Bergmannsfrühstück - Beatrix Petrikowski - E-Book

Bergmannsfrühstück E-Book

Beatrix Petrikowski

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Beschreibung

In einem Zeitraum von über zwei Jahren haben die Autoren Beatrix und Michael Petrikowski mit über fünfzig Zeitzeugen gesprochen, die in diesem Buch zu Wort kommen und mit ihren Biografien einen Ausschnitt der Gladbecker Geschichte aufleben lassen. Sie erzählen von ihren Erinnerungen aus ihrer frühesten Kindheit, ihrer teils gefahrvollen, interessanten oder auch spannenden Arbeit, sowie von ihren Erlebnissen und geben Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten. Einige von ihnen können noch aus Kriegstagen mit Bombenangriffen, von der Kinderlandverschickung oder vom Hamstern bei den Bauern auf den Dörfern berichten, während andere vom Vereinsleben oder der Brauchtumspflege erzählen. Alle zusammengetragenen Geschichten verbindet ein monatlich stattfindendes Bergmannsfrühstück des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht und bei dem die verschiedensten Themen sowie die Aktivitäten der ehemaligen Bergleute an den Schulen erörtert wurden.

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Inhaltsverzeichnis

Auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus in Gladbeck

Zu Gast beim Bergmannsfrühstück im Freizeittreff Karo

- Schicht im Schacht

- Das Musical „König von Zeche“

Schachtzeichen und andere Aktivitäten des Geschichtskreises

Der Gladbecker Schwibbogen

- Vertriebene fanden Arbeit im Bergbau

Hundert Jahre Bergbau in Gladbeck

Die Verknüpfung von Kohle und Kunst

Barbarafeier im Freizeittreff Karo

- Mit dem Förderkübel unter Tage

Soziale Lichter im Advent

- Der Karnevalsclub Wittringer Ritter

Die Kunstschmiede Gladbeck

Fräulein Kukuk kannte jeder Bergmann

Treffen auf dem Wochenmarkt

- Mit Lederhelm und Abbauhammer

Lesung beim Bergmannsfrühstück

- Ein Kind des Ruhrgebiets

Erzählcafé in der Maschinenhalle Zweckel

- Ramona, die erste Schrämmaschine auf Graf Moltke

Die Gartenstadt Zweckel

- Das Lebensmittelgeschäft Laußer

- Auf der Mozartstraße

Nicht alle Grubenpferde hießen Hektor

- Als der Förderturm fiel

Bergmannsfrühstück mit der Presse

- Luise Dalter, die Tochter von Paul Knietsch

Der Arbeitnehmerempfang des Bürgermeisters

- Der Klassensprecher der Stadt

Der Tag der Arbeit

- Das Gladbecker Bündnis für Courage

Eine Grubenfahrt auf dem Bergwerk Auguste Victoria

Krippenbau und Christuskirche

Tagestour mit der IG BCE Ortsgruppe Gladbeck-Mitte

Das Krankenhaus in der Halde

80 Jahre Bücherverbrennung in Gladbeck

- Besuch im Seniorenzentrum Marthaheim

Siedlergemeinschaft gegen Wohnungsnot

- Der Vorsitzende der I. Moltkesiedlung

- Einer der ersten Siedler

- Sein Vater war ein Siedler

- Verwaltung der Zechenwohnungen

Bad Rentfort

Gedenkveranstaltung zur Zerschlagung der Gewerkschaften

- Die Gladbecker Edelweißpiraten

- Die erste Rock and Roll Band in Gladbeck

Der Rettungssanitäter im Bergbau

Grubenbrände waren gefürchtet

60er Schrauben für die Grubenwehr

Wie die Heilige Barbara nach Gladbeck kam

Zuwanderung durch den Bergbau

Die ersten türkischen Gastarbeiter

- Einladung zum Fastenbrechen

Arbeiterliteratur Abend

Die Tradition der Bürgerschützengilde

Räuber im Bergwerk

Am Luftschacht im Stadtteil Ellinghorst

Gott zur Ehr' – dem Nächsten zur Wehr

Die Braucker Alpen

Barbarafeier zum Gedenken an Walter Matscheck

- Mit Zündmaschine und Schießkasten

Wir sind angekommen

Danksagung

Die Autoren

Auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus in Gladbeck

Der Verein für Orts- und Heimatkunde hat zu einer Wanderung auf dem neuen Bergbauwanderweg eingeladen. Etwa dreißig Interessierte sind dieser Einladung gefolgt und treffen sich am 18. Mai, einem Freitagnachmittag. Startpunkt der Tour ist der Festplatz an der Horster Straße, hinter dem eine Hangböschungshalde zu sehen ist. In den Anfängen des Bergbaus wurde versucht, das anfallende Bergematerial aus dem Streckenvortrieb möglichst unauffällig in der näheren Umgebung der Schachtanlage zu verbringen. Typisch für diese Zeit sind Hangböschungshalden, wobei das Bergematerial einfach an einen Hang geschüttet wurde. Sie waren die Vorläufer der aufgeschütteten Halden, die heute im gesamten Ruhrgebiet zu sehen sind.

Mit von der Partie sind einige Mitglieder des REVAG Geschichtskreises Zeche Graf Moltke, die den Wanderweg mit vielen interessanten Stationen angelegt haben. Er kann in einer kleinen Runde von sieben Kilometern, aber auch in voller Länge von zehn Kilometern begangen werden. Die Graf Moltke-Halde mit der schönen Aussicht, auf der Bänke zum Ausruhen und Verweilen einladen, sollte man in jedem Fall besuchen. Nach der Begrüßung und einigen einführenden Worten durch Heinz Enxing vom Heimatkundeverein und Walter Hüßhoff vom Geschichtskreis geht es trockenen Fußes, denn der von den Wetterfröschen angesagte Regen bleibt glücklicherweise aus, zum ehemaligen Gelände der Schachtanlage Graf Moltke 1/2, vorbei an schicken Eigenheimen. Hinter einer kleinen Einzäunung zeugen zwei Schachtdeckel mit Protegohauben von der Existenz der längst abgerissenen Fördertürme. Auf dem Gelände des Freizeittreffs Karo, das aus vier einzelnen Gebäuden besteht, befindet sich die erste Schautafel der Tour mit vielen interessanten Informationen und einem Luftbild der Schachtanlage Graf Moltke 1/2 aus dem Jahre 1927. Dahinter sind am Spielplatz die Überreste der Grundmauer des alten Lokschuppens zu sehen.

Schautafel am Freizeittreff Karo Foto © Michael Petrikowski

Bevor es in gemächlichem Anstieg auf die Moltke-Halde geht, von der die Teilnehmer der Wanderung einen herrlichen Blick auf die Schachtanlagen Hugo und Nordstern, die Rungenberghalde, den Tetraeder, die Stadt Gladbeck oder auch die Schalke Arena genießen können, führt der Weg durch drei Moltke-Siedlungen, die Anfang der 1950er Jahre von der „Siedlergemeinschaft gegen Wohnungsnot“ gegründet wurden. In der I. Moltkesiedlung ist eine weitere Schautafel zu finden, die über die Entstehung der Siedlung durch Gemeinschaftsarbeit der Bergleute informiert. Karl Otte, der viele Jahre im Bergbau als Maschinist und später im Wohnungswesen gearbeitet hat, kann den Teilnehmern zu diesem Thema viele zusätzliche Informationen geben. Auf der Halde Graf Moltke angekommen, wird bei einer Rast mit einem Schnaps das Bergmannslied „Glück auf, der Steiger kommt“ angestimmt. Dort rezitiert Walter Hüßhof das Gedicht „Sieben Halden Rundblick“ von Kurt Küther, bevor es weiter zum ehemaligen Gelände der Zeche Graf Moltke 3/4 geht, das saniert wurde und auf dem der „Gewerbepark Brauck“ entstanden ist. Lediglich ein altes Kauengebäude, in dessen Turm sich einmal auf allen vier Seiten eine Zechenuhr befand, ist noch erhalten geblieben.

