Ein Jahr in Südafrika - Kristina Maroldt - E-Book

Ein Jahr in Südafrika E-Book

Kristina Maroldt

0,0

Beschreibung

"›Bist du dir sicher?‹ Mit hochgezogenen Brauen musterte mich der Taxifahrer im Rückspiegel. Er war blass und unglaublich dick, auf den Knien balancierte er eine halb aufgegessene Portion Chicken Wings vom KFC-Laden neben dem Rathaus. ›Du willst in die Cornwall Street, nach Woodstock?‹ Ich lächelte sein mürrisches Gesicht so freundlich wie möglich an. Draußen peitschte der South-Eastern über die Grand Parade." Ein Jahr in Südafrika zeigt: Alles ist anders, ganz anders.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kristina Maroldt

Ein Jahr in Südafrika

Reise in den Alltag

Impressum

Originalausgabe©Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deKonvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, StuttgartISBN (Buch): 978-3-451-06143-1ISBN (E-Book): 978-3-451-33879-3

Inhaltsübersicht

Packen I

Oktober

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 1: Überleben Sie den Straßenverkehr!

November

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 2: Leben Sie bunt!

Dezember

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 3: Feiern Sie Weihnachten à la Regenbogen!

Januar

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 4: Ziehen Sie sich anständig an!

Februar

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 5: Lernen Sie Südafrikanisch!

März

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 6: Campen Sie wie ein Bure!

April

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 7: Machen Sie Ihrem Ärger Luft!

Mai

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 8: Lachen Sie sich schlapp!

Juni

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 9: Ehren Sie die Ahnen!

Juli

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 10: Pflegen Sie die Traditionen!

August

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 11: Heiraten Sie wie ein Zulu!

September

Südafrikanisch für Anfänger: Lektion 12: Hauen Sie rein!

Packen II

|5|„Differences are not intended to separate, to alienate.

We are different precisely

in order to realize our need of one another.“

DESMOND TUTU

|9|Packen I

ICH SASS IN DER WOHNUNG und alles war bereit. Auf dem Küchentisch lagen, der Größe nach geordnet, die Schlüssel für die Zwischenmieterin. Außerdem: die Handgepäck-Liste. Die Wohnungs-Checkliste. Die Telefonnummern-Liste. Die In-der-ersten-Woche-To-do-Liste. Die Großer-Koffer-I-Liste. Und die Großer-Koffer-II-Liste. Wobei Letztere eigentlich nicht zählte, weil ich an ihr noch arbeitete. Großer-Koffer-II ging nämlich nicht zu. Doch dazu gleich.

Ich liebe Listen. Man kann sie nach Belieben aufstellen, umstellen, abarbeiten, verwerfen. Sie überraschen einen nicht. Sie enttäuschen einen aber auch nicht. Listen vermitteln einem das Gefühl, die Welt im Griff zu haben. Ich finde, das ist ein äußerst angenehmer Zustand.

Natürlich hatte ich auch für mein Leben eine Liste erstellt. Und das Abhaken hatte in den vergangenen 32Jahren ganz gut geklappt. Ich war wie geplant Journalistin geworden, hatte eine gut bezahlte Teilzeitstelle bei einem Magazin und genügend Aufträge als freie Autorin. Ich hatte einen Freund, der meine Macken mit Fassung ertrug, und Freundinnen, mit denen ich Weinflaschen leeren, lachen, weinen und lästern konnte. Ich hatte eine Altbau-Mietwohnung in einem Viertel mit netten Kneipen und einem hübschen Wochenmarkt. Ich hatte einen Balkon.

Dummerweise hörte die Liste hier auf. Und das beunruhigte mich mehr, als ich es wahrhaben wollte. Es gab Nächte, in denen ich schweißgebadet aufwachte, weil ich geträumt hatte, ich stünde vor einem riesigen Schwimmbecken, und hinter mir drückten und drängelten die Leute und riefen mir zu, doch endlich zu springen, und ich wusste nicht an welcher |10|Stelle, es sollte doch eine gute Stelle sein, ach was, die allerbeste, und ich rannte hin und her wie ein aufgescheuchtes Huhn, und irgendwann wurde ich wach und war verschwitzt wie nach einem Marathon. Doch gesprungen war ich noch immer nicht.

Es war in einer Woche, in der die Träume besonders heftig waren, als mein Freund Max, auch Journalist, mich fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm für ein Jahr ins Ausland zu gehen, nach Kapstadt, Südafrika. Man habe ihm dort eine Korrespondentenstelle angeboten. Auch für mich gäbe es sicher genug zu berichten.

Ich dachte eine Nacht darüber nach. Dann sagte ich ja. Nicht aus den Gründen, die man vielleicht erwarten würde: die große Mal-was-ganz-Verrücktes-machen-Sehnsucht. Der lang gehegte Auszeit-Wunsch. Nein, ich war vor allem froh, endlich wieder einen Plan zu haben. Alles würde gut. Zumindest für ein Jahr. Und dann? Der Gedanke ließ sich erst mal verdrängen.

