Ein Kind des Ruhrgebiets - Beatrix Petrikowski - E-Book

Ein Kind des Ruhrgebiets E-Book

Beatrix Petrikowski

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Beschreibung

In den teils amüsanten, spannenden oder auch für Überraschungen sorgenden Kurzgeschichten wechseln sich Kriminalfälle, Beziehungsstress, turbulente Familienfeiern, atemberaubende Klettertouren, aber auch Erinnerungen an das Leben vergangener Tage im Ruhrgebiet ab. Es wird auf Biegen und Brechen genauso gestritten, entführt, enttäuscht und betrogen wie geheiratet oder auch Freude empfunden wird. Einige der Geschichten verdanken ihren Ursprung eigenen Erlebnissen der Autorin, von anderen hat sie zumindest in ähnlicher Form von Bekannten gehört und diese lediglich aufgeschrieben, während der Rest völlig frei erfunden wurde und ihrer Fantasie entsprungen ist.

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Inhaltsübersicht

Ein Kind des Ruhrgebiets

Missgeschick mit Folgen

Geblieben ist Verbitterung

Auf eine gute Zusammenarbeit

Auf zur Zopetscharte

Typisch Anke

Der Würger

Noch in den Spiegel sehen können

Männer – mit ihnen geht’s nicht, ohne sie auch nicht

Auf nach Malle!

La moda joven

Ein Hausboot in der Camargue

Zufrieden trotz ärmlicher Verhältnisse

Spaziergang über das Hintere Dammkar

Ein geheimnisvolles Erlebnis

Dinero o suerte

Erlebnis auf dem Friedhof

Die Campingpanne

Carla – entführt?

Gewitter am Großglockner

Kurt geht fremd

Ein Single fliegt selten allein

Bärbel in ihrem Element

85 Jahre Familienglück

Mama total durchgeknallt

Angst im Klettersteig

Weihnachten steht vor der Tür

Ein Kind des Ruhrgebiets

Wenn ich auf Reisen gefragt werde, woher ich komme, dann ist mit "Ruhrgebiet" in der Regel die Frage erschöpfend beantwortet. Im Ausland wird mir durch ein Kopfnicken signalisiert, dass man mich nun geographisch einordnen kann. Befinde ich mich in deutschen Landen, erreicht mich eher ein bedauernswertes "Aha". Jeder weiß jetzt, woher ich komme: Aus dem "Kohlenpott"! Wo die Luft von den Abgasen der zahlreichen Schornsteine verpestet, ist und wo es keine Grünflächen gibt. Man hat es auch schon längst geahnt, denn mein Ruhrgebietsdialekt hat mich verraten. So bedauernswert die Blicke auch sein mögen, sie können mich nicht treffen und ebenso wenig verletzen. Diese Erfahrung teile ich mit den meisten Menschen, die hier aufgewachsen sind.

Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück in die 1950er Jahre. Ich war oft bei meinen Großeltern in der Bergbausiedlung zu Besuch, wo das Zusammenleben unter den Nachbarn noch groß geschrieben wurde und heute Kultstatus besitzt. War man doch als Kumpel „unter Tage“ aufeinander angewiesen, so setzte sich die unkomplizierte Hilfsbereitschaft in der wenigen freien Zeit, meist an den Wochenenden, fort. Die Siedlungen für die Bergarbeiter, die in den letzten Jahren als schmucke Eigenheime eine Aufwertung erfahren haben, umfassten ganze Straßenzüge, und gemessen an den heutigen Wohnverhältnissen waren die Wohnungen klein. Bäder gab es in der Regel noch nicht, so dass man zu den Örtlichkeiten nach draußen in den Stallanbau auf das Plumpsklo musste. Im Sommer wie im Winter, bei Tag, wie auch in der Nacht. Hinter den Wohnhäusern befanden sich üblicherweise große Gärten, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit dem geselligen Nachbarschaftsleben dienten.