Die Häuser in der Phönixstraße Foto © Beatrix Petrikowski

In der Phönixstraße wurden von 1898 bis 1901 Wohnungen für Bergwerksangestellte errichtet, die Häuser sind inzwischen zum größten Teil restauriert und fanden neue Bewohner. Nach einem Abstecher in die IV. Moltke-Siedlung ist im weiteren Verlauf hinter den Häusern der Steinstraße ein Stück der alten Zechenmauer zu sehen. Eine Besonderheit, die man aber leider wegen akuter Einsturzgefahr nicht besichtigen kann, ist das im Januar 1945 errichtete Stollenkrankenhaus. Der Stollen in der Halde diente der Bevölkerung während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg als Bunker. Wegen der völligen Zerstörung des Barbara-Hospitals wurde in dreimonatiger Bauzeit das Stollenkrankenhaus errichtet. Bergleute, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, aber auch Freiwillige, arbeiteten fast ununterbrochen, Tag und Nacht, daran.

Fast wieder zurück am Ausgangspunkt, führt der Weg durch die Moltkestraße, die nach dem Krieg in Uhlandstraße umbenannt wurde. Dort ist die älteste Zechensiedlung von Gladbeck zu finden. Von Klaus-Wilhelm Rottmann, dem Vorsitzenden der I. Moltkesiedlung, erfahren die Teilnehmer viel Interessantes und Wissenswertes über die Arbeiter- und Wohnkultur in Gladbeck. Die Siedlung wurde im Jahr 1888 von der Zeche „Graf Moltke“ errichtet und der älteste Teil steht heute unter Denkmalschutz. Vier Familien, die zusätzlich verpflichtet waren, einen Kostgänger aufzunehmen, bewohnten ein solches Haus, zu dem jeweils ein Stall, ein Schuppen und ein Plumpsklo gehörten. Von dort führt der kürzere Weg auf die weithin sichtbare Lambertikirche zu. Auf dem Kirchplatz ist eine Skulptur von 1823 zu sehen, die das alte Dorf mit dem ursprünglichen Bachverlauf zeigt, das mit „Gladebecke“ Pate für die spätere Namensgebung stand. Vorbei am historischen Rathaus, vor dem eine weitere Schautafel mit Informationen aufgestellt wurde, endet der Bergbauwanderweg im Rathauspark. Hier ist der „Stein des Bergmanns“ von Anatol, der bei den Bergleuten wenig Anklang fand, zu finden. Auf der letzten Station der Wanderung erläutert Heinz Enxing den Teilnehmern ausgiebig die Darstellungen auf der Stadtgeschichtssäule des Bildhauers Gottfried Kappen, die bei der städtischen Galerie im Rathauspark zu finden ist. Hier endet auch der etwa sieben Kilometer lange Bergbauwanderweg, der zu einem ersten persönlichen Kontakt zwischen uns, den Autoren, und Walter Hüßhoff führt, der uns bei dieser Gelegenheit spontan zu einem monatlich im Freizeittreff Karo stattfindenden Bergmannsfrühstück einlädt.

Zu Gast beim Bergmannsfrühstück im Freizeittreff Karo

Wir kommen gerne der Einladung zu einem Bergmannsfrühstück des REVAG Geschichtskreises Zeche Graf Moltke zu einem weiteren Treffen nach. Walter Hüßhoff, der 1. Vorsitzende des Vereins, stellt uns alle Mitglieder vor und wir haben sofort das Gefühl, bei den Kumpeln willkommen zu sein. An jedem zweiten Mittwoch im Monat finden sich im Bürgertreff Karo rund zwanzig ehemalige Bergleute der Zeche Graf Moltke zu einem gemütlichen Treffen bei einem deftigen Frühstück mit frischen Brötchen und Kaffee zusammen, zu dem alle Interessierten herzlich willkommen sind. Das Bergmannsfrühstück dient, außer der Kontaktpflege, auch dem Informationsaustausch und der Bekanntgabe von Terminen zu den verschiedensten Aktivitäten und Veranstaltungen. So fördert die REVAG die Bildungs- und Migrationsarbeit mit den unterschiedlichsten Projekten, in denen es um den Ruhestand oder um gesundheitliche und sportliche Aufklärung geht. Selbstverständlich gehört auch die Organisation von gut besuchten Festen und Veranstaltungen dazu.

Die Autoren zu Gast beim Bergmannsfrühstück Foto © Dirk Brunngraber

Für den Geschichtskreis Zeche Graf Moltke steht die Geschichte des Bergbaus in Gladbeck im Vordergrund, und den Mitgliedern ist es wichtig, den Bürgern die Geschichten und Erlebnisse der Bergleute näherzubringen und sie über die Entstehung der in Selbsthilfe errichteten Wohnsiedlungen zu informieren. Sie lassen Zeitzeugen zu Wort kommen und bieten Wanderungen auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus an, gehen in die Schulen, halten Vorträge und gestalten Abende, in denen Filme über die Welt unter Tage vorgeführt werden.

Während sich alle das Frühstück schmecken lassen, kristallisiert sich ein gemeinsames Interesse an der Geschichte des Bergbaus heraus, und Walter Hüßhoff erzählt uns von seiner Idee zu einem „Gladbecker Lesebuch“, in dem Zeitzeugen aus allen Bevölkerungsschichten über ihre Arbeit und ihr Leben in Gladbeck berichten. In Form von Interviews sollen sie ihre Geschichte(n) erzählen, die auch ein Teil der Geschichte der Stadt Gladbeck ist. Für uns klingt das nach einer interessanten Herausforderung und schnell werden wir uns einig, dass wir für das Buchprojekt die Interviews führen werden. Wie es sich für ehemalige Bergleute gehört, wird zum Ausklang das seit Jahrhunderten bekannte Steigerlied „Glück auf“ gesungen. Allen Beteiligten ist klar, dass wir uns zum nächsten Bergmannsfrühstück im folgenden Monat wiedersehen werden, und wir sprechen sofort mit dem Vorsitzenden einen ersten Termin zu einem Interview ab.

Schicht im Schacht

Zu diesem Treffen lädt uns Walter Hüßhoff in sein Haus ein. In der oberen Etage hat er sich, seit die Kinder ausgezogen sind, ein eigenes Reich mit Büro und Fitness-Geräten, einer gemütlichen Sitzecke und einer Küche mit einem Esstisch eingerichtet, an dem wir in den nächsten Monaten diverse Interviews führen werden. Wir sind über die Vielseitigkeit dieses Mannes überrascht, der Kurzgeschichten und Gedichte verfasst und uns die selbst gemalten Bilder zeigt, welche die Wände im Treppenhaus und in den Räumen zieren. Obwohl es noch vieles zu sehen und zu erzählen gäbe, berufen wir uns doch auf den Anlass unseres Besuchs und wollen mit dem eigentlichen Interview beginnen. Dazu macht sich jeder von uns seine eigenen Notizen, um sie später für den Text miteinander abgleichen zu können. In lockerer Atmosphäre berichtet uns Walter Hüßhoff, dass die ehemalige Schachtanlage Graf Moltke zu den ersten Bergwerken gehörte, die nach der Eingliederung in die Ruhrkohle AG stillgelegt wurden. Damit endete für diese Schachtanlage eine fast einhundertjährige Geschichte.

