Ein Jahr in Frankreich - Birgit Kaspar - E-Book

Ein Jahr in Frankreich E-Book

Birgit Kaspar

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Beschreibung

Von Frankreich lernen, heißt leben lernen. Das versteht auch Birgit Kaspar schnell. Als sie hier ankommt, wird sie zunächst mit der Bedeutung der Mittagspause konfrontiert und dann mit der Frage, wie man ein Dach repariert. Dabei bleibt es nicht: Sie findet den Schlüssel zur verlorenen Zeit, sammelt Weisheiten über das Heizen mit Holzöfen, erkundet die Hauptstadt des Parfums ebenso wie die Arroganz der Pariser und das tiefe Misstrauen der Provinz. Auf dem Montblanc beobachtet sie die Gletscherschmelze, und auf Korsika erfährt sie Neues über Autonomie und Unabhängigkeit.

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Birgit Kaspar

Ein Jahr in Frankreich

Titel der Originalausgabe: Ein Jahr in Frankreich

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Kchungtw – iStock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-81202-6

ISBN (Buch): 978-3-451-06897-3

Inhalt

Ein Lebenstraum

August

September

Oktober

November

Dezember

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

Merci

Ein Lebenstraum

EIGENTLICH HÄTTE ES schon lange Frankreich sein sollen. Doch dann kam der Nahe Osten dazwischen. Heute weiß ich: Alles hat seine Zeit.

Der Zug rattert gleichförmig durch die Landschaft. Vor dem Fenster fliegen Felder, Straßen, Bäume und Kirchtürme vorbei. Über meinem Kopf befinden sich meine Habseligkeiten, in zwei Koffern. In meinem Kopf herrscht Chaos. Ich will nicht nach Deutschland. Ich richte mich auf, blicke entschlossen in den französischen Sommer und verspreche mir feierlich: Ich werde zurückkehren. Das war 1985, als ich nach einem Studienjahr in Toulouse schweren Herzens nach Köln reiste. Der französische Südwesten hatte mir viel über eine Leichtigkeit des Seins beigebracht, die ich aus Deutschland nicht kannte. Hier wollte ich unbedingt wieder hin. Spätestens, wenn es Zeit sein würde, meine eigenen Tomaten zu züchten. Also, wenn ich mich aus dem aktiven Berufsleben verabschieden würde. Aber am liebsten schon früher.

Meine Neugier und der Journalismus führten mich allerdings erst in den Vorderen Orient. In der Zeit dachte ich, in diese heißen Länder mit viel Wüste, wo man Tee chai nennt, da gehörte ich hin. Zwar wollte ich nie Kriegsberichterstatterin werden, aber ich fühlte mich berufen, das schwierige Leben der Menschen in Syrien, im Libanon, in Jordanien, den Palästinensergebieten und im Irak zu beschreiben. Etwas in dem Bild, das sich westliche Gesellschaften von den nahöstlichen machen, wollte ich geraderücken. Dabei habe ich viel gelernt. Insbesondere über den Umgang mit der Wahrheit und über Machtpolitik. Eine Lektion, die fortan wenig Raum für Illusionen lässt.

In Bagdad trat Alistair in meine Leben. „Was??? Ein Schotte?!?“, staunte meine Mutter. „Ich dachte immer, du würdest mal einen Franzosen heiraten.“ Ja, Mutter, das habe ich auch mal gedacht … Alistair und ich gingen zwei Jahre später gemeinsam nach Beirut. Er als Nahostspezialist für die Nachrichtenagentur Reuters, ich als freie Nahostkorrespondentin. Nach fünf Jahren im Libanon stellte uns Reuters vor die Wahl: Bagdad, Dubai oder London. Bagdad? Dubai? Keinesfalls. Jetzt nicht mehr. Ich wollte weder in einer Stadt leben, in der noch mehr Autobomben hochgingen als in Beirut, noch in einer überhitzten Shoppingmall. Vielleicht war es Zeit, zurück nach Europa zu gehen? Nur, ins von Nieselregen geplagte London zog mich gar nichts.

War es Zufall? Oder Vorsehung? Weder an das eine noch an das andere glaube ich. Gestalten wir nicht in unserem Leben mehr, als wir ahnen oder uns eingestehen mögen? Bewusst oder unbewusst. Ein Jahr vor der Entscheidung über unser künftiges Zuhause führte uns ein Schnuppertrip in den französischen Südwesten. Genauer gesagt an den Fuß der Pyrenäen südlich von Toulouse. Wir wollten ein altes Landhaus finden, wo wir unser „letztes Drittel“ verbringen könnten. Ein paar Hausbesichtigungen standen auf dem Programm. Nur so, um den Markt auszuloten. Dann, am zweiten Tag unserer Reise betraten wir ein ungewöhnliches Haus in einem winzigen Dorf, quasi am Ende der Welt. Wir blickten durch die traditionellen Sprossenfenster: Die Pyrenäengipfel in all ihrer Schönheit … Coup de foudre! Liebe auf den ersten Blick! Genau so hatten wir es uns vorgestellt. Konnte es wirklich wahr sein? Zwei Tage später unterschrieben wir beim Notar bereits einen compromis de vente, also einen Vorvertrag über den Kauf des Hauses. Besitzer wurden wir erst sechs Monate später. Den Termin hätten wir beinahe verpasst.