Ich erinnere mich an die typischen Geräusche, die vornehmlich vormittags bei schönem Wetter zu hören waren, wenn die fleißigen Hausfrauen ihre Teppiche über die Teppichstangen legten und kräftig ausklopften. An ihren bunten Kittelschürzen und einem Kopftuch, das hinten zusammengebunden wurde, konnte man sie erkennen. Gingen sie dann nach dem Hausputz zum nur um die Ecke gelegenen Tante Emma-Laden „auf die Straße“, konnten sie sicher sein, mindestens ein bekanntes Gesicht zu treffen. Denn jeder kannte in der Siedlung jeden. Ein kurzes Pläuschchen hier, ein längeres Pläuschchen da, die Zeit nahm sich jeder und das gehörte damals, als kaum jemand einen Fernseher besaß, zum täglichen Leben ganz selbstverständlich dazu.

Eine beliebte Freizeitbeschäftigung war die Kaninchenzucht. Da sich zwischen den Häusern und Gärten oftmals Ställe befanden, boten sich diese regelrecht für die Tierhaltung an. Mein Opa gehörte auch zu den Männern, die diesem Hobby nachgingen. So wurden von ihm jeden Tag in der Wohnküche, was meine Oma immer wieder wegen der Geruchsbelästigung zu Beschimpfungen reizte, die Kartoffelschalen für die Tiere gekocht. Das Beste war für die Kaninchen gerade gut genug, denn schließlich sollten sie auf den Rasse-Ausstellungen möglichst einen Preis gewinnen, und tatsächlich zeugten mehrere Urkunden in der Wohnung meiner Großeltern von den Zuchterfolgen meines Opas.

In meiner Kindheit gehörte es auch für viele unserer Nachbarn ganz selbstverständlich dazu, einen Schrebergarten zu besitzen. Die sich immer mehr ausbreitenden Städte mit modernen Neubausiedlungen konnten zwar mit der mehrgeschossigen Bauweise viel Wohnraum schaffen, aber in den Häusern sehnten sich die Menschen nach ein wenig Natur, um dem zunehmend stressigen Alltag entfliehen zu können. Durch die wachsende Bevölkerungsdichte nahm natürlich auch der Straßenverkehr und Lärm zu, und so suchten sie einerseits etwas Ruhe, und andererseits vermissten sie das gewohnte, nachbarschaftliche Miteinander.

Das Schienennetz war schon damals gut ausgebaut, und wenn man in eine Stadt zum Einkaufen ging, fuhr man mit der Straßenbahn. Ja, und mit der Straßenbahn ist man auch gefahren, wenn man einen Tagesausflug machen wollte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es bei uns jedes Jahr im Sommer einmal zum Grugapark, einem der größten Parks Deutschlands, nach Essen ging. Der Höhepunkt dieses Tages war dann die Fahrt mit der Bimmelbahn, wie wir Kinder die Grugabahn nannten, die eine Runde durch den Park fuhr. Wenn das Wetter es erlaubte, ging es in das zum Gruga-Komplex gehörende Schwimmbad, das als besondere Attraktion schon damals über ein Wellenbad verfügte. Und, was nicht fehlen durfte, war die Verpflegung, die stets aus von meiner Mutter am Vortag selbst gebackenen Waffeln bestand. Ein weiteres beliebtes Ausflugsziel, von dem ich anschließend stolz meinen Freundinnen vorgeschwärmt habe, war der Baldeneysee in Essen, auf dem man Bootsrundfahrten machen oder einfach nur dem bunten Treiben der zahlreichen Ausflügler zusehen konnte.

