Ein Kampf um Energiesklaven - Randolph Kühn - E-Book

Ein Kampf um Energiesklaven E-Book

Randolph Kühn

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Beschreibung

Erdbevölkerung, Wirtschaft und Energieverbrauch wachsen - und wegen des Entropiegesetzes steigen die Emissionen. Die Biosphäre wird instabil, und ein dunkles Zeitalter droht.  Frauen und Männer aus Europa, den Amerikas, Russland und Japan formen ein internationales Parteienbündnis. Sie wollen die Last der Steuern und Abgaben von der menschlichen Arbeit auf die Energie verlagern, um den Konflikt zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum zu entschärfen und die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern.  Trotz publizistischer Intrigen, die zwei führende Paare des Parteienbündnisses in den kolumbianischen Bürgerkrieg verwickeln, gewinnen die Reformer bei Wahlen Einfluss und Macht. Sie steuern die Wirtschaft um und unterstützen nach heftigem Streit die Erschließung einer neuen Energiequelle.  Im Wettlauf mit einem Tsunami und Marschflugkörpern aus einem Terroristenschiff gelingt an Japans Pazifikküste der erste Schritt zur Überwindung der Grenzen des Wachstums.

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RANDOLPH KÜHN

Ein Kampf um Energiesklaven

Erdbevölkerung, Wirtschaft und Energieverbrauch wachsen - und wegen des Entropiegesetzes steigen die Emissionen. Die Biosphäre wird instabil, und ein Dunkles Zeitalter droht. Frauen und Männer aus Europa, den Amerikas, Russland und Japan formen ein internationales Parteienbündnis. Sie wollen die Last der Steuern und Abgaben von der menschlichen Arbeit auf die Energie verlagern, um den Konflikt zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum zu entschärfen und die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Trotz publizistischer Intrigen, die zwei führende Paare des Parteienbündnisses in den kolumbianischen Bürgerkrieg verwickeln, gewinnen die Reformer bei Wahlen Einfluss und Macht. Sie steuern die Wirtschaft um und unterstützen nach heftigem Streit die Erschließung einer neuen Energiequelle. Im Wettlauf mit einem Tsunami und Marschflugkörpern aus einem Terroristen-Schiff gelingt an Japans Pazifikküste der erste Schritt zur Überwindung der Grenzen des Wachstums.

Randolph Kühn ist das Pseudonym eines Autors, der seinen Traum von einer besseren Welt als eine Geschichte von Liebe, neuen Ideen, politischen Kämpfen und Abenteuern in den Wirren der Sozial- und Klimakrise erzählt. Die Personen dieses Wissenschaftsthrillers sind fiktiv. Ihr Handeln wird von aktuellen Forschungsergebnissen zu Energie, Umwelt und Wirtschaftswachstum motiviert.

Eure alten Männer werden träumen,und Eure jungen Männer haben Visionen.Das Buch Joël, Kap. 3, Vers 1

Inhaltsverzeichnis

Klostersee

Petersberg

2.1. Energiesklaven

2.2. Emissionen

2.3. Wirtschaftskrisen

2.4. Der Plan

Syracuse

3.1. Wahlkonvent

3.2. Der Mann von La Mancha

3.3. Aufwind

Prag

4.1. Verdacht

4.2. Recherche

Cali

5.1. Das Tal

5.2. Gewitter

5.3. Cumbia

5.4. Das Licht

Novosibirsk

6.1. Das Birkenrindenmuseum

6.2. Austausch

6.3. Währungswechsel

6.4. Der Oligarch

Berlin

7.1. Kontroverse

7.2. Auflösung

Tokay Mura

8.1. Anreise

8.2. Vision

8.3. Orbit Queen

8.4. Tsunami

Pflegeheim

Kapitel 1

Klostersee

„Glänzende Oberfläche - innen Müll“, knurrte Gregor Sanders und feuerte die Zeitschrift ins Gebüsch.

„Hola, Schatz“, lachte Britta und kniff ihn in den mittleren Ring, der sich neuerdings zwischen Rippen und Hüfte vordrängte, „seit wann so zornig auf Dein Leibblatt?“

„Das mein’ ich doch nicht, ’s is nur die dämliche Reklame, schau her.“

Er angelte das Magazin aus dem Ginsterstrauch und hielt ihr die Hochglanz-Anzeige mit dem Party-Mädchen vor die Nase: „Verschaff Dir Respekt. Zeig Deine starke Seite. Das neue Super-Handy M66 wird Dich mit seinem markanten Design und seinen Dynamic Lights durch die Nacht begleiten. Spür die Kraft der Evolution. Be inspired.“

Sie verdrehte die Augen: „Ich versteh’ Dich nicht. Immer wieder ärgerst Du Dich mit Wonne über Werbung. Nimm den Schwachsinn einfach nicht mehr wahr. An mir läuft das schon lange ab. Jetzt machst Du wieder Dein finsteres Gesicht, und dabei ist der Tag so schön.“

Sie stand auf und streckte sich. Er schaute von unten zu ihr hoch, lächelte und entspannte. Der Tag war wirklich schön, besonders mit ihr, wie sie so dastand in der Sonne: straffe Figur, nahtlos braun vor dem blauen See, an dessen fernem Nordende sich die schiefergedeckten Barockkuppeln des Klosters über die hohen, tiefgrünen Weiden hoben. Sie waren jetzt 19 Jahre miteinander verheiratet, und noch immer war sie so schön wie in jenen Tagen, als sie sich am Strand von Viña del Mar kennengelernt und ineinander verliebt hatten.

„Du hast ja recht. Aber das Werbegeschrei hämmert’s mir so ins Gemüt, in welche Sackgasse wir alle rennen. Drum reg’ ich mich immer wieder auf. Doch jetzt Schluss mit Sich-Ärgern.“ Er sprang auf die Füße und nahm ihre Hand: „Komm, wir schwimmen.“

Drei Tritte die Böschung hinunter, und sie warfen sich ins warme Wasser. „Heute ist der See besonders klar. Schau, wie unsere Ringe unter Wasser in der Sonne blitzen.“

„Ja“, lachte er, „und besonders schön ist es, nur die Ringe anzuhaben.“

Sie küssten sich und schwammen in langen, gleichmäßigen Zügen aus der Badebucht mit den Gummibooten der fröhlich lachenden und plantschenden Kinder hinaus auf die weite, schimmernde Seefläche. Sonne, Mensch, Natur, und das herrliche Gefühl der Freiheit beim Gleiten durch das Wasser.

„Ich hab’s“, rief er plötzlich.

„Was hast Du? Wieder ’ne Idee, wie man Werbung sabotieren könnte?“, neckte sie.

„Ach was. Ich habe den Namen für unser Projekt: Die Schwingen der Freiheit.“

„Kannst Du gar nicht abschalten? Und was für ein Projektname: Die Schwingen der Freiheit.“ Sie dehnte die letzten Worte, und dann spöttisch: „Klingt ziemlich nach Rosamunde Pilcher.“

„Du bist gemein. Meinen schönen Namen gleich in den Schmonzetten-Topf zu schmeißen.“ Er schwamm auf sie zu, fasste sie um die Taille, stemmte sie halb aus dem See und warf sie rückwärts ins Wasser. Weitere Angriffe wehrte sie lachend mit Fußfontänen ab. Schließlich tauchte er unter, kam neben ihr wieder hoch, zog sie an sich, und ihre Lippen verschmolzen. Sie sanken unter die Wasseroberfläche, ließen sich los, tauchten prustend wieder auf.