Das Navi unseres geliehenen Fiat 500 führt uns querfeldein über die abenteuerlichsten Landsträßchen. Eigentlich sollten wir jetzt schon in Maître Sudéries Büro sitzen. Gefühlt fahren wir 20 km/h. „Alistair, verdammt, gib Gas, wir kommen sonst viel zu spät!“ Schotten können so langsam sein. Wir biegen auf einen weiteren Feldweg ein. Geteert, ja schon, so gerade. Aber um den Schlaglöchern erfolgreich auszuweichen, muss man höllisch aufpassen. Ich fürchte ernsthaft, wir werden nie ankommen. Als wir endlich auf den Parkplatz unseres Notars rollen, bin ich fertig mit den Nerven. Diese Verspätung ist mir sehr peinlich. In dem gediegenen Büro mit dicken, in Leder eingebundenen Gesetzesbüchern an der Wand warten die holländischen Hausverkäufer, Jan und Maria, ihre Notarin und der Makler schon auf uns. Maître Sudérie sitzt freundlich lächelnd hinter seinem antiken Schreibtisch. Alle sind bester Laune. Die erste Runde Kaffee haben sie schon hinter sich. „Verstehen alle Anwesenden Französisch“, fragt Sudérie in die Runde. Alle nicken. „Na, umso besser“, schmunzelt er. „Wir sind ja schließlich in Frankreich!“ Nun wird es geradezu feierlich. Mich wunderte es nicht, wenn wir hier auch Ringe statt nur Unterschriften tauschten. Dabei geht es nur um ein Haus. Nur? Für mich wird dieses Haus wenig später zum Rettungsanker. Denn es erlaubt mir einen Befreiungsschlag: Weder Bagdad, noch Dubai, noch London – mein künftiges Zuhause würde Belloc heißen.

August

QUIETSCHEND BEGRÜSSEN DIE DUNKELGRÜNEN Holzläden den Tag. Rosmarin- und Lavendelduft kitzeln mir in der Nase. Einige Bienen summen direkt unter meinem Fenstersims von einer zart-lila Blüte zur nächsten. Sie sind schon sprichwörtlich fleißig. Gut so. Ich richte die koppheister hängenden, metallenen Haltemännchen auf und befestige die Läden an der 200 Jahre alten Steinmauer. Tautropfen glitzern auf den Spinnweben in Oleander- und Hibiskusbüschen. Äußerst dekorativ. Überboten werden sie allerdings von den Gipfeln der französischen Pyrenäen. Als ich den Kopf hebe, weiden sich meine Augen an grünen Hügeln und den schroffen Konturen von Cagire, Pic du Midi und Mont Valier im Hintergrund. Majestätisch liegen sie da. Gibt es einen Ort auf der Welt, an dem ich lieber erwachen würde? Nein. Die Welt ist im Lot. Jedenfalls von meinem Schlafzimmerfenster aus betrachtet.

Ich atme tief durch, recke mich. „Guten Morgen, Belloc.“ Durchs Wohnzimmer gehe ich direkt in den Garten, um in den ersten Sonnenstrahlen zu baden. Die Kühe auf der Weide gegenüber glotzen neugierig. Sonst ist niemand zu sehen. Der 35-Seelen-Weiler Belloc hat genau eine namenlose Straße, und die führt auf der anderen Seite unseres Hauses vorbei. Hausnummern gibt es nicht. Warum auch … Die Briefträgerin kennt jeden persönlich.

Sie ist eine der wenigen, die diese route départementale, unsere Verbindung mit der Außenwelt, jeden Tag passieren. Hin und wieder kommt auch mal ein alter Traktor vorbei. Oder – zumindest in den Ferienmonaten – der ein oder andere Wohnwagen. Touristen gucken dann häufig neugierig durchs Küchenfenster auf unseren Herd. Sie erinnern mich daran, dass ich jetzt an einem Ort lebe, der für andere ein attraktives Urlaubsziel ist. Für die Touristen gehöre ich also nur zum Dekor. Was ist Leben? Was Urlaub? Wenn mich meine Freunde in Deutschland fragen: „Wohin fahrt ihr denn diesen Sommer in Urlaub?“, schüttele ich gewöhnlich den Kopf und lache. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber vermutlich nicht besonders weit weg.“ Wir haben die Pyrenäen vor der Nase, Atlantikküste und Mittelmeer in greifbarer Nähe. Sowie Toulouse. Für mich eine der schönsten Städte Frankreichs. La ville rose. Nur falls mich mal nach Stadtluft gelüstet. Was nicht allzu häufig der Fall ist.