Am 12. November 1971 herrschte auf der Hängebank noch reger Betrieb. Ein Kohlenwagen nach dem anderen rollte aus dem Förderkorb zur Wäsche. Neben den Offiziellen und dem Bergwerksdirektor Dinsing waren vereinzelt ehemalige Bergleute und auch einige Kumpel gekommen, die eigentlich keine Schicht hatten. Um 17.30 Uhr kam der Korb mit dem letzten blumengeschmückten Wagenhoch und als sich das Geraune legte, trat Stille ein. Wenige Stunden später verließ der letzte Kumpel den Schacht und die noch verbliebenen 1511 Bergleute wurden auf die Schachtanlage Hugo in Buer verlegt.

Einer von diesen Bergleuten war Walter Udo Hüßhoff, der am 12. Februar 1949 in Gladbeck-Brauck auf der Klarastraße geboren wurde. Seine Wurzeln reichen mütterlicherseits bis nach Schlesien und väterlicherseits nach Mühlheim und bis in die Tschechoslowakei. Seine Eltern wurden jedoch bereits beide in Essen-Karnap geboren. Der Vater, der als Einschaler auf dem Bau beschäftigt war, wünschte sich nach einem Sohn eine Tochter, für die auch schon der Name „Waltraud“ ausgesucht war. Nachdem aber nicht das ersehnte Mädchen geboren wurde, musste das Kind Walter genannt werden. Seine Mutter war als Hausfrau immer für die Kinder da und bei ihrer Schwester wohnte die vierköpfige Familie auf zwei Zimmern zur Untermiete.

Nach dem Besuch eines Kindergartens begann für Walter Hüßhoff in der evangelischen Schillerschule an der Roßheidestraße 1955 der Ernst des Lebens. Viele Lebenserinnerungen aus dieser Zeit prägen ihn noch heute und er denkt mit einem lachenden und einem weinenden Auge an seine Kindheitstage. So wurde auf der Zeche Graf Moltke in dem Erzgang Klara eine Blei-Zink-Vererzung abgebaut und obwohl der Bereich der „Silberberge“, wie die Kinder den Erzabraum nannten, natürlich nicht öffentlich zugänglich war, spielten sie auf dem Areal oft Cowboy. Bevor Walter Hüßhoff nach acht Schuljahren aus der Schule entlassen wurde, fragte ihn ein Berufsberater, was er denn gerne werden möchte. Auf seinen Berufswunsch Schlosser oder Schmied schickte ihn der Berufsberater zur Ausbildungsabteilung auf der Zeche Graf Moltke 3/4, weil dort noch Auszubildende gesucht wurden. Allein schon wegen der Deputatkohle war Walter Hüßhoff von dem Vorschlag begeistert, denn durch die ärmlichen Familienverhältnisse langte es kaum für eine ausreichende Beheizung der Wohnung. So begann er am 1. April 1963 eine Ausbildung zum Betriebsschlosser, wobei ihn gute Lehrgesellen unter ihre Fittiche nahmen, die ihn auf den richtigen Weg brachten. Seiner raschen Auffassungsaufgabe hat er es zu verdanken, dass er bei einem Schmied alles von der Pike auf erlernen durfte. Gearbeitet hat er zu dieser Zeit schon im Akkord und sogar bei großen Aufträgen zog man den Auszubildenden mit ein, und er wurde von den Älteren voll akzeptiert.

Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag durfte Walter Hüßhoff aber nur im Tagesbetrieb eingesetzt werden. Danach ging es für ihn ins Lehrrevier unter Tage, in dem damals noch der Abbauhammer zum Einsatz kam, und er sich als Mann unter Männern fühlte. Die Ära der Modernisierungen im Bergbau fiel in diese Zeit und so erlebte er den Übergang von den Rutschen zum ersten Panzerförderer oder auch den Einsatz der ersten hydraulischen Stempel mit. Auf der Zeche Graf Moltke hielt der automatische Ausbau mit einem ersten Gleithobel Einzug. Ab dem 1. Januar 1967 war er als Grubenschlosser in der Wasserhaltung für diverse Pumpen zuständig und konnte Reparaturen schnell durchführen. Während dieser Zeit erhielt er einen Schichtlohn von 29,33 Mark, doch wollte er so viel, wie ein Hauer im Gedinge verdienen und drohte damit, „in den Sack zu hauen“. Fortan wurde er als Lehrhauer mit Zuwendung für die Nachtschichten im Gedinge eingeteilt. An selbstständiges Arbeiten am Schacht war er gewöhnt und er konnte im Jahr 1969 auf Stinnes 3/4 seine Hauerprüfung ablegen. Zug um Zug raubte er mit seinem Kumpel an einem Tag einen Streb, den sie am nächsten Tag schon wieder einbauten.

Trotz, oder gerade wegen der vielen Arbeit verlangte es Walter Hüßhoff auch nach Abwechslung. Mit Freunden fuhr er nach Schalke zu einer großen Diskothek, in der während eines Besuches im Jahr 1970 ganz plötzlich Anne vor ihm stand und er spürte nur noch Schmetterlinge im Bauch. Selbst auf seine Arbeit konnte er sich nur noch schlecht konzentrieren, wenn er auf der 6. Sohle in einem stillgelegten Revier unterwegs war und an sie dachte. Mit Anne, die als Friseurin einen Salon in Gladbeck leitete, traf er sich danach jeden Tag und so folgte ein Jahr später die Verlobung und im Jahr 1972 die Hochzeit. Eine Tochter machte das Glück zwei Jahre später vollkommen und heute freut sich das Ehepaar über zwei Enkelinnen.

Zu der Zeit, als Walter Hüßhoff seine Frau kennenlernte, kursierten auch erste Gerüchte um eine Schließung des Bergwerkes Graf Moltke. Auf einer Belegschaftsversammlung wurden diese Gerüchte dementiert, doch am nächsten Tag war in der Zeitung bereits von der Schließung zu lesen. Graf Moltke wurde als eine der ersten Anlagen der Ruhrkohle AG geschlossen und die Bergleute zur Zeche Hugo verlegt. Sie mussten einen geringeren Verdienst hinnehmen und sich mit großen Umstellungen vertraut machen. Während sie von Graf Moltke nur flache Lagerungen gewohnt waren, hatten sie auf Hugo mit halbsteilen und sogar steilen Lagerungen im Flöz zu kämpfen. Flöz Dickebank war schon für die Zeit modern ausgebaut und gleich in der Verlegungsschicht auf Hugo fanden Walter Hüßhoff und seine Kumpel ein Desaster vor: Ein Hobel- und kompletter Kettenriss legten den gesamten Betrieb lahm. Die Bergleute auf Hugo standen dem Unglück völlig ratlos gegenüber und niemand wusste von ihnen, wie das Problem angegangen werden könnte. Ganz anders sah es für die von Graf Moltke kommende Belegschaft aus, die in allen Tätigkeiten geschult waren. Sie packten die Arbeit an und fuhren eine doppelte Schicht, bis wieder alles lief. Bei den Kumpeln von Hugo löste das großes Erstaunen aus und man zollte ihnen Respekt. Ihr Einsatz wurde vom Bergwerk mit einer dreifach bezahlten Schicht belohnt!