In den Städten dominierte die Farbe schwarz. Die Fassaden der Gebäude, Häuser und Kirchen waren schwarz und auch die Wäsche wurde es auf der Leine, wenn sie zu lange hängen blieb. Da haben sich die Kohleberge, die Deputatkohle der Bergleute, die vor den Hauseingängen ausgeschüttet wurden, nicht viel vor dem Hintergrund abgehoben. Es war uns Kindern ein vertrautes Geräusch, wenn die Männer dann nach der Arbeit die Kohle mit der Schaufel in den Keller beförderten, oftmals schon in der Dämmerung oder sogar im Dunkeln. Das Bild unserer Städte bestand aus Fördertürmen der Bergwerke, von denen es in einer Stadt gleich mehrere gab. Von wenigen Autos abgesehen, war die Straßenbahn das dominierende Verkehrsmittel und die zum Abwasserfluss degradierte Emscher, die in diesen Tagen eine aufwändige Renaturierung erfährt, nannte jeder nur „Köttelbecke“. Überall gab es aufgeschüttete Halden von nicht brauchbarem Bergematerial und da, wo Zechen geschlossen wurden, entstanden oft weitere Abraumhalden, die in den letzten Jahren begehbar ausgebaut wurden und mittlerweile beliebte Naherholungsgebiete sind. Da das Ruhrgebiet Ende des 19. Jahrhunderts, bedingt durch die Eröffnung immer weiterer Zechen, ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum erfahren und Menschen aus ganz Europa angezogen hat, musste schnell für neuen Wohnraum gesorgt werden. Für die Bergleute und ihre Familien wurden, teilweise in Eigenleistung, Zechensiedlungen in unmittelbarer Nachbarschaft der Bergwerke errichtet. So sind auch meine Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg aus Ungarn ins Ruhrgebiet gezogen, meine Großeltern und meine Eltern haben hier gelebt und ich bin ebenfalls hier aufgewachsen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Schließungen großer Betriebe nicht weiter fortsetzen und der Strukturwandel nicht zur Verwaisung unserer Städte führt. Der Dezimierung der Bevölkerung durch weitere Abwanderungen muss durch gezielte Förderprogramme, die Anreize für eine Ansiedlung neuer Investoren und damit dringend benötigte Arbeitsplätze schaffen, Einhalt geboten werden, damit das Ruhrgebiet wieder zu einem attraktiven Lebensraum wird.

Missgeschick mit Folgen

Sylvia warf einen letzten, kritischen Blick in den Spiegel und verabschiedete sich von Tom mit einem Kuss auf die Wange: „Also dann, mach’s gut. Bis heute Abend.“

„Ja, bis heute Abend und lass es dir gut gehen!“

Kaum war Sylvia aus dem Haus, griff Tom auch schon zu seinem Handy. Nach kurzer Zeit meldete sich eine Stimme: „Ja, Tom?“

„Guten Morgen Theresa, ja, ich bin’s. Sylvia hat sich gerade auf den Weg zur Arbeit gemacht. Ich muss mich nur noch schnell fertig machen und könnte in einer halben Stunde beim Café Schucan sein. Passt dir das?“

„Na klar, geht in Ordnung. Bis gleich – ich freu’ mich!“

Aufgeregt räumte Tom den Frühstückstisch ab. Wenn Sylvia wüsste! Sein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken an sein Vorhaben. In den zehn Jahren, die sie bereits miteinander verheiratet sind, hatte er noch nie Geheimnisse vor ihr.

Währenddessen erreichte Sylvia den Parkplatz vor der Kanzlei und stieg die Treppen hinauf in den 3. Stock. Fast wäre sie gestolpert, als sich einer ihrer Absätze löste und sie nur noch hinken konnte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! So kann sie unmöglich den Klienten gegenübertreten. Es wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als nur kurz Bescheid zu sagen und schnell einen Schuster aufzusuchen.

Schon nach wenigen Minuten saß Sylvia wieder in ihrem Auto und quälte sich durch die Innenstadt. Die nächste Ampel sprang gerade auf Rot und sie musste anhalten. Missgelaunt klopfte sie ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad, wobei sie plötzlich etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickte. Es schoss ihr wie ein Stromschlag durch sämtliche Glieder, und sie rieb sich die Augen. Das kann doch nicht wahr sein! Ihr Tom, der eigentlich gleich zum Dienst antreten müsste, sitzt dort mit einer ihrer Freundinnen. Mit der zugegebenermaßen attraktiven Theresa aus Kuba. Diese Schlampe! Tut immer so scheinheilig, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Der Tag war Sylvia mit der Erkenntnis, dass ihr Mann sie betrog, gründlich verdorben, und sie nahm sich kurzfristig frei. Wie von Sinnen warf sie sich zu Hause aufs Bett und schluchzte. Völlig ratlos, wie es jetzt weitergehen sollte, nahm sie eine Pizza aus dem Eisfach, schob sie in den Backofen und entkorkte eine Flasche Rotwein.

Als Tom pünktlich um fünf nach Hause kam, fand er sie angetrunken vor.