Ein paar Eidechsen haben schon Logenplätze auf der Gartenmauer eingenommen. Genießerisch recken sie ihre Köpfe gen Himmel. Ich pflücke ein paar Erdbeeren und Feigen zum Frühstück, dann springe ich rasch unter die Dusche. Heute ist ein besonderer Tag: Der Vierzig-Fuß-Container mit unseren Möbeln soll endlich angeliefert werden. Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon. Denn der Transporter muss eine sehr schmale, alte Brücke passieren. Danach geht es zwei Kilometer steil bergan durch Eichen-, Akazien- und Buchenwälder. Die holprige Straße, auf der zwei Autos nur mit geschickten Ausweichmanövern aneinander vorbeikommen, ist offiziell nur bis zu sechs Tonnen belastbar. Die Pessimistin in mir sieht den Möbelcontainer schon ins Gestrüpp stürzen. Doch die Optimistin bringt die Schwarzseherin zum Schweigen. „Ça va aller!“ Alles wird gut. Dieser Container ist etliche Tage übers Mittelmeer geschippert und kommt nun aus Marseille. Gepackt haben Alistair und ich ihn in Beirut.

Von Beirut nach Belloc. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein! Dort die libanesische Hauptstadt, eine chaotisch-lärmende Metropole mit ihren Dauerstaus, den ständigen Stromausfällen, gelegentlichen Bombenanschlägen und Überflügen israelischer Kampfjets. Aber – für eine Journalistin nicht ganz unwesentlich – dauernd in den Schlagzeilen. Hier ein verträumtes Dorf, in dem mehr Schafe als Menschen leben. Krass, das fand auch die Besitzerin der einzigen chemischen Reinigung im Umkreis von zwanzig Kilometern, als ich ihr vor ein paar Tagen die von den holländischen Vorbesitzern unseres Hauses übernommenen Vorhänge auf den Ladentisch legte. „Sie sind aber neu hier!“, schloss sie messerscharf. Sicher weil sie mich noch nie gesehen hat. Denn in der Tiefe des département Ariège kennt Frau ihre Kunden. Als ich ihr erzählte, dass ich gerade aus der libanesischen Hauptstadt hierher gezogen sei, brach sie in schallendes Gelächter aus: „Welcher Teufel hat Sie denn geritten? So was habe ich ja noch nie gehört!“ Für verrückt hat sie mich nicht direkt erklärt. Immerhin. So sind sie im Midi de la France: direkt, aber mit einer großen Portion Charme.

Ich werde unruhig. Es ist schon halb zehn – eigentlich sollte der Möbeltransporter längst hier sein. Alistair und ich räumen mit gespielter Zuversicht unseren bescheidenen Überbrückungshausstand auf die Veranda. Ein Sofa, ebenfalls aus dem Bestand der Holländer Jan und Maria. Ein kleiner Fernseher, der uns nach unseren Anstricharbeiten einen interessanten Einblick in die sommerliche Prioritätenliste der Franzosen erlaubt. Wichtigstes Thema der Abendnachrichten: die Tour de France. Direkt gefolgt von Unwettern im Languedoc. Erst danach geht es um Lappalien wie Bürgerkrieg in Syrien oder politische Grabenkämpfe in Paris. Top-Priorität hat allerdings die Wettervorhersage. Auf France 2 wie auch bei der privaten Konkurrenz von TF1 gibt es sie gleich zweimal: einmal direkt vor und zur Sicherheit noch einmal nach den Nachrichten.

Als wir gerade darüber debattieren, ob wir die Schaumstoffmatratzen und unsere Schlafsäcke schon auf den Speicher verbannen sollten, klopft jemand heftig an die Haustüre (eine Klingel gibt es nicht). Ich öffne. Vor mir steht mit hochrotem Kopf ein junger Mann. Nur wenige Meter hinter ihm blockiert sein Laster mit dem zwölf Meter langen und zweieinhalb Meter breit wie hohen ISO-Container die nun geradezu winzig wirkende Straße. „Ich habe Blut und Wasser geschwitzt auf dem Weg zu Ihnen!“ Michel, der Fahrer, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der Ansatz eines erleichterten Lächelns huscht über sein angespanntes Gesicht. „Als ich an der Brücke unten ankam, habe ich kurz gezögert. Dann habe ich mir ein Herz gefasst und gehofft, dass mir auf dem Weg nach oben kein Traktor entgegenkommt. Si le bon Dieu le veux!“

Der liebe Gott wollte. Aber jetzt hat Michel noch ein letztes, nicht unwesentliches Problem: „Wo bitte, parke ich dieses niedliche Gefährt?“ Er tritt einen Schritt zur Seite, damit ich auch den richtigen Eindruck bekomme. „Tja …“, sage ich. „Gute Frage.“ Ich rufe Alistair, wir gehen zu dritt auf die Straße und inspizieren die Möglichkeiten. Oder besser gesagt, deren Fehlen. Denn zwischen unserem Vorgarten und der Straße liegt ein kleiner Graben. Auf der anderen Seite gibt es zwar einen schmalen, grasbewachsenen Streifen, aber dahinter senkt sich eine Böschung gleich wieder talwärts. Geht beides nicht.