Kann man ein Jahr in Südafrika planen? Ich war überzeugt: Man kann. Obwohl ich nie dort gewesen war. Vielleicht gerade deshalb. Drei Monate vor der Abreise begann ich, alles Mögliche zu lesen: Reiseführer, Geschichtsbücher, Zeitungsartikel, Statistiken. Als ich fertig war, ließen sich meine Erwartungen an meine neue Heimat auf Zeit ungefähr an den vier dicken Ordnern ablesen, die jetzt, wenige Minuten bevor mich das Taxi zum Flughafen bringen sollte, dafür sorgten, dass sich mein Koffer trotz wilden Rüttelns am Reißverschluss einfach nicht schließen ließ. Auf den Etiketten der Ordner standen nur wenige Worte:

Schwarz + Weiß

Natur + Tiere

Gewalt + Kriminalität

Aids + Armut

|11|Schon klar, das waren Klischees, grobe Sammelmappen nur. Vor Ort würde sich die Realität vermutlich etwas komplexer darstellen. Doch genau wie meine Listen teilten auch die Ordner das Leben fürs Erste in überschaubare Brocken. Genau das brauchte ich jetzt.

Ich drückte die Ordner noch mal mit aller Kraft auf die Bücher im zweiten großen Koffer. Es knackte. Ich drückte fester. Das Gestänge des „Aids + Armut“-Ordners brach mit einem hässlichen Knirschen. Dann ratschte der Reißverschluss in einem Zug zu.

Südafrika und ich waren bereit.

Es konnte losgehen.

|13|Oktober

„UND WANN WOLLEN SIE HEIRATEN?“ Über seine altmodische Nickelbrille hinweg starrte der Mann mich an. Ich starrte zurück und musste erst mal husten. Mit allem hatte ich gerechnet. Doch nicht mit dieser Frage.

Es war mein erster Morgen in Kapstadt. Vor den Fenstern des kleinen Büros in der Long Street knallte die Sonne schon jetzt fast senkrecht auf den Asphalt. Autohupen und Möwenschreie drangen gedämpft durch die Scheiben. Wenn ich den Kopf hob, konnte ich auf der gegenüber liegenden Straßenseite eine Gruppe Touristen sehen, mit Shorts und T-Shirts bekleidet schlenderten sie zwischen den viktorianischen Häusern hindurch.

In den letzten vierzig Stunden war ich vom deutschen Spätherbst in den südafrikanischen Sommer gereist. Und auch abgesehen von diesem Klimawechsel war seit meiner Ankunft gestern Mittag so viel passiert, dass mich jetzt, im Büro meines ältlichen, dafür aber umso seriöser wirkenden Immigration Practitioners Herrn van der Merwe, eigentlich nichts mehr erschüttern sollte.

Trotzdem begann es, in meinem Bauch zu piksen. Was sollte die Frage mit dem Heiraten? Meine Unabhängigkeit war mir so heilig wie meine eigene Wohnung. Sicher, für das Jahr in Kapstadt würden Max und ich zusammenziehen, das war am praktischsten. Doch es war überhaupt nicht klar, ob es gut gehen würde. Und selbst wenn: Vor den Traualter treten würden wir deswegen noch lange nicht. Hing von der Antwort die Genehmigung meines Aufenthalts ab?

Eigentlich ist das südafrikanische Einwanderungsverfahren ja vergleichsweise simpel: Eine befristete „Permit“ wird Einwanderungswilligen, |14|besonders solchen aus Übersee, vom Department of Home Affairs meist anstandslos gewährt. Wer den dafür erforderlichen Papierkrieg an einen privaten Immigration Practitioner delegiert, kann das Prozedere sogar auf wenige Wochen verkürzen. Nach fünf Jahren kann man einen unbefristeten Aufenthalt beantragen. Fünf Jahre später Staatsbürger werden. Nicht erst seit 1994, als das Post-Apartheid-Land zum Magneten für Einwanderer aus ganz Afrika wurde, ist Südafrika eine Migranten-Nation. Schon im 14.Jahrhundert zogen zentralafrikanische Bantu-Völker hierher auf der Suche nach Weideland für ihre Rinder. Als Armutsflüchtlinge kamen dreihundert Jahre später vor allem Holländer, Flamen und Deutsche. Nicht zu vergessen das Heer der Sklaven, das von den niederländischen Kolonialherren aus Indonesien, Westafrika und Madagaskar ans Kap verschleppt wurde, sich dort mit weißen Siedlern und ockerfarbenen Ureinwohnern mischte und so vor allem die Gegend rund um Kapstadt zu einem derart wilden Völker-Ratatouille machte, dass ich mein erstes Südafrika-Klischee schon gestern am Flughafen begraben hatte: von wegen „Schwarz + Weiß“. Südafrika war – bunt! Und seine farbenfrohsten Bewohner, die vor allem rund um Kapstadt lebenden Mischlinge, nannten sich passenderweise auch gleich so: Coloureds.

