Meine Frau kommt mit ihrem Mann - Beatrix Petrikowski - E-Book

Meine Frau kommt mit ihrem Mann E-Book

Beatrix Petrikowski

4,5

Beschreibung

Seit der gemeinsamen Schulzeit haben sich Dagmar und Andreas aus den Augen verloren. Nach fast vierzig Jahren finden sie zufällig wieder zueinander und tauschen Mails aus. Beide haben mittlerweile eine Familie gegründet, für die sie sich verantwortlich fühlen. Doch plötzlich flammen alte Gefühle wieder auf und stürzen beide in tiefe Konflikte.

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Für meine Kinder Marius, Carolin und Tobias

Paderborn – Dienstag, 21. Februar 2012, 0.41 Uhr

Meine Liebste,

zuerst hast du mir geschrieben, dass du dich von Philipp trennen und zu einer Anwältin gehen willst. Dann kam deine SMS, dass wir uns trennen, und deine lange Mail deshalb für mich nicht mehr so schlimm wäre. Ich liebe dich so sehr, dass ich das nicht ertragen kann. Die Vorstellung, dich nie wieder in meinen Armen zu halten, dich nicht mehr streicheln zu dürfen, dich nie mehr zu küssen... Ich habe dir gesagt, dass ich dich für immer lieben werde, bis zu meinem Tod, und das ist auch so. In zwei bis drei Stunden werde ich tot sein, und danach endet dann auch meine Liebe, denn von mir wird nichts bleiben.

Ich bin ein gefährlicher Psychopath, schreibt einer deiner Söhne, obwohl er mich gar nicht kennt. Ja, gefährlich stand auch auf meiner Akte im Heim, dann war ich ein gefährlicher Dealer, ein gefährlicher Schläger, ein gefährlicher Zuhälter. Was Leute, die mich gar nicht kennen, alles so über mich wissen...

Mir ist dann heute eingefallen, was damals auf meiner Geburtstagsfeier im Schrebergarten passiert ist. Als du so betrunken warst, und ich dir helfen wollte, hast du mich weggestoßen und gesagt, ich solle abhauen. Am nächsten Tag habe ich versucht, mich umzubringen. Doch das hat nicht geklappt. Mein Stiefvater hat mich grün und blau geschlagen, und ich bin dann einfach abgehauen. Doch ein Kollege hat mich verpfiffen, und so konnte mich mein Onkel finden, aber ich bin dann immer wieder für ein paar Tage in der Drogenszene abgetaucht.

Ich war heute an ein paar Orten, die mich an glückliche Momente mit dir erinnert haben, aber ich war einfach nur traurig. Ich habe den Schmetterlings-Anhänger an meine Kette mit dem Elefanten gemacht, damit die beiden zusammen sind. Neben mir liegt die Münze mit dem alten Ché. Sie hat mir kein Glück gebracht, doch er soll mich auf meinem letzten Weg begleiten, denn ich habe solche Angst vor dem Sterben...

Schreibe den Roman, denn während du daran schreibst, werde ich bei dir sein. Ich liebe dich bis zum letzten Atemzug!

Dein Andy

Inhaltsverzeichnis

Paderborn – Dienstag, 21. Februar 2012, 0.41 Uhr

Buer – Dienstag, 7. März 1972, 9.30 Uhr

Buer – Dienstag, 7. März 1972, 13.15 Uhr

Buer – Freitag, 21. April 1972, 18.00 Uhr

Buer – Montag, 5. Februar 1973, 8.05 Uhr

Buer – Donnerstag, 19. Juni 1980, 10.30 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 14.30 Uhr

Buer – Samstag, 24. Januar 1976, 9.00 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 15.15 Uhr

Waltrop – Donnerstag, 18. Mai 1989, 21.05 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 15.30 Uhr

Waltrop – Mittwoch, 5. Mai 2010, 14.30 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 16.45 Uhr

Waltrop – Sonntag, 12. Dezember 2010, 9.10 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 18.10 Uhr

Es war Anfang 1974

Im Sommer 1976

Im Sommer 1989

Waltrop – Montag, 17. Januar 2011, 19.25 Uhr

Waltrop – Mittwoch, 20. April 2011, 16.45 Uhr

Waltrop – Donnerstag, 21. April 2011, 8.30 Uhr

Waltrop – Karfreitag, 22. April 2011, 9.45 Uhr

Rinteln – Karfreitag, 22. April 2011, 18.10 Uhr

Waltrop – Karfreitag, 22. April 2011, 19.25 Uhr

Rinteln – Karfreitag, 22. April 2011, 23.20 Uhr

Waltrop – Karsamstag, 23. April 2011, 5.25 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 20.15 Uhr