Inzwischen weiß das ganze Dorf, dass sich hier einer der außergewöhnlichsten Einzüge ereignet, die Belloc je erlebt hat. Kleine Umzugswagen, die hatte man schon gelegentlich gesehen. Aber einen Vierzig-Fuß-Container? Was sind das für Sonderlinge, die da in das vieux couvent einziehen? Das alte Kloster, so nennen Eingeweihte unser Haus, weil hier ursprünglich – also vor rund 200 Jahren – mal pensionierte Nonnen gelebt haben. Und wieso bringen diese Ausländer um Himmels Willen so viele Möbel mit? Wie unbeliebt könnten wir werden, wenn wir erst mal einen Tag lang die Dorfstraße unpassierbar gemacht haben? Ich will es mir gar nicht ausmalen. Während wir noch ratlos herumstehen, zeigen uns die Bellocois, wie es geht. Autofahrer, von denen ich angesichts dieser ungewöhnlichen Straßenblockade eine wütende Tirade erwartet hätte, nicken uns freundlich grinsend zu, nehmen ihrerseits pragmatisch den Weg über den schmalen Grasstreifen und fahren weiter. Pas de problème. Kein böses Gehupe. Stattdessen Ermunterungen. Ein älterer Herr mit Baskenmütze ruft aus dem offenen Autofenster: „Bonjour, Sie haben sich aber ganz schön was vorgenommen! Bon courage!“ Das Entladen kann beginnen. Beinahe. Denn kaum hat Michel eine Rampe anmontiert und den Container geöffnet, höre ich das Bimmeln kleiner Glocken. Rund 100 Schafe sind im Anmarsch. Geneviève in grauem Overall, einen langen Holzstock in der Rechten, treibt sie vor sich her auf die Weide. Die Schafe wirken ein wenig erstaunt, trollen sich am Container vorbei und steuern zielstrebig auf unseren Geißblattbusch zu. Der blüht weit ausladend über die niedrige Vorgartenmauer. Daran knabbern sie besonders gerne. Das spart das Beschneiden. „Ah, ça y est“, sagt sie strahlend. „Jetzt beginnt also der richtige Einzug.“ In der Tat. Ich entschuldige mich für die Straßenblockade. Die patente Mittfünfzigerin mit offenem Gesicht und kurzen grauen Haaren wiegelt ab. „Kein Problem. Es gibt viel Schlimmeres!“ Geneviève zieht weiter mit ihrer Herde, die sie auf den zahlreichen offenen Wiesen um das Dorf herum grasen lässt. Sie selbst setzt sich dann auf einen Stein oder ein Stück Holz, überlässt es den Hunden, die Herde zusammenzuhalten und – ja was? Denkt sie nach, meditiert sie, schaut sie einfach auf die Landschaft? Was treibt sie um? Sie lebt in einer Welt, die mir bis jetzt verschlossen ist. Vielleicht wird es mir gelingen, einen Weg hinein zu finden.

Mich stressen Umzüge. Ich habe wieder einmal Sorge um die Unversehrtheit meiner Lieblingsmöbelstücke. Insbesondere um eine antike syrische Hochzeitstruhe mit Perlmuttintarsien und um die italienische Designerleuchte, die mir mein Vater einstmals zum Abschluss meines Geschichtsstudiums in Berlin geschenkt hat. Ich will diese Stehlampe gerne beschützen, wie einen alten Spielkameraden, den man nicht verlieren möchte. Vielleicht weil sie ein Stück Kontinuität in meinem ansonsten bewegten Leben darstellt. Denn seither schleife ich sie mit mir durch die Weltgeschichte. Von Berlin nach Bonn. Von Bonn ins jordanische Amman, wo ich fünf Jahre lang ARD-Nahostkorrespondentin für den Hörfunk war. Von Amman wieder ins Rheinland. Zwei Jahre später erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Beirut. Nun endlich nach Südfrankreich. Und zwar, um zu bleiben. Das wissen bis jetzt weder Lampe noch Truhe.

In einem Kleintransporter kommt Verstärkung: zwei kräftige Männer aus Toulouse, die dabei helfen, Möbel aufzubauen und Kisten auszupacken. Während ich noch meinen Gefühlsduseleien nachhänge, machen sie ihren Job. Auch bei 30 Grad Celsius. Ich stelle ihnen Wasserflaschen in die Küche und koche in regelmäßigen Abständen frischen Kaffee. Das scheint ihnen sehr wichtig zu sein. Dazu ein paar pains au chocolat – hier im Südwesten peng o chocolat ausgesprochen – vom Bäcker in Salies-du-Salat, einer Kleinstadt rund fünfzehn Autominuten von uns entfernt. Auch sie werden dankbar angenommen. In Belloc selbst existieren keine Geschäfte. Mal abgesehen von Bauern, die frischen Ziegenkäse oder Bio-Eier direkt auf dem Hof verkaufen. Sehr lecker, aber nicht so tauglich als Handwerkersnacks für Zwischendurch.