Mit siebenundzwanzig Jahren wurde Walter Hüßhoff Aufsichtshauer, war für seine Kumpel Vertrauensperson und durch seine Mitarbeit im Betriebsrat konnte er viele Kontakte knüpfen. Am 1. Mai 1986 zählte er im Kolpinghaus zu den Gründungsmitgliedern des Knappenvereins, den er für einige Jahre bis 1996 als erster Vorsitzender führte. Er erinnert sich an einen Umzug mit über eintausend Knappen während des achten Nordrhein Westfälischen Knappentages am 2. und 3. Mai 1992. Ein Höhepunkt in seinem Leben ist aber zweifellos seine Rolle als Wortführer im Bundeskanzleramt. Im Jahr 1986 stand auch der weitere Betrieb des Bergwerks Hugo auf der Kippe. Direkt nach der Nachtschicht machten sich sechs Kumpel als „Looser“, wie er es nennt, auf den Weg nach Bonn, um Bundeskanzler Kohl eine Petition zu überreichen. Als „Gewinner“ kamen sie zurück, denn sie erreichten mit ihrem Einsatz, dass Hugo noch nicht geschlossen wurde. Mit Tränen in den Augen erzählt er uns von dem überwältigenden Gefühl, wie sie im Ruhrgebiet empfangen wurden und überall die Kirchenglocken läuteten!

Walter Hüßhoff bei dem Musical „König von Zeche“ Foto © Dirk Brunngraber

Die Solidarität der Menschen im Ruhrgebiet mit dem Bergbau spürte er hautnah am 14. Februar 1997. Mit einem „Band der Solidarität“ bildeten 220.000 Menschen eine knapp einhundert Kilometer lange Menschenkette quer durchs Ruhrgebiet, um für den Erhalt der Arbeitsplätze im Bergbau zu demonstrieren. Die Kette reichte von Neukirchen-Vluyn bis nach Lünen und auf einer Brücke in Duisburg-Rheinhausen standen die Menschen in Dreierreihen. Damit zählt diese Demonstration wohl zu einer der spektakulärsten in der Geschichte der Bundesrepublik und nicht nur Walter Hüßhoff dürfte an dem Tag das Herz vor Begeisterung übergeschäumt sein.

Im Jahr 1996 ist Walter Hüßhoff aufgrund eines schweren Unfalls aus dem Berufsleben ausgeschieden und suchte nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Die Förderung der Jugend hat er sich zur Aufgabe gemacht und in Zusammenarbeit mit Gladbecker Schulen schon viele Projekte, wie beispielsweise die Aufführung eines Theaterstücks oder das Musical „Ich will leben“ und zuletzt ein Hörbuch mit den Schülern umgesetzt, was ihn mit Stolz erfüllt. Von dem Musical „Ich will leben“ hatten wir schon einmal gehört, doch dass es ein Projekt einer Schule war, ist uns völlig neu und wir wollen mehr darüber erfahren.

Nach dem Theaterstück um den Bergarbeiterstreik von 1889 und dem Musical „König von Zeche" war „Ich will leben" bereits das dritte Schulprojekt, erklärt uns Walter Hüßhoff. Das Musical wurde nach seiner Idee mit Schülerinnen und Schülern der Erich-Fried-Schule erarbeitet. Über einen Zeitraum von fast einem Jahr probten sie mit musikalischer Unterstützung von Norbert Gerbig sowie weiterer fachkundiger Begleitung durch die Lehrkräfte Friederike Dopp, Reinhard Dannhoff und dem Berufseinstiegsbegleiter Bernd Häßler von der Erich-Fried-Schule. In dem Stück wurden Liebeskummer, Freundschaft und Zukunftsängste sowie die individuellen Lebenserfahrungen der Jugendlichen thematisiert. Die Aufführung am 6. Juni 2011 in der restlos ausverkauften Stadthalle war ein riesiger Erfolg, über den sich Schülerinnen und Schüler sowie deren Großeltern und Eltern aus fünfzehn unterschiedlichen Nationalitäten gefreut haben.

Auf Anregung von Walter Hüßhoff hat der REVAG Geschichtskreis Zeche Graf Moltke in Gladbeck einen Wanderweg auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus angelegt, der noch weiter ausgebaut wird. Für sein außerordentliches Engagement in zahllosen Projekten erhielt er 2011 von Bürgermeister Ulrich Roland die Ehrenplakette, die höchste Auszeichnung der Stadt Gladbeck. Im Jahr darauf wurde ihm der „Vestische Preis für Menschen mit Ideen“ verliehen und er hat auch schon wieder eine neue Vision: Ein fünfundzwanzig Meter hoher Bergmann soll sich als Wahrzeichen für Gladbeck durch Windkraft auf einer Halde drehen und dabei Strom erzeugen. Damit wäre die traditionelle Figur des Bergmanns mit moderner Energiegewinnung in Einklang gebracht. Doch wird dies sicherlich nicht die letzte Idee von Walter Hüßhoff sein!

Das Musical „König von Zeche“

Den Mitgliedern des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke war es immer schon sehr wichtig, den jungen Leuten in den Schulen etwas über die Bergbaukultur zu vermitteln und die Schüler für verschiedene Projekte zu gewinnen und zu begeistern. Da sie bereits mit den Schülern der ehemaligen Hauptschule Butendorf erfolgreich ein Theaterstück über den Bergarbeiterstreik von 1889 erarbeitet haben, das in der Stadthalle aufgeführt wurde, lag es nahe, diesen Gedanken weiter auszubauen. So hatte Walter Hüßhoff die Idee zu einem Musical, das in Zusammenarbeit mit der REVAG und der IG BCE Ortsgruppe Gladbeck-Mitte entstand.

Aufführung des Musicals „König von Zeche“ Foto © Dirk Brunngraber

An dem Projekt unter dem Titel „König von Zeche“ haben sich siebzehn Schüler der ehemaligen Hauptschule Butendorf beteiligt. Gemeinsam mit Bernard Brokamp vom Geschichtskreis haben sie auch das Bühnenbild erarbeitet und gebaut. Viele Kleidungsstücke und Requisiten wurden von Gladbecker Bürgern gespendet und die Kostüme in einer eigens dazu gegründeten AG von den Schülern angefertigt. Die Sozialpädagogin Sabine Leipski, die Lehrerin Katarzyna Gawron sowie der Berufseinstiegsbegleiter Bernd Häßler haben sich mit den Schülern jede Woche Dienstag getroffen und das Musical einstudiert, bei dem es um die Lebenssituation und die Arbeitsbedingungen der Menschen in den Arbeiterkolonien ging und um die Aufbaujahre in der Bundesrepublik sowie speziell in Gladbeck. Den jungen Leuten wurde dabei schnell klar, dass sich ihre eigenen Probleme und Wünsche gar nicht so sehr von denen ihrer Eltern oder Großeltern unterscheiden, denn auch in den Nachkriegsjahren drehte sich vieles um die erste Liebe. Norbert Gerbig, der mit den Schülern die musikalischen Beiträge einstudierte, hat zum Stichwort „Liebe“ dann auch den seinerzeit bekannten Schlager „Schuld war nur der Bossa Nova“ mit in die Darbietung eingeflochten. Bei der Aufführung am 4. Juni 2010 in der Stadthalle wurden die Eltern und Großeltern der jungen Darsteller an die alten Zeiten erinnert, als noch regelmäßig ein Klüngelskerl durch die Straßen zog und viele Bergmänner Tauben hielten. Eis genoss man in Gladbeck in der Eisdiele Capri und nach der Maloche trafen sich die Kumpel auf ein Bier in der Glückauf Wirtschaft oder in der Gaststätte Dietzel.

Schachtzeichen und andere Aktivitäten des Geschichtskreises

Dass die ehemaligen Bergleute nicht ständig in Erinnerungen an ihre Zeit als Kumpel schwelgen, wurde uns schon bei unserem ersten Besuch beim Bergmannsfrühstück klar. Die Mitglieder des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke möchten aktiv die bergmännische Kultur pflegen und ihr Wissen über die Welt der Bergleute an die nachfolgenden Generationen weitergeben, denn nur, wer die Vergangenheit des Ruhrgebiets und seiner Bewohner kennt, kann die Zukunft gestalten. Deshalb, so berichten uns die ehemaligen Bergleute, engagieren sie sich besonders für Kinder und Jugendliche an Grund- und Hauptschulen und junge Leute mit Migrationshintergrund.

