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Gerettet von einem Highlander
Obwohl ihr Vater sie davor gewarnt hat, verlässt Allissaid MacFarlane den Schutz der Burgmauern und wird prompt von Maldouen MacNaughton entführt und zur Heirat mit ihm genötigt. Zum Glück kann sie entkommen, bevor Maldouen die Ehe mit ihr vollziehen kann. Allerdings hat sie keinen Fetzen Stoff am Leib und ist gezwungen, einem Highlander sein Plaid zu stehlen. Calan Campbell ist davon alles andere als begeistert, doch als er merkt, dass der freche Kleiderdieb eine junge Lady ist, gebietet ihm die Ehre, ihr zu helfen. Und schon bald ist es mehr als ritterliche Pflicht, die ihn antreibt, die schöne Allissaid zu beschützen ...
»Lynsay Sands liefert uns wieder einmal ein Paar zum Verlieben.« LIBRARY JOURNAL
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Seitenzahl: 459
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
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Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Ein Highlander wie kein anderer
Roman
Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold
Nachdem ihre Schwester nur knapp dem Schurken Maldouen MacNaughton entronnen ist, darf Allissaid MacFarlane die Burg ihres Vaters nicht mehr verlassen. Denn Maldouen ist entschlossen, den Besitz der MacFarlanes an sich zu reißen. Als ihr kleiner Bruder sich davonschleicht, macht sich Allissaid trotzdem auf, ihn zurückzuholen – und gerät prompt in die Fänge von MacNaughton, der sie zur Heirat zwingt. Zum Glück kann sie entkommen, bevor er die Ehe mit ihr vollziehen kann – wenn auch verletzt und ohne einen Faden am Leib. So ist sie gezwungen, sich den nächstbesten Fetzen Stoff zu schnappen. Der Highlander Calan Campbell traut seinen Augen nicht, als er nach einem Bad im See sieht, wie sich eine Gestalt mit seinem Plaid davonmachen will. Aber als er sie überwältigt hat, wird ihm schnell klar, dass die junge Frau in größter Not ist. Er nimmt sie mit auf seine Burg, und obwohl er sich selbst noch von einer Wunde erholen muss, weicht er nicht von Allissaids Seite. Schon bald entwickeln sich zarte Gefühle zwischen ihnen, und Calan würde nichts lieber tun, als den ganzen Tag in ihrer Kammer zu verbringen. Doch seine Geliebte wird erst in Sicherheit sein, wenn er MacNaughton zur Strecke gebracht hat …
»Allie?«
Allissaid MacFarlane war damit beschäftigt, ein altes Gewand auszubessern, als sie ihre jüngere Schwester rufen hörte. Sie schaute auf, als Annis sich in den Stuhl sinken ließ, der neben ihrem vor dem Kamin in der Großen Halle stand. Der besorgte Ausdruck im Gesicht ihrer Schwester veranlasste sie, die Stirn zu runzeln. »Was ist, Liebes?«
Annis zögerte kurz, ehe sie fragte: »Leitest du jetzt MacFarlane, nachdem Claray geheiratet hat und mit ihrem Mann nach Deagh Fhortan gereist ist?«
Allissaid starrte Annis einen Moment verblüfft an, als müsste ihr Verstand erst einmal erfassen, was ihre Schwester damit sagen wollte. Sie hatte Schwierigkeiten, die plötzlichen Veränderungen in ihrer aller Leben zu begreifen, von denen sie heute Morgen nach dem Erwachen überrascht worden waren. So wie die, dass ihre älteste Schwester Claray ihren Verlobten Bryson MacDonald geheiratet und mit ihm die Reise zu seinem Zuhause angetreten hatte.
Das alles war geschehen, während Allissaid und die anderen Schwestern geschlafen hatten. Claray, die von einem Besuch bei den mit ihnen verwandten Kerrs zurückgekehrt war, hatte ihren Verlobten geheiratet und sich mit ihm auf den Weg in seine Heimat gemacht. Die Zeremonie hatte stattgefunden, als alle Bewohner der Burg sich bereits für die Nacht zurückgezogen hatten, und während die Bediensteten geweckt worden waren, um die Vorbereitungen für die Hochzeit und die anschließende Feier zu treffen, hatte man Allissaid und ihre Geschwister schlafen lassen. So hatten sie erst nach dem Aufstehen erfahren, was passiert war – dass ihre Schwester nach Hause zurückgekehrt war, geheiratet hatte und bei Tagesanbruch aufgebrochen war, ohne vorher mit ihnen zu sprechen.
Allissaid und die anderen hatten eingedenk der vielen Fragen, die sie hatten, einen kleinen Aufruhr veranstaltet, was nur zu verständlich gewesen war. Schließlich hatte man ihnen ihr ganzes Leben lang erzählt, Clarays Verlobter sei, ebenso wie seine Eltern, ermordet worden, noch ehe die Tinte auf dem Verlobungsvertrag getrocknet war. Auf die meisten Fragen, mit denen sie ihren Vater bestürmt hatten, hatte dieser allerdings gar nicht geantwortet. Er hatte lediglich erklärt, dass Brysons Tod eine Lüge gewesen war, um den Jungen vor den Mördern seiner Eltern zu schützen. MacNaughtons Verhalten habe jedoch dazu geführt, dieser Lüge ein Ende zu setzen.
Allissaid seufzte, als sie an MacNaughton dachte. Er war ihr Nachbar und bereitete ihnen schon seit geraumer Zeit nichts als Schwierigkeiten. Begonnen hatte es einige Jahre zuvor, als er zum ersten Mal um Clarays Hand angehalten hatte. Zu jener Zeit war sie die einzige nicht verlobte Tochter der MacFarlanes gewesen. Natürlich verstand Allissaid jetzt, warum ihre Eltern sich geweigert hatten, ihm Claray zur Frau zu geben. Damals hatte sie diese Ablehnung als schrecklich ungerecht empfunden, weil Claray dadurch unverheiratet blieb. Doch dann war Allissaid ihrem Nachbarn bei einem seiner Besuche begegnet. MacNaughton war nicht mehr als zehn Jahre älter als Claray, und er sah ziemlich gut aus. Er war sogar höflich und charmant, aber …
Allissaid konnte nicht einmal jetzt genau sagen, was an ihm sie beunruhigt hatte. Aber sie hatte ihn ganz und gar nicht gemocht, hatte gespürt, dass er gefährlich war und man ihm unter allen Umständen aus dem Weg gehen sollte. Er hatte mit äußerster Beharrlichkeit alles versucht, ihren Vater dazu zu bewegen, der Heirat mit Claray zuzustimmen, von Bestechungsversuchen bis zu Drohungen, was ihr Gefühl nur bestätigt hatte. Aber dann wurde deutlich, dass er es aufgegeben hatte, sich mit derartigen Mitteln um die Erlaubnis zu bemühen, sie zu heiraten. Stattdessen hatte er versucht, sein Ziel mit Gewalt zu erreichen. Er war Claray nach Kerr gefolgt und hatte ihren Onkel überredet, ihm zu helfen, eine Hochzeit zu erzwingen. Bryson MacDonald hatte sich daraufhin offenbart und erklärt, dass sein Tod eine Lüge gewesen war – und sie als seine Frau beansprucht.
All dies war ihnen heute Morgen von ihrem Vater dargelegt worden. Und er hatte hinzugefügt, dass MacNaughtons Pläne noch viel weiter gereicht hatten. Es war nicht nur sein Ziel gewesen, die Heirat zu erzwingen, sondern er hatte auch beabsichtigt, alle anderen MacFarlanes zu töten und sich deren Besitz einzuverleiben. Wie sich herausgestellt hatte, war er die ganze Zeit hinter dem Besitz her gewesen. Er hatte das Land gewollt, die Soldaten und die Macht. Es hätte gereicht, eine von Gannon MacFarlanes Töchtern zu heiraten, wenn die übrigen Familienmitglieder tot gewesen wären und niemand mehr einen Anspruch hätte erheben können. In dem Moment, in dem MacNaughton mit Claray verheiratet gewesen wäre, hätte er begonnen, alle MacFarlanes zu ermorden.