In rasantem Tempo füllt sich das Haus. Die Möbelpacker schleppen, hämmern und schrauben. Mit südfranzösischer Beschaulichkeit hat das nichts zu tun. So sehr ich auch auf diesen Moment gewartet habe, nun ist es, als hole mein altes Leben mich viel zu schnell wieder ein. Nicht dass es schrecklich gewesen wäre. Eher schön, aber auch ganz schön komplex. Es fühlt sich an, als wollten mich diese Möbel, all die Bücher und liebgewonnenen Dinge daran erinnern, wer ich zu sein habe. Ich muss kurz raus hier, tief Luft holen, setze mich auf eine der bemoosten Gartenmauern aus Natursteinen. Sie ist angenehm warm. Die Weite der Landschaft hat etwas Befreiendes. Dies ist auch ein Neubeginn. Hier werde ich von nun an leben. Nicht nur für fünf Jahre oder so. Es ist das erste Mal, dass ich mich niederlasse, ohne einen absehbaren Umzugstermin. Die Perspektive fühlt sich fast unwirklich an. Oder jedenfalls fremd. Die Sonne scheint mir ins Gesicht, der Wind streicht sanft durch mein Haar, ich atme die würzige Luft des französischen Südens tief ein. So soll es sein. Mit Freude betrachte ich meine ersten eigenen Tomaten, die im potager, dem recht überschaubaren, mit Kaninchendraht vom übrigen Land abgetrennten Gemüsegarten, reifen. Sie haben ein unvergleichliches Aroma. Unser Nachbar Jérôme hatte sie für mich bereits im Frühjahr gepflanzt. „Weil du doch so gerne Tomaten wolltest“, sagte er, als ich ankam. Jan und Maria hatten uns Jérôme aus dem Oberdorf vorgestellt, als wir unser neues Heim vor einem halben Jahr erstanden. Der Mittfünfziger ist Frührentner, seit er eine künstliche Hüfte bekam und sein rechtes Auge verlor. Er lebt in einem kleinen Haus zur Miete, bepflanzt einen für seine Verhältnisse viel zu großen potager, weil es ihm so viel Freude bereitet, andere mit Tomaten, Bohnen oder Gurken zu beschenken. Seine bescheidene Rente bessert er mit Handlangerarbeiten bei Nachbarn auf. Seit seine Frau ihn verlassen und die halbwüchsige Tochter gleich mitgenommen hat, versichert er sich so auch der Verbindung mit den Menschen in seiner Umgebung.

Um Viertel vor zwölf wird es plötzlich ganz still im Haus. Ist irgendetwas passiert? Michel steckt zögernd seinen Kopf durch die Tür zum Garten. „Pardon Madame, gibt es hier in der Nähe ein kleines Restaurant oder so was?“ Ein Restaurant? Keine Stullen aus der Butterbrotdose mit einer Thermoskanne Kaffee? Natürlich nicht, wir sind doch in Frankreich! „Ja, im Nachbardorf haben wir ein kleines, günstiges Restaurant mit ganz passabler Küche. Sie haben nicht viel Auswahl, aber ein Mittagsmenü.“ Michel nickt zufrieden. „Na dann, bis später.“

Zwölf Uhr mittags – einer der entscheidenden Momente des Tages. Insbesondere im Süden, im midi de la France. Zeit für eine ausgiebige Mittagspause. Mit einer richtigen Mahlzeit, versteht sich. Meistens jedenfalls. Deshalb bieten Restaurants, in den Städten wie auf dem Land, mittags eigentlich immer ein preisgünstigeres Menü an. So sieht man dort, wo man Pizzaläden oder andere Schnellimbisse vergeblich sucht, durchaus Leute vom Bau oder eben solche, die auf Montage sind, bei einem leckeren Essen mit dem obligatorischen Glas Tischwein. Es sei denn, sie gehen zum Essen nach Hause. Wie Denis, der Elektriker, der uns ein paar neue Steckdosen und Lichtschalter installiert hat. Eine solche Mittagspause dauert in der Regel bis 14 oder 14.30 Uhr. Man sollte nicht den Fehler begehen, in dieser Zeitspanne jemanden dienstlich anzurufen. Entweder gibt es keine Antwort (meistens), oder die Antwort fällt entsprechend unwirsch aus. Ich brauche eine Weile, das zu akzeptieren. Für die Nahostkorrespondentin, die es gewohnt war, zu jeder Tages- und Nachtzeit ansprechbar zu sein, ist es ein kleiner Schock. Aber ein heilsamer. Denn im Sonnenlicht Okzitaniens betrachtet, hat es sehr viel für sich, mittags gepflegt zu essen und sich eine Pause zu gönnen. Die Mägen der Bewohner dieser Region scheinen geradezu genetisch darauf eingestellt zu sein, zwischen 12 und 13.30 Uhr Nahrung aufzunehmen. Gegen Mittag bewegen sich deshalb alle ohne Umwege entweder nach Hause oder in ein Restaurant. Dann sind die Straßen für eine Weile wie leergefegt.

Wir wärmen uns eine Suppe auf unserem gerade angeschlossenen Gasherd. Dazu einen großen Tomatensalat mit frischem Basilikum. Aus eigener Produktion! Auch Teil des neuen Lebensgefühls. Gestärkt beginne ich mit dem Auspacken meiner Kleiderkisten. Eine Begegnung mit einer anderen Welt. Was werde ich nur mit dem roten Cocktailkleid hier tun? Oder dem kleinen Schwarzen und den lila Pumps? In Amman und Beirut gab es reichlich Empfänge und offizielle Dinnerpartys, bei denen solch schicke Fummel angebracht waren. Aber in Belloc kann ich damit vermutlich bestenfalls die Tomaten im potager zum Erröten bringen.Wie wird unser Leben hier aussehen? Was wird aus meiner Arbeit? Welche Freunde werde ich finden? Fragen über Fragen.