Herr van der Merwe, der mich jetzt so streng musterte, war allerdings ein Weißer. Und er wartete noch immer auf eine Antwort. Ich überlegte fieberhaft: Hatte ich eine Regelung übersehen? Musste man verheiratet sein, um in Südafrika als Paar zusammenwohnen zu dürfen? Das klang absurd. Andererseits: Wenn mir vor einer Woche jemand erzählt hätte, dass ich meinen ersten Tag am Kap zum großen Teil mit ölverschmierten Händen am Straßenrand kauernd verbringen würde, hätte ich das auch nicht geglaubt.

Eigentlich hatte ich meine Ankunft ja minutiös geplant. Wichtigster Punkt dabei: Ich wollte unbedingt selber vom Flughafen |15|zu unserer Wohnung fahren. Je früher Linksverkehr, desto besser. Als ich nach achtzehn Stunden Reise blass wie ein Flugzeugbrötchen mit meinem Gepäckberg in die Empfangshalle stolperte, hatte mir Max deshalb mit theatralischer Verbeugung den Schlüssel unseres Autos überreicht: eines rostgesprenkelten Toyota Tazz, Baujahr 2002.Den Wagen hatte er kurz nach seiner Ankunft vor einem Monat bei einem Kapstädter Gebrauchtwagenhändler gekauft. Ich war damals noch in Hamburg geblieben, um Zwischenmieter für unsere beiden Wohnungen zu suchen. Und, na gut, auch um ein paar Artikel fertigzustellen, die ich unglaublich wichtig fand. Schließlich war ich fest entschlossen, nach dem Jahr in meiner alten Redaktion wieder anzufangen. Ein guter Abgang konnte da nicht schaden, dachte ich.

Doch dann verpatzte ich mit Karacho meinen Einstieg am Kap. Der Toyota blieb nämlich einfach stehen. Zum Glück nicht auf der Autobahn, das wäre womöglich tödlich ausgegangen, sondern auf einer stillen, von Palmen gesäumten Seitenstraße knapp zwei Kilometer vor unserer Wohnung im Küstenvorort Sea Point. Eine verzweifelte halbe Stunde lang versuchten Max und ich, den Motor mit Hilfe der Tomatensaftdose abzukühlen, die ich vom Flugzeugfrühstück noch in meiner Tasche hatte. Dann fiel Max erfreulicherweise ein, dass es wenige Straßen weiter ja auch eine Werkstatt gab. Wir schoben das Auto dorthin. Und erfuhren nach einer Stunde Warten in der Mittagshitze, dass a) sich der Motorkopf wegen der Hitze komplett verzogen hatte, b) ich das aber nicht merken konnte, da die Warnleuchte defekt war, c) der Wagen sowieso rettungslos überteuerter „kak“, also Bockmist, sei, d) wir ihn „frühestens in einer Woche“ wiedersehen würden und e) die Reparatur wohl 4000Rand kosten würde, gut 500Euro. Die Stimmung war von da an eher frostig. Und statt den ersten Abend in unserer mit Möbeln und Meerblick ausgestatteten und trotzdem unverschämt günstigen Wohnung bei einer Flasche Shiraz zu |16|feiern, lagen wir in verschiedenen Ecken des riesigen Ehebetts und schwiegen uns an.

Zum Glück verfügt unsere Beziehung über einen Trumpf, der uns schon oft vor größeren Krachs bewahrt hat: Wir haben beide ein großes Harmoniebedürfnis. Und so konnten wir am nächsten Morgen fast schon wieder über den Rülpser lachen, den der Toyota kurz vorm Absterben von sich gegeben hatte. Und, fast noch wichtiger: Wir begannen, Alternativpläne für die autofreien Tage zu schmieden. Ohne Auto, das hatte Max nämlich schon gemerkt, ließ sich in Südafrika vieles nur unter großem Zeitaufwand, manches gar nicht bewerkstelligen. Das Netz der Busse und Bahnen war löchrig wie ein mottenzerfressenes Leopardenfell, die Entfernungen für europäisches Raumempfinden gigantisch. Angesichts der Tatsache, dass achtzig Prozent aller Südafrikaner kein Auto haben und meist in winzigen Dörfern oder Townships fernab der Stadtzentren wohnen, ist das natürlich ein bedrückender Zustand. Doch die Not hat die Menschen schon während der Apartheid erfinderisch gemacht. Da Schwarze kaum Lizenzen für reguläre Busse erhielten, bauten ein paar findige Nasen ihre privaten Kombis einfach zu Bussen aus und kutschierten darin Dienstmädchen und Gärtner illegal zwischen Städten und Townships hin und her. Minibus-Taxis nannte man die Gefährte, 1987 wurden sie offiziell zugelassen, noch heute nutzen sie sechzig Prozent aller Südafrikaner. Trotz hoher Unfallquoten und regelmäßiger „Taxi-Kriege“ zwischen den rivalisierenden Unternehmen. Doch Minibus-Taxis sind nun mal konkurrenzlos billig. Überraschend schnell. Und wenn man sich mit dem Fahrer gut stellt, wird man sogar von zuhause abgeholt.