Ihr Vater hatte ihnen das alles so kurz und knapp wie möglich mitgeteilt, bevor er verkündet hatte, dass niemand von ihnen die Burg verlassen durfte, solange die Angelegenheit nicht geklärt war. MacNaughton stellte eine große Bedrohung dar, und sie konnten nicht riskieren, dass jemand von ihnen ergriffen und zur Heirat gezwungen werden würde. Ihr Vater hatte ihnen auch versichert, dass er sich um die Angelegenheit kümmern würde, aber bis es so weit war, mussten alle unbedingt in der Burg bleiben.
Allissaid hatte in den Stunden danach versucht, die Neuigkeiten zu verdauen und sich ein Leben unter einer solchen Bedrohung vorzustellen. Durch Annis’ Frage wurde ihre Aufmerksamkeit auf die anderen Veränderungen gelenkt, die Clarays Heirat mit sich brachte. Dazu zählte vor allem, dass jetzt vermutlich von ihr erwartet wurde, den Haushalt der MacFarlanes zu leiten. Wobei ihr keineswegs klar war, ob sie diese große Aufgabe würde bewältigen können, schließlich hatte Claray bisher alles organisiert.
»Ooh! Aye! Aber nicht lange!«
Allissaid blieb kaum Zeit, ihre Näharbeit aus der Hand zu legen, so stürmisch sprang plötzlich Cairstane, ihre fünfzehnjährige Schwester, auf sie zu. Sie umarmte Allissaid und setzte sich dann auf ihren Schoß. Wie so oft, hatten sie nicht gehört, dass ihre Schwester sich genähert hatte. Cairstane war sehr geschickt darin, sich anzuschleichen. Vermutlich war sie Annis gefolgt und hatte sich versteckt, um zu lauschen.
Jetzt umarmte sie Allissaid strahlend und krähte: »Aye, du wirst MacFarlane leiten, bis Vater deine Hochzeit arrangieren kann, und auch die von Annis und Arabella. Und wenn ihr drei verheiratet und fort seid, werde ich hier alles leiten, und Cristane, Islay und ich werden unser eigenes Schlafzimmer haben und müssen uns nicht mehr eins mit jemandem teilen!«
Allissaid versuchte nachdrücklich, sich aus der klammernden Umarmung ihrer Schwester zu lösen. »Schön zu wissen, dass du so wild darauf bist, uns aus dem Haus zu kriegen. Aber wenn ich du wäre, würde ich mich nicht zu sehr darauf freuen. Wie du weißt, ist es eher unwahrscheinlich, dass ich in nächster Zeit heiraten werde. Und bei Annis und Arabella verhält es sich ebenso. Vater hat meinen Verlobten jahrelang vertröstet und den von Annis erst vor zwei Monaten weggeschickt. Er wird wohl kaum –«
»Er hat aber Nachrichten an alle drei geschickt, dass sie herkommen sollen, um euch zu heiraten und mitzunehmen«, unterbrach Cairstane den Wortschwall ihrer älteren Schwester.
»Was?«, fragte Allissaid schockiert.
»Aye, was?«, wiederholte Annis die Frage und sah ihre Schwester aus weit aufgerissenen Augen an.
Cairstane nickte. »Es ist wahr. Ich habe gehört, wie er sich mit unseren Vettern Aulay und Alick darüber unterhalten hat. Er hat letzte Nacht noch vor der Hochzeit Boten ausgesandt. Und weil Graham nahebei ist, erwartet er die Ankunft deines Verlobten bereits heute Nachmittag, Allissaid«, sagte sie. Dann wandte sie sich an Annis. »Aber er rechnet damit, dass auch MacLaren und MacLean nur ein bis zwei Tage später hier eintreffen werden, wenn sie so schnell reisen wie möglich, wozu er sie aufgefordert hat.«
Allissaid starrte Cairstane verständnislos an. Ihr Verstand hatte Schwierigkeiten, diese Neuigkeiten zu verarbeiten. Alban Graham, mit dem sie im Kindesalter verlobt worden war, versuchte seit mehr als drei Jahren, seinen Anspruch auf sie geltend zu machen. Ihre Eltern hatten jedoch immer wieder ihr Einverständnis mit dem Hinweis darauf verweigert, dass Claray zuvor verheiratet sein müsse. Darauf hatte ihr Vater auch dann noch bestanden, als ihre Mutter, Lady MacFarlane, vor vier Jahren gestorben war. Aber da sie davon ausgegangen waren, dass Clarays Verlobter tot war und ihre Eltern sich auch nicht um eine andere Verbindung bemüht hatten, war Allissaid mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass mit Alban Graham etwas nicht stimmte. Und dass ihre Eltern versuchten, aus dem Vertrag herauszukommen. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, dass sie wie Claray vielleicht niemals heiraten würde. Aber so schien es ja nicht zu sein. Offenbar würde sie doch heiraten. Und zwar schon bald.
»Bist du dir sicher?«, fragte Annis. Sie wirkte eher besorgt als aufgeregt. Allissaid verstand das vollkommen. Es lag nicht daran, dass sie nicht heiraten oder eigene Kinder haben wollte und ein Heim, das sie leiten konnte. Es kam einfach alles so plötzlich – und raubte ihr schier den Atem. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte, und sie war sich sicher, dass es Annis genauso erging.
»Aye«, versicherte Cairstane. »Ich habe es euch gesagt. Ich habe gehört, wie sie darüber gesprochen haben. Aulay hat gesagt, dass er es für eine gute Idee hält, wenn ihr drei verheiratet und nicht mehr auf MacFarlane seid. Das würde es MacNaughton schwerer machen, seine Pläne in die Tat umzusetzen, und vielleicht alle retten, ohne dass Krieg gegen diesen Mistkerl geführt werden muss.«
»Also gut«, sagte Annis stirnrunzelnd. Ihre Miene spiegelte ihre widerstreitenden Gefühle wider, und sie senkte den Blick. Dann murmelte sie: »Es wäre schön gewesen, er hätte sich die Mühe gemacht, uns diese Nachricht zu überbringen.«
»Aye«, pflichtete Allissaid ihr seufzend bei und stand so abrupt auf, dass ihre jüngere Schwester beinahe auf den Boden fiel. Glücklicherweise war Cairstane flink genug, sich zu fangen und nicht auf den Binsen zu landen.
»Was hast du vor?«, fragte Annis und stand ebenfalls auf.
»Packen«, erklärte Allissaid grimmig und eilte zur Treppe.
Erleichtert stellte sie fest, dass ihr weder Annis noch Cairstane folgten. Sie hörte die beiden sich leise unterhalten, während sie hinaufging; offenbar sprachen sie über das, was Cairstane gehört hatte. Allissaid wollte jedoch nicht darüber reden, sondern erst einmal allein sein und in Ruhe nachdenken. Das alles kam so plötzlich. Es war mehr als ein Schock gewesen, dass Claray geheiratet hatte und fortgegangen war. Sie und Allissaid hatten sich immer nahegestanden, und sie wusste, dass Claray sich danach gesehnt hatte, einen Ehemann zu haben, ein Heim und eigene Kinder. Alle Mädchen wünschten sich das. Sie wusste auch, dass Claray sich längst keine Hoffnung mehr gemacht hatte, all das zu erhalten, weil ihre Eltern in all den Jahren keine andere Verlobung für sie arrangiert hatten. Es hatte sie schrecklich beunruhigt, weshalb Allissaid glücklich darüber war, dass ihre ältere Schwester jetzt verheiratet war, ein eigenes Heim und Kinder haben würde. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie Claray ganz schrecklich vermissen würde. Und jetzt sollte auch sie heiraten? Wann? Sobald Alban eintraf? Würde es noch eine so überstürzte Hochzeit geben wie die Clarays? Oder würden sie –
»Oh, Mylady, Gott sei Dank!«
Allissaid riss sich von ihren Gedanken los und zwang sich zu lächeln, als die Dienerin zu ihr gelaufen kam.
Das Lächeln verschwand jedoch, als sie die Angst in den Augen der Frau sah, und sie fragte besorgt: »Was ist los, Moire?«
»Es ist Euer Bruder, Mylady«, keuchte Moire. Sie blieb vor ihr stehen und umklammerte besorgt ihre Hände. »Ich fürchte, Eachann – Nun, ich habe ihn dabei erwischt, wie er versucht hat, sich aus der Burg zu schleichen. Er wollte zum Fluss. Natürlich habe ich ihn daran erinnert, dass es nicht erlaubt ist, und er hat gesagt, dass er es verstehen und in sein Zimmer gehen würde. Aber ich habe gerade nachgesehen, und er ist nicht da, und ich fürchte, dass er sich vielleicht …«
»… hinausgeschlichen hat«, beendete Allissaid grimmig den Satz. Ihr Bruder neigte dazu, bei jeder Gelegenheit zum Fluss zu laufen. Trotzdem hätte er es besser wissen müssen, als ausgerechnet jetzt dorthin zu gehen. Ihr Vater hatte ihnen sehr deutlich klargemacht, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Aber Eachann war mit seinen elf Jahren noch sehr jung und im besten Fall ungestüm.