Als wir uns entschieden hatten, in der Ariège südlich von Toulouse ein altes Landhaus mit Charakter zu suchen, zogen meine Pariser Freunde Sylvie und Philippe uns auf. „In der Ariège? Ist das euer Ernst? Wisst ihr auch, dass die gar nicht so richtig zu Frankreich gehört? Muss man dort nicht sogar seinen Pass vorzeigen, wenn man einreist?“ Da werdet ihr was erleben, warnte Philippe. „Und wie werden wir miteinander kommunizieren? Gibt es denn dort überhaupt schon Internet?“ Ja, Internet gibt es. Es erreicht uns über die Telefonleitung. Auf Glasfaserkabel sollten wir allerdings in absehbarer Zeit nicht hoffen. Denn wir leben in einer strukturschwachen Grenzregion. So heißt das offiziell. Das département Ariège gehört zu den ärmsten in Frankreich, ist überwiegend landwirtschaftlich geprägt und liegt zudem an der Grenze zu Spanien und Andorra. Der Dreifach-Dämpfer. La France super-profonde. Das hat jedoch durchaus Charme. Immerhin ist die Übertragungsrate digitaler Daten im Schnitt schneller als in Beirut. Das ist kein Kunststück, aber unser persönlicher Vergleichsmaßstab. Es gelingt mir jedenfalls problemlos und relativ schnell, meine Audiobeiträge an deutsche Radiosender zu übertragen. Das sollte reichen.

Nach kaum anderthalb Stunden sind die Möbelmänner schon wieder zur Stelle. Na, die haben es eilig! Jedenfalls für hiesige Verhältnisse. Michel, der Dompteur des Vierzig-Fuß-Containers, lässt keinen Zweifel: „Wir wollen unbedingt bis heute Abend fertig werden.“ Zumindest der Container solle bis dann leer sein, denn er wolle keinesfalls eine zweite Reise über die engen Landsträßchen hinaus nach Belloc wagen. „Auch wenn es bei Ihnen wunderschön ist“, lacht er. Ich verstehe. Gegen 19 Uhr verabschiedet sich Michel. „Ich gehe nicht davon aus, dass ich den Truck hier irgendwo drehen kann, oder? Wie fahre ich denn nun zurück zur Autobahn?“ Er blickt mich erschöpft an.Das sei recht einfach, erkläre ich ihm: „Immer der Straße nach, ein paar Kilometer durch den Wald und durch ein weiteres Dorf. Am Ende dieser Straße rechts und dann Richtung Saint-Girons. Ab da ist die Autobahn ausgeschildert.“ Ich wünsche ihm viel Glück und gebe ihm ein gutes Trinkgeld. Seine beiden Kollegen schrauben noch kurz vor Sonnenuntergang unser Bett zusammen, dann sind auch sie fertig. Im Haus sieht es aus wie nach einer Schlacht. Aber die Möbel stehen. Auch die syrische Hochzeitstruhe und meine geliebte Stehlampe. Unbeschadet.

Alistair und ich setzen uns mit einer Flasche Rotwein auf die wackelige Holzbank hinter dem Haus. Die Sonne senkt sich tiefrot zwischen unserer Palme und dem 2876 Meter hohen Pic du Midi de Bigorre. Alistair zückt seine Kamera. Schon wieder. Er kann es nicht lassen. Auch wenn wir schon Hunderte Sonnenuntergangsfotos haben. „Sie sind jedes Mal anders“, behauptet er. Ich will es gerne glauben. Unsere Sonnenuntergänge hier sind aber auch so zauberhaft, dass mir beinahe die Tränen kommen. Ein himmlisches Farbenspiel. Erst orange, dann rot, schließlich violett. Die letzten Zentimeter gehen ganz schnell. Jetzt … jetzt ist sie weg. Es kühlt gleich merklich ab. Erste Sterne blitzen auf. Der Hibiskus, die Rosen und die Oleanderbüsche, die stundenlang der heißen Nachmittagssonne getrotzt haben, atmen nun auf. Amseln und Meisen zwitschern wieder vergnügt, ein Eichelhäher kreischt. Die Fledermäuse beginnen ihr lautloses abendliches Ballett. Friedlich breitet die Nacht ihren Mantel aus. Als wir uns an der Milchstraße sattgesehen haben, räumen wir die Weingläser in die Küche und begeben uns – endlich wieder – in unser eigenes Bett. Nun kann das Ankommen so richtig beginnen.

September

ZWEI GEKREUZTE FRANZÖSISCHE FLAGGEN in grauen Marmor gemeißelt. Darunter: „Zur Erinnerung an Joube, Jean-Marie, Rives, Jean-Marie, Sirgant, Pierre-Jean. Getötet von den Deutschen am 10. Juni 1944“.