Rinteln – Karsamstag, 23. April 2011, 11.05 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 20.50 Uhr

Waltrop – Ostersonntag, 24. April 17.30 Uhr

Rinteln – Ostersonntag, 24. April 2011 20.50 Uhr

Waltrop – Ostersonntag, 24. April 2011 21.30 Uhr

Rinteln – Dienstag, 25. April 2011, 0.15 Uhr

Waltrop – Mittwoch, 26. April 2011, 9.20 Uhr

Rinteln – Mittwoch, 11. Mai 2011, 14.30 Uhr

Waltrop – Donnerstag, 12. Mai 2011, 05.45 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 21.30 Uhr

Rinteln – Freitag, 20. Mai 2011, 22.40 Uhr

Waltrop – Sonntag, 22. Mai 2011, 06.30 Uhr

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 23.00 Uhr

Rinteln – Montag, 6. Juni 2011, 15.50 Uhr

Waltrop – Dienstag, 7. Juni 2011, 11.15 Uhr

Rinteln – Donnerstag 7. Juli 2011, 23.20 Uhr

Waltrop – Freitag 8. Juli 2011, 05.40 Uhr

Rinteln – Freitag 8. Juli 2011, 21.45 Uhr

Waltrop – Samstag, 9. Juli 2011, 7.30 Uhr

Rinteln – Samstag, 9. Juli 2011, 9.45 Uhr

Gladbeck – Mittwoch, 23. Mai 2012, 14.30 Uhr

Waltrop – Donnerstag 18. August 2011, 20.10 Uhr

Gladbeck – Mittwoch, 23. Mai 2012, 15.15 Uhr

Oelde – Montag, 5. Dezember 2011, 9.30 Uhr

Gladbeck – Mittwoch 23. Mai 2012, 20.00 Uhr

Waltrop – Dienstag, 21. Februar 2012, 0.05 Uhr

Gladbeck – Mittwoch, 23. Mai 2012, 22.20 Uhr

Buer – Dienstag, 7. März 1972, 9.30 Uhr

Gerade klingelt es zur großen Pause. Das wird aber auch langsam Zeit! Frau Middeldorf unterrichtet die Hauptschüler einer neunten Klasse in Buer im Fach Erdkunde und ihr Unterricht wirkt auf die Schüler wie eine Schlaftablette.

„Halt! Noch einen Moment! Als Hausaufgabe gebe ich euch …“, Frau Middeldorf verstummt, denn die Hälfte der Schüler hat schon längst den Klassenraum verlassen, und die übrig gebliebenen strafen ihre Lehrerin mit Missachtung.

An diesem Tag will sich die Sonne nicht zeigen und es ist für die Jahreszeit viel zu kalt. Die Schüler ziehen ihre warmen Jacken über und auf dem Schulhof bilden sich in der Pause einzelne, unterschiedlich starke Gruppen. Grob eingeteilt gibt es auf der einen Seite die strebsamen Schüler, die sich unbedingt von den ewig provozierenden, unangepassten und respektlosen Schülern distanzieren wollen. Schon alleine durch deren Äußeres, wie die Auswahl ihrer Kleidung oder Frisur, wollen sie mit allen Mitteln auffallen. Sie ahmen ihre Idole der 68er Bewegung nach, die einfach anders als ihre Eltern sein wollten und bei ihren Mitmenschen für Empörung gesorgt haben.

Dagmar und Viola gehören ebenfalls dieser Gruppierung an und lieben es, wenn sie überall sofort aus dem Rahmen fallen. Sie binden sich lange Tücher um den Kopf und besorgen sich extra aus einem Tabakgeschäft auf der Hochstraße in Buer Zigaretten mit schwarzem Papier. Die hat nicht jeder! Um die Handgelenke tragen sie Lederarmbänder, auf die sie mit farbigem Filzstift die unterschiedlichsten Bandnamen geschrieben haben. Wenn sie auch von einigen ihrer Mitschüler für mutig gehalten und wegen ihres couragierten Auftretens beneidet werden, so werden sie doch von den meisten als äußerst seltsam empfunden.