»Aye«, bestätigte die Dienerin unglücklich. »Und es ist alles mein Fehler. Ich hätte besser auf ihn achtgeben oder es sofort Eurem Vater sagen müssen. Aber wenn er es jetzt herausfindet, gibt er vielleicht mir die Schuld, weil ich ihm nicht gleich gesagt habe, was Eachann vorgehabt hat, und –«
»Mein Vater wird davon nichts erfahren. Ich hole Eachann zurück«, unterbrach Allissaid sie beschwichtigend. Sie sah vor sich, wie sie ihren Bruder an den Ohren zurück zur Burg zerrte, um ihm ein für allemal klarzumachen, dass es verboten war, sie zu verlassen.
»Wirklich?«, fragte Moire erleichtert.
»Aye«, murmelte Allissaid und ging zu der Tür des Zimmers, das sie sich mit Annis teilte. »Warte unten. Ich bringe ihn in die Große Halle, sobald wir zurück sind.«
»Aye, Mylady. Danke, Mylady«, murmelte Moire und trat einen Schritt zurück, als Allissaid in ihr Zimmer ging.
Allissaid schloss die Tür leise hinter sich und ging rasch zum Kamin. Sie drehte einen Stein herum und drückte auf einen anderen, so dass sich der Geheimgang öffnete. Sie machte schon einen Schritt hinein, hielt aber sofort inne und kehrte dann um. Sie nahm eine Kerze und ging in den Korridor, um sie dort an einer der Fackeln zu entzünden. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück und betrat den Geheimgang.
Obwohl die Luft so abgestanden war, dass Allissaid die Nase rümpfte, schloss sie den Eingang hinter sich. Sie mochte Geheimgänge und Tunnel nicht sehr, im Gegensatz zu Eachann, der sie liebte und regelmäßig benutzte, seit er im Alter von zehn Jahren von ihnen erfahren hatte. Die Dunkelheit, der Geruch, die Spinnweben und das Rascheln von kleinen Kreaturen, die sie sicherlich hätten aufschreien lassen, hätte sie sie sehen können – all das genügte, dass sie die dunklen Gänge mied und jetzt so rasch wie möglich weiterging. Aber es genügte nicht, um sie von ihrer Verärgerung über ihren Bruder abzulenken. Ihr Vater hatte sehr deutlich gemacht, dass niemand die Burg verlassen durfte, und normalerweise hätte Eachann wohl auch gehorcht. Allerdings war es in letzter Zeit schwieriger mit ihm geworden. Die meisten Jungen in seinem Alter waren längst zur Ausbildung weggeschickt worden. Unglücklicherweise hatte erst die Krankheit ihrer Mutter und dann deren Tod das alles verzögert, und danach … Nun, das Leben war danach einfach nicht mehr normal gewesen. Es war für alle schwer gewesen, aber Eachann schien es besonders schwerzufallen, das Geschehene zu verarbeiten, jedenfalls deutete sein Verhalten darauf hin.
Allissaid seufzte bei dem Gedanken daran, wie anders das Leben seit dem Tod ihrer Mutter geworden war, und wie es sich immer noch veränderte. Dann schob sie diese Gedanken beiseite und raffte mit der freien Hand ihre Röcke, um die in den Stein gehauenen Stufen hinunterzugehen. Die Treppe war steil und lang und führte hinunter in einen Tunnel, der unter dem Burghof und außerhalb der Burgmauer verlief.
Obwohl sie den Geheimgang nicht mochte, hatte Allissaid ihn bei verschiedenen Gelegenheiten benutzt. Gewöhnlich, um hinter ihrem Bruder herzulaufen. Eachann benutzte ihn gerne als Abkürzung zum Fluss, wo er oft an wärmeren Tagen schwimmen und fischen oder einfach nur etwas paddeln konnte. Angesichts der Bedrohung durch MacNaughton sollte er ihn jetzt nicht benutzen, und sie nahm sich fest vor, ihrem Bruder die Ohren langzuziehen, wenn sie ihn erst gefunden hatte.
Sie überlegte, was sie ihm sagen würde, und lenkte sich dadurch von dem Unbehagen ab, das der Tunnel in ihr auslöste. Es gab mehrere Ausgänge, aber sie musste bis zum Ende gehen und dann den Stufen zu einer Falltür folgen. Sie schob sie auf, kletterte die letzten paar Stufen hoch und nach draußen, und ließ die Tür danach wieder zufallen. Sie drehte sich um und schaute auf das Buschwerk. Die Sträucher wuchsen hoch und dicht und mussten zweimal im Jahr zurückgeschnitten werden, um sicherzustellen, dass sie die Falltür nicht verdeckten.
Nachdem sie einen raschen Blick durch die Büsche geworfen und sich versichert hatte, dass die Luft rein war, bahnte sie sich zwischen ihnen hindurch ihren Weg und betrat dann den dahinter liegenden Wald. Sie verharrte einen Moment, um ihre Röcke glattzustreichen und ein paar Blätter zu beseitigen, die sich an dem Stoff verfangen hatten, und eilte dann zum Fluss. Der Weg war nur kurz, und Allissaid erreichte schnell die Lichtung, die allerdings leer war. Eachann war nirgends zu sehen.
Sie schnalzte verärgert mit der Zunge und schickte sich an, die anderen Lieblingsorte ihres Bruders aufzusuchen, als sie erstarrte. Einige Männer traten aus dem Wald. Ihr plötzliches Auftauchen war ein solcher Schock, dass Allissaid einen Moment benötigte, um den Mann zu erkennen, der die Gruppe anführte. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, aber bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, explodierte Schmerz in ihrem Hinterkopf.
»Verfluchter MacNaughton. Irgendwann geht dieser Mistkerl zu weit und kriegt, was er verdient.«
Calan Campbell stimmte den verärgerten Worten seines Vetters zu und seufzte, bevor er sich im Sattel umwandte und einen kurzen Blick auf den Weg warf, den sie gekommen waren. Er musterte auch den Wald um sie herum, aber es war nichts zu sehen. Das Kribbeln im Nacken, das ihm das Gefühl gab, beobachtet zu werden, musste von seiner Müdigkeit kommen. Schließlich war er mitten in der Nacht aus dem Bett geholt worden. Was er jetzt brauchte, war ein kurzer Sprung in den Loch, um wach zu werden und seine Erschöpfung wegzuspülen.
»Hat er wirklich gedacht, wir würden uns von seinen Männern die Lüge auftischen lassen, dass sie unser Land auf der Suche nach seiner Braut durchqueren, die verlorengegangen ist?«, knurrte Gille empört. »Er hätte wissen sollen, dass wir von seinen Versuchen gehört haben, die älteste MacFarlane-Tochter zur Heirat zu zwingen«, sagte er. Und fügte ernst hinzu: »Und dass ihm das nicht gelungen ist.«
»Hmm«, murmelte Calan. Er presste die Lippen zusammen, während er an das ganze Durcheinander dachte. Es war schon schlimm genug, dass MacNaughton so etwas überhaupt versucht hatte, aber noch schlimmer wurde es dadurch, dass der Onkel des Mädchens, Gilchrist Kerr, sich mit diesem Kerl verbündet hatte, um es möglich zu machen. Calan war froh über die Nachricht gewesen, dass das Mädchen gerettet worden und nach Hause zurückgekehrt war.
»Ganz besonders, da der Wolf damit zu tun hatte«, fügte Gille hinzu. »Seine Einmischung hat gereicht, dass ganz Schottland von dem Debakel gehört hatte, bevor MacFarlanes Tochter auch nur nach Hause zurückgekehrt war.«
»Aye«, pflichtete Calan ihm bei. Zwar kannten sie keine Einzelheiten, aber sie hatten mitbekommen, dass der angesehene Söldner, der sich als der Wolf bezeichnete, erst zwei Tage zuvor das Mädchen von Kerr weggeholt und zu ihrem Vater, Gannon MacFarlane, zurückgebracht hatte … und das, ohne eine Schlacht schlagen zu müssen. Etwas, das nur wenige hätten zustande bringen können, vermutete Calan. Aber der Ruf des Wolfes vermochte die meisten Männer so einzuschüchtern, dass sie sich unterwarfen. Ihr Onkel konnte nicht gewollt haben, dass der Wolf und seine Krieger Burg Kerr belagerten. Der Söldner war nicht dafür bekannt, dass er mit seinen Feinden barmherzig umging. Und er verlor nie.