„Wenn du heute wegen der permit in die Stadt musst, nimmst du am besten auch so einen Minibus“, sagte Max. „Die Fahrt kostet nur fünf Rand. Stell’ dich einfach an die Victoria Road und warte, bis einer kommt. Je voller der Wagen, desto größer der Spaß.“

|17|Der Bus, der mich kurz darauf aufklaubte, war leider leer. Und ich fast ein bisschen enttäuscht. Bis zweihundert Meter weiter, am Supermarkt, plötzlich die Massen zustiegen: schwarze Matronen mit bunten Röcken und prall gefüllten Einkaufstüten. Dürre Coloureds-Väterchen, die angeregt vor sich hin brabbelten. Eine Handvoll kichernder Mädchen mit bunten Clips in den Zöpfchenmähnen. Bald klemmte ich zwischen der mit Pflastern fixierten Fensterscheibe und den schwitzenden Schenkeln einer dicken Mama. Über meinem Kopf wummerte eine monströse Stereoanlage. Vor mir feuerte der Fahrer, ein kahl rasierter Coloured, unentwegt Flirtsalven Richtung Mädchengruppe. Die Sprache, die er dabei benutzte, hielt ich zunächst für einen Hustenanfall. Später wurde mir klar: Das war Afrikaans.

Knapp zwanzig Minuten dauerte der Ritt. Die meiste Zeit rasten wir an heruntergekommenen Siebzigerjahre-Hochhäusern, Surfershops, China-Imbissen und erfreulich freizeitorientiert aussehenden Menschen in Shorts und Flip-Flops vorbei. Das war also Sea Point, mein neues Zuhause. Auf den Ort war ich tatsächlich gespannt: Während der Apartheid hatten hier, am Fuß des Lion’s Head, nur Weiße gelebt, vor allem Italiener, Griechen und osteuropäische Juden. Damals war Sea Point einer der am dichtesten bebauten Stadtteile Südafrikas, die Restaurantszene galt als legendär, sogar das erste vegetarische Restaurant des Landes wurde hier eröffnet – im fleischfanatischen Südafrika tatsächlich eine Sensation. Doch dann wurde 1992 am Hafen die Victoria & Albert-Waterfront eröffnet. Und die Menschen feierten von da an lieber im herausgeputzten Hafenbecken. In Sea Point konnte man höchstens noch mit Drogen oder Sex Geld verdienen. Erst in den letzten Jahren hatte der Ort ein Revival erlebt. Und die Rückkehrer registrierten erstaunt: Das einstige Weißen-Ghetto war bunt geworden. Schwarze und Coloureds lebten jetzt hier, Chinesen und Nigerianer hatten Restaurants eröffnet. Und seit 2010 zur Fußball-WM |18|das Green Point Stadium am Rande des Viertels zum metallisch glänzenden Cape Town Stadium umgebaut worden war, pilgerten die Menschen nach Sportevents nicht mehr sofort in die Innenstadt. Sie feierten lieber hier, beim plötzlich unglaublich angesagten einstigen Schmuddelkind.

In Kapstadt, das sollte ich in den nächsten Monaten immer wieder erfahren, gab es Dutzende solcher Orte, an denen sich Schönes und Hässliches, Euphorisierendes und Erschreckendes miteinander mischte. Meist hatten die Brüche mit der jüngsten Vergangenheit zu tun. Vor allem mit der Trennung der Hautfarben während der Apartheid, 1950Gesetz geworden durch den berüchtigten Group Area Act. Da ist zum Beispiel die Brachfläche, die neben den Zuckerbäckerbauten der Innenstadt klafft wie eine Wunde. Hundert Jahre lang erstreckte sich hier das lebendigste Viertel Kapstadts, der vor allem von Coloureds bewohnte Disctrict Six. Bis die Gegend 1966 zur white area deklariert wurde. Bulldozer walzten bis auf Kirchen und Moscheen alles nieder, mehr als 60000Menschen wurden auf die Cape Flats, die sandigen Ebenen jenseits des Tafelbergs vertrieben. Bis heute sind Wiederaufbau des Viertels und Entschädigung der einstigen Bewohner nicht so recht in Schwung gekommen.

Auch die zahllosen, von Schwarzen errichteten Slums von Gugulethu oder Kayelitsha, die Kapstadt umschließen wie ein rostiger Blechgürtel, sind so ein Apartheids-Erbe – und Mahnmal der nicht immer rosigen Gegenwart. Da mag es nur konsequent erscheinen, dass man sich, um den prächtigsten Blick auf die Stadt zu erleben, an ihren einst dunkelsten Ort begeben muss: Auf Robben Island, dem Kalksteinfelsen zwölf Kilometer vor der Küste, wurden zwischen 1961 und 1991 die Führer des Anti-Apartheid-Kampfes gefangen gehalten. Achtzehn Jahre lang musste hier auch der spätere Präsident Nelson Mandela im Steinbruch schuften, wurde erniedrigt und misshandelt. Doch wer sich ans Südufer der einstigen Schreckensinsel |19|stellt und auf die Stadt und ihre charakteristische Felskulisse blickt, fühlt sich, als betrachte er eine unwirklich schöne Postkarte.