„Da vorn ist’s flacher.“ Ihre Augen blitzten, sie ergriff seine Hand und schwamm in Richtung Ufer bis er stehen konnte. Dann umschlang sie ihn.

Später, auf der Heimfahrt, fragte Britta: „Ist es Dir ernst mit dem Projektnamen?“

„Ja, warum nicht?“

„Also, ich will mich ja nicht wiederholen….“

„Ooch“, grinste er, „wir können ja noch mal alles wiederholen.“

„Pass auf die Straße auf“, rief sie und schob seine Hand von ihrem Schenkel, „jetzt wird Auto gefahren.“

„Oder auch nicht“, erwiderte er, zog den Wagen durch die beiden letzten Kurven, die auf die Höhe führten, und bog in den Parkplatz ein.

„He Greg, was soll das?“, protestierte sie.

„Du hast wieder angefangen mit dem Projekt. Jetzt spinnen wir’s weiter.“

„Ach so. Und wo willst Du hin?“

„Auf die Bank am Hang, vor dem Trockenrasengebiet.“

Sie kannte ihren Mann. Wenn er entspannt war und dann eine Idee hatte, war er schwer zu bremsen. Außerdem liebte sie die Bank über dem Fluss. Jetzt, Ende Juni, würde es erst in drei Stunden dunkel werden, da konnten sie nochmal in Ruhe über die Pläne reden, mit denen sie nach ihrer Guatemala-Reise Gregor geimpft hatte, die seitdem in seinem Kopf spukten und inzwischen weit gediehen waren. Die Kinder waren heute nicht mitgekommen. Sie hatten sich mit Freunden verabredet, bei denen sie auch übernachten würden. Also spielte es keine Rolle, wann sie heimkämen.

„Also gut“, entschied sie „gehen wir. Und schließ den Wagen ab.“

Nach 15 flott gegangenen Minuten gab der Kiefernwald den Blick frei auf eine der schönsten unbekannten Landschaften Deutschlands.

Steil fällt der Hang über mehr als 100 Meter zum Fluss hinunter. Oben mit Schlehdorn, Hartriegel und niedrigen Kiefern bewachsen, zwischen denen der Diptam blüht, trägt er Rebstöcke im unteren Drittel, deren Grün heraufleuchtet. Am Fuß des Steilabfalls läuft die Straße parallel zum Fluß, der von Norden kommend sich in weitem Bogen nach Westen schwingt. Jenseits des Flusses steigen Dörfer, Gärten und Felder in langen Wellen zu den Waldbergen am Horizont auf, denen die Sonne entgegensinkt und das Land mit goldenem Licht überschüttet. Rechts schimmert der Klostersee, auf dessen Uferweg noch winzige, braune Gestalten wandeln.

Sie setzen sich auf die Bank. Sie legt ihren Kopf an seine Schulter. „Wir leben hier in unserem Land auf einer Insel der Seligen, und die wenigsten wissen es“, flüstert sie.

„Und wie lange noch?“, fragt er in die Landschaft. Unten auf dem Fluß begegnen sich zwei Frachtkähne.

„Du meinst also, du hättest den richtigen Namen für unser Projekt“, eröffnet sie schließlich das Gespräch, von dem sie weiß, dass es lange dauern wird.

„Ich glaube schon. Und der richtige Name ist wichtig, um die richtigen Verbündeten zu gewinnen. Aber wem sage ich das. Schließlich hast Du ja die Idee von deiner Frauen-Tour mitgebracht.“

Sie denken beide zurück an den Januar vor zwei Jahren: Er, wie er auf ein Fax oder eine E-Mail von ihr gewartet hatte, sie an ihre Reise durch Guatemala mit Adelgard, Carol und Carmen. Kennengelernt hatten sich die vier Frauen bei einem Besuch des deutsch-guatemaltekischen Stipendienwerks „Maiskorn“ in Guatemala-Stadt, das jungen Frauen und Männern aus der Maya-Bevölkerung des Landes schulische und universitäre Ausbildung finanziert und sie zugleich zum Einsatz für ihre Stammesgenossen nach erfolgreichem sozialen Aufstieg motiviert.

Adelgard Hambach und Britta waren seit ihrer Zusammenarbeit in einem chilenischen Sozialprojekt miteinander befreundet. Nach Deutschland zurückgekehrt gehörten sie zu den ersten Unterstützern von „Maiskorn“. Nunmehr hatten sie das Werk vor Ort persönlich kennenlernen wollen. Carmen Mendoza aus Kolumbien promovierte bei Carol Hull an der University of Syracuse, N.Y., über Bildung und Entwicklung in Lateinamerika. Bei ihren Internet-Recherchen waren die beiden auf das Stipendienwerk gestoßen und hatten mit dessen Leitung per E-Mail eine Dokumentation seiner Arbeit verabredet. Nach den Videoaufnahmen des Lebens und Lernens der Stipendiaten in der Hauptstadt hatten sie Besuche der Dörfer geplant, aus denen die Schülerinnen und Schüler von „Maiskorn“ stammen. Nach dem ersten gemeinsamen Abendessen hatten sie Britta und Adelgard gefragt, ob sie nicht Lust hätten, sie auf ihrer Reise durch das Land zu begleiten.

Die „Vier Mädels Tour“, wie sie es nannten, war zu einem unvergesslichen Erlebnis geworden. Und mehr noch als die Naturschönheiten Guatemalas und der Ausgrabungsstätten großartiger Tempelanlagen im Dschungel hatte die Frauen beeindruckt, mit welcher Herzlichkeit und Gastfreundschaft sie von den Dorfbewohnern aufgenommen worden waren. Diese waren fast alle schlecht bezahlte Lohnarbeiter für weiße Großgrundbesitzer. Auch wenn sie nebenbei noch dürftige kleine Landparzellen bewirtschafteten, hatten sie doch nur das Nötigste zum Leben. Aber sie hatten darauf bestanden, die „Wohltäter ihrer Kinder“, wie sie alle Unterstützer von „Maiskorn“ nannten, auf das für ihre Verhältnisse Üppigste zu bewirten. Besonders Carmen hatte das sehr nachdenklich gemacht. Als Tochter eines Besitzers großer Zuckerrohrplantagen im kolumbianischen Valle del Cauca hatte sie bisher nur das gute Leben der sehr reichen, wenn auch nur schmalen lateinamerikanischen Oberschicht gekannt.

Am vorletzten Abend ihrer gemeinsamen Reise, auf der Terrasse ihrer Herberge am Atitlan See, hatten die vier Frauen lange über die Ungleichheit der Lebenschancen auf der Welt gesprochen. Am Schluss war die Frage geblieben: „Wie kann man das Grund-problem wirtschaftlicher Entwicklung - ausreichende Produktion und gerechte Verteilung - angehen?“ Bescheiden mussten sie sich mit der Verabredung: „Denken wir darüber nach, und bleiben wir in Kontakt.“ Dann hatten sie geschwiegen und sich verzaubern lassen vom silbern glänzenden See im Licht des Vollmonds über dem Vulkan.