„Hallo mein Schatz, was ist denn hier los? Wie siehst du denn aus? Du hast ja ganz verheulte und verwischte Augen.“ Mit einem Blick auf den Tisch, auf dem noch die Reste der Pizza und zwei geöffnete Weinflaschen standen, fügte er hinzu: „Warst du gar nicht auf der Arbeit? Du hast Wein getrunken? Was ist hier los?“

Sylvia hatte ihn ausreden lassen und blickte ihn nur verständnislos an. Das soll ihr Mann sein, dem sie vertraut hatte? Der nicht mal den Schneid besitzt, ihr offen zu beichten?

Langsam sammelte sie sich, holte tief Luft und begann in ruhigem Ton: „Das könnte ich dich fragen, was das soll.“

„Ich verstehe nicht…“

„Ach nein, du verstehst nicht? Hast du mir nichts zu sagen?“

„Ich weiß nicht, was du meinst. Was sollte ich dir sagen?“

„Was bist du doch verlogen. Wie konntest du mir das nur antun?“

„Was antun?“

Sylvia konnte sich nun nicht mehr in der Gewalt halten und brach erneut in Tränen aus. „Ich dachte, wir wären glücklich verheiratet.

Ich glaubte, ich wäre die Einzige für dich. Aber nein, du musst mit dieser Schlampe…“ Sie schluchzte: „War sie gut, ja? Ist sie besser als ich?“

„Jetzt reicht’s mir langsam. Was soll das Theater. Spinnst du? Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Wovon redest du?“

„Ach, du streitest es auch noch ab? Spar dir deine Ausreden. Ich habe euch beobachtet. Heute früh, im Café Schucan.“

Jetzt war es raus und Sylvia beobachtete, wie Tom leicht zusammenzuckte.

„Langsam begreife ich“, nickte Tom mit dem Kopf. „Ich dachte, du wärst in der Kanzlei und würdest nichts davon mitbekommen.“

„Ja“, lachte Sylvia höhnisch. „Das dachtest du. Aber es kommt immer anders, als man denkt. Ich musste dringend zum Schuster und habe dich mit Theresa gesehen. Wie dumm von dir, ausgerechnet am Fenster zu sitzen.“

„Ich glaube, ich muss dir da etwas erklären.“

Giftig schleuderte sie ihm entgegen: „Das glaube ich allerdings auch!“

Tom machte einen Schritt auf Sylvia zu und wollte sie in seine Arme schließen. Doch sie sprang hysterisch zurück und warnte ihn: „Fass mich nicht an!“

Tom wehrte vorsichtig ab: „Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Nein? Wie ist es denn?“, fragte Sylvia, wobei sie nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte.

„Ich habe mich mit Theresa getroffen. Ja. Aber ich wollte von ihr ein paar Tipps über Kuba, da sie dort aufgewachsen ist.“

„Wie edel von dir“, unterbrach ihn Sylvia, „und das soll ich dir glauben?“

Nun riss auch Tom der Geduldsfaden und er packte Sylvia fest an den Handgelenken. „Jetzt hältst du einmal deinen Mund und unterbrichst mich nicht andauernd. Ich möchte ausreden: Für unseren Hochzeitstag wollte ich dich mit etwas Besonderem überraschen. Ich weiß, dass es schon seit längerem dein Wunsch ist, einmal Kuba auf eigene Faust zu erkunden. Deshalb habe ich einen Flug gebucht, eine individuelle Reiseroute ausgearbeitet, ein Mietauto reserviert, Hotels ausgewählt. Von Theresa wollte ich mir heute noch einige Tipps geben lassen. Mit deinem Chef habe ich auch alles abgeklärt, damit es keine Probleme mit der Urlaubsplanung…“

Unvermittelt unterbrach Sylvia seinen Redefluss, und ihr war längst klar, dass hier ein gewaltiges Missverständnis vorlag: „Deshalb ist mir Herr Hohmann immer ausgewichen, wenn ich das Thema Urlaub ansprechen wollte.“ Sylvia flossen neue Tränen über die Wangen, aber dieses Mal waren es Tränen des Glücks und der Freude. Dankbar über die unerwartete Wendung fiel sie Tom um den Hals, der sie augenblicklich tröstete:

„Liebling, es tut mir so leid, dass ich dir unbeabsichtigt einen Schrecken eingejagt habe. Dein Missgeschick mit diesem blöden Schuhabsatz hat mir meine Überraschung gründlich vermiest.“

„Na ja, die Überraschung ist dir schon heute gelungen“, meinte Sylvia lächelnd.