Im Freizeittreff Karo, in dem auch das Bergmannsfrühstück stattfindet, sprechen wir mit Bernard Brokamp, dem 2. Vorsitzenden des Vereins, der am 6. Juli 1958 in Damme im Kreis Vechta zur Welt kam. Sein Vater stammte aus einer großen Familie mit dreizehn Geschwistern und war selbst das jüngste Kind. Da er als Landwirt seine Familie in der Heimat nicht ernähren konnte, beschloss er im Jahr 1959 ins Ruhrgebiet zu ziehen. Zunächst wohnte die Familie in Erle, wo der Vater auf einem Bergwerk eine Arbeit fand und Bernard Brokamp die Schule besuchte. Weil sein älterer Bruder eine Ausbildung zum Elektriker auf dem Bergwerk Hugo machte, wurde der Familie im Frühjahr 1973 eine Werkswohnung angeboten. So stand ein Umzug nach Buer zum Brößweg 39 an, in ein Haus direkt neben dem Werkstor der Zeche, auf der auch Bernard Brokamp am 1. August 1973 eine Arbeit als Bergjungmann annahm. Nach einem Jahr konnte er nach der bestandenen Aufnahmeprüfung eine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Betriebsschlosser auf der Schachtanlage beginnen. Im Anschluss daran war er als Betriebsschlosser über Tage beschäftigt und hat anschließend weitere drei Jahre als Schlosser im Streckenausbau unter Tage gearbeitet, mit dem Ziel, sich für die Bergbaufachschule zu qualifizieren. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass ihn der Reviersteiger Treiber „angetrieben“ hat, wie er uns schmunzelnd berichtet. Doch zwischenzeitlich musste er zunächst in der Zeit von Januar 1978 bis März 1979 seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr in Münster ableisten, wo er nach der Grundausbildung als Schlosser eine eigene kleine Werkstatt innerhalb der Fahrzeugreparatur hatte. Er führte die gerade anfallenden Reparaturen durch und beendete seine Dienstzeit als Hauptgefreiter. Von 1984 bis 1986 besuchte er ganztags die Bergbaufachschule in Recklinghausen und wurde bis zum 23. Juli 1986 nach erfolgreich abgelegter Prüfung als Steiger in der Maschinentechnik auf dem Bergwerk Hugo eingesetzt. 1989 zog er, mittlerweile verheiratet und Vater von zwei Kindern, nach Gladbeck und wurde wegen der Schließung der Zeche Hugo ab Januar 2000 als Maschinensteiger zum Bergwerk Friedrich-Heinrich, dem späteren Bergwerk West in Kamp-Lintfort, verlegt. Nach zweieinhalb Jahren wechselte er im Jahr 2002 zur Zeche Auguste-Victoria nach Marl, wo er bis zum Eintritt in den Vorruhestand im Juli 2007 arbeitete.

Einige Zeit, nachdem die Familie nach Gladbeck umgezogen war, wechselte Bernard Brokamp auch in der Gewerkschaft zur IG BCE Ortsgruppe Gladbeck-Mitte, deren Bildungsobmann er bis heute ist. Über die Gewerkschaftsarbeit hat er Walter Hüßhoff kennengelernt, mit dem er den REVAG Geschichtskreis Zeche Graf Moltke ins Leben gerufen hat. Die Mitglieder setzen sich aus ehemaligen Bergleuten zusammen, die zunächst in die Schulen gingen, um den Schülern von der Arbeit unter Tage zu erzählen. Besonderes Interesse bestand bei den Schülern, etwas über die Ausbildungsberufe im Bergbau zu erfahren. So nahm Bernard Brokamp Kontakt zu der Ausbildungsabteilung der Zeche Prosper-Haniel auf, die daraufhin Berufsberatungen an verschiedenen Schulen in Gladbeck durchführte. Als von einigen Schülern eine gemeinsame Wanderung angeregt wurde, schlugen die Bergleute einen Fußmarsch auf der ausgewiesenen Fahrradtour „Auf den Spuren des Bergbaus“ vor. Im Laufe der Zeit wurde die Tour um verschiedene Stationen, wie beispielsweise die Moltke-Siedlungen, erweitert und es entstand der Bergbauwanderweg. Inzwischen wurde der Wanderweg von Grundschülern der Vincenz- und Uhlandschule streckenweise ausgeschildert und es wurden einige Schautafeln mit Erläuterungen sowie Bänke auf der Halde aufgestellt, die zum Verweilen einladen.

Der REVAG Geschichtskreis Zeche Graf Moltke beteiligte sich ebenfalls an den Schachtzeichen, die, wie uns Bernard Brokamp berichtet, nach einer Idee von Volker Bandelow verwirklicht wurden. Als das Ruhrgebiet im Jahr 2010 zur Kulturhauptstadt Europas erklärt wurde, sind an über dreihundert Standorten früherer Zechen vom 22. bis 30. Mai gelbe Heliumballone mit einem Durchmesser von 3,70 Meter aufgestiegen. In Gladbeck wurden an fünf Standorten die ehemaligen Bergwerke markiert, wobei auf dem ehemaligen Gelände der Schachtanlage Graf Moltke 3/4 sogar zwei Ballons aufstiegen. Das Luftfahrtunternehmen GEFA-Flug aus Aachen hat speziell für diese Aktion die zahlreichen Helfer geschult und der Geschichtskreis Zeche Graf Moltke hat dazu täglich Veranstaltungen angeboten: In einer Ausstellung wurde das Leben der Bergarbeiterfamilien in früheren Zeiten des Bergbaus gezeigt und in der Aktion „Kunst am Karo“ gestalteten Kinder den Gladbecker Golem. Ein geselliger Abend mit Musik und außergewöhnlicher Bewirtung wurde beim „Moltke- und Hugoranertreffen“ allen Interessierten geboten, und eine Radtour führte zu allen vier Schachtzeichen in Gladbeck.

Mitglieder des Geschichtskreises lassen den Ballon aufsteigen Foto © Bernard Brokamp

Ein Höhepunkt war das traditionelle Kinderschützenfest, wie es früher in den Bergbaukolonien gefeiert wurde. Schülerinnen und Schüler der Uhlandschule sorgten mit ihrer Aufführung „Karneval der Tiere“, ebenso wie die Auftritte der Jugendgarde der „Wittringer Ritter“ und der Kindergitarrengruppe Karo, für ein unterhaltsames Programm, das mit Spielen aus Omas Zeiten und einer Planwagenfahrt abgerundet wurde. Nach einem Aktionstag beim Stadtteilparkfest Butendorf und einem „Bergmannslauf“ mit dem „TV Einigkeit 1884“ rundete am letzten Tag ein Familien- und Nachbarschaftsfest die Veranstaltung ab.