»Du weißt, dass die ganze Sache mit der verloren gegangenen Braut nichts als Lügen waren, um die Tatsache zu verbergen, dass er und seine Männer vorhatten, weitere Überfälle auf dem Gebiet von Campbell zu verüben«, sagte Gille verärgert. Bevor Calan darauf antworten konnte, sprach er weiter. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Lump seine alten Tricks benutzt. Ich dachte, wir hätten ihm eine Lektion erteilt, als er das letzte Mal so einen Unsinn versucht hat. Er ist ganz bestimmt schluchzend nach Kilcairn zurückgekehrt.« Er schnaubte. »Dass er versucht hat, dich davon zu überzeugen, ihn Inghinn heiraten zu lassen, war allerdings eine Überraschung. Der Mann ist ganz sicher der letzte Dreck. Ich bezweifle nicht, dass er nur wegen deiner Weigerung hinter Claray MacFarlane her war.«
»Vermutlich«, stimmte Calan ihm grimmig zu.
»Aye. Weshalb es seltsam ist, dass er schon wieder Überfälle verüben lässt.«
Calan machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Es überraschte ihn nicht, als Gille grimmig lächelte und sagte: »Aber wir haben diesen Schuft und seine Männer vertrieben. Sie werden es sich jetzt zweimal überlegen, noch mal Campbell-Land zu durchqueren.«
»Aye«, murmelte Calan. Gregor, sein Erster, hatte ihn mitten in der Nacht mit der Nachricht geweckt, dass an der Grenze patrouillierende Männer sechs MacNaughton-Soldaten aufgehalten hatten, die in das Campbell-Gebiet eingedrungen waren. Er hatte sich sofort angezogen und war mit Gille, Gregor und zwei Dutzend Kriegern zu der Stelle geritten, an der der Kampf stattfand. Als sie dort ankamen, war jedoch bereits alles vorbei. Zwei von MacNaughtons Männern lagen tot auf der Lichtung, auf der die Konfrontation stattgefunden hatte, drei waren schwer verletzt, und einer kniete auf dem Boden, während mehrere Schwerter an seine Kehle gehalten wurden.
Calan hatte sich einen Moment Zeit genommen, nach seinen eigenen Männern zu sehen, von denen keiner mehr als eine geringfügige Verletzung hier oder dort hatte. Trotzdem hatte er sie alle zur Burg zurückgeschickt, damit sie dort versorgt werden konnten. Selbst kleine Wunden konnten einen Mann töten, wenn sie sich entzündeten. Dann hatte er den einzigen MacNaughton befragt, der noch in der Lage war zu antworten. Der Mann hatte darauf beharrt, dass sie nicht dort waren, um zu plündern, sondern um nach der ihrem Laird frisch angetrauten Ehefrau zu suchen, die »verloren gegangen« war. Er hatte erklärt, dass Männer in alle Richtungen ausgeschickt worden waren, um die Frau zu finden. Die meisten seien nach Osten geritten, aber seine Gruppe war nach Norden geschickt worden, nach Campbell, für den Fall, dass sie sich dorthin gewandt hatte.
Calan hatte kein Wort davon geglaubt, ganz besonders nicht, weil die Männer sich geweigert hatten, den Namen dieser angeblichen Braut preiszugeben. Dennoch hatte er keinen Grund gesehen, die Männer festzuhalten. Sie hatten teuer für ihr unbefugtes Betreten bezahlt. Zwar waren nur zwei von ihnen tot, aber die drei Verletzten hatten so schwere Wunden davongetragen, dass sie vermutlich nicht überleben würden. Er hatte die Gruppe zurück zur Grenze begleitet und ihnen eine Warnung mit auf den Weg gegeben, die sie MacNaughton überbringen sollten. Dass er seine Männer, wenn ihm deren Leben lieb war, nie wieder auf Campbell-Land schicken sollte, ohne vorher einen Boten auszusenden, der um Erlaubnis bat. Und dass keiner seiner Männer noch am Leben sein würde, um die Toten zurückzubringen, wenn er das nächste Mal eine Gruppe bewaffneter MacNaughtons unerlaubterweise über die Grenze schickte.
Calan und seine Männer hatten zugesehen, wie der unverletzte Mann die Pferde mit seinen verletzten und toten Kameraden zurück auf das Gebiet von MacNaughton geführt hatte.
Er hätte nach diesem Vorfall zur Burg zurückkehren und sich noch ein paar Stunden Schlaf gönnen können. Aber er war zu unruhig gewesen, nachdem er so abrupt geweckt worden und zu dem Kampf geritten war; er hatte gewusst, dass er in diesem Zustand kaum würde schlafen können. Deshalb hatte er sich entschieden, bei seinen Männern zu bleiben und mit ihnen die noch verbleibenden Nachtstunden auf Patrouille zu verbringen. Aber als der Himmel heller zu werden begann und der Sonnenaufgang sich ankündigte, hatte er beschlossen, zur Burg zurückzukehren. Es hatte ihn nicht verwundert, dass Gille sich ihm anschließen wollte.
»Wenn wir uns beeilen, könnten wir noch ein kleines Nickerchen machen, bevor alle aufwachen«, sagte Gille plötzlich. Er unterdrückte ein Gähnen, das sich in ihm auszubreiten versuchte, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte.
Calan musste ebenfalls gegen den Drang zu gähnen ankämpfen, aber er schüttelte den Kopf und zügelte sein Pferd, als sie den Wald verließen und auf eine Lichtung beim Loch stießen. »Nein. Ich habe heute einen vollen Tag. Ein Nickerchen würde mich zu diesem Zeitpunkt nur verdrießlich machen. Du kannst aber vorausreiten und dich hinlegen, wenn du willst.«
Gille hielt sein Pferd ebenfalls an und drehte sich im Sattel zu ihm um. Er runzelte die Stirn und fragte: »Du hast aber nicht vor, schwimmen zu gehen, oder?«
Calan ließ seinen Blick über die kleine, abgeschiedene Bucht schweifen, an der sie angehalten hatten. »Es wird mich wach machen und mir helfen, den Tag anzugehen.«
Gille schüttelte den Kopf. »Du bist ein verfluchter Kerl, Vetter. Der Loch ist viel zu kalt zum Schwimmen.«
»Aye, das ist er«, pflichtete Calan ihm bei. »Aber ich gehe nicht tief rein und bleibe auch nicht lange. Nur kurz einmal untertauchen, dann komme ich nach.«
Gille wirkte nicht überzeugt. »Vielleicht sollte ich dir Gesellschaft leisten. Nur für den Fall, dass du –«
»Nein«, unterbrach Calan ihn scharf, holte aber sofort tief Luft, um seinen plötzlichen Ausbruch abzumildern. Er atmete langsam aus und zwang sich zu lächeln. »Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, Vetter, aber es geht mir gut. Und ich würde es vorziehen, wenn du aufhörst, so viel Wirbel um mich zu machen.«
»Ich mache keinen Wirbel um dich«, behauptete Gille sofort.