Geblieben ist Verbitterung

Nach einem viel zu kalten und verregneten Frühling lockte die Sonne endlich die Menschen ins Freie. So genossen auch Jennifer und ihre Freundin Nicola das herrliche Wetter, und sie verabredeten sich mit ihren Kindern zu einem Spaziergang an der Mosel. Laura und Celina hatten sich im Kindergarten kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich.

„Komm, lass uns mit den Kindern auf den Spielplatz gehen. Dann können sie sich mal so richtig austoben“, schlug Nicola vor.

Ihre Tochter Celina schnappte den Vorschlag sofort dankend auf und schrie Laura zu: „Los, wir dürfen auf den Spielplatz!“

Schon rannten die beiden los und stürmten auf die Schaukeln zu, während die Mütter ihnen gemächlich folgten und auf einer Bank Platz nahmen.

„Das wurde aber auch Zeit, dass es endlich mal trocken ist und wärmer wird. Das Wetter der letzten Wochen ist mir richtig aufs Gemüt geschlagen“, meinte Nicola.

„Wem sagst du das“, seufzte Jennifer, „ich will hoffen, dass es jetzt so bleibt und dass wir einen richtig schönen Sommer bekommen.“

„Fahrt ihr weg?“, wollte Nicola wissen. „Wir haben nämlich mit unserer Kurzen einen Flugurlaub gebucht, und sie freut sich schon riesig auf das große Flugzeug, von dem ich ihr erzählt habe.“

„Ja, wir wollen noch einmal in eine Ferienanlage auf Menorca. Laura kennt die Anlage, die einen wundervollen Dünenstrand hat und für einen Urlaub mit Kindern einfach ideal ist, schon vom letzten Jahr. Wir nutzen zum letzten Mal die günstigere Zeit außerhalb der Ferien. Denn wenn im nächsten Jahr die Schule losgeht und man nur noch in der Saison verreisen kann, werden wir uns das nicht mehr leisten können.“

Nicola blickte Jennifer erstaunt an: „Fahrt ihr denn nicht im Sommer, wenn der Kindergarten für drei Wochen geschlossen hat?“

„Nein, wir fahren erst nach den Schulferien, in der Nachsaison.“

„Und wie regelt ihr das mit Laura?“, wunderte sich Nicola. „Du hast bestimmt Eltern, die in der Zeit die Kinderbetreuung übernehmen, oder? Dann geht es euch besser als uns, denn meine Eltern sind schon lange tot, und die Schwiegereltern schaffen das gesundheitlich nicht mehr.“

„Nein, nein, besser geht es uns auch nicht. Mein Mann und ich nehmen uns jeder abwechselnd für eine Woche Urlaub, und in der Zeit bleibt jeweils einer bei der Kleinen zu Hause. Für die dritte Ferienwoche kann ich Laura zu meinem Bruder geben. Das ist zwar nicht die Ideallösung, aber obwohl meine Eltern im Gegensatz zu deinen noch leben, habe ich zu ihnen keinen Kontakt mehr“, gestand Jennifer.

„Guck mal, Mama, wie hoch ich schaukeln kann!“, rief Celina.

„Ja, das machst du prima“, wurde sie von ihrer Mutter gelobt.

„Gleich gehen wir noch auf das Klettergerüst und die Seilbahn. Aber ihr braucht uns nicht mehr auf den Sitz zu helfen und hochzuziehen, das schaffen wir schon alleine“, ergänzte Laura ganz stolz.