Die Sanders redeten nochmals so ausführlich über diese Dinge wie damals nach Brittas Rückkehr. Ausreichende Produktion und gerechte Verteilung. Das traf genau den Kern des Problems, das ihn umtrieb, seit ungelöste Sozial- und Umweltprobleme Deutschland in einen Dauerkrisenzustand versetzt hatten. Ihm ging nicht mehr aus dem Kopf, was sie damals gesagt hatte: „Man müsste ein großes, internationales Projekt aufziehen, das die technischen, wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen, machtpolitischen und psychologischen Aspekte von Wachstum und Gerechtigkeit global untersucht und dann das als richtig Erkannte politisch durchsetzen hilft.“ Das nannten sie kurz „Unser Projekt“. Und weil sie wussten, dass die Leute zu 80 Prozent aus dem Bauch heraus entscheiden und es deshalb ganz wesentlich auf die Verpackung ankommt, hatten sie während der zweijährigen Vorbereitung auf die Petersberg-Konferenz im September immer wieder nach einem Namen für das Projekt gesucht, das auf der Konferenz angeschoben werden sollte. Alle bisherigen Vorschläge, die sie noch einmal durchsprachen, waren entweder zu allgemein und abgegriffen oder zu speziell und trocken.

Britta blickte hinüber zum Klostersee. Ein Reiher segelte über das dunkel gewordene Wasser. In der Höhe kreiste ein Bussard mit weit ausgebreiteten Schwingen, und über den dämmernden Himmel zogen die Jets die schlanken Pinselstriche ihrer Kondensstreifen, denen eine untergegangene Sonne noch ihr goldenes Leuchten lieh. „Die Schwingen der Freiheit“, sinnierte sie halblaut, „vielleicht doch nicht so schlecht.“ Sie lächelten sich an, standen auf und gingen zum Auto.

„Eine Fahrt durch die Waschstraße würde dem Wagen auch nicht schaden“, bemerkte Britta beim Einsteigen auf dem Parkplatz. „Ach, das hat noch Zeit. Außerdem soll es nächste Woche regnen. Das reicht“, meinte Gregor. Doch die Vogelgrüße auf der Frontscheibe verlangten eine Sofortmaßnahme, die er mit dem Rest aus ihrer Mineralwasserflasche und dem Scheuerschwamm fürs Grobe erledigte.

Als er mit einem Papiertuch gerade nachwischte, bog ein Mietwagen in den Parkplatz ein und hielt hinter ihnen. Zwei freundlich lächelnde, schwarzhaarige, junge Männer stiegen aus und baten in gebrochenem Deutsch um Auskunft über den kürzesten Weg in die Kreisstadt mit dem Zementwerk und der Moschee. Sie seien Omar aus Bagdad und Hassan aus Riad und am Nachmittag auf dem Flughafen Frankfurt eingetroffen. Auf dem Weg nach München wollten sie den Onkel von Hassan besuchen. Er sei der Imam der islamischen Gemeinde, aus der viele in dem Zementwerk arbeiteten.

„Gregor, lass uns den beiden den Weg zeigen“, schlug Britta vor. „Die Gemeinde kennen wir doch seit ihrem Tag der Offenen Tür. Das waren alles nette Leute. Und so groß ist der Umweg für uns ja nicht.“

Nach der Ankunft bei der Moschee mitten im Industriegebiet bedankten sich die beiden Araber vielmals für den Lotsendienst. Sie erzählten noch, dass Omar in München eine Stelle als Fertigungsingenieur in der Magnetschwebebahn-Produktion antreten wolle. Auch sein Freund Hassan könne als Elektronik-techniker dort arbeiten - allerdings habe er auch ein attraktives Angebot aus den USA. Man müsse sehen. Auf jeden Fall würden sie sich jetzt dank der freundlichen Hilfe in Deutschland schon nicht mehr so fremd fühlen.

Während der Heimfahrt dachten Britta und Gregor zurück an ihre Zeit in Chile und wie ihnen damals freundliche Fremde geholfen hatten, schnell heimisch zu werden. Während die Lichtbalken der Autoscheinwerfer durch die Kurven der nächtlichen Straße schwenkten, sinnierte Gregor: „Wie Omar und Hassan wohl zurecht kommen werden?“

Viele Jahre später würden er und die beiden Araber - ohne voneinander zu wissen - eingebunden sein in das Drama, das im großen Umbruch des 21. Jahrhunderts die Besiedlung des Weltraums zur Energiegewinnung für die Erde einleiten sollte.

Kapitel 2

Petersberg

ÖKONOMISCHES FORUMBETTER ECONOMICS - BETTER WORLDMEILLEURE ECONOMIE - MEILLEUR MONDEMEJOR ECONOMIA - MEJOR MUNDOMIGLIORE ECONOMIA - MIGLIORE MONDOLUTSCHSCHAJA EKONOMIKA - LUTSCHSCHIJ MIRBESSERE ÖKONOMIE - BESSERE WELT

verkündete ein Transparent über dem Eingang zum Kongresszentrum auf dem Petersberg. Die Konferenzteilnehmer waren nach der Eröffnungssitzung ins Freie getreten und kommentierten mit Kaffeebechern in der Hand die Eröffnungsreden. Durch das offizielle Englisch flatterten auch Sätze in den anderen Sprachen des Transparents.

Zuerst hatte Alfred Stahl von der Werner-und- Elfriede-Holtzmann-Stiftung erklärt, dass die Stiftung die Konferenz organisiert und finanziert hat, weil das Stiftungsmitglied Frau Adelgard Hambach sie von der Wichtigkeit der Thematik überzeugt habe. Leider habe sich Frau Hambach aus familiären Gründen für längere Zeit nach Chile verabschie den müssen und könne deshalb an der Konferenz nicht teilnehmen. Anschließend war Gregor Sanders, der Vorsitzende des Organisationskomitees, erfreulich kurz auf die Vorgeschichte und das Programm der Konferenz eingegangen und hatte sie dann vor dem Beginn der ersten Arbeitssitzung noch einmal für 15 Minuten auf die Aussichtsterrasse entlassen mit ihrem herrlichen Blick auf das Rheintal und die schon leicht herbstlich bunten Wälder auf seinen Hängen. Im Nordwesten, wo das Tal in die Ebene überging, ahnte man Bonn.

2.1    Energiesklaven

Die Glocke rief ins Plenum. Den ersten Plenarvortrag hielt Frederick Greenbam von der Manchester School of Social Sciences über das Thema: „Der Zusammenbruch des Sozialismus und die Krise des Kapitalismus“. Seine Großeltern hatten noch 1939 den damals einjährigen Friedrich Grünbaum aus Wien über Ungarn nach England retten können. Die Eltern waren von den Nazis nach Theresienstadt deportiert worden - nie mehr hatte er von ihnen gehört. Im ersten Semester seines Studiums der Geschichte und Politischen Ökonomie war er in die kommunistische Partei Englands eingetreten. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands hatte er noch als historische Notwendigkeit im Kampf gegen den Faschismus akzeptiert. Doch als die Truppen des Warschauer-Paktes den Prager-Frühling liquidierten, auf den er wie viele seiner Altersgenossen große Hoffnungen gesetzt hatte, verließ er die Partei. Seine Dissertation über die Messung wirtschaftlicher Ungleichheit erregte international großes Aufsehen, seine Methode fand unter dem Stichwort „Greenbam-Koeffizient“ bald Eingang in die Lehrbücher der empirischen Sozialforschung, und mit 32 Jahren wurde er an die Manchester School of Social Sciences berufen. Trotz vieler Angebote von auswärts war er Manchester treu geblieben: In der Stadt, von der die hässliche Spielart des Kapitalismus ihren Namen bezogen hatte, war es reizvoll, dagegen zu arbeiten. Außerdem hatte er in dem seit 25 Jahren laufenden Großforschungsprojekt „Die Entwicklung der wirtschaftlichen Ungleichheit in den OECD-Ländern“ ein großes Team um sich versammelt, dem Verpflanzen nicht gut getan hätte.