Kurz nachdem mein Minibus das Cape Town Stadium passiert hatte, konnte auch ich einen Blick auf die charakteristischen Berge Kapstadts erhaschen: links der zerklüftete Devil’s Peak, rechts die Gipfel von Lion’s Head und Signal Hill und mittendrin der Tafelberg mit seinem wie abgesägt wirkenden Plateau. Grandios und ein bisschen verrückt sah das aus. Wie das Werk eines größenwahnsinnigen Bühnenbauers. Und das Beste daran war: Das Stück, das vor dieser Kulisse geboten wurde, würde ich ein ganzes Jahr lang verfolgen dürfen. Mein Herz machte einen Hüpfer.

Dann hüpfte auch der Minibus, und zwar in einer scharfen Rechtskurve den Berg hinauf. In irrwitzigem Tempo bretterten wir durch Straßen mit immer höheren Häusern. Als wir schließlich in gefährlicher Schräglage in die vierspurige Strand Street einbogen, die vor hundert Jahren noch die Grenze zum Meer markierte, hatte ich schon aufgehört, die bei Rot überfahrenen Ampeln zu zählen, und mich lieber darauf konzentriert, mit meinen nackten Füßen in den Flip-Flops nicht den Boden zu berühren. Der war nämlich glühend heiß. Und eigentlich war es auch gar kein Boden, sondern bereits die Motorverschalung, unter der es laut klapperte. Doch was soll’s? Ich hatte mein Ziel in Rekordzeit erreicht – und musste nicht mal einen Parkplatz suchen.

„M’am, ist Ihnen nicht gut? Sie sind so blass...“ Im Büro hatte sich Herr van der Merwe inzwischen besorgt nach vorne gebeugt. „Möchten Sie einen Schluck Wasser?“ Er ging zum Wasserspender, füllte einen Becher. Plötzlich sah er gar nicht mehr streng aus. Eher wie ein rühriger Opa.

„Danke“, murmelte ich, als er mir den Becher reichte. Mir war jetzt wirklich flau im Magen. „Ich glaube, es ist die Hitze. Ich muss mich erst daran gewöhnen...“ – „Ja, ja, das kennen |20|wir hier. Schlafen Sie sich mal richtig aus. Dann geht’s Ihnen gleich besser. Das mit der Hochzeit besprechen wir dann ein anderes Mal.“ Er begann, meine Papiere zusammenzupacken.

„Moment...“ Ich richtete mich auf. Bevor ich die alles entscheidende Frage geklärt hätte, konnte ich unmöglich gehen: „Wieso sprechen Sie eigentlich die ganze Zeit von Hochzeit? Muss ich verheiratet sein, um die permit zu bekommen?“ – „Shame, nein! Wie kommen Sie denn darauf?“– „Weil Sie doch wissen wollten, wann ich heirate!“ – „Ach so...“ Van der Merwe kicherte etwas verlegen. „Das frage ich nur aus privatem Interesse. Ich vermittele nebenberuflich besondere Orte für Trauungen. Kapstadt ist doch berühmt als wedding destination! Und die Leute wollen immer ausgefallenere Locations. Da Sie eine partner permit beantragt haben, dachte ich mir, Sie und Ihr Freund wollten selbst demnächst...?“ Er lächelte verschwörerisch: „Ich könnte Ihnen einen Platz auf Robben Island besorgen!“ – „Auf Robben Island?“ – „Ja! Seit zehn Jahren traut die Stadt da jeden Valentinstag zwanzig Paare. Zum Andenken an Mandela. Die Leute kommen aus aller Welt! Denken Sie darüber nach! Meine Kontakte sind exzellent...“

Schon im Aufzug konnte ich mich nicht mehr beherrschen: Heiraten! Ich prustete los. Und dann noch auf Robben Island! Das fing ja gut an.

|21|Südafrikanisch für Anfänger

Lektion 1: Überleben Sie den Straßenverkehr!

Die Gruselfakten zuerst, dann haben wir sie hinter uns: 900000Unfälle pro Jahr, 42Verkehrstote pro Tag, Zehntausende schrottreifer und überladener Bakkies (Pick-ups), Minibusse und Citi Golfs auf verstopften Stadtstraßen und schlaglochgespickten national roads. Wie geht der Südafrikaner damit um? Er schimpft (Lektion 7). Und fährt noch radikaler. Was wiederum die Polizei freut, die sich, so das Gerücht, vor allem über die zahllosen Strafzettel finanziert, die sie wegen Tempoüberschreitung oder Trunkenheit am Steuer (die Promillegrenze liegt bei 0,5) austeilt.