Nicola nahm den Gesprächsfaden wieder auf: „Warum habt ihr keinen Kontakt mehr? Ich wäre froh, wenn meine Eltern noch lebten. Die würden sicher ganz stolz auf ihre Enkeltochter sein und könnten mich entlasten.“

„Ach weißt du, das ist eine lange Geschichte“, antwortete Jennifer. „Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen.“

Nicola erwiderte mitfühlend: “Du musst es mir nicht erzählen, wenn es dich zu sehr belastet. Es geht mich ja eigentlich auch gar nichts an.“

„Ist schon in Ordnung“, räumte Jennifer ein. „Vielleicht tut es mir auch mal gut, wenn ich mit jemandem darüber rede.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte erschrocken fest: „Ach, ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Mein Mann muss heute Abend nach Dienstschluss noch zu einer Vorstandssitzung, und wenn er zwischendurch kurz nach Hause kommt und sich umzieht, hat er es gerne, wenn ich dann auch da bin. Nach der Sitzung wird es meistens spät, und wir würden uns sonst gar nicht mehr sehen. Tut mir leid, unser Gespräch über meine Eltern müssen wir wohl erst einmal verschieben.“

Nicola hatte dafür volles Verständnis und war sofort damit einverstanden, dass sie sich auf den Rückweg machten. Lediglich die beiden Mädchen murrten. So dauerte es auch nicht lange, bis eine von ihnen einen Einfall hatte: „Kann denn nicht Celina heute mal bei uns schlafen?“, fragte Laura und fixierte dabei sehnsüchtig ihre Mutter.

„Ja, wenn Celinas Mama das erlaubt, dann kann sie das meinetwegen gerne tun. Und vor allem muss Celina das selbst auch wollen.“

„Ja, ja!“, rief die sofort freudestrahlend, „ich möchte bei Laura schlafen. Mama, darf ich?“ bettelte nunmehr Celina. Ein Lächeln ihrer Mutter deutete sie sofort als Zustimmung und Jennifer fügte zu Nicola gewandt hinzu: „Wenn du Celina am Abend vorbei bringst und Lust hast, kannst du gerne ein Stündchen bleiben. Wie ich schon sagte, bin ich sowieso alleine.“

„Das passt prima. Mein Mann ist nämlich wieder eine ganze Woche auf einem Lehrgang und ich bin froh, wenn ich abends eine Abwechslung habe. Wir telefonieren zwar immer, nachdem er mit seinen Kollegen zu Abend gegessen hat, aber danach fällt mir die Decke auf den Kopf. Celina bringe ich spätestens um acht Uhr ins Bett, und alleine lassen mag ich sie nicht. Meistens beschäftige ich mich mit Dingen, für die sonst keine Zeit ist und die liegen geblieben sind. Passt es dir, wenn wir nachher so gegen sieben bei euch sind? Dann kann ich meinen kleinen Schmutzfink vorher noch in die Wanne stecken und schnell das Nötigste für sie einpacken. Ich bringe auch ihren Schlafsack mit, so dass du nicht extra ein Bett beziehen musst.“

„Das wäre zwar nicht nötig, aber gut, so machen wir das. Kommt um sieben, dann bin ich auch so weit.“ Den Kindern offenbarte Jennifer: „Ihr habt gewonnen! Celina darf heute bei uns schlafen, aber nur, wenn es kein Theater gibt, hört ihr! Dann wollen wir uns jetzt mal etwas beeilen und zusehen, dass wir schnell nach Hause kommen.“

Das ließen sich die beiden Mädchen nicht zweimal sagen und konnten den Abend, der jede Menge Aufregung und Spannung versprach, schon gar nicht mehr abwarten.

Pünktlich standen Nicola und Celina vor der Haustür und Laura nahm sofort ihre Freundin bei der Hand, um mit ihr in ihrem Zimmer zu verschwinden. Jennifer bat Nicola in den zum Wohnzimmer angrenzenden Wintergarten, der einen Blick auf die ersten Sommerblumen in diesem Jahr freigab.

„Was darf ich dir anbieten?“, fragte Jennifer. „Magst du auch einen Wein?“

„Ja gerne“, gab Nicola zurück und nahm in einem der bequemen Korbstühle Platz.