„Mit dem Fall der Berliner Mauer begann der Niedergang des Kapitalismus“, waren seine Eröffnungsworte. Bald alarmierte er durch die jüngsten Forschungsergebnisse auch diejenigen im Saal, die vor der Konferenz noch nichts davon gehört hatten: Während in den letzten Jahren vor der Auflösung des Ostblocks und dem Zusammenbruch der Sowjetunion der „Greenbam-Koeffizient“ in den marktwirtschaftlichen Demokratien zwischen 20 und 30 gelegen hatte und das Einkommen der reichsten Zehn-Prozent der Haushalte etwa so groß war wie das der unteren Fünfzig-Prozent, lag der „Greenbam-Koeffizient“ jetzt durchweg bei 40, und die reichsten Fünf-Prozent bezogen so viel wie die Gesamtzahl aller Haushalte der unteren Siebzig-Prozent. Die Zahl der Personen mit einem Vermögen von mindestens einer Million Dollar war in 2002, dem letzten statistisch erfassten Jahr, weltweit um 3,6 Prozent gestiegen. Robustes Wachstum fand nur noch in der Luxus-Produktion statt, während seit zehn Jahren das Wirtschaftswachstum insgesamt bei lediglich zwei Prozent lag. Dabei schrumpfte der Mittelstand stetig, und nur der Beschäftigungssektor der niedrigen, schlecht bezahlten kleinen Dienste expandierte. Die Verhältnisse näherten sich immer mehr denen in den alten Oligarchien Lateinamerikas und den neuen Oligarchien Russlands an. Greenbam stellte die These auf, dass nach dem Wegfall des konkurrierenden, theoretisch egalitären Gesellschaftsmodells des Sozialismus der Kapitalismus in seine überwunden geglaubten Frühformen zurückfiele und die Greenbam-Koeffizienten aller Länder im Laufe der Zeit gegen die russischen und brasilianischen Werte konvergieren würden. Dass die Deutschen bei der Lastenverteilung nach der Wiedervereinigung so ziemlich alles falsch gemacht hatten, was man falsch machen konnte und dadurch ihre bis dahin vorbildliche Soziale Marktwirtschaft gerade dann diskreditierten, als andere Länder sich danach auszurichten begannen, vermerkte Greenbam mit besonderem Bedauern. Er schloss mit einem tief-pessimistischen Ausblick auf eine Welt, in der eine kleine Schicht international agierender Oligarchen Marktwirtschaft und Demokratie faktisch außer Kraft setzten und hinter einer Fassade, auf der fügsame Medien die Illusion von „Freiheit und Wettbewerb“ in schreienden Farben immer wieder neu plakatierten, die Weltwirtschaft lenkten. In den Industrieländern könnten die Leute durch Sport- und Spielshows und das Surfen im Internet noch eine Zeitlang ruhig gestellt werden, aber wenn ein sparsamerer Umgang mit Ressourcen unvermeidlich würde, erwarte er das Aufbrechen bewaffneter Verteilungskämpfe unter ideologisch-religiösen Mäntelchen.

Nach teils höflichem, teils lebhaftem Beifall kam es zu heftigen Diskussionen. Niemand bestritt die Fakten. Dafür war Greenbams Autorität zu groß. Aber stimmten seine Schlussfolgerungen, und was waren die Ursachen für die Entwicklung?

Als nach 20 Minuten Gregor Sanders die Diskussion beenden wollte, gab es Proteste. Viele hatten noch Wortmeldungen und wollten ihren Beitrag unbedingt loswerden.

„Also gut“, schlug Sanders vor „wir können noch zehn Minuten länger diskutieren, wenn wir die Kaffeepause vor dem nächsten Vortrag auf fünf Minuten verkürzen.“

Das wirkte wie immer. Eine deutliche Mehrheit war bei der Abstimmung für Schluss der Debatte, und man ging in die Kaffeepause. Für danach war im Konferenzprogramm der Vortrag „Energie und Ökonomie“ mit dem Referenten Jan van Oisterhuiz vom Physikalisch-Chemischen Laboratorium der Rijksuniversiteit Utrecht angekündigt.

„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass Jan van Oisterhuiz vor vier Tagen auf der Rückfahrt von einer Konferenz in Siena einen Herzinfarkt erlitten hat und auf der Intensivstation in Lugano liegt“, eröffnete Gregor Sanders, sichtlich bewegt, die nächste Sitzung.„ Auf der Siena-Konferenz vor zwei Jahren hatte ich Jan kennengelernt, und es sind nicht zuletzt die Arbeiten seiner Gruppe, die unsere Konferenz hier angeregt haben. Ich bin seinem Mitarbeiter, Helmut Eschenbach, sehr dankbar, dass er sich kurzfristig bereit erklärt hat, Jans Vortrag zu übernehmen. Er hat in Mannheim Betriebswirtschaft und in Rochester Physik studiert. Anschließend ist er nach Utrecht in die Energieforschungsgruppe von Jan van Oisterhuiz gegangen. Mit seinen dort angefertigten Arbeiten hat er voriges Jahr in der Wirtschaftswissenschaftliehen Fakultät der Universität Karlsruhe promoviert. Dorthin hat Jan ja gute Kontakte. Herr Eschenbach forscht z.Zt. im Utrechter Zweig des niederländischdeutschen Instituts für Interdisziplinäre Studien und wird heute über seine Arbeiten mit Jan van Oisterhuiz berichten. Helmut, Du hast das Wort.“

„Danke, Gregor.“ Eschenbach räusperte sich kurz und fuhr dann fort: „Nachdem ich vorgestern erfahren hatte, dass ich an diesem wunderschönen Konferenzort nicht nur spannende Vorträge von klugen Leuten hören darf, sondern auch selbst arbeiten muss, habe ich mich natürlich als Erstes gefragt: Wie präsentiere ich am besten die ökonomischen Ketzereien, mit denen wir uns in Utrecht beschäftigen? Jan macht ja seine Vorträge immer erst auf den letzten Drücker. Von ihm konnte ich nichts übernehmen. Da habe ich mir gedacht: Das Publikum soll’s entscheiden, nachdem es die wirtschaftliche Entwicklung gesehen hat, die wir verstehen wollen.“

Auf der Leinwand hinter ihm erschienen Kurven des Wirtschaftswachstums in mehreren Industrieländern: für jedes Land eine schwarze, als „empirisch“ bezeichnete Kurve und eine rote, mit „theoretisch“ beschriftete Kurve. Für alle Länder wichen die jeweiligen Kurvenpaare nur wenig voneinander ab, auch nicht in Zeiten schwerer Wirtschaftskrisen.

„Und nun“, sprach Eschenbach, „haben Sie die Wahl: Zwischen der mathematischen Herleitung unserer Ergebnisse, oder ihrer anschaulichen Präsentation und Interpretation.“

Differentialgleichungen, Integrale und Funktionen füllten die Leinwand. Jede Formel kurz vergrößernd gab Eschenbach einen schnellen, rein optischen Überblick über das Material. Das Publikum stöhnte auf. Eschenbach schmunzelte: „Ist Folgendes besser verdaulich?“

Der Projektor wirft ein Video auf die Leinwand. Es zeigt einen großen, roten Roboter, der das rechte Ende einer Balkenwaage in die Höhe hebt. Die dort befestigte Waagschale enthält einen kleinen Quader mit der Inschrift „5%“. Dabei zucken gelbe Blitze durch ein transparentes Stromkabel, das den Roboter mit einer Steckdose im Boden verbindet. Auf der anderen Seite, unter dem tief geneigten linken Ende der Waagebalkens, kniet ein kleines, grünes Menschlein und drückt, angestrengt zitternd, gegen die dortige Waagschale, die einen großen Quader mit der Inschrift „65%“ enthält. [1] Über den Quadern blinkt das Wort „Kostenanteil“. Unter der Steckdose steht „44%“, und unter dem Menschlein steht „19%“. Zwischen diesen beiden Zahlen blinkt „Produktionsmacht“.