Doch wie reagieren Sie? Mit Gemach und Neugier. Halten Sie Respektabstand zu den Minibussen (es sei denn, Sie wollen bei 120km/ h aus der Spur geboxt werden). Rechnen Sie immer und überall mit Mensch und Getier auf der Fahrbahn. Und freuen Sie sich über all das, was Sie aus Deutschland nicht kennen: einsame Fahrten durch traumhafte Landschaften. Charmante Tankwarte. Billigen Sprit. Und Bakkie-Fahrer, die dank der fast überall vorhandenen Extra-Spur für langsame Autos stets bereitwillig Platz machen. Bedanken können Sie sich dafür mit einem kurzen Betätigen des Warnblinkers. Und, ach ja: Bleiben Sie um Himmels willen links! Sonst: siehe oben.

|22|November

UND DANN WAR PLÖTZLICH ALLES GANZ STILL.Die Wolken, die schon seit meinem Aufbruch von der Wohnung wie überkochende Milch vom Meer Richtung Berge fluteten, hatten das Donnern der Brandung und das Brummen der Autos auf der Küstenstraße einfach geschluckt. Das Einzige, was ich jetzt noch hörte, war mein Atmen, besser: mein Keuchen. Die letzten Meter waren steil gewesen.

Ich stand am Ende der Saint Leon Avenue in unserem Nachbarort Bantry Bay. Die Saint Leon ist eine jener Hangstraßen, die sich seit einigen Jahren immer tiefer in die Wildnis des Lion’s Head bohren, hinter der letzten Villen-Baustelle unvermittelt aufhören und gigantische Ausblicke auf die Buchten von Clifton und Camps Bay bieten. Wegen der Wolken war das Panorama heute besonders spektakulär: Wie in rosa Tüll gehüllte Steinriesen ragten die Gipfel der Twelve Apostels aus dem Dunst. Rechts davon glitzerten die Fenster der Bungalows von Clifton im Licht der untergehenden Sonne wie Diamanten.

Seit mir Max in der ersten Woche die Stelle gezeigt hatte, war ich fast jeden Abend hier hoch gelaufen. Zunächst natürlich wegen des Blicks: diese Landschaft! Dieses Licht! Mittlerweile hatte ich mich an beides fast schon gewöhnt. Viel spannender fand ich jetzt die Häuser, an denen man beim Aufstieg vorbeikam: Märchenschlösser mit Türmchen und Erkern. Modernistische Betonbunker. Verhutzelte Fachwerkhäuser, die zwischen den Fynbos-Büschen der Kapküste so exotisch wirkten wie afrikanische Rundhütten im Schwarzwald. So unterschiedlich die Architektur der Villen, so einheitlich war ihr Festungscharakter: An allen Gartenmauern prangten die Armed-response-Schilder |23|der privaten Sicherheitsdienste. Darüber spannten sich mehrere Lagen Elektrozaun, unterbrochen von Stahltoren, die aussahen, als würden sie sogar einer Panzerattacke standhalten. Und alle paar hundert Meter saß ein bewaffneter security guard in einer Holzbude und starrte etwas gelangweilt vor sich hin.

Südafrika und Sicherheit – an diesem Thema war ich schon im Vorfeld meiner Reise nicht vorbeigekommen. „Packt bloß immer alles in den Kofferraum!“, hatten Freunde geunkt, denen im letzten Südafrika-Urlaub der Rucksack vom Beifahrersitz geklaut worden war – bei 10km/h und während sie selbst schreckensstarr danebensaßen. „Haltet bei Wanderungen immer ein Handy mit eingespeichertem Notruf in der Hand!“, riet eine ans Kap emigrierte Kollegin. Eigentlich hatte ich mir ja geschworen, mich von so was nicht irremachen zu lassen. Herrgott, ich zog doch nicht nach Downtown Johannesburg! Aber dann hatte mich doch eine Mischung aus Neugier und Grusel gepackt und ich hatte über den südafrikanischen Sicherheitswahn zu recherchieren begonnen. Ein weites Feld. Na gut, bei rund fünfzig Morden, achtzig Vergewaltigungen und siebenhundert Wohnungseinbrüchen pro Tag ist das vielleicht auch kein Wunder. Ähnlich hohe Zahlen gab es zwar schon während der Apartheid, die private Aufrüstung mit Sicherheitstüren und Bewegungsmeldern boomt aber erst seit 1994.Seither agieren Räuber und Einbrecher nämlich nicht mehr „nur“ in den Townships, wo sich ohnehin keiner eine Alarmanlage leisten kann, sondern auch in den reicheren Vororten. Leider hat der SAPS, der South African Police Service, selbst noch an seinem Neubeginn von 1994 zu knabbern und ist deshalb längst nicht so schlagkräftig, wie es laut Statistik erforderlich wäre. Viele weiße Officers hatten in den 1990ern gekündigt oder waren in den privaten Sicherheitsdienst gewechselt. Nachfolger mussten erst rekrutiert und ausgebildet werden. Diese Lücke füllt nun eine milliardenschwere Industrie: |24|Auf einen Polizisten kommen fast drei private security guards. Für Elektrozäune und Alarmanlagen investieren Mittelschichts-Südafrikaner umgerechnet 500 bis 1000Euro pro Jahr. Zudem gehen Bürgerwehren ehrenamtlich Patrouille.