Jennifer öffnete eine Flasche Rotwein, holte zwei Gläser, schenkte ein und reichte ein Glas Nicola: „Auf einen schönen Abend und darauf, dass sich unsere beiden Trabanten weiterhin so gut verstehen.“

Nachdem Nicola den schönen Garten ausgiebig bewundert hatte und die Frauen sich zunächst über die Erziehung ihrer Kinder austauschen konnten, kam Jennifer auf das bereits auf dem Spielplatz angeschnittene Thema zu sprechen: „Du wolltest von mir wissen, wieso ich zu meinen Eltern keinen Kontakt mehr habe. Ich will versuchen, dir das zu erklären: Es fing alles damit an, dass meine Eltern hier in Trittenheim Bekannte hatten. Ich glaube, es waren frühere Nachbarn von uns, die hierher gezogen sind. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall besuchten meine Eltern die immer häufiger, weil ihnen die Gegend und die schönen kleinen verschlafenen Dörfer hier so gut gefallen haben. Mit den Großstädten im Ruhrgebiet, wo ich die ersten Jahre aufgewachsen bin, ist das nicht zu vergleichen. Meine Eltern kamen im Herbst zu den Weinfesten hierher und zogen abends durch die gemütlichen Straußwirtschaften, die sie auch in der Form gar nicht kannten. Dazu kam, dass die Grundstückspreise damals extrem niedrig waren, zumindest, wenn man etwas abseits, also nicht direkt in den bekannten Weinanbauorten ein Grundstück gekauft hat, wozu sie sich dann auch entschlossen haben. Allerdings rechneten meine Eltern nicht damit, dass mein Vater hier in der Gegend keine Arbeit finden würde. Er war in Essen bei ThyssenKrupp beschäftigt, wo er schon seine Ausbildung gemacht hat und als Mechaniker, soweit ich das beurteilen kann, musste er gut verdient haben. Das Haus war fertig und meine Mutter zog mit meinem Bruder und mir hierher. Doch mein Vater musste weiterhin in Essen bleiben und konnte nur am Wochenende zu uns nach Hause. Er bewohnte lediglich ein kleines, ganz einfaches Zimmer in der Nähe von seinem Arbeitsplatz. Ohne Dusche, denn die hatte er ja im Werk, und anstelle einer Küche hatte er nur eine Kochplatte, um sich morgens notdürftig eine Tasse Kaffee machen zu können.“

Nicola hörte aufmerksam zu und nach einer kleinen Pause, in der sie kurz an ihrem Weinglas nippte, führte Jennifer weiter aus: „Die Abende waren für ihn in dem beengten Zimmer langweilig, er hatte keine Unterhaltung, keine Abwechslung. Ihm fehlte seine Familie. So suchte er Trost im Alkohol, der aus ihm einen völlig anderen Menschen machte. Einmal daran gewöhnt, wollte er auch am Wochenende, wenn er nach Hause kam, nicht darauf verzichten. Er beneidete uns, weil wir in dem schönen neuen Haus wohnen durften, so dass er uns im Alkoholrausch zunehmend tyrannisiert hat. Wir haben unseren Vater nicht mehr wiedererkannt. Wir kannten ihn als einen fürsorglichen Menschen, und nun war er nur noch jähzornig, missgelaunt und aggressiv. Meine Mutter hat er geschlagen, und wir Kinder haben das alles mit ansehen müssen. Um Ruhe vor ihm zu haben, baten mein Bruder und ich unsere Mutter wiederholt, sich von ihm zu trennen. Schließlich hatte Mutter schon Angst und zitterte, wenn das Wochenende kam, und er sie wieder schlagen würde. An einem Wochenende war es so schlimm, dass sie sogar ins Krankenhaus in die Notaufnahme musste. Doch auch sie hat sich verändert und anscheinend in ihr Schicksal gefügt. Sie blieb weiterhin bei ihrem Mann und hat dadurch auch nicht verhindert, dass er uns das Leben zur Hölle gemacht hat. Er legte uns sämtliche Steine in den Weg, die er nur finden konnte. Wir durften die Schule nicht länger als nötig besuchen, und er zwang uns sogar zu einer Ausbildung, obwohl wir beste Schulnoten aufwiesen und gerne eine weiterführende Schule besucht hätten.“

„Entschuldige, dass ich dich unterbreche. Aber ich kann es fast nicht glauben, dass es so etwas gibt. Alle Eltern wollen doch normalerweise nur das Beste für ihre Kinder und sind froh, wenn sie in der Schule Erfolg haben“, warf Nicola ein.