Beide zieht es auch in der heutigen Pause in den hinteren Bereich des Schulhofes, der von den Aufsicht führenden Lehrpersonen nur selten aufgesucht wird. Außerdem stehen dort immergrüne Sträucher, hinter denen man sich gut verstecken kann. Genau das beabsichtigen die beiden Mädchen, um sich ungestört eine Pfeife stopfen zu können. Fast alle Lehrer der Schule wissen sowieso schon seit längerem, dass in der Ecke gekifft wird. Aber da sie keine Ahnung haben, wie sie mit dem Problem umgehen sollen und kaum etwas ausrichten können, meiden sie bei ihren Rundgängen bewusst diesen abgelegenen Schulhofbereich. Auf diese Weise machen sie es sich bequem und gehen unnötigem Ärger aus dem Weg. Schließlich gibt es nur dort ein Drogenproblem, wo es öffentlich gemacht wird und wer nicht hinsieht, wird auch nichts finden. Zumindest scheinen sich alle Pädagogen daran zu halten, denn warum sollte die Schule mit negativen Schlagzeilen auf sich aufmerksam machen?

„Hast du noch was von dem Stoff, oder war das jetzt der Rest?“, fragt Dagmar, nachdem sie genüsslich an der Pfeife gezogen hat.

„Na klar hab ich noch was“, kommt die prompte Antwort von Viola. „Harald hat von seinem Vater mal wieder genug abzweigen können und hat mir großzügig was abgegeben. Echt korrekt von ihm.“

„Es ist schon krass, dass er den Shit auch noch so offen zu Hause herumliegen lässt, so dass Harald da ran kommt.“

„Hauptsache wir haben etwas. Alles andere interessiert mich nicht.“

„Ja, was geht es uns an?“, stimmt ihr Dagmar zu und nimmt noch einmal einen tiefen Zug.

Die Schulklingel kündigt das Ende der Pause an und ruft zur nächsten Unterrichtsstunde. Die Schüler begeben sich wieder in ihre Klassenräume. Nur Viola und Dagmar lassen sich Zeit. Jetzt, wo alle im Gebäude sind, können sie die Minuten der Ruhe erst einmal so richtig genießen. Wozu die Eile? Was kann ihnen schon passieren?

Als sie sich endlich auch im Klassenraum einfinden, ist ihr Mathematiklehrer Herr Langer schon mit dem Austeilen der letzten Klassenarbeit beschäftigt und trägt die beiden zu spät Kommenden ins Klassenbuch ein. Das ist für Dagmar und Viola zwar kein Grund zur Freude, aber die Welt wird davon auch nicht untergehen. Amüsiert reicht Herr Langer das Arbeitsheft Andreas und bittet die Schüler um kurze Aufmerksamkeit:

„Ich muss gestehen, dass es für mich bei den Korrekturen einer Klassenarbeit keinen Grund zum Schmunzeln gibt. Aber Andreas, der, ganz nebenbei bemerkt, die beste Mathearbeit abgeliefert hat, ist dieses seltene Kunststück tatsächlich gelungen. Ihr erinnert euch doch alle an die eine Aufgabe, bei der ihr die Frage beantworten solltet, für welche beiden Angebote eines Fernsehgerätes sich Herr Thomson entscheidet. Wer richtig gerechnet hat, musste zu dem Ergebnis gekommen sein, dass sich der Käufer für das günstigere Angebot B entscheidet. Doch welche Antwort lese ich von eurem Mitschüler? Seine Rechnungen sind völlig richtig, und auch Andreas ist zu dem Ergebnis gekommen, dass B das bessere Angebot ist. Doch seine Antwort lautet, einen Moment, gleich habe ich es: Ich kenne Herrn Thomson persönlich und weiß, dass er sich für das Angebot A entscheidet, aus dem einfachen Grund, weil er immer in diesem Geschäft kauft.“

Sofort wird es in der Klasse unruhig, und alle blicken in die Richtung zu Andreas. Auch Dagmar sieht sich kurz im Klassenraum um und trifft auf die Blicke ihres Mitschülers. Verschämt sieht sie schnell zur Seite. Ob er das jetzt bemerkt hat? Verdammt, natürlich hat der das gemerkt! Wenn du seinem Blick begegnet bist, muss er ja wohl auch… Verdammt! Wie blöd!

„Dagmar!“, hört sie Herrn Langer laut ihren Namen rufen.

„Ja, was ist?“, entgegnet sie verstört.