Als ich meine Recherche beendet hatte, hatte ich das Gefühl, in ein Kriegsgebiet zu reisen. Ich rief beim „Institut für Sicherheitsstudien“ in Pretoria an: Wie gefährlich war Südafrika wirklich?

Der Forscher, mit dem ich sprach, strahlte die Abgeklärtheit eines Mannes aus, der schon viele aufgeregte Journalisten aus Übersee hatte beruhigen müssen: „Dass Ihnen selbst etwas passiert, ist statistisch gesehen eher unwahrscheinlich“, betonte er als Erstes. „Schon allein weil Sie Weiße sind. Die Gefahr, Opfer von Verbrechen zu werden, ist für Weiße nur halb so groß wie für Schwarze oder Coloureds. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Verbrechen ja noch immer in den Townships passieren, hauptsächlich unter Familienangehörigen. Dort leben nun mal kaum Weiße. Dass dort so viel passiert, ist natürlich schlimm genug. Und bevor wir unsere sozialen Probleme lösen, werden wir diese Gewalt auch leider nie richtig in den Griff bekommen: Wir haben eine gewaltsame Vergangenheit, krasse soziale Gefälle, viele frustrierte junge Männer. Doch es gibt auch gute Nachrichten: Die Polizei wird langsam besser, die Zahlen sinken. Vielerorts können Sie sich so unbesorgt bewegen wie in Europa. Am besten, Sie beobachten die Südafrikaner selbst. Wo sind sie nervös, wo entspannt? Wo gehen sie zu Fuß, wo nehmen sie ein Taxi? Kopieren Sie. Dann können Sie nichts falsch machen.“

In den ersten Tagen am Kap hatte ich meine neuen Mitbürger observiert wie ein Vogelkundler eine seltene Kronenadler-Population: Ließen sich irgendwelche Anzeichen von Nervosität erkennen? Das Ergebnis war beruhigend: Zwar schien man die Innenstadt nach Einbruch der Dunkelheit zu meiden, tagsüber herrschte hier aber recht unbesorgtes Treiben. Am |25|Greenmarket Square saßen ältere Damen mit Geldbörse auf dem Tisch in den Straßencafés. Über die Alleen in Company’s Garden schlenderten Frauen mit locker umgehängter Handtasche. Ich entspannte mich.

Die Festungen von Bantry Bay, durch die ich gerade spaziert war, passten da natürlich nicht so recht ins Bild. Selbst tagsüber waren die Straßen hier so leergefegt, als erwarte man den Einmarsch einer feindlichen Armee. Bibberten hinter den hohen Mauern durch Alarmanlagenwerbung und Revolverblätter verwirrte Paranoide? Oder war es rettungslos naiv, hier allein durchzuflanieren? Ich ahnte, dass sich südafrikanische Vorsicht und europäische Sorglosigkeit in den nächsten Monaten bei mir noch erbitterte Kämpfe liefern würden.

In unserer Straße sah man die Lage auf jeden Fall etwas entspannter. Unser Wohnblock, ein verwittertes Mehrfamilienhaus aus den 1920ern, vertraute zum Beispiel allein den Fenstergittern im Parterre und einer Dackelwurst, die mich jeden Morgen aus dem Nachbargarten ankläffte, wenn ich die Zeitung kaufen ging. Vielleicht, weil das beste Alarmsystem sowieso die zwei Damen waren, die den ganzen Tag auf der Bank unter der Außentreppe saßen und das Treiben auf der Straße kommentierten: Ruth und Venetia.

Wenn ich unsere Vermieterin und ihre Haushälterin sah, musste ich immer an Madam & Eve denken. In dem wohl bekanntesten südafrikanischen Comic-Strip kämpfen die weiße, reaktionäre Madam Gwen und ihre schwarze Hausangestellte Eve Folge für Folge gegen die Tücken des Post-Apartheid-Alltags – und mit größer Wonne gegeneinander. Ganz ähnlich gestaltete sich die Beziehung von Ruth und Venetia. Wir durften nun täglich daran teilhaben.