„Eigentlich ja, so sollte es sein. Aber unser Vater muss uns wohl zunehmend gehasst haben. Mein Bruder ist jedenfalls sofort mit achtzehn zu seiner Freundin gezogen. Obwohl die noch bei ihren Eltern wohnte, konnte er dort mit ihr ein Zimmer beziehen. Ich selbst habe mich in eine Beziehung gestürzt, weil ich dachte, alles ist besser als zu Hause zu bleiben. Für meinen Bruder und mich steht heute fest, dass wir unseren Vater nie wiedersehen wollen. Er hat uns so viele Chancen genommen und ich bin zwei Jahre bei einem Therapeuten in Behandlung gewesen. Was unsere Mutter anbelangt, so können wir ihr einfach den Vorwurf nicht ersparen, dass sie nur zugesehen und uns nicht vor ihm beschützt hat.“

„Und glaubst du daran, dass ihr euch noch einmal die Hand zur Versöhnung reichen werdet?“

„Ach Nicola“, gab Jennifer traurig zurück, „es ist so viel Verbitterung geblieben und ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass das leidige Thema Vergangenheit ist. Eine Geste der Versöhnung müsste, wenn überhaupt, von Seiten meiner Eltern kommen. Ich kann nicht sagen, wie ich reagieren würde, ob ich eine Entschuldigung annehmen könnte. Es ist jetzt so, wie es ist. Und es hilft auch nicht, wenn ich mir vor Augen führe, wie anders alles hätte kommen können, wenn… ja, wenn es das Wörtchen ‚wenn’ nicht gäbe.“

Jennifer fühlte, dass sie die Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit doch sehr aufwühlte und die drückende Stimmung, die nun im Wintergarten förmlich zu spüren war, lastete auf beiden Frauen. Erst, nachdem Laura und Celina zu ihnen kamen und sich müde an ihre Mütter kuschelten, wurden sie in die Gegenwart zurückgeholt. Nicola trank ihren letzten Schluck Wein und hielt den Zeitpunkt für gekommen, sich von ihrer Tochter zu verabschieden.

Jennifer begleitete ihre Freundin zur Wohnungstür: „Ja, dass es in unserer Familie so etwas gibt, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich kann nur hoffen, dass mein Mann und ich zu Laura immer ein gutes Verhältnis haben.“ Sie drückte Nicola zum Abschied: „Komm gut nach Hause!“

„Danke, ich melde mich morgen.“

Auf eine gute Zusammenarbeit

Rafael war wieder einmal spät dran, und er würde sich beeilen müssen, um pünktlich im Büro zu sein. Schnell trank er seinen letzten Schluck Kaffee im Stehen und kontrollierte vor dem Garderobenspiegel den akkuraten Sitz seiner Krawatte, bevor er sich auf den Weg machte.

Draußen schüttete es wie aus Eimern. Zum Glück gab es einen direkten Zugang zu seiner Garage, so dass er seinen Wagen trockenen Fußes erreichte. Rasant fädelte er sich mit dem Porsche in den fließenden Verkehr ein. Die Scheibenwischer liefen auf der höchsten Stufe und seine Gedanken hingen an seinem nächsten Großauftrag. Zu spät sah er eine Wasserlache und auf dem Gehweg hatte es eine junge Passantin voll erwischt. Augenblicklich hörte er, wie sie wüste Beschimpfungen gegen ihn ausstieß. Verdammter Mist! Ihm blieb nichts anderes übrig, als an der nächsten Parkbucht anzuhalten, wenn er sich nicht auch noch eine Anzeige einfangen wollte. Er ließ die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter, und noch bevor er ein Wort der Entschuldigung hervorbringen konnte, fuhr ihn die wütende Frau an: „So eine Unverschämtheit! Können Sie nicht besser aufpassen?“ Voller Verzweiflung fügte sie hinzu: „Was soll ich denn jetzt bloß machen? Ich sehe aus wie ein Schwein! Meine Schuhe sind total versaut, und mein Rock ist bis oben patschnass.“

„Hören Sie, es tut mir leid! Aber mit diesen Stöckelschuhen und dieser Garderobe haben Sie hier draußen auch nichts zu suchen.“

Völlig aufgelöst und ungehalten kreischte sie zurück: „Das ist ja wohl eine bodenlose Frechheit! Was geht es Sie an, wie ich gekleidet bin?“ Unvermittelt brach die junge Frau in Tränen aus und stammelte: „Aus – aus, jetzt ist alles aus. Und das ist einzig und allein Ihre Schuld!“