Die Erinnerungsplakette hängt auf Augenhöhe neben der Rathaustür. Nicht zu übersehen. „Tués par les Allemands“– Les Allemands, dazu zähle ich auch. Ich stocke. Die Geschichte holt uns Deutsche überall ein. Dass die SS auch in Betchat gewütet hatte, war mir nicht bewusst. Na, dann bin ich hier sicher besonders willkommen … Alistair spürt mein Zögern. Wir treten durch die schmale, graue Holztür ins Bürgermeisteramt zu unserem Vorstellungsbesuch. Durch eine Glasscheibe lächelt uns die Sekretärin zu. „Bienvenue!“ Die Mittvierzigerin mit Brille bittet uns herein. „Sie sind also die Neuen.“ Wir stellen uns vor und schreiben unsere Namen, Adresse, Telefonnummer und E-Mail auf einen Zettel. Ein Meldegesetz wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. Jedoch sei es hilfreich für den Bürgermeister einer Gemeinde von nur 360 Einwohnern zu wissen, wo seine Mitbürger erreichbar seien. Klar, im Notfall geht hier also der Alarm in Form einer Telefonkette über die Hügel. Oder per Hausbesuch. Muss man nur wissen.

Den Rat, uns beim Bürgermeister gleich einzuführen, hatte mir meine Pariser Freundin Sylvie gegeben. Wir kennen uns aus Zeiten des Schüleraustauschs in den Siebzigerjahren. Monsieur le maire hat nämlich weitgehende Befugnisse: Er ist nicht nur Vorsitzender des Gemeinderates, sondern in seiner commune der Vertreter des französischen Staates. Als solcher ist er verantwortlich für die Einhaltung von Recht und Ordnung und darf Ehen schließen. Kurz: Mit dem Bürgermeister stellt man sich besser gut.

Da steht er auch schon in der Tür: ein schlanker, weißhaariger Mann mit Schnauzer in hellblauem Hemd und brauner Strickjacke. Pierre Morel nimmt zaghaft meine Hand zur Begrüßung. Es ist einer dieser Handschläge, die besagen: Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts. Wir nehmen alle drei in seinem kleinen Büro auf Holzstühlen Platz. Hinter Bergen von Papier auf seinem Schreibtisch drängen sich graue Aktenordner in Wandregalen. Zwischen ihnen hängt, ein wenig schief, das offizielle Porträt des französischen Präsidenten. Weil mein Französisch fließender ist, übernehme ich das Reden, stelle Alistair als neuen schottischen Mitbürger vor und erkläre schmunzelnd: „Tja, und ich bin Deutsche. An der Eingangstür konnte ich schon sehen, was meine Landsleute 1944 angerichtet haben. Das beschämt mich. Vermutlich sind Deutsche hier nicht sehr willkommen. Darf ich trotzdem in ihrer Gemeinde wohnen?“ Monsieur le maire verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. „Oh, das ist doch sehr lange her. Machen Sie sich mal keine Sorgen.“ Man pflege auch in diesem hintersten Winkel Frankreichs den europäischen Geist. In der Nachbargemeinde sei das etwas schwieriger, denn dort habe die Panzerdivision „Das Reich“ der Waffen-SS ein wahres Massaker angerichtet.

Pierre Morel ist nun in seinem Element. Wie ein Gymnasiallehrer, der nach langen Jahren der Frustration endlich willige Zuhörer gefunden hat. Eine unverhoffte Lektion in Lokalgeschichte. Die Gegend der Petits Pyrénées sei reich an maquisards, den Kämpfern der französischen Résistance, gewesen. Am 8. Juni 1944 hätten sie einen erfolgreichen coup gegen die Deutschen gelandet, bei dem sie drei deutsche Soldaten und einen Ingenieur gefangengenommen hätten. Zwei Tage zuvor waren die Alliierten im Norden der Normandie gelandet. Die Deutschen seien nervös und deshalb noch brutaler geworden. Das habe sich am 10. Juni in Marsoulas, dem Nachbardorf gezeigt: Als ein SS-Zug auf der Suche nach maquisards eindrang, beschossen ihn zwei Widerstandskämpfer aus Betchat. Sieben Soldaten wurden getötet. „Die Rache der SS hat sich unmittelbar auf die umliegenden Wohnhäuser und Höfe entladen. Sie stürmten von Haus zu Haus und erschossen alle, die ihnen vor die Flinte liefen“, erzählt Morel. Nur wenige seien entkommen. Am Ende seien elf Kinder, sechs Frauen und elf Männer tot gewesen.

Was in Marsoulas am 10. Juni 1944 passierte, lese ich später, war kein Einzelfall. Ähnliches ereignete sich in zahlreichen anderen französischen Dörfern und Städten.

Heute, mehr als siebzig Jahre später, erinnert am Ortseingang von Marsoulas ein Schild an diese Vorgänge: „Village Martyr, 10 juin 1944“. Keine zehn Kilometer von unserem Haus entfernt. Bürgermeister Morel hat sicher recht: Die Zeiten haben sich geändert. Aber ich frage mich, wie viel Misstrauen gegenüber einer Deutschen im kollektiven Unterbewussten noch schlummert.