»Doch, das tust du«, entgegnete Calan trocken. »Wenn’s darum geht, das Kindermädchen zu spielen, bist du schlimmer als meine Mutter. Als Nächstes versuchst du noch, mir eine Süßigkeit in den Mund zu stecken.«
»Nun, da ich keine Süßigkeiten habe, ist das unwahrscheinlich«, fauchte Gille. Dann seufzte er und sagte ernst: »Du kannst es uns nicht verübeln, dass wir uns Sorgen machen. Wir hätten dich vor zwei Wochen fast verloren. Du hast dich immer noch nicht ganz erholt, und du gehörst nicht zu denen, die sich ausruhen und ihrem Körper gestatten zu heilen, wie du es tun solltest. Und offen gestanden könntest du ein Kindermädchen gebrauchen«, fügte er hinzu, inzwischen leicht gereizt. »Ein großes, gemeines, das dich dazu bringt, im Bett zu bleiben, damit du ordentlich genesen kannst.«
»Wenn du willst, dass ich im Bett bleibe, solltest du mir ein süßes kleines Ding mit reichlich Kurven besorgen«, erklärte Cal amüsiert. »Und nur für den Fall, vergiss nicht, dass ich Blondinen bevorzuge.«
»Auf diese Weise wirst du herzlich wenig Ruhe kriegen, murrte Gille. Er schüttelte ergeben den Kopf. »Na schön, dann geh schwimmen. Aber mach mir keine Vorwürfe, wenn deine Wunde sich entzündet und du am Ende mit Fieber im Bett liegst.«
»Ich verspreche dir, dass ich dann nicht dir die Schuld geben werde«, sagte Calan sanft. »Und jetzt reite zurück, und wenn meine Mutter aufsteht, sag ihr, dass alles gut ist und es mir gut geht. Sonst hetzt sie mir noch einen Suchtrupp auf den Hals.«
»Das ist nicht witzig. Wahrscheinlich wird sie genau das tun, wenn sie nach dem Aufstehen feststellt, dass du nicht da bist«, entgegnete Gille gereizt. »Was soll ich sagen, wenn sie wissen will, wo du bist?«
»Wenn sie aufsteht, bevor ich zurück bin, erzähl ihr einfach nur, dass sie sich keine Sorgen machen soll und ich jeden Moment zurück sein werde.«
Gille machte bei den Worten ein finsteres Gesicht, aber dann atmete er tief aus und sagte: »Schön. Aber du weißt so gut wie ich, dass deine Mutter mir die Schuld geben wird, wenn du in diesem gottverlassenen Loch ertrinkst. Sie wird mir das Leben zur Hölle machen. Und wenn das passiert, werde ich dich jeden Tag verfluchen.«
»Verstanden«, sagte Calan trocken.
Gille gab noch ein »Hmmpf« von sich und schüttelte den Kopf. Dann fasste er die Zügel seines Pferdes fester und ritt von der Lichtung weg.
Calan sah seinem Vetter nach, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, dann wandte er sich dem Ufer zu und ließ den Blick schweifen. Schließlich stieg er ab, befestigte die Zügel seines Pferdes am Ast eines nahen Baumes und strich mit der Hand über die Flanke des Tiers, bevor er zum Wasser ging. Am Sandstrand legte er Plaid und Hemd ab, ließ beides auf den Boden fallen und watete nackt ins Wasser.
Es war wärmer, wo es nicht so tief war, weil dort noch die Wärme vom sonnigen Tag zuvor gespeichert war. Aber der Loch war nur in Ufernähe flach. Calan watete weiter, bis das Wasser seine Oberschenkel erreichte; als er den nächsten Schritt tat, war es, als würde er von einer Klippe stürzen. Er hätte leicht in Schwierigkeiten geraten können, wäre er nicht hier aufgewachsen und würde diesen Loch nicht kennen. So aber war er darauf vorbereitet, dass der Grund plötzlich steil abfiel. Er breitete die Arme aus, um nicht unterzugehen, und bereitete sich auf die eisige Kälte vor, die ihn gleich umfangen würde.
Loch Awe war etwa fünfundzwanzig Meilen lang und nur wenig mehr als eine halbe Meile breit. Er besaß eine Tiefe von hundert bis dreihundert Fuß, je nachdem, wo man sich im Loch befand. Deshalb war das Wasser so kalt. Wenn man in diesem Loch zu tief nach unten sank, konnte der plötzliche Temperaturabfall ein tödlicher Schock für den Körper sein. Im Laufe der Jahre hatte Calan mehr als ein- oder zweimal die Leichen von Leuten vorbeitreiben sehen, die eine solche Erfahrung gemacht hatten. Aber er würde nicht dazu gehören.
Er schwamm eine kurze Strecke im tieferen und kälteren Teil, bis das kühle Wasser seine Erschöpfung fortgespült hatte. Schließlich machte er sich auf den Rückweg zum flacheren Ufer und stellte sich hin, als er Grund unter den Füßen spürte. Er hatte den Ufersaum kaum erreicht, als eine Bewegung am Ufer seine Aufmerksamkeit erregte. Er sah genauer hin und erkannte schemenhaft eine Gestalt, die im grauen Morgenlicht davonlief und im Wald verschwand. Calan starrte dem nackten Jungen hinterher, bis er begriff, dass es sich bei dem dunklen Tuch, das diesem über der Schulter hing, um sein eigenes Plaid handelte. Augenblicklich nahm er die Verfolgung des Jungen auf.
Was allerdings nicht so einfach war, solange er vom Wasser gebremst wurde. Erst, als er das Ufer erreichte, konnte er zum Sprint ansetzen. Er holte den jungen Dieb rasch ein, brauchte nicht mehr als ein paar Dutzend langer Schritte in den Wald hinein, um die kleine Gestalt zu ergreifen. Der Dieb stürzte mit einem schrillen Kreischen zu Boden, dann erklang ein Stöhnen und schließlich herrschte Stille.
Calan erhob sich auf die Knie, als der Junge schlaff und reglos unter ihm lag. Er drehte ihn um, konnte aber nicht viel sehen, weil das Morgenlicht nur spärlich durch die Bäume fiel. Es reichte jedoch, um die ungefähre Größe und Gestalt zu erkennen. Er schätzte, dass er es mit einem Jungen von etwa dreizehn Jahren zu tun hatte. Die Tatsache, dass hier überhaupt Licht herrschte, verriet Calan, dass die Sonne inzwischen aufgegangen sein musste, und besorgt fragte er sich, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seit er ins Wasser gegangen war. Er hatte nicht das Gefühl, sehr lange im Loch geschwommen zu haben, aber beim Schwimmen verlor er oft die Zeit aus dem Blick. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war allerdings, von Gille oder seiner Mutter gesucht zu werden, als wäre er ein Kind, das sich verirrt hatte.
Seufzend nahm er sein Plaid, warf es über den bewusstlosen Dieb und hob ihn auf. Oder besser, er versuchte es, denn in diesem Moment schoss ein jäher Schmerz durch seine Brust. Unsanft wurde er an die Verletzung erinnert, die er sich erst zwei Wochen zuvor zugezogen hatte, und er sah an sich hinunter. Doch das Licht war noch zu schwach, um ihn viel erkennen zu lassen. Kopfschüttelnd schaute er auf den bewusstlosen Jungen und zog für einen Moment in Erwägung, einfach sein Plaid zu nehmen und wegzugehen. Aber er war nicht herzlos genug, um ein bewusstloses Kind in den Wäldern zurückzulassen, wo es leicht das Opfer von Wölfen oder anderen Tieren werden konnte. Ganz egal, ob er es mit einem Dieb zu tun hatte oder nicht.
Calan biss die Zähne zusammen, als er erneut versuchte, den Jungen hochzuheben. Dieses Mal ignorierte er den Schmerz, und es gelang ihm, sich mit seiner Last aufzurichten und sie zur Lichtung zu tragen.
Wie Calan vermutet hatte, stand die Sonne ein ganzes Stück höher, seit er und Gille den Loch erreicht hatten. Der Himmel zeigte sich jetzt in einem tiefen Blau, das zum Horizont hin heller wurde und sich in Schichten aus Gelb, Orange und Rot auflöste. Es herrschte noch kein Tageslicht, aber es war hell genug, dass er den Möchtegern-Dieb besser erkennen konnte.
Calan blieb stehen, während er seinen Blick über ein herzförmiges Gesicht mit vollen, geschwungenen Lippen schweifen ließ, über lange dunkle Haare und eine Brust, die ganz und gar nicht so flach war, wie es beim ersten flüchtigen Blick den Anschein gehabt hatte, sondern zwei kleine Hügel besaß. Sein Blick schoss instinktiv zu den Lenden, um sich des ultimativen Beweises dafür zu versichern, dass er eine Frau trug, aber das Plaid bedeckte sie. Und eigentlich benötigte er auch gar keinen Beweis. Die Brüste mochten klein sein, aber sie waren da. Bei seinem Möchtegern-Dieb handelte es sich um eine junge Frau.