Eschenbach richtete seinen Laserpointer auf den großen linken Quader über dem zitternden Menschlein und erklärte: „In Industrieländern entfallen ca. 65% der Gesamtkosten für die Erzeugung der Wertschöpfung, auch Bruttoinlandsprodukt genannt, auf die menschliche Arbeit“, und dann, auf den rechten kleinen, vom Roboter lässig hoch gehaltenen Quader, weisend: „während die Energie mit einem Kostenanteil von nur etwa fünf Prozent belastet wird.“ Dann erläuterte er: „Die Produktionsmacht, fachökonomisch Produktionselastizität, gibt an, wie sich die Wertschöpfung ändert, wenn sich ein Produktionsfaktor ändert, während die anderen Faktoren gleich bleiben.“ Erst auf die 44% unter der Steckdose und dann auf die 19% unter dem Menschlein zeigend, schloss er: „Wie Sie sehen ist die Produktionsmacht der Energie viel größer als ihr kleiner Kostenanteil, und bei der menschlichen Arbeit ist es genau umgekehrt.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Die Zahlen sind zeitliche Mittelwerte für Deutschland. Ähnliches findet man für Japan und die USA. Ja, und das war’s auch schon. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Mit „Wer hat Fragen oder Kommentare?“, wandte sich Sanders ans Publikum nachdem der recht gemischte Beifall verklungen war. Dabei hatten besonders jüngere Leute kräftig geklatscht, andere hingegen demonstrativ langsam einmal die Hände ineinander fallen lassen, und die meisten höflich auf ihre Pulte geklopft. Von einem der Letzteren kam die erste Wortmeldung.

„Mein Kompliment: Sie haben nur ein Drittel der vorgesehenen Redezeit verbraucht. Und Ihr Video ist auch recht lustig. Können Sie’s nochmal laufen lassen? Danke. Also, wenn ich Sie richtig verstehe, enthält Ihr Modell des Wirtschaftswachstums, von dessen Mathematik Sie uns freundlicherweise verschont haben, die Produktionsfaktoren Arbeit - das kleine Menschlein - und Energie - Roboter und Steckdose. Aber wo bleibt der Faktor Kapital?“

„Besten Dank für die Frage. Sie betrifft genau die Schwachstelle des Videos. Ich bin einfach unfähig, dreidimensionale Videos zu produzieren. Mit der Mathematik wäre alles von Anfang an klar gewesen“, grinste Eschenbach entschuldigend. „Also, nur die Steckdose stellt den Produktionsfaktor Energie dar. Dieser aktiviert das Kapital, dargestellt durch den Roboter. “

„Aha. Und dessen Kostenanteil und Produktionsmacht konnten Sie im Video nicht mehr unterbringen?“

„Genau. Die Zahlenwerte sind 30% und 37% und im Rahmen der Fehlergrenzen in etwa gleich. Dass Kostenanteil und Produktionsmacht gleich sein müssen, und zwar für alle Produktionsfaktoren, ist das für die Lehrbuchökonomie fundamentale Kostenanteiltheorem. Nach unseren Analysen des Wirtschaftswachstums in Industrieländern bei den bisherigen Marktpreisen von Kapital, Arbeit und Energie gilt dieses Theorem nur für das Kapital und überhaupt nicht für Arbeit und Energie. Das ist die Ketzerei, von der ich eingangs sprach.“

Nunmehr kam Bewegung ins Publikum. Viele Fragen betrafen technische Details der mathematischen Analyse, und mit Vergnügen beantwortete Eschenbach sie mit Hilfe der Gleichungen und Funktionen, die vorher niemand hatte sehen wollen.

Sanders schaute auf die Uhr. „Helmut, kannst Du noch kurz den Bezug zu Greenbams Vortrag herstellen?“

„Entschuldigung. Beinahe hätte ich’s vergessen. Und ich sollte noch eines nachtragen: Die menschliche Kreativität, also das, was kein lernfähiger Computer erbringen kann, prägt ganz entscheidend die wirtschaftliche Entwicklung im Laufe der Zeit. Unsere Rechnungen dazu verschicke ich gerne an alle, die’s interessiert. Einfach Namen und E-Mail Adresse auf einen Zettel schreiben und mir nachher geben. Und jetzt zum Anstieg des Greenbam-Koeffizienten und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Wie im Video dargestellt, ist die menschliche Routinearbeit teuer und von geringer Produktionsmacht, während Energie billig und von großer Produktionsmacht ist. Darum ersetzen im Zuge wachsender Automation in immer stärkerem Maße die billige Energie und das von ihr aktivierte Kapital die teuere Arbeit. Das erklärt den Verlust vieler gut bezahlter industrieller Arbeitplätze in Europa und den USA. Im Dienstleistungssektor nehmen Beschäftigungsverhälnisse im Mindestlohnbereich zwar zu, doch unterm Strich werden die mittleren Einkommensklassen schrumpfen, die für die soziale und politische Stabilität so wichtig sind. Darum sind Greenbams Warnungen nur allzu berechtigt.“

„Gibt es noch Fragen?“, wollte Sanders wissen.

„Fragen habe ich keine, aber einen Kommentar“, rief jemand von hinten.

„Bitte sehr.“

„Mein Name ist Heinz Fahrtmann. Ich bin Redakteur der AFZ, der Allgemeinen Finanz-Zeitung. Ums kurz zu machen: Was Sie uns da erzählt haben, ist falsch. Die von Ihnen als Produktionsmächte bezeichneten Produktionselastizitäten von Kapital, Arbeit und Energie müssen den Kostenanteilen dieser Produktionsfaktoren gleichen. Sie haben das bestritten und das kokett als Ketzerei bezeichnet. Doch der Beweis dafür, dass Ihre Ketzerei nichts taugt, steht in jedem Lehrbuch der Ökonomie. Hätten Sie Recht, läge das Geld ja auf der Straße. Man müsste nur sich bücken, d.h. Arbeit durch Energie ersetzen, und es aufheben, d.h. riesige Gewinne machen. Warum tun wir das nicht?“