Fast alle dieser „Ruth & Venetia“-Strips beruhten auf zwei variierbaren Plots. Nummer eins: Wir traben die Außentreppe herunter, vernehmen das Odeur filterloser Zigaretten, und Tatsache: Auf der Bank, eingewickelt in einen Bademantel |26|und ausstaffiert mit einem monströsen Aschenbecher aus den 1970ern, thront: Ruth. Weiß, achtzig, jüdisch, frisch verwitwet und grazil wie ein Fynbos-Pflänzlein – unter der trotz Nikotinsucht zarten Damenhaut aber knüppelhart wie das Trockenfleisch Biltong. Es folgt ein zehnminütiger Monolog über das Wetter und die Mühen des Witwendaseins. Dann: Quietschen der Haustür, Auftritt Venetia. Coloured, 63, neuapostolisch, nie verheiratet und knorrig wie eine afrikanische Feige – hinter der runzeligen Fassade aber milde wie Rooibostee. „Ruth, du sollst nicht rauchen!“ „Unsinn, ich paffe nur!“ – „Zigarette weg!“ – „Nein!“ – „Doch!“ – „Nein!“ – „Doch!“ An dieser Stelle nutzten wir meist die Chance und verdrückten uns, der Dialog ging noch ewig weiter.

Nummer zwei: Es klingelt. Vor der Tür Venetia – und ein erregter Redeschwall: „Ich halt das nicht mehr aus! Diese Frau macht mich wahnsinnig! Jetzt soll ich auch sonntags arbeiten. Ohne Bezahlung! Wenn ich morgen im Pollsmoor Gefängnis lande, weil ich Ruth was ins Essen getan habe, ist sie selbst schuld, nicht wahr?“ Nun war verständnisvolles Nicken angebracht, ein dezenter Hinweis auf das Fünfte Gebot sowie Venetias doch bald bevorstehenden Ruhestand. Von unten hört man Ruth erneut nach ihrer Perle krächzen, oben entfährt Venetia ein mit neuapostolischen Glaubensgrundsätzen sicher nicht vereinbarer Fluch auf Afrikaans. Hastiges Bekreuzen zum spirituellen Ausgleich. Abgang.

Wie die meisten großen Feindespaare der Weltgeschichte hatten es sich aber auch diese beiden im Laufe ihres schon dreiundzwanzig Jahre tobenden Stellungskampfs bereits so sehr im Schützengraben gemütlich gemacht, dass sie mich eher an ein schrulliges Ehepaar erinnerten als an verbitterte Kriegsgegner. Zumal es ja auch noch das große, beide Parteien vereinende Überthema gab: der Niedergang der Nation. Seit dem Abdanken Nelson Mandelas, spätestens jedoch seit der Präsidentschaft des Ex-Rinderhirten Jacob Zuma befänden |27|sich Sitte und Moral in freiem Fall. Überhaupt sei der einst so ruhmreiche ANC längst nur noch eine korrupte Bande aus Black Diamonds, wie man die neureiche schwarze Elite gern nannte.

Dass Ruth von den neuen Herren Südafrikas nicht viel hielt, erschien mir völlig logisch: Ruth war weiß, die seit 1994 herrschende ANC-Regierung meist schwarz und unter anderem mit dem Ziel angetreten, die nicht-weiße Mehrheit des Landes mit Förderprogrammen wie dem Black Economic Empowerment demografisch angemessen an Wirtschaft und Verwaltung zu beteiligen. Dass es gerade älteren Weißen schwerfiel, die einstigen Privilegien abzugeben, überraschte mich nicht: War ihnen nicht jahrzehntelang eingebläut worden, dass sie völlig zu Recht bevorzugt wurden und Nichtweiße in ihrer Welt nichts zu suchen hätten?

Wie so oft in den nächsten Monaten war die Lage bei näherem Hinsehen dann doch etwas komplizierter. Denn zu meinem Erstaunen lästerte ja auch Venetia über den ANC, Jacob Zuma oder das schwarze Hausmädchen der Nachbarn. Hätte sie nicht zu denen halten müssen, die wie sie unter der Apartheid gelitten hatten?

„Bist du verrückt?“, schrie sie, als ich mich endlich traute, sie zu fragen. „Das sind doch ganz andere Leute! Mit einer ganz anderen Kultur! Ich bin eine Coloured!“

So viel schon jetzt: Bis ich mich im südafrikanischen Rassendschungel einigermaßen fettnäpfchenfrei bewegte, sollte es Monate dauern. Zwei Regeln galt es dabei, mit Demut zu akzeptieren. Erstens: Keiner war einfach „schwarz“ oder „weiß“. Man war Zulu oder Xhosa, Brite oder Bure, Coloured oder Inder, oder Teil einer anderen der offiziell elf, je nach Definition auch mal dreißig Volksgruppen. Und darauf war man stolz. Zweitens: Colour und race, Hautfarbe und Rasse, waren die Kriterien, unter denen vom Taxifahrer bis zur Talkshowmoderatorin alle alles mit Leidenschaft debattierten. Egal, ob es um |28|den Sieger der Castingshow „Idols“ ging, um Bildungschancen oder Sexstellungen, Fastfood-Vorlieben oder Aidsraten. Als Nichtsüdafrikanerin mochte einen dieser Farbfilter manchmal zum Wahnsinn treiben. Für ein Land, in dem das Rassenraster drei Jahrhunderte lang zur zwischenmenschlichen Grundausstattung gehört hatte und das gerade versuchte, sich an eine neue Identität heranzutasten, war er aber wohl ziemlich normal.