Sein Blick kehrte zu ihrem Gesicht zurück, und stirnrunzelnd betrachtete er die blutende Wunde an ihrer Stirn und die dunkelroten Prellungen unter einem Auge und am Kinn. Die Verletzung an der Stirn konnte sie sich zugezogen haben, als er sie niedergerungen hatte. Vermutlich war ihr Kopf gegen einen Stein oder Zweig geprallt, als sie zu Boden gegangen war. Die Prellungen waren jedoch zu dunkel und zu rot, um neu zu sein. Sehr alt waren sie allerdings auch nicht. Er schätzte, dass sie ihr erst vor einigen Stunden zugefügt worden waren. Ebenso wie die Male an ihrem Hals, die er jetzt bemerkte, als sein Blick über ihren Körper wanderte. Es sah aus, als hätte jemand sie gewürgt. Und es gab rote Stellen an ihren Oberarmen und Brüsten, und eine an ihrer Wade, wie er feststellte, als sein Blick über den Plaid, der ihren Unterleib und ihre Lenden bedeckte, zu ihren Beinen glitt.
Fluchend kniete Calan sich hin und legte die Frau auf den Boden, dann zog er das Plaid weg, um sie genauer untersuchen zu können. Er zuckte zusammen, als er den dunkelroten Fleck sah, der sich auf ihrem Bauch bildete. Jemand hatte sie heftig verprügelt, und die fingerförmigen roten Verfärbungen an ihren Oberschenkeln weckten in ihm den Verdacht, dass sie auch vergewaltigt worden war.
Sein Blick glitt wieder den Körper hinauf zu ihrem Gesicht. Er ließ sich auf die Fersen sinken und spannte sich an, als er den Ring an einem ihrer Finger bemerkte. Er beugte sich vor und nahm ihre Hand, um sich den Ring genauer anzusehen. Er war aus Gold gefertigt und wurde von einem Amethyst geschmückt. Ein Schmuckstück, das eine Lady tragen würde. Er zog den Ring vom Finger und musterte die Stelle, wo er gesessen hatte. Sie war blass, was bedeutete, dass die Frau den Ring offenbar schon seit Jahren trug. Er gehörte also vermutlich ihr und war nichts, was sie gestohlen hatte.
Mit zusammengepressten Lippen steckte Calan ihr den Ring wieder an den Finger. Dann nahm er sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, was er tun sollte. Schließlich stand er auf und holte sein Hemd, das er am Ufer abgelegt hatte. Er kehrte zu der Frau zurück und deckte sie damit zu, dann nahm er sein Plaid, breitete es auf dem Boden aus und faltete es. Nachdem er es angelegt hatte, widmete er sich der Aufgabe, der jungen Frau sein Hemd anzuziehen.
Calan hatte noch nie versucht, eine bewusstlose Frau anzuziehen. Er kam jetzt zu dem Schluss, dass er so etwas auch nie wieder tun wollte. Die Frau war so schlaff wie eine zu lange gekochte Spargelstange. Es war schwer, ihr sein Hemd überzuziehen, da es fast unmöglich war, es ihr mit der einen Hand über den Kopf zu ziehen, während er sie mit der anderen in einer sitzenden Position hielt. Aber es war nur beinahe unmöglich, und schließlich hatte er es geschafft. Allerdings schwitzte er vor Anstrengung, als er ihre Hände und Arme in die Ärmel schob.
Als das getan war, zog er das Hemd nach unten, so dass es ihre Brüste, den Bauch und den Rücken bedeckte. Danach ließ er sie auf den Boden sinken, hob ihr Gesäß und zog das Hemd noch ein Stück tiefer, so gut es ging. Aber ein Hemd, selbst wenn es einem großen Mann wie ihm gehörte, war nicht das Gleiche wie ein Kleid. Er runzelte die Stirn, als er sah, dass es kaum bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reichte und ihre Beine fast unbedeckt ließ. Unglücklicherweise konnte er nichts dagegen tun. Schließlich trug er nicht ständig Frauenkleider für den Fall mit sich herum, dass er auf nackte Frauen in Not stieß.
Bei dem Gedanken schüttelte er unwillkürlich den Kopf, bevor er erneut versuchte, sie hochzuheben, um sie zu seinem Pferd zu tragen. Er hatte aber kaum begonnen, als er jemanden laut rufen hörte. Er verharrte und drehte sich dann überrascht um, als sein Vetter Gille neben ihm sein Pferd zum Stehen brachte und aus dem Sattel stieg.
»Was zum Teufel tust du da, Cal? Du bist nicht in der Verfassung, um etwas hochzu-« Gille unterbrach sich selbst. »Wer zur Hölle ist das?«, fragte er und starrte die Frau auf dem Boden an. »Wo hast du sie gefunden? Und was zum Teufel hast du mit ihr gemacht?« Das Letzte hatte er gefaucht, nachdem er um die Frau herumgegangen war und sich hingehockt hatte, um ihre Kopfverletzung und die Prellungen in ihrem Gesicht zu untersuchen.
»Ich habe gar nichts mit ihr gemacht«, knurrte Calan. Er war erschöpft und mehr als ein bisschen gekränkt, dass sein eigener Vetter glauben konnte, er würde eine junge Frau verletzen. Dann verzog er allerdings schuldbewusst den Mund und gestand: »Na ja, ich glaube, den Kopf hat sie sich angestoßen, als ich sie niedergerungen habe, deshalb bin ich vermutlich für die Kopfwunde verantwortlich.«
»Für welche?«, fragte Gille grimmig.
»Was?«, fragte Calan zurück.
Gille drehte ihren Kopf in Calans Richtung, um ihm zu zeigen, was er meinte. Er schob ein paar Haare aus dem Weg, und eine zweite Kopfverletzung am Haaransatz wurde sichtbar.
»Verflucht«, sagte Calan leise.
Gille ließ sich wieder auf die Fersen sinken und zog fragend eine Braue hoch. »Du hast sie angegriffen?«
»Aye«, bestätigte Calan und ließ sich wieder auf die Fersen sinken. »Sie hat versucht, mir mein Plaid zu stehlen, als ich im Loch war. Ich bin hinter ihr hergelaufen und habe sie gepackt, um es mir zurückzuholen. Wie ich schon sagte, hat sie sich vermutlich den Kopf gestoßen, als sie hingefallen ist. Die anderen Prellungen hatte sie aber bereits, als ich sie untersuchte. Sie können nicht länger als einige, vielleicht sechs Stunden alt sein.«
»Hmm.« Gille nickte und ließ seinen Blick über das Mädchen wandern, dann zog er den Hemdkragen zur Seite, um einen besseren Blick auf die Flecken an ihrem Hals zu bekommen. Sein Mund spannte sich an, als er Calan ansah. Er versteifte sich und fluchte. »Verdammt, Cal, deine Wunde ist wieder aufgebrochen.«
Calan sah an seiner Brust hinunter. Ohne sein Hemd und zusammengesunken, wie er auf dem Boden hockte, hatte sich das Plaid verschoben, das er sich über die Schulter gehängt hatte. Die zwei Zoll lange Wunde in der Nähe seines Herzens war deutlich zu sehen. Und auch das Blut, das von dort hinunterlief. Eine Naht war aufgegangen, als er das Mädchen hochgehoben hatte.
Calan verzog das Gesicht, richtete sich auf und zog das Plaid wieder über seine Brust. Dann stand er auf. »Dann ist es gut, dass du hier bist und helfen kannst, das Mädchen zu mir hochzuheben, wenn ich im Sattel sitze.«
Er ignorierte die Flüche seines Vetters und ging zu seinem Pferd. »Was tust du eigentlich hier?«, knurrte er. »Ich habe dich zurück zur Burg geschickt.«
»Deine Mutter war wach, als ich zurückgekehrt bin, und hat gedroht, einen Suchtrupp loszuschicken, wenn ich ohne dich wiederkomme.« Gilles Worte endeten mit einem Ächzen, als er das Mädchen hochhob. Er folgte Calan zu den Pferden und fügte hinzu: »Um das zu verhindern, musste ich ihr versprechen, dass ich dich hole.«
Calan seufzte, als er das hörte, und zog sich hoch in den Sattel. Er antwortete nicht darauf. So ungern er es zugab, war er im Grunde froh, dass sein Vetter zurückgekehrt war. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich geschafft hätte, das Mädchen ohne Hilfe auf sein Pferd zu heben. Zumindest nicht, ohne dass weitere Wundnähte aufgegangen wären und er noch mehr Blut verloren hätte. Er war jemand, der mit Verletzungen und Krankheiten nicht gut zurechtkam. Ihm war bewusst, dass er das Krankenbett früher verlassen hatte, als er es hätte tun sollen, aber er hasste es, einfach nur dazuliegen wie ein jämmerlicher –
»Hier.«
Er riss sich von seinen Gedanken los und beugte sich herunter, um Gille die Frau abzunehmen. Aber sein Vetter übergab sie ihm nicht sofort, sondern setzte sie vor Calan auf das Pferd. So musste er nicht ihr ganzes Gewicht halten, und seine Wunde wurde nicht beeinträchtigt.