Doch das sage ich dem Bürgermeister nicht an diesem sonnigen Septembermorgen. Die Sekretärin bringt uns starken Kaffee. Pierre Morel beschließt seinen historischen Exkurs versöhnlich, als spüre er mein Unbehagen: „Die Enkelin einer Überlebenden von Marsoulas hat übrigens später einen Deutschen geheiratet.“ Damit dürfte wohl mein Transitrecht durch die Märtyrergemeinde gewährleistet sein. Monsieur le maire nippt an seinem Kaffee. Es sei nicht die Vergangenheit, die ihm Sorge bereite, erklärt der 74-Jährige. Die französische Gesellschaft sei heute politisch so polarisiert wie selten zuvor. „Manchmal kommt es mir vor, als stünden wir vor einem Bürgerkrieg.“ „Machen Sie uns keine Angst, Monsieur le maire.“ Erschrocken blicke ich ihn an. „Schließlich sind wir gerade aus dem explosiven Beirut entkommen, um hier eine friedliche Umgebung zu genießen.“ „Sie werden sich wundern.“ Pierre Morel lächelt sibyllinisch. „Selbst in dieser Gemeinde schwelen tief verwurzelte Feindschaften, über Generationen.“ Die Jungen wüssten teilweise gar nicht mehr, worauf die Konflikte konkret zurückgingen. „Aber manche Familien sprechen kein Wort mehr miteinander. Sie würden einander lieber umbringen.“ Monsieur le maire entlässt uns mit den besten Wünschen. Inzwischen ist es Mittag. Wir überqueren die sogenannte Hauptstraße im pulsierenden Herzen von Betchat, wo es immerhin neben der mairie noch ein kleines Postamt und eine Grundschule gibt. Auf der schmalen, sonnigen Terrasse des Bistrot de Betchat verdauen wir die frisch gewonnenen Erkenntnisse über unsere neue Heimat bei Entenherzen, Rotwein und Schokoladenkuchen.

Leider haben wir für eine sieste keine Zeit. Wir haben zu viel zu erledigen. Unbedingt müssen wir jetzt die Brennholzvorräte für den Winter anlegen. Als wir unseren Peugeot 308 zu Hause parken, sehen wir den Nachbarn Jean auf der Weide gegenüber. Er malträtiert einen alten Pflaumenbaum mit seiner Motorsäge. Der zierliche Achtzigjährige in blauer Arbeitshose, Blouson und Sonnenhut schaltet seine tronçoneuse ab und kommt freudig auf uns zu. Ein kleiner Plausch mit den Nachbarn ist immer willkommen. Er weiß bereits, dass wir frisch aus dem Libanon eingeflogen sind, und berichtet stolz, einer seiner Neffen lebe auch im Zedernstaat. Was für ein Zufall! „Ja, ja, er ist Soldat und arbeitet bei den UN-Blauhelmen UNIFIL.“ So bauen wir Brücken zwischen unseren sehr unterschiedlichen Lebenswelten.

Dann kommen wir zu handfesteren Dingen: dem Brennholz. Ein Thema, das in Belloc ebenso beliebt ist wie das Wetter. Unsere Vorgänger hatten ihr Holz von Didier, einem anderen Nachbarn und ehemaligen Gendarmen gekauft. Doch wir wissen bereits, dass der 78-Jährige in Zukunft auf die Nebeneinkünfte des Brennholzmachens verzichten will. Jean bestätigt das. Da kein Zweifel besteht, dass wir keine Ahnung von der Materie haben, klärt er uns auf, worauf man beim Holzkauf achten müsse: „Am besten brennen Eiche und Buche. Akazien gehen auch, wenn man sie lange genug trocknet. Kastanie ist problematisch, das Holz ist, wie soll ich sagen, etwas explosiv.“ Aber das Wichtigste sei, das Holz müsse trocken genug sein. Es brauche mindestens zwei, besser drei Jahre nach dem Schnitt. Und der müsse zum exakt richtigen Zeitpunkt erfolgt sein: im Winter, zur Zeit der Saftruhe. Am besten bei abnehmendem Mond. Aha. Alistair und ich wechseln vielsagende Blicke. Klingt, als würde dieser Holzkauf eine hochkomplizierte Angelegenheit. „Kennen Sie denn jemanden, der es richtig macht?“ Jean legt seine Stirn in Falten. „Oh, das ist schwierig.“ Es seien sehr viele Scharlatane in der Holzbranche unterwegs. Zwischen den Zeilen gibt er uns zu verstehen, dass er für einen solch schwerwiegenden Rat keine Verantwortung übernehmen möchte. Wir sollten mal ins Petit Journal gucken, dort würden Holzhändler inserieren. Aber wir sollten in jedem Fall auf Eichenholz bestehen. Und fragen, wann es geschnitten worden sei. Wir haben verstanden.

Ein bisschen verdutzt bin ich schon über Jeans Zurückhaltung. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er keinen Holzhändler kennt“, schnaube ich leise vor mich hin als wir ins Haus gehen. Später dämmert es mir: Wenn wir mit dem Ratschlag nicht zufrieden wären, befürchtet Jean, dann könnten wir es ihm für immer nachtragen. Gegenseitiger