„Ja genau das wird doch getan“, war Eschenbachs Antwort, „nur nicht auf einen Schlag. Denn wir können in einen gegebenen Maschinenpark nicht mehr Energie einspeisen, als die Auslegung der Maschinen erlaubt. Mit anderen Worten: Jagten wir mehr Energie in die Maschinen, als sie vertragen können, gingen sie kaputt. Und so braucht der Au tomationsfortschritt, der der Energie immer breitere Einsatzfelder erschließt und immer mehr Energiedienstleistungen ermöglicht, seine Zeit. Denken Sie nur daran: Als die maschinelle Informationsverarbeitung noch per Elektronenröhre betrieben wurde, wäre ein Rechner von der Leistungsfähigkeit Ihres Laptops ein viele Tonnen schweres, energiehungriges Monster von der Größe eines Mehrfamilienhauses gewesen. Doch seit der Einführung des Transistors und seiner Mikro- und Nanostrukturierung ersetzen immer mehr und immer dichter gepackte Informationsprozessoren im Verbund mit Wärmekraftmaschinen, den Arbeitspferden unserer Industriegesellschaft, des Menschen Hirn und Hand, so dass die neuesten Automobilfabriken nahezu vollautomatisch arbeiten. Sie brauchen nur noch ein paar Leute zum Drücken der Schalter, die die Energieströme in die Maschinen leiten. Und im Bankensektor werden ganze Kreditabteilungen durch einen Angestellten am Desktop-Computer mit Evaluations-Software ersetzt. Natürlich schreitet die Automation nicht in allen Wirtschaftsbereichen gleich schnell voran, zu unterschiedlich sind die Aufgaben und Anforderungen, und dann gibt es da auch noch ein paar hemmende Sozialgesetze. Aber im Prinzip sollte es nicht mehr lange dauern, bis die allermeisten Routinearbeiten von energiegetriebenen Generatoren, Motoren und Transistoren erledigt werden können. Jedesmal, wenn ein Unternehmen Fortschritte in dieser Richtung macht und wieder einen Teil seiner Belegschaft entlässt, steigt sein Kurswert an der Börse. So wird das Geld auf der Straße immer schneller von den großen Energiesklavenhaltern aufgehoben, die die Verfügungsmacht über die Produktionsanlagen ha ben. Und alle Produktionsanlagen sind letztendlich Energieumwandlungsanlagen, in denen menschlicher Erfindergeist gespeichert ist.“

„Energiesklavenhalter? Was soll denn das nun wieder?“, protestierte Fahrtmann.

„Verzeihung. Manchmal vergallopiere ich mich und verwende Undefinierte Begriffe. Also: Energiesklaven arbeiten in den Energieumwandlungsanlagen einer Volkswirtschaft, also den Kraftwerken, Stahlwerken, Chemie- und Fahrzeugfabriken, Transportsystemen, Computern, Datenbanken usw. usw. Deren Besitzer und Manager sind die Energiesklavenhalter. Dabei wandelt jeder Energiesklave eine Energiemenge, die dem Arbeitskalorienbedarf eines Schwerstarbeiters entspricht - das sind umgerechnet 2,9 Kilowattstunden pro Tag - in Arbeit um.“

„Verstehe ich nicht“, brummte Fahrtmann.

„Ich schlage vor, dass Sie die Details in der Mittagspause klären“, vermittelte Sanders. „Gibt es weitere Bemerkungen?“

Zornig erregt meldete sich ein älterer Herr, der schon vorher mit Fahrtmann getuschelt hatte: „Ich bin Professor Helmfurth. Was hier als Wissenschaft verkauft wird, ist ein typischer URUR-Effekt von Computerrechnungen: Unsinn Rein, Unsinn Raus. Ihre Theorie widerspricht den Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie. Sind Sie gescheiter als alle Ökonomie-Nobelpreisträger zusammen? Die vielsprachigen Sprüche unter der Ankündigung ‘Ökonomisches Forum’ auf dem Transparent über dem Eingang ließen mich sowieso schon vermuten, dass es sich hier um eine Versammlung von - ich sag’s mal lieber auf Italienisch - Sapientones handelt. Es ist für Wirtschaftsfachleute schon sehr betrüblich, dass immer mehr Individuen aus anderen Fächern daher kommen, mit selbst gebastelten, völlig inadäquaten Instrumenten auf dem weiten Feld der Ökonomie herumackern und apodiktische Urteile über eine Wissenschaft fällen, von der sie nichts verstehen. Wer glauben Sie, wer Sie sind, Sie - Herr?!“ Und damit stürmte er aus dem Saal.

„Das war deutlich“, stellte Sanders fest. „Möchte noch jemand in dieselbe Kerbe schlagen?“

Nach ein par Sekunden meldete sich Frederick Greenbam, der bis dahin geschwiegen hatte. „Nicht in dieselbe Kerbe, im Gegenteil. Wenn es richtig ist, was Helmut Eschenbach vorgetragen hat, wenn also Energie wirklich der mächtigste Produktionsfaktor ist, dann würde ich verstehen, warum Karl Marx mit seiner Verelendungstheorie nicht Recht behalten hat und der Kapitalismus den Sozialismus besiegen konnte: In den letzten hundert Jahren hätte der Kapitalismus dann nicht so sehr Menschen, sondern Energiequellen ausgebeutet und eine ganze Menge des daraus geschöpften Mehrwerts breiten Bevölkerungsschichten zukommen lassen. Deshalb wurde er für die Menschen im Ostblock immer attraktiver, bei denen die Bürokraten der Nomenklatura alles vermasselt haben. Aber wie wird’s in Zukunft weitergehen? Erklärt nicht Ihre Begründung für die wachsende Automation auch meine Beobachtungen wachsender Ungleichheit? Könnten wir etwas dagegen tun, indem wir an der Energiepreis-Schraube drehen?“

Jetzt konnte Sanders den Diskussionswillen des Auditoriums nur mit dem Hinweis brechen, dass es eine - leider oft begangene - Todsünde von Konferenzen sei, die Küche mit dem Essen warten zu lassen. Angesichts des ausgezeichneten Rufs der Petersber ger Küche würden sich die Konferenzteilnehmer aber auch selbst schaden, wenn sie den Rheinischen Sauerbraten kalt werden ließen. Am Abend könne man die Diskussion im Ritterkeller ja noch fortsetzen. Mit „Der nächste Vortrag beginnt um 15 Uhr“, schloss er die Sitzung.

Die Nachmittagssitzung wurde von Frederick Greenbam geleitet. Als erster Redner sprach Rochus Pflügli vom Institut für „Ressourcen, Umwelt und Wirtschaftsgeschichte“ der Universität Bern über „Energie und Zivilisation“.

Eine Faktensammlung zu seinem Vortrag hatte er ausgedruckt und an alle Hörer verteilt. Darin stand: „Der zivilisatorische Aufstieg der Menschheit ging mit steigendem Energiebedarf pro Kopf und Tag einher. Bei den Jägern und Sammlern vor einer Million Jahren lag dieser Bedarf bei 2 Kilowattstunden (kWh), nach der Zähmung des Feuers bei 6 kWh. Seit dem Beginn der gegenwärtigen Warmzeit vor zehntausend Jahren, als im Zuge der neolithischen Revolution Ackerbau und Viehzucht den Zugriff des Menschen auf die solaren Energieflüsse erheblich erweiterten und die von Bauern und Handwerkern getragenen agrarischen Hochkulturen entstanden, stieg er auf 14 kWh vor 7000 Jahren und auf 30 kWh im Europa des Mittelalters. Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert durch James Watt löste die industrielle Revolution aus und erschloss der Menschheit die fossilen Energieträger Kohle, Öl und Gas. Diese stellen nunmehr im Verbund mit Otto- und Dieselmotoren, Dampf- und Gasturbinen sowie Öfen und Reaktoren jedem Einwohner der reichen Industrieländer für Ernährung, Güterproduktion und Dienstleistungen 100 bis 300 kWh pro Tag zur Verfügung. Im Weltmittel und in den Entwicklungsländern sind die Beträge deutlich kleiner.“