Ausstellung im Freizeittreff Karo Foto © Bernard Brokamp

Einzigartig, und darauf sind die Mitglieder des Geschichtskreises besonders stolz, war eine Wiederholung der Veranstaltung im darauf folgenden Jahr vom 21. bis 28. Mai, für die extra eine Auflassgenehmigung für den Ballon und die Erlaubnis von Volker Bandelow eingeholt werden musste, um für die Aktion die Bezeichnung „Schachtzeichen“ verwenden zu dürfen. Das Gladbecker Schachtzeichen 2011 stand unter dem Motto „Ballon der Wünsche“ und konnte, wie bereits im Jahr zuvor, mit einem umfangreichen Programm aufwarten. Nach der Eröffnung einer Ausstellung zum Bergbau wurde im Anschluss ein „Kumpelmeilenlauf“ gestartet. Für die Jugendlichen wurde ein Fußballturnier veranstaltet und die Kinder konnten an einer Aktion mit der Gladbecker Jugendfeuerwehr teilnehmen. Ein geselliger Abend mit Musik und Currywurst war das „Moltke- und Hugoranertreffen“, an dem alle Interessierten teilnehmen durften. Neben einem Beachvolleyballturnier für mehrere Generationen, einer Radtour und dem Projekt „Das Leben der Bergarbeiterfamilien“ wurde in diesem Jahr ein „Kinder-Maifest“ mit Maibaumtanz und Spielen aus Omas Zeiten gefeiert. Für ein tolles Programm sorgten die Jugendgarde der „Wittringer Ritter“ und eine Breakdance-Gruppe. „Kunst am Karo“, ein Nachbarschaftstreffen der Moltke-Siedlungen I bis IV mit einem Skatturnier sowie der „Tag der Arbeitnehmerschaft“ mit Stockbrot am Lagerfeuer waren weitere Programmpunkte, bevor die Veranstaltungen auf dem Stadtteilparkfest Butendorf mit dem „Ballon der Wünsche“ zu Ende gingen.

Einmal im Jahr beteiligt sich der Geschichtskreis an der Ökumenischen Adventsfeier „Soziale Lichter im Advent“, zu der das IG BCE Regionalforum Gladbeck, die Sozialverbände und Vereine einladen. Die Adventsfeier findet wechselweise in der evangelischen Christuskirche oder der katholischen Lambertikirche statt und steht jedes Jahr unter einem anderen Motto, wie beispielsweise „Gewalt gegen Frauen“. Die gesammelten Spenden kamen in diesem Fall der Frauenberatungsstelle Gladbeck zugute. Seit 2012 wird im Rahmen der Feier die Auszeichnung „Töfter Kumpel“ für ehrenamtliches und soziales Engagement vergeben.

Gladbeck war vor der Bergbau-Ära überwiegend von Katholiken bevölkert, was sich mit dem Zustrom neuer Bevölkerungsgruppen schlagartig änderte. Eine evangelische Gemeindebildung wäre ohne den Bergbau in Gladbeck gar nicht möglich gewesen. Im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 entstand die Idee zu einer Ausstellungsreihe, die den Bergbau in die vier evangelischen Kirchen in Gladbeck holte. In Brauck wurde in der Petruskirche am Rosenhügel eine Ausstellung zum Thema „Leben und Arbeiten in Brauck“ gezeigt, zu der „Lieder aus der Kolonie“ gesungen wurden. In Rentfort hat man sich in der Martin-Luther-Kirche für eine Podiumsdiskussion entschieden, bei der die Rolle der Kohle in der zukünftigen Energiewirtschaft thematisiert wurde, während im evangelischen Gemeindehaus an der Söllerstraße in Zweckel eine Ausstellung „Kirche und Transport“ organisiert und Filmaufnahmen der ehemaligen Zechenbahn gezeigt wurden. Für die Ausstellung in der Christuskirche unter dem Titel „Kirche, Kohle, Kumpel“ haben sich die Mitglieder des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke ein Dreivierteljahr vorbereitet. In Zusammenarbeit mit acht Schülern, vier Mädchen und vier Jungen, haben sie mit Werkzeugen einen Türstockausbau aus Holz aufgebaut, wie er in den Anfängen des Bergbaus üblich war. Letztlich entstand eine Strecke von sieben Metern Länge und zwei Metern dreißig Breite. Im Keller der Erich-Fried-Schule wurden die Teile zusammengebaut, um sie später den Besuchern in der Christuskirche präsentieren zu können. In einer Ecke wurde eine Kaue mit Haken, die mit typischer Arbeitskleidung der Bergleute von der Decke hingen, errichtet und in einer Vitrine hat man Gegenstände aus dem Bergbau, wie alte Grubenlampen, ausgestellt. Eine Chronik vom Bergwerk Graf Moltke erklärte den Besuchern weitere interessante Details und vor der Kirche wurden zwei Tonnen Kohle aufgeschüttet, von der sich die Besucher ein Stück mitnehmen durften.

Wenn Bernard Brokamp nicht seinen Aufgaben als Knappschafts-Ältester nachgeht, repariert er mit Schülern der Erich-Fried-Schule alte Fahrräder, die am Ende der Fahrrad-AG unter den Teilnehmern verlost werden. Er unternimmt aber auch selbst mit seinem Fahrrad oder dem Motorrad Touren und fährt gerne mit seiner Frau zu seinem Campingplatz, wo er auch seinem Hobby aus frühester Jugend, dem Angeln, nachgehen kann.

Der Gladbecker Schwibbogen

Aufbau des Schwibbogens im Neuen Rathaus Foto © Dirk Brunngraber

Nun haben wir von Walter Hüßhoff und Bernard Brokamp bereits einiges über die beeindruckenden Aktivitäten des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke erfahren und wollen beim Bergmannsfrühstück von den ehemaligen Bergleuten etwas über ihre weiteren Projekte hören. Dazu erzählt uns Walter Häusler, dass es sich der Geschichtskreis zur Aufgabe gemacht hat, die Chancengleichheit für Arbeitnehmerkinder an den Schulen zu fördern. Um den Jugendlichen handwerkliche Tätigkeiten zu vermitteln, hatten sie die Idee, in einer AG an der Willy-Brandt- Förderschule in Zweckel einen Schwibbogen mit bergmännischen Motiven in der Größe von 2,50 x 5 Metern zu bauen. Er sollte in der Adventszeit vor dem Alten Rathaus aufgestellt werden. Für die Arbeiten brauchten sie wetterfestes Holz und die REVAG hat sich bereiterklärt, die Kosten für das Material zu übernehmen. Von September 2011 an haben sie über ein Jahr mit zwölf Schülern einmal in der Woche für zwei Stunden gesägt, gebohrt, geschraubt und die Arbeit im Team schätzen gelernt. Es hat den ehemaligen Bergleuten und den Schülern sehr viel Spaß gemacht und selbst Walter Matscheck hat mit seinen über achtzig Jahren mitgewerkelt. Obwohl noch, quasi in letzter Minute, das Stadtwappen gemalt werden musste, konnte sich das Ergebnis sehen lassen und hat am 28. November 2012 bei der Übergabe im Foyer des Neuen Rathauses viel Beifall gefunden. Es wundert uns, warum der Schwibbogen im Foyer des Neuen Rathauses aufgestellt wurde und nicht, wie geplant, vor dem Alten Rathaus. Wir hatten Befürchtungen, klärt uns Walter Häusler auf, dass der Schwibbogen im Freien durch Vandalismus beschädigt wird und deshalb haben wir uns in Absprache mit der Stadt auf den Standort im Neuen Rathaus geeinigt.

Einige Tage später treffen wir uns wieder zu einem gemütlichen Beisammensein im Haus von Walter Hüßhoff und freuen uns auf ein Interview mit Walter Häusler.

Vertriebene fanden Arbeit im Bergbau

Durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurden viele Volksdeutsche aus den ehemaligen Ostgebieten vertrieben, die sich zunächst über ganz Deutschland verteilten. Die Bergwerke waren schon seit ihrer Gründung auf neu angeworbene Bergarbeiter angewiesen, um den immer größer werdenden Bedarf an Kohle für die Stahlindustrie decken zu können. So warben sie auch bei den Vertriebenen neue Arbeitskräfte an. Um den jungen Männern, die fern ihrer Familien leben mussten, einen Anreiz zu bieten und sie ins Ruhrgebiet locken zu können, boten die Bergwerke ihnen eine Unterbringung in einem Lehrlingsheim an, einem sogenannten „Bullenkloster“.

