt, als sie auf einem umgestürzten Baumstamm gesessen und das verzehrt hatte, was ihre Soldaten ausgepackt hatten. Er war zu dem Schluss gekommen, sie nicht bei ihren Bemühungen zu stören, mit ihren Schmerzen fertigzuwerden und zu essen, was ihr gelungen war, ohne dafür den Schleier abzulegen. Aber er musste ihr wirklich schon bald die Fragen stellen, die ihm im Kopf herumschwirrten. Wieso war sie geschlagen worden, was sie ja selbst zugegeben hatte? Wieso reiste sie mit nur zwei Männern statt einem großen Trupp? Und warum wollte sie überhaupt zu den Sinclairs?
Rory wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Lady de Valance sich hinter ihm im Sattel zurechtsetzte und er ihre Arme um seine Taille spürte. Er sah auf ihre Hände in den Fellhandschuhen hinunter. Trotz der Tatsache, dass sie sich eng an seinen Rücken drückte, berührten sich nur die Spitzen ihrer Handschuhe. Er hoffte, dass dies nur daran lag, dass sie klein war, und nicht, weil er während seiner Zeit in England zugenommen hatte. Er band jeweils ein Ende des Seils um eines ihrer Handgelenke und achtete darauf, dass es nicht zu stramm war, damit beim Reiten nichts an ihr zerrte.
»Ist es so gut? Nicht zu fest?«, fragte er, als er fertig war.
»Nein. Es ist gut so«, versicherte sie ihm.
»Schlaft ruhig, wenn Ihr möchtet«, bot Rory ihr an. »Ich passe auf, dass Ihr im Sattel bleibt.« Als Elysande darauf nicht antwortete und weiterhin steif und aufrecht hinter ihm saß, wandte er sich um. Er wollte sich vergewissern, dass jemand die Zügel ihrer Stute genommen hatte. Als er sah, dass der Soldat namens Tom diese Aufgabe übernommen hatte, pfiff er in Conns Richtung, um ihn wissen zu lassen, dass sie bereit zum Aufbruch waren. Dann ritt er hinter Conn, Inan und Alick her, die sich unverzüglich in Bewegung gesetzt hatten.
Auf diese Weise setzten sie ihren Weg bis zum Einbruch der Dunkelheit fort. Zu Beginn des Ritts hatte Lady de Valance steif und aufrecht hinter ihm gesessen, aber nach einer Weile entspannte sie sich und lehnte sich an ihn. Als sie schließlich gegen seinen Rücken sank, wusste er, dass sie entweder bewusstlos geworden oder eingeschlafen war. Wie auch immer, es würde ihr guttun. Sie hatte recht – für Blutergüsse gab es kein Heilmittel. Sie brauchten einfach Zeit, um zu heilen, und Schlaf konnte da nur helfen.
Elysande wachte nicht auf, als Rory schließlich anhalten ließ. Sie erwachte auch nicht, als er das um ihre Hände geschlungene Seil löste. Erst als ihre Männer sie aus seinem Sattel hoben, wurde sie wach und schrie vor Schmerz auf, unterdrückte den Aufschrei jedoch sofort. Sie blieb stoisch still, als die beiden Männer sie absetzten, aber Rory vermutete, dass es ihr starke Schmerzen bereitete. Er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen, um einzuschätzen, wie stark. Er hätte sich auch gerne die Blutergüsse angesehen, um festzustellen, wie schwer ihre Verletzungen waren, aber dazu würde er wohl nicht die Gelegenheit haben. Die Frau war von Kopf bis Fuß verhüllt, zudem hatte sie schon zuvor klargestellt, dass sie sich von ihm nicht helfen lassen würde. Es stand außer Frage, dass sie ihm ihre Verletzungen nicht freiwillig zeigen würde. Da dies so war, konnte er nicht viel tun, außer ihr vielleicht einen Trank zuzubereiten, der ihr helfen würde, viel zu schlafen.
Nachdem Rory abgestiegen war, griff er nach seiner Tasche und öffnete sie. Er hoffte, die Kräuter dabeizuhaben, die er für die Herstellung des Tranks brauchte. Erleichtert stellte er fest, dass er alle hatte. Und er hatte auch einen metallenen Becher dabei, in dem er den Trank zubereiten konnte. Er benötigte nur noch Wasser. Er schaute zu dem Bach, der an einer Seite die Lichtung begrenzte. Er war schmal, und an beiden Ufern hatte sich Eis gebildet, aber in der Mitte sprudelte fließendes Wasser. Es würde kalt sein, aber es würde genügen.
Dann sah Rory sich nach Lady Elysande um. Sie ging mit steifen Schritten auf die Bäume zu, zweifellos suchte sie nach einer abgeschiedenen Stelle, wo sie sich erleichtern konnte. Da er den Trank bei ihrer Rückkehr zubereitet haben wollte, ging er rasch zum Bachufer. Hatte sie den Trank erst einmal zu sich genommen, würde sie innerhalb kürzester Zeit einschlafen, was nur gut für sie wäre.
Jeder Schritt schien Elysandes Körper zu erschüttern. Ihre Muskeln schrien bei jeder Bewegung auf, und ihre Haut hätte geweint, wäre das möglich gewesen. Auch sie hätte das jetzt gern getan, doch hatte sie schon vor Stunden so viele Tränen vergossen, das sie jetzt keine mehr hatte. Sie war dankbar gewesen für den Schleier, der ihre Reaktion auf ihre Schmerzen vor allen Blicken verborgen hatte. Dabei gehörte Elysande nicht zu denen, die leicht weinten, aber sie hatte die Tränen einfach nicht unterdrücken können und es auch gar nicht versucht. Es war nicht nur der körperliche Schmerz, der sie zum Weinen gebracht hatte. Sie wusste, dass es auch die Trauer war, die ihre Tränen hatte fließen lassen. Und es war gut, dass es während des Ritts geschehen war. Vermutlich hatte niemand es bemerkt, und das war besser, als vor den Augen ihrer Begleiter in Schluchzen auszubrechen.