Nachdem Pflügli die Zahlen projiziert und kommentiert hatte, fuhr er fort: „Rechnet man den Energieverbrauch pro Kopf und Tag in die Zahl der von Eschenbach definierten Energiesklaven um, dann arbeiten für jeden Deutschen etwa 45 und für jeden US-Amerikaner etwa 90 Energiesklaven, während einem Menschen in den Enwicklungsländern durchschnittlich nur 6 Energiesklaven dienen. Darum haben wir eine so große Ungleichheit in der globalen Wohlstandsverteilung. Sie wurde auch nicht gemildert durch die Entdeckung der riesigen Lagerstätten von Erdöl und Erdgas im nahen und mittleren Osten, Indonesien und den Amerikas während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als deren Folge fiel der Weltmarktpreis eines Barrels Rohöl zwischen 1950 und 1970 von etwa 20 auf 12 US$2014. Am meisten profitierten davon die hochindustrialisierten Marktwirtschaften, einschließlich - und gerade auch - die des im 2. Weltkrieg schwer zerstörten Westeuropas. Deren Wirtschaft wuchs um bis zu sieben Prozent jährlich. Und damit kamen die Umweltprobleme.“

Pflügli blickte zu Greenbam und bemerkte: „Zum Problem von Energie, Wirtschaftswachstum und Umwelt läuft an meinem Institut seit einem Jahr ein Forschungsprojekt. Zwischenergebnisse könnte ich berichten.“ Als Greenbam nicht reagierte, fuhr er fort: „Aber ich glaube, mein Nachredner hat dazu Tiefschürfenderes zu sagen. Drum mache ich hier Schluss und danke für Ihre Aufmerksamkeit.“

Greenbam dankte unter Beifall für die klaren Ausführungen und erkundigte sich nach dringenden Fragen, die man unbedingt jetzt loswerden müsse und nicht bis zum Ende des nächsten Vortrags zurückstellen könne. Ein paar Leute im Publikum murmelten Sachen wie „auch im Alter immer noch Druck machen“, aber niemand meldete sich.

„Sehr schön“, schloss Greenbam, „dann machen wir gleich weiter mit dem Vortrag ‘Natur und Wirtschaft’ von Francois Vitoux, Centre des Etudes Economiques, Fontainebleau.“

2.2    Emissionen

„Merci beaucoup, mesdames y messieurs“, begann Vitoux und fuhr dann, leicht schmunzelnd, fort: „Früher haben französische Regierungen darauf bestanden, dass Franzosen auf internationalen Konferenzen nur französisch sprechen, sofern die öffentliche Hand ihre Konferenzkosten bezahlt. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Die Macht des Ökonomischen vereinheitlicht alles. Wir alle sprechen jetzt Englisch, die Sprache des ökonomisch mächtigsten Akteurs, der USA. Und gerade wegen ihrer gesellschaftlichen Macht muss die Ökonomie angepasst werden an eine über ihr stehende Macht. Diese Macht sind die Naturgesetze.“

Etwas Bewegung im Publikum ließ ihn kurz innehalten. Dann fuhr er fort:

„Die bisherigen Vorträge über Energie und Wirtschaft haben uns zum Kern des übergeordneten Problems von Energie, Gesellschaft und Umwelt geführt. Gewissermaßen verborgen ist dieser Kern unter dem langweiligen Namen Erster und Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik. Die meisten haben wohl schon mal von diesen Hauptsätzen gehört. Aber ihre Be deutung für unser aller Schicksal ist mir erst mit Erschrecken nach der Lektüre der Club-of-Rome-Studie Die Grenzen des Wachstums klar geworden. Deretwegen habe ich im Anschluss an meine ÖkonomiePromotion noch Physik studiert und nur mit viel Glück tatsächlich auch eine Stelle in Fontainebleau bekommen. Dort ist man offener als anderwo für Interdisziplinäres.

Nunmehr zur Sache: Aus dem Ersten Hauptsatz von der Erhaltung der Energie folgt, dass nichts ohne Energieumwandlung passiert. Und der Zweite Hauptsatz sagt, salopp gesprochen: Immer wenn etwas passiert, wird Entropie produziert. Dabei ist Entropie das physikaische Maß für Unordnung, und Entropieproduktion ist verbunden mit der Emission von Teilchen und Wärme. Wer’s genauer anhand der Gleichung für die Entropieproduktionsdichte verstehen will, kann das z.B. in den Publikationen von Eschenbach und van Oisterhuiz nachlesen. Von der letzten Veröffentlichung habe ich hier ein paar Sonderdrucke zum Verteilen. Sie ist auch Teil der Konferenzdokumentation.“

Vitoux gab den Stapel Sonderdrucke in die erste Reihe zum Weiter-Durchgeben, nahm einen kräftigen Schluck Wasser und fuhr fort:

„Die Emissionen sind die Ausscheidungen unserer Energiesklaven. Sie belasten die Umwelt. Wollen wir weniger Umwelbelastungen, müssen wir die Zahl der Energiesklaven und damit die Wohlstandsproduktion verringern. Das ist unser Dilemma.“

Konkret betonte er, dass die Emissionen von Kohlendioxid und anderen infrarot-aktiven Spurengasen infolge des von ihnen verursachten Treibhauseffekts zu höheren mittleren Temperaturen der Erd Oberfläche führen. Doch selbst, wenn man diese durch z.B. CO2-Rückhaltung und -Entsorgung und erheblichen Energieeinsatz unterbände, handele man sich erhöhte Wärmeemissionen ein. Beim etwa Zwanzigfachen des gegenwärtigen Energieumsatzes stieße man an die „Hitzemauer“, jenseits derer sich das Klima auch ohne zusätzlichen Treibhauseffekt merklich ändere. Wegen der physikalisch unvermeidbaren Emissionen bei jedem Energieumwandlungsprozess gebe es also auf der Erde unüberwindbare Grenzen für das Wirtschaftswachstum, das für die Stabilität unserer Industriegesellschaften so wichtig geworden sei. Er befürchte, dass wir unruhigen Zeiten entgegengingen. Nicht verschweigen wolle er in diesem Zusammenhang allerdings, dass sehr namhafte und politisch einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler davon ausgingen, dass von einem Klimawandel im Wesentlichen nur die Landwirtschaft betroffen sei. Daraus würden sie schließen, dass ein Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion um 50 Prozent lediglich zu einem Verlust von maximal 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) führen könne, da die Landwirtschaft zum BIP der Industrieländer ja nicht mehr als 3 Prozent beitrage. Diesen Verlust könne man durch Wachstum im Industrie- und Dienstleistungssektor locker wettmachen (Zwischenruf aus dem Publikum: „Statt Kartoffel-Chips essen wir dann Computer-Chips?!“), so dass man am besten den wirtschaftlichen Fortschritt nicht durch Maßnahmen zur Eindämmung des Treibhauseffekts behindern solle. Es sei ökonomischer, wenn sich die Leute an die Folgen des Treibhauseffekts anpassten [2].

Nachdem Vitoux die Empörung seiner Zuhörer mit der wiederholten Beteuerung gedämpft hatte, dass er nur die Meinung der sehr namhaften Ökonomen referiert habe, ohne sie zu teilen, legte er noch dar, dass sich die moderne Ökonomie eigentlich nicht für die physische Sphäre der Produktion sondern fast ausschließlich für das Verhalten der ökonomischen Akteure auf Märkten interessiere. Das Grundgesetz des Universums, wie man die thermodynamischen Hauptsätze von der Erhaltung der Energie und der Zunahme der Entropie auch nenne, spielten in der Wirtschaftswissenschaft praktisch keine Rolle. Deshalb könne sie auch so tun, als sei die Wirtschaft ein Perpetuum Mobile, das Wertschöpfung aus dem Nichts dank eines gütigen Phantoms, genannt „Technischer Fortschritt“, schaffe. Man nenne diesen auch „Manna vom Himmel“.

„Ach, jetzt kapiere ich, wie es zu den zitierten Ansichten der namhaften Ökonomen kommt“, meinte einer, der sich zuvor besonders aufgeregt hatte.