Auch Walter Häusler gehörte zu diesen Vertriebenen, denn er wurde am 3. Oktober 1939 im ehemaligen Sudetenland geboren, genauer gesagt in Mährisch- Schönberg, wo auch schon seine Eltern aufgewachsen sind. Obwohl sein Vater nicht wehrdiensttauglich war, hatte man ihn trotzdem als Soldat eingezogen, jedoch nur im Westfeldzug eingesetzt. Stationiert war er in Meppen bei der Flak und bei einem Tieffliegerangriff am 4. August 1944 ist er in der Nähe von Meppen gefallen. Der nicht mal fünfjährige Walter wird seinen Vater kaum gekannt haben, mutmaßen wir. Umso erstaunter sind wir, dass er sich noch ganz genau an zwei Begegnungen erinnern kann: Einmal war sein Vater auf Heimaturlaub und malte mit Ölfarben, während Walter Häusler die Farben mit einem Pinsel mischen durfte. Stolz berichtet er, dass er sogar noch ein Bild aus dieser Zeit besitzt. Ein anderes Mal besuchte er mit seiner Mutter den Vater in Meppen. Er weiß nicht mehr, wie lange sie damals unterwegs waren. Aber er erinnert sich, dass der Weg über Berlin und Hannover führte.

Mit seiner Mutter, einer jüngeren Schwester und weiteren Verwandten ist er im Februar 1946 aus seiner Heimatstadt vertrieben worden. Die Tschechen gaben den deutschen Bewohnern gerade einmal zwei Stunden Zeit, um sich am Bahnhof einzufinden. Mit Güterwagen transportierte man sie in ein erstes Lager nach Hof an der Saale, kurz darauf ging es weiter nach Korbach in Nordhessen und letztlich sind sie in Fürstenberg gelandet. Dort wurde Walter Häusler mit sieben Jahren im Herbst 1946 eingeschult und besuchte bis Ostern 1951 die Volksschule. Danach das Gymnasium in Korbach, das er am 20. März 1958 mit der mittleren Reife abschloss.

Walter Häusler (links) mit Kollegen unter Tage Foto: Privatbesitz Walter Häusler

Doch bereits im Jahr zuvor fiel sein Blick auf eine Werbeanzeige der Zeche Graf Moltke in der Zeitschrift „Diaspora“, auf die er sich auch schriftlich bewarb. Und noch bevor er seinen Schulabschluss in der Tasche hatte, reiste er nach Gladbeck und unterschrieb im Januar 1958 einen Lehrvertrag. Aufgrund der mittleren Reife musste er nur eine zweieinhalbjährige Ausbildung als Bergmann machen und konnte die Prüfung damit um ein halbes Jahr vorziehen. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass der Eintritt in die Gewerkschaft verpflichtend war und erst mit dem Gewerkschaftsbeitritt konnte der Lehrvertrag abgeschlossen werden. Am 24. März 1958 ist er nach Gladbeck gezogen und meldete sich bereits einen Tag später zu seiner ersten Schicht. Anfangs wohnte er auf einem Zimmer mit fünf weiteren jungen Männern im Lehrlingsheim „Schürenkamp I“. Von seinem monatlichen Verdienst wurden die Kosten für die Unterkunft sofort abgezogen. Seine Wäsche wurde gewaschen und die Lehrlinge wurden voll verpflegt. Für neue Kleidung musste er allerdings mit einem Gutschein vorlieb nehmen, der für Oberbekleidung bei Rebbelmund und für Schuhe bei Kahlen eingetauscht werden konnte. Das Taschengeld staffelte sich nach dem Alter der Berglehrlinge. Als damals Achtzehnjähriger bekam Walter Häusler zehn Mark von seinem Verdienst jeweils am Freitag ausgezahlt, der Rest wurde auf einem Sparbuch angelegt.

Nach einem Jahr im „Bullenkloster“ war er es leid, dass er mit neunzehn Jahren um 22.00 Uhr und samstags um 23.00 Uhr zurück im Heim sein musste. Und so zog er es vor, als Kostgänger bei einer Familie auf der Ringeldorfer Straße unterzukommen. Als man das Zimmer später für den Eigenbedarf benötigte, kam er bis 1963 bei einer weiteren Familie auf der Hermannstraße als Kostgänger unter. In der fremden Umgebung und ohne seine Familie fühlte er sich natürlich einsam. Auf dem Meyplatz lernte er am 11. November 1958 an einem Autoskooter auf der Kirmes seine spätere Frau Karin kennen. Zu dem Zeitpunkt war Walter Häusler immerhin schon neunzehn, aber seine Karin erst sechzehn. Als 1962 geheiratet wurde, musste sie sogar noch das Einverständnis ihrer Eltern einholen, da man damals erst mit einundzwanzig Jahren volljährig wurde. Trotzdem konnte er mit seiner Frau erst ein Jahr später zusammen in eine Wohnung ziehen. In der Kohlberger Straße fand er bei einem Siedler eine Einliegerwohnung, für die jedoch eine Eheschließung Voraussetzung war. Innerhalb von vierzehn Tagen heiratete er zunächst standesamtlich und konnte eine 65 Quadratmeter große, dreieinhalb Zimmer Wohnung beziehen, was für damalige Verhältnisse schon etwas Besonderes war. Das Paar holte die kirchliche Trauung ein dreiviertel Jahr später nach und ist zwei Tage darauf zu einer Hochzeitsreise aufgebrochen, die sie an die italienische Adria, nach Rimini führte. Mit seiner frischgebackenen Ehefrau und seinem Schwager hatte er dort, das weiß er heute noch ganz genau, für die vierzehn Tage mit Vollpension 440 Mark bezahlt. Mit dem Schwager auf Hochzeitsreise? Nein, nein, berichtet er uns amüsiert, sein Schwager war natürlich in einem Einzelzimmer untergebracht. Das glückliche Paar freute sich im Mai 1964 über den ersten männlichen Nachwuchs, worauf noch zwei weitere Jungen folgten. Der Jüngste der drei Söhne ist übrigens in die Fußstapfen des Vaters getreten, Bergmechaniker geworden und arbeitete bis zu einem Bandscheibenvorfall zunächst auf der Zeche Hugo und dann auf der Zeche Fürst Leopold in Hervest.

Doch zurück zum Arbeitsalltag: Walter Häusler wollte unbedingt seine Wohnung behalten und das konnte er nur, wenn er weiterhin im Bergbau beschäftigt blieb. Aus diesem Grunde bildete er sich neben der regulären Arbeit noch weiter. Zunächst von 1960 bis 1963 auf der Berufsaufbauschule, wobei Schule und Ausbildung im ersten halben Jahr noch parallel zu bewältigen waren. Von Ostern 1964 bis zum Sommer 1966 besuchte er neben der Arbeit auf der Zeche noch die Bergschule in Hamborn. Drei Tage auf der Zeche arbeiten und drei Tage Schule, das war sein wöchentlicher Rhythmus, obwohl seine Kumpel bereits eine Fünftagewoche hatten. Noch bevor er überhaupt sein Steigerpatent in der Tasche hatte, bekam er einen Vertrag als Kohlensteiger. Auf der Zeche Graf Moltke hat er bis zur Schließung als Steiger gearbeitet und wechselte im Anschluss im Juni 1971 zur Zeche Hugo. Doch hier schmiss man ihn, der kaum Erfahrungen sammeln konnte, ins kalte Wasser, wie er es selbst ausdrückt. Denn er war in der Reparaturschicht um 24.00 Uhr eingesetzt und war damit dafür verantwortlich, dass die Frühschicht um 6.00 Uhr Kohle fördern konnte, egal wie! Hätte er nicht so zuverlässige Kumpel gehabt, die für ihn durch Dick und Dünn gingen, wäre er aufgeschmissen gewesen. Auf seine Leute konnte er sich verlassen, und das führt er darauf zurück, dass er sie als Steiger gut behandelte.