Natürlich hatte sie wieder einmal nichts vom Unterrichtsgeschehen mitbekommen, denn sie schwebt noch auf einer Welle der Glückseligkeit. Der leichte Rausch, der so viele Dinge im Alltag erst aushalten lässt, ist noch nicht verflogen, und dann hängt sie noch der Erinnerung an die Blicke dieses Jungen nach. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, aber der Gedanke daran lässt sie nicht los. Waren es wirklich nur seine Augen, die sie immer wieder so fesseln und magisch anziehen? Irgendetwas ist an ihm einfach anders! Es muss an seiner Art, sich auszudrücken liegen, und wofür er sich interessiert. Für politische Themen faszinieren sich eher die Älteren. Aber er spricht schon als Vierzehnjähriger wie selbstverständlich über Marx und Engels und scheint ihre Thesen auswendig gelernt zu haben. Dagmar erinnert sich daran, dass er überhaupt schon viel Anspruchsvolles gelesen hat. Erst kürzlich haben sie sich mit Kollegen vor einem Jugendheim darüber unterhalten. Da hat er ihr einen zensierten Kalender mit kommunistischen Texten geschenkt, nachdem sie sich interessiert gezeigt hat. Natürlich musste sie den zu Hause vor ihren Eltern schnell verstecken, denn mit ihnen hat sie sowieso schon genug Ärger.

Buer – Dienstag, 7. März 1972, 13.15 Uhr

Endlich ertönt die Klingel, die die Schüler für den heutigen Tag aus ihrer Pflicht entlässt. Eilig packen sie ihre Bücher, Hefte und Stifte in ihre Taschen und verlassen den Klassenraum.

„Ich finde, Dagmar benimmt sich immer merkwürdiger. Langsam habe ich das Gefühl, sie übertreibt“, meint Tim.

Friedrich und Elke haben den gleichen Weg nach Hause und schlendern neben Tim, der fortfährt: „Und heute, fürchte ich, hat sie sich so richtig bei dem Langer unbeliebt gemacht.“

„Wieso?“, meint Elke. „Nur weil sie wieder ein paar Minuten zu spät kam? Das juckt die überhaupt nicht. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, hat sie bei dem langweiligen Unterricht auch nichts verpasst. Ich finde sie ganz in Ordnung. Sie sagt jedem ihre Meinung und man kann sich hundertprozentig auf sie verlassen, was man nicht gerade von jedem sagen kann.“

„Jetzt fang’ du auch noch an und nimm sie in Schutz! Ich bleibe dabei, dass sie den Bogen manchmal überspannt. Und dann diese ewige Kifferei, die kriegt doch kaum noch etwas mit, so zugedröhnt, wie sie manchmal ist“, meint Tim.

„Ja, da hast du Recht. Überhaupt finde ich, dass Dagmar immer schon etwas komisch und seltsam war“, stimmt ihm Friedrich zu. „So Leute, ich muss jetzt hier abbiegen, weil ich heute noch zu meiner Tante muss. Bei irgendetwas soll ich ihr helfen. Viel lieber würde ich auf den Fußballplatz gehen, aber meine Tante gibt mir immer ein großzügiges Taschengeld, das ich auch gut gebrauchen kann. Also, macht’s gut! Wir sehen uns morgen früh, gleiche Zeit, gleicher Ort.“

Ein paar Jungen hängen noch eine Weile vor dem Schulgelände ab und setzen sich auf die breiten Stufen, die direkt zum Eingang in die große Aula führen.

„Hast du mal eine Zichte?“, fragt Hans-Jürgen seinen Kumpel, der ihm mit einem vorwurfsvollen Blick die Schachtel reicht. „Bist du wieder blank und musst schnorren?“

Ein zögerliches „so in etwa“ ist alles, was Hans-Jürgen hervorbringt, denn er weiß, dass er auch einmal eine Schachtel spendieren müsste. „Was machst du eigentlich zu deinem Geburtstag?“, will Andreas von Wolfgang wissen.

„Ich hoffe, dass meine Alten nichts dagegen haben und mich im Schrebergarten feiern lassen. Ich hab’ schon mal einen Blick auf den Kalender geworfen. In diesem Jahr kommt das echt blöd aus. Der 19. April fällt auf einen Mittwoch. Unter der Woche kannst du eine Feier vergessen, da kommt niemand. Also kann ich frühestens am Freitag eine Fete geben, das wäre dann am 21sten. Wieso fragst du?“

„