Es wurden noch etliche Fragen an Pflügli und Vitoux gestellt und von diesen beantwortet. Dann schlug Greenbam vor: „Beenden wir die Sitzung jetzt offiziell und nutzen wir den Rest der Zeit bis zum Abendessen für informelle Gespräche.“ Alle waren damit einverstanden.

Nach dem Abendessen lösten einige Konferenzteilnehmer ihre Tagungsverspannungen durch Laufen im Petersberger Wald. Die meisten jedoch wählten die bequemere Lockerungsmethode: den guten Rheinwein in der gemütlichen Atmosphäre des Ritterkellers. Während die Themen des Tages in Gruppen bis tief in die Nacht diskutiert wurden, zog sich das Organisationskomitee, bestehend aus den beiden Sanders, Francois Vitoux, Carol Hull, und Carmen, die nach ihrer Heirat jetzt Hernandez de Mendoza hieß, zur Auswertung und Strategiebesprechung ins Turmzimmer zurück. Helmut Eschenbach vertrat Jan van Oisterhuiz. Er und Britta Sanders warfen nochmal die schon früher diskutierte Frage auf, ob man nicht doch auch ein oder zwei traditionelle Wirtschaftswissenschaftler als Referenten hätte einladen sollen.

„Aber was hätte das gebracht?“, hielt Francois Vitoux dagegen, „die wollen doch von dem, was wir heute diskutiert haben, überhaupt nichts wissen“, und Gregor Sanders erinnerte an den zornigen Ausbruch des Ökonomieprofessors, der am Vormittag die Konferenz verlassen hatte.

Doch abgesehen davon war man mit dem Engagement der Teilnehmer sehr zufrieden. Carol Hull schlug vor, zur Planungssitzung am nächsten Abend auch Frederick Greenbam hinzuzuziehen. Carmen Hernandez unterstützte den Vorschlag, er wurde akzeptiert, und das Komitee löste sich in Richtung Ritterkeller auf.

Dort war die Stimmung inzwischen locker geworden. Es standen ja auch schon genügend leere Wein- und Bierflaschen auf den Tischen. Aus einer Ecke schallte immer wieder Gelächter. „Da geh ich hin“, sagte Britta, und die anderen folgten ihr.

„Die Ökonomie ist die Königin der Wissenschaften, die alles in sich vereinigt“, erklärte gerade Greenbam. „Nur in diesem Fach können zwei Leute gemeinsam den Nobelpreis für Theorien bekommen, die einander widersprechen. “

„Da wir gerade bei der Ökonomie sind“, legte der AFZ-Redakteur nach, „kennt Ihr den Zweiten Hauptsatz der Ökonomie? Nein? So lernet denn: Nur eines ist gefährlicher als ein Ökonom - der Amateurökonom.“

„Soll das eine Anspielung auf einen der heutigen Vorträge sein?“, wollte ein Kollege wissen. Der AFZ-Mann grinste nur.

Da schaltete Vitoux sich ein: „Als ich in London studierte, hatte ich einen gebürtigen Inder als Lehrer. In der ersten Stunde seiner Einführung in die Volkswirtschaftslehre motivierte er seine Studenten mit einem Beispiel aus der Reinkarnationslehre: Der gute, tugendhafte Ökonom wird als Physiker wiedergeboren, der böse, schlampige als Soziologe“[3].

Britta hielt dagegen: „Neulich hing bei uns am Schwarzen Brett eine Partner-Suchanzeige: Attraktive, einfühlsame Frau sucht nach schwerer Enttäuschung zärtlichen, liebevollen, gebildeten Partner - Physiker ausgeschlossen.“

Ein junger Ökonom aus Eschenbachs Arbeitsgruppe ergänzte: „Vor kurzem war ich auf einer Konferenz, die die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Ökonomen und Physikern ausloten sollte. Zum Schluss wurden die Konferenzteilnehmer gebeten, auf einer Pin-Wand einen Halbsatz zu ergänzen. Dieser lautete: ‘Wenn Physik auf Volkswirtschaftslehre trifft, …’. Allgemeine, fröhliche Zustimmung fand die Ergänzung: ‘… trifft Arroganz auf Ignoranz.’ Dabei war allen klar, dass man es genauso gut auch anders herum hätte sagen können.“

So ging es weiter durch die Berufe. Als es dann etwas derber wurde - so fragte ein Energietechniker: „Welchen Beruf hatte der liebe Gott bei der Erschaffung des Menschen?“ und lieferte, da niemand was sagte, die Antwort: „Bauingenieur. Wer sonst legt einen Abwasserkanal durch das Vergnügungsviertel?“ - zupfte Britta ihren Gregor am Arm und zeigte auf die Uhr. Der dachte an das schöne, breite Bett im großzügig eingerichteten Konferenzleiter-Zimmer, murmelte zu den anderen etwas wie „Es ist spät. Wir geh’n schon mal. Morgen gibt’s viel zu tun“, und verließ mit Britta den Raum.

Als sie die Treppe emporstiegen, schmiegte sie sich an ihn. Seine Hand glitt über ihre Hüfte, die sich geschmeidig-fest unter dem dünnen Stoff ihres Kostüms bewegte. Kaum hatten sie die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen, schlüpften sie aus den Kleidern und traten Hand in Hand ans Fenster. Unten im Tal glänzte der Rhein im Mondlicht. Dann zog ihn Britta aufs Bett: „Ven, mi amor“.

2.3    Wirtschaftskrisen

Carmen Hernandez eröffnete die Morgensitzung mit: „Gestern war der Tag der Theorie. Heute wollen wir hören, wie sich wirtschaftstheoretische Vorstellungen ganz massiv auf das tägliche Leben auswirken. Als erster spricht zu uns Arthur Lion vom Energy Research Institute in Berkeley über ‘Wie Kalifornien ins Dunkel stolperte: Ideologie gegen Technologie’“[4].

„Kalifornien, die sechststärkste Ökonomie der Welt, stolpert ins Dunkel, weil bei der Deregulierung des Energiemarktes in den 1990er Jahren die Wettbewerbsideologen das Sagen hatten und das Wissen der Energietechniker und Energieökonomen unberücksichtigt blieb.“ Mit diesen Worten begann eine brillant-polemische Abrechnung mit den Missionaren des blinden Glaubens an „die Marktkräfte“, die den politischen Entscheidungsträgern Kaliforniens eingeredet hatten, dass Handel - in diesem Falle an Energiebörsen - der wichtigste Wohlstandsmo tor sei und die dabei die technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Stromerzeugung und -Verteilung sträflich vernachlässigt hatten. So wurden Investitionen in den Kraftwerkspark und das Stromnetz unattraktiv, und das ganze technische System wurde immer brüchiger. Hinzu trat wachsender Strombedarf und absurde Energieverschwendung, z.B. durch das Klimatisieren von Garagen, die thermisch noch schlechter isoliert sind als die ohnehin miserabel wärmegedämmten Häuser. Als Folge kam und kommt es immer wieder zu großflächigen Netzzusammenbrüchen und Stromausfällen mit gewaltigen volkswirtschaftlichen Verlusten, für die am Ende der Steuerzahler aufkommen muss. „Leider“, schloss Arthur Lion seinen Vortrag, „macht der Rest der Welt uns Amerikanern ja inzwischen fast alles nach. Wenn sich auch in anderen Ländern Ignoranz und Inkompetenz auf dem Energiesektor breitmachen, bekommen wir allesamt einige Probleme.“