»Danke«, murmelte Calan, schloss die Arme um die Frau und nahm Gille die Zügel ab.
Sein Vetter nickte, bevor er zu seinem eigenen Pferd ging. »Deine Mutter wird schäumen, wenn sie deine Wunde sieht.«
Calan sah die schmächtige Frau in seinen Armen an. Er wusste, dass Gille recht hatte. Seine Mutter würde verärgert sein, wenn sie die wieder aufgeplatzte Wunde sah … und sie würde wahrscheinlich die junge Frau dafür verantwortlich machen. Sein Blick glitt über sie; sie war nur mit seinem Hemd bekleidet, und er dachte besorgt daran, wie seine Mutter reagieren würde, wenn er in diesem Zustand zurückkehrte. Und wie alle anderen reagieren würden. Der Ruf einer jungen Frau konnte durch so etwas ruiniert werden.
»Fertig?«
Calan hob den Blick von ihr und sah seinen Vetter an. »Wir werden die Tunnel benutzen, um in die Burg zu gelangen.«
Gille hob die Brauen. »Aus einem bestimmten Grund?«
Calan antwortete nicht, nahm stattdessen die Hand der jungen Frau und hob sie, damit sein Vetter es selbst sehen konnte.
Gille drängte sein Pferd näher und beugte sich zur Seite, um sich den Ring anzusehen. Dann pfiff er leise. »Also eine Lady«, bemerkte er, richtete sich auf und nickte. »Dann ist es wohl am besten, wenn wir die Tunnel nehmen.«
Calan entspannte sich, ließ die Hand wieder auf den Schoß der Frau sinken und bedeutete seinem Vetter, vorauszureiten.
Viele Burgen besaßen Geheimgänge, damit die Frauen der Familie im Falle eines Angriffes oder einer Belagerung entkommen konnten. Kilcairn, sein Zuhause, hatte auch einen. Er verlief entlang der äußeren Schlafzimmer im oberen Stock. Jedes Zimmer hatte seinen eigenen Zugang. Der Gang endete in einigen Stufen, die um den Wohnturm herum und hinunter führten, dann weiter zu einem Tunnel, der unter dem Burghof und der Burgmauer verlief und bei einer verborgenen Höhle eine Meile entfernt von der Burg endete. Zu dieser Höhle ritten sie jetzt.
»Du wirst die Pferde mit zurücknehmen müssen«, sagte Calan, als er sein Pferd vor dem Höhleneingang zügelte.
»Aye.« Gille stieg ab und band die Zügel der beiden Pferde an einen Metallring, der vor langer Zeit an der Höhlenwand befestigt worden war. Er trat zur Seite und hob die Arme, um die junge Frau in Empfang zu nehmen. »Sobald ich sie in dein Zimmer gebracht habe.«
»Ich kann –«
»Noch mehr Nähte platzen lassen?«, schlug Gille grimmig vor und schüttelte sofort den Kopf. »Ich trage sie hoch und kümmere mich dann um die Pferde.«
Calan machte ein finsteres Gesicht. Es gefiel ihm nicht, zuzugeben, dass er Hilfe benötigte, aber dann nickte er nur kurz und stieg ab, um vorauszugehen.
»Leg sie aufs Bett«, wies Calan seinen Vetter an, als er vom Geheimgang aus den Eingang zu seinem Zimmer öffnete. Er eilte zum Bett und zog die Decken und Felle zur Seite, um Platz für die Frau zu schaffen. Dann standen die beiden Männer am Bett und betrachteten schweigend die Frau.
»Ihr Kopf blutet immer noch«, sagte Gille nach einer Weile.
»Aye.« Calan zögerte, bevor er zu der Truhe ging, in der sich seine Kleidung befand, und ein sauberes Hemd herausnahm. Er kehrte zum Bett zurück, knüllte den Stoff zusammen und drückte ihn der Frau auf die Stirn.
»Ich vermute, die Wunde muss genäht werden«, murmelte Gille.
Calans Antwort hörte sich an wie ein Knurren. Ihm war das bereits klargeworden, und er versuchte herauszufinden, wie er das bewerkstelligen sollte. Er konnte die Wunde selbst reinigen und, wenn nötig, auch nähen, aber es würde ein Problem sein, die dafür benötigten Gegenstände zusammenzutragen. Normalerweise kümmerten sich seine Mutter oder seine Schwester um Verletzungen. Sie waren diejenigen, die sich mit Kräutern und Nadel und Faden auskannten. Wie sollte er diese Dinge beschaffen, ohne ihren Verdacht zu erregen?
»Du musst ebenfalls genäht werden«, fügte Gille hinzu. Er klang gereizt. »Schon wieder. Wie oft sind deine Nähte inzwischen aufgeplatzt? Fünfmal? Sechsmal?«
Calan zuckte mit den Schultern und murmelte: »Ich werde mich darum kümmern, wenn sie versorgt ist.«
Gille, offensichtlich immer noch verärgert, wandte sich dem offenen Eingang des Geheimgangs zu. »Ich gehe jetzt und kümmere mich um die Pferde. Und du gehst am besten hinunter und lässt deine Mutter wissen, dass du zurück bist und es dir gut geht, damit sie keinen hysterischen Anfall kriegt, wenn ich mit deinem reiterlosen Pferd in die Burg zurückkomme.«
Mit einem leichten Stirnrunzeln schüttelte Calan den Kopf. »Ich will sie nicht allein lassen. Was ist, wenn sie aufwacht?«
»Also gut«, seufzte Gille, änderte seine Richtung und ging zur Zimmertür. »Dann gehe ich jetzt rasch nach unten, bevor ich die Pferde hole. Ich werde erklären, dass wir durch die Tunnel zurückgekehrt sind, und dass du in deinem Zimmer bist.«
»Nein«, widersprach Calan sofort. »Meine Mutter wird herkommen, um sich zu vergewissern, dass ich wirklich hier bin.«
»Und wird sehen, dass du allein mit einer unbekannten Lady bist, die nackt in deinem Bett liegt«, sagte Gille trocken. Dann grinste er amüsiert. »Natürlich könnte sie auf diese Weise gleich euer beider Wunden versorgen.«
Calan sah ihn einen Moment finster an, weil er das alles komisch zu finden schien, und ging rasch um das Bett herum zur Tür. »Geh und hol die Pferde. Ich kümmere mich um meine Mutter.«
Mit einem Schulterzucken ging Gille zum Geheimgang. Er lächelte immer noch, und Calan verstand auch, warum, als er sagte: »Gut. Dann wird sie deine Wunde sehen, und wie ich Lady Fiona kenne, wird sie darauf bestehen, dass sie dich erneut näht, damit du nicht weiter Blut auf ihre Binsen vergießt.«
Calan blieb abrupt stehen und sah nach unten. Es war kein Blut auf den Binsen, aber sein Plaid hatte sich geöffnet, und die Wunde war wieder zu sehen. Er trug auch kein Hemd.
»Geh einfach«, fauchte er und schüttelte das Hemd aus, das er zusammengeknüllt hatte. Er hörte, wie sich der Geheimgang schloss, während er das Plaid ablegte, das Hemd anzog und dann das Plaid wieder anlegte. Er warf noch einen Blick aufs Bett, um sich zu vergewissern, dass das Mädchen noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt hatte, bevor er eilig das Zimmer verließ, um mit seiner Mutter zu sprechen.
Wie erwartet, saß sie am Tisch in der Großen Halle. Vor ihr stand etwas zu essen und zu trinken, aber sie rührte nichts davon an. Stattdessen hielt sie die Hände unter der Tischplatte verborgen, und ihr ruhiger Blick war auf die Tür zum Burghof gerichtet. Aber Calan ließ sich durch ihre Miene nicht täuschen. Es lag daran, dass sie die Hände unter dem Tisch verbarg. Das tat sie immer, wenn sie sie rang und versuchte, es niemanden sehen zu lassen. Er zweifelte nicht daran, dass sie seinetwegen beunruhigt war, was ihm ein schlechtes Gewissen bereitete, was ihn wiederum ärgerte. Er liebte seine Mutter aufrichtig, aber er war ein mächtiger Krieger, der Laird der Campbells von Kilcairn, und er war sich sicher, dass die Art, wie sie sich um ihn sorgte, respektlos war. Nicht, dass er das jemals zu ihr gesagt hätte. Sie war schließlich seine Mutter.