Bis zum Sommer 1982 hat er seinen Mann gestanden und für einen reibungslosen Ablauf gesorgt. Doch dann fesselte ihn eine verschleppte Lungenentzündung einige Tage ans Krankenhausbett, und er durfte keine Nachtschichten mehr machen. Bis zum 21. März 1987 wurde er daher nur noch in den 6.00, 12.00 und 18.00 Uhr Förderschichten eingeteilt. Danach wurde er in die Ausbildungsabteilung mit eigenem Kohlerevier unter Tage versetzt. Am 4. Februar 1993 fand seine letzte Untertageschicht statt, mit der er sich in den Vorruhestand begab, denn bis zu seiner Abkehrschicht am 31. März konnte er noch Urlaubstage und Überstunden abfeiern. Walter Häusler arbeitete fünfunddreißig Jahre und vier Schichten unter Tage, was mit einem vierzigjährigen Jubiläum gewürdigt wurde. Doch dass er, obwohl seine Lunge staubbelastet ist, nicht als B2-Mann anerkannt wurde, versteht er bis zum heutigen Tage nicht.

Hundert Jahre Bergbau in Gladbeck

Es kommt uns so vor, als hätten wir uns erst vor einer oder zwei Wochen zum letzten Bergmannsfrühstück getroffen, und wir sind wieder einmal überrascht, wie schnell ein Monat vorüber geht. Nachdem sich der Raum im Freizeittreff Karo nach und nach gefüllt hat, der Tisch gedeckt ist und alle einen Platz eingenommen haben, berichten wir von den bisher geführten Interviews. Es ist uns aufgefallen, dass die Mitglieder des Geschichtskreises nicht nur auf der Zeche Graf Moltke, sondern auch auf anderen Schachtanlagen gearbeitet haben. Wir sind deshalb neugierig zu erfahren, auf welchen Zechen die ehemaligen Bergleute noch beschäftigt waren. Doch die Antworten ernüchtern uns, denn fast alle sind auf der Zeche Graf Moltke und anschließend auf der Zeche Hugo eingefahren. Harald Wiesner, der nach der Schließung von Graf Moltke auf der Zeche Zollverein gearbeitet hat und Bernard Brokamp, der auf den Schachtanlagen Hugo, Friedrich Heinrich in Kamp-Lintfort und Auguste-Victoria in Marl beschäftigt war, bilden schon fast eine Ausnahme. Heinrich Neumann, das jüngste Mitglied im Geschichtskreis, hat seine Ausbildung bereits auf der Zeche Hugo absolviert und Manfred Basner berichtet uns, dass er zunächst auf der Zeche Scholven, später auf der Zeche Zweckel, danach auf Graf Moltke und zuletzt auf der Zeche Hugo gearbeitet hat. Wir sind ein wenig enttäuscht, denn wir hätten gerne mehr über die anderen Schachtanlagen in Gladbeck erfahren.

Dazu erklärt uns Walter Hüßhoff, dass es fünf Bergwerke in Gladbeck gab. Das erste Bergwerk war die Zeche Rieckchen an der Horster Straße, aus der später Graf Moltke 1/2 hervorging. Es folgte die Zeche Thyssen 1/2 in Rentfort, die später in Möllerschächte umbenannt wurde. In Brauck entstanden die Schachtanlagen Graf Moltke 3/4 und Mathias Stinnes 3/4, letztere befand sich zwar auf Gladbecker Boden, war aber nur eine Erweiterung der Zeche Mathias Stinnes auf dem angrenzenden Gebiet in Essen-Karnap. Das ist heute vielen Gladbeckern nicht klar und führt häufig zu Verwechslungen. Denn man muss wissen, führt Walter Hüßhoff weiter aus, dass auf Mathias Stinnes 3/4 in Brauck bereits im Jahr 1965 die Förderung eingestellt wurde und nur auf Mathias Stinnes 1/2 und 5 auf Essener Gebiet noch bis zum Dezember 1972 gefördert wurde. Die letzte Zechenschließung in Gladbeck fand demnach im November 1971 mit dem Bergwerk Graf Moltke statt, nachdem zuvor im März 1967 für die Möllerschächte Schicht im Schacht war. Schließlich gab es noch die Schächte der Zeche Potsdam in Zweckel, die später in Zeche Zweckel umbenannt wurde und die Schwesterzeche Berlin in der angrenzenden Bauernschaft Scholven, deren Name später auch nach ihrem Standort in Zeche Scholven geändert wurde.

Aus einer Glasvitrine mit Bergbaurelikten, die im Freizeittreff Karo steht, überreicht uns Walter Hüßhoff das Buch „Hundert Jahre Bergbau in Gladbeck“ von der ehemaligen Redakteurin Erna-Johanna Fiebig, die sich ausführlich mit der Bergbaugeschichte in Gladbeck beschäftigt hat. Bereits eine Woche später haben wir einen Termin zum Interview mit der Autorin, zu dem uns der Vorsitzende des Geschichtskreises begleitet.

Als langjährige Redakteurin und Redaktionsleiterin der WAZ hat Erna-Johanna Fiebig die Entwicklung der Stadt Gladbeck nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur begleitet, sondern hat sich mit ihrer Berichterstattung auch immer wieder in die Geschicke der Stadt eingemischt und für die Belange der Gladbecker Bürger eingesetzt. Ob Siemens-Werk, Glabotki oder Zweckler Maschinenhalle, Frau Fiebig hat sich engagiert und zeigte Zivilcourage, eine Eigenschaft, die heute vielen Zeitungsmachern, die nur noch die Rendite im Auge haben, fehlt. Wir besuchen Frau Fiebig in ihrer Wohnung in der Gladbecker Innenstadt und als erstes interessiert sie der Anlass für das Interview. Nachdem sie weiß, dass Sie als Zeitzeugin für das “Gladbecker Lesebuch“ über ihre Erlebnisse berichten soll, ist die 85- jährige Dame kaum noch zu bremsen.

Interview mit Erna-Johanna Fiebig Foto © Beatrix Petrikowski

Erna-Johanna Fiebig wurde am 16. April 1928 in Gladbeck auf der Wittringer Straße, die später in Allensteiner Straße umbenannt wurde, geboren. Ohne über das Datum nachdenken zu müssen, erinnert sie sich noch ganz genau an die letzten Kriegstage. In der Karwoche wurde Zweckel am 22. März 1945 bombardiert, einen Tag später traf es Schultendorf noch heftiger und am 24. März trafen die Bomben die Innenstadt von Gladbeck. 227 Bombenopfer waren an diesen Tagen zu beklagen und 311.000 Kubikmeter Trümmer lagen in den Straßen, wie ein Zeitungsausschnitt vom 24. März 1953 belegt. Auf der Rentforter Straße ist eine Straßenbahn völlig zerstört worden, ein Motiv, das der Maler Wilhelm Zimolong für eine seiner Trümmerzeichnungen als Vorlage verwendete. Am Gründonnerstag, es war der 29. März 1945, marschierten mit den Amerikanern die ersten Alliierten in Gladbeck ein. Frau Fiebig erinnert sich besonders gut an Captain Knight, der den Gladbecker Bürgern wohlgesonnen war. Er brauchte einen Ansprechpartner und machte Wilhelm Olejnik, der zuvor als Gewerkschaftsmitglied und wegen seiner sozialdemokratischen Parteizugehörigkeit inhaftiert war, zum Stadtverordnetenvorsteher.