Er reckte die Schultern und blieb hinter Lady Fiona stehen. Er beugte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Guten Morgen, Mutter. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.«
»Calan!« Sie fuhr überrascht herum, während er sich aufrichtete, und blickte ihn mit großen Augen besorgt an. »Ich habe dich gar nicht hereinkommen sehen. Und ich habe die Tür nicht aus den Augen gelassen«, fügte sie stirnrunzelnd hinzu. »Ich dachte, du wärst unten beim Loch. Gille sagte, dass du dort geblieben wärst, um die Sonne aufgehen zu sehen.«
»Das habe ich auch getan«, log er glatt. Er wusste es zu schätzen, dass sein Vetter nicht verraten hatte, dass er vorgehabt hatte, im Loch zu schwimmen. »Aber ich bin schon früher zurückgekehrt und gleich in mein Zimmer gegangen, um dort eine Weile zu bleiben.«
»Oh, Lieber«, murmelte sie. Ihr Blick wanderte wieder zur Tür. »Wir haben das gar nicht gemerkt und gedacht, du wärst noch da draußen. Ich habe Gille losgeschickt, damit er nach dir sucht.«
Calan zuckte mit den Schultern, und dann musste er verhindern, dass sein Gesicht sich verzog, als die wieder offene Wunde bei der Bewegung schmerzte. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Ich bin mir sicher, dass er schon bald zurück sein wird.«
»Wieso verziehst du das Gesicht?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen. »Hast du Schmerzen?«
»Ich verziehe das Gesicht nicht. Ich lächele«, sagte er und lächelte noch mehr.
»Nein. Du verziehst das Gesicht«, entgegnete Lady Fiona scharf. »Und auf deinem Hemd ist Blut.«
Calan versteifte sich. Er nahm an, sie sprach von der Wunde auf seiner Brust, weil Blut durch das Hemd gesickert war, doch seine Mutter packte seinen Arm und drehte ihn etwas herum. Seine Miene verfinsterte sich, als er sah, dass Blut dort war. Es musste das Blut der jungen Frau sein und es musste geschehen sein, als er ihr sein zusammengeknülltes Hemd auf die Stirn gedrückt hatte. Er hatte gar nicht mehr daran gedacht, als er es angezogen hatte.
»Hast du dich wieder verletzt?«, fragte Lady Fiona bestürzt. Sie stand auf und schob den Ärmel seines Hemdes hoch, um einen Blick auf seinen Arm zu werfen.
»Nein, ich habe mich nicht wieder verletzt«, entgegnete er gereizt, sich nur zu bewusst, dass alle, die am Tisch saßen, das Gespräch mitbekamen. Er war der Laird, und doch behandelte Lady Fiona ihn immer noch wie ein Kind. Mütter konnten so peinlich sein. Er machte ein finsteres Gesicht und versuchte, den Ärmel wieder herunterzuziehen. »Und ich habe mich auch nicht zum ersten Mal verletzt. Ich bin von einem abgeschossenen Pfeil getroffen worden, Mutter, nicht auf einen gefallen.«
»Nun, das weiß ich«, sagte Lady Fiona ebenfalls gereizt, während sie seine Hand wegstieß und seinen Arm untersuchte. Als sie keine Verletzung feststellte, zog sie den Ärmel herunter und zupfte an dem offensichtlich frischen Blutfleck. »Aber du –« Sie hielt abrupt inne, als ihr Blick zu seinem Gesicht hochwanderte und an seiner Brust hängen blieb. »Deine Wunde hat sich wieder geöffnet«, fauchte sie plötzlich und hob die Hand, um den Stoff des Plaids beiseitezuschieben. Der wachsende Blutfleck auf seiner Brust kam zum Vorschein.
»Eine Naht«, sagte er beschwichtigend.
»Nun, dann machen wir am besten eine neue«, erklärte sie und ergriff ihn am Arm, um ihn dazu zu bringen, zur Treppe zu gehen.
»Nein«, widersprach Calan scharf. Er wusste, dass sie es in seinem Zimmer tun würde. Er zwang sich erneut zu lächeln und hinderte sie daran zu gehen. »Du musst warten, bis Gille kommt, und ihm versichern, dass ich hier bin und es mir gut geht.«
»Aber deine Wunde muss neu genäht werden«, hielt sie entgegen und versuchte, ihren Arm loszureißen. »Und du verziehst wieder das Gesicht, weil es dir offensichtlich weh tut.«
Calan hörte auf zu lächeln und zwang sich, geduldig zu bleiben. »Ich habe keine Schmerzen«, versicherte er ihr. »Und es ist besser, wenn du hierbleibst und Gille sagst, dass ich da bin und es mir gut geht, wenn er kommt. Ansonsten könnte er einen Trupp zusammenstellen, der mich sucht.« Als sie wieder den Mund öffnete, um weiter Einwände zu erheben, fügte er hinzu: »Inghinn wird meine Wunde versorgen, während du hier auf ihn wartest.«
Glücklicherweise schien dieses Argument seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn sie hörte auf, Widerstand gegen seine Bemühung zu leisten, sie wieder zum Tisch zu schieben. Sie ließ sich auf ihren Platz sinken und seufzte. »Oh, nun gut. Inghinn kann das tun.«
»Was kann ich tun?«
Calan spannte sich an, als die Stimme seiner jüngeren Schwester hinter ihm erklang. Er drehte sich langsam um und zwang sich, sie anzulächeln.
»Warum verziehst du das Gesicht?«, fragte Inghinn.
Calan hörte auf zu lächeln und machte stattdessen ein finsteres Gesicht, aber es war seine Mutter, die antwortete.
»Calans Wunde ist wieder aufgegangen und muss neu genäht werden«, erklärte Lady Fiona. »Kannst du das tun, Liebes? Ich muss hier auf Gille warten, damit er nicht einen Trupp zusammenstellt, der deinen Bruder sucht.«
»Oh. Aye, natürlich«, war Inghinn sofort bereit und wandte sich zur Treppe. »Komm mit, Bruder. Es macht keinen Sinn, alle Mädchen in Aufregung zu versetzen, indem du dein Hemd hier unten ausziehst.«
Calan zögerte, aber dann folgte er seiner Schwester die Treppe hinauf. Er versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, womit er sie davon überzeugen konnte, es ihm zu überlassen, sich selbst um seine Wunde zu kümmern. Für das Mädchen in seinem Zimmer brauchte er ohnehin Nadel und Faden und auch Heilmittel. Er musste nur einen Weg finden, Inghinn von sich fernzuhalten. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, dachte er immer noch darüber nach, als er sah, dass sie zu seinem Zimmer ging und nicht zu ihrem.
»Wohin gehst du?«, fragte er alarmiert. »Willst du nicht die Sachen holen, die du brauchst?«
Inghinn ging weiter, während sie auf die Tasche an ihrem Gürtel zeigte, die Calan jetzt erst bemerkte. »Ich habe meine Heilmittel dabei. Ich wollte nach dem Frühstück ins Dorf gehen, um nach der Frau des Schenkenwirts zu sehen.«
Calan wusste, dass die Frau des Schenkenwirts sich in der Woche zuvor den Arm schlimm verbrannt hatte, und dass Inghinn sich um sie kümmerte. Ihn besorgte jetzt aber mehr die Tatsache, dass seine Schwester in genau diesem Moment die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Leise fluchend beeilte er sich, ihr zuvorzukommen, aber es war zu spät. Er wusste es, als sie abrupt stehen blieb, noch bevor er ihren Arm packen und sie daran hindern konnte, das Zimmer zu betreten.
»Was – ?« Ihre Frage endete mit einem überraschten »Hmmpf«, als Calan sie ins Zimmer stieß, ihr folgte und die Tür hinter ihnen schloss.
Als er sich wieder zu ihr umdrehte, erhaschte er gerade noch einen Blick auf ihre finstere Miene, bevor sie sich abwandte und zu dem Bett ging und auf das Mädchen hinunterblickte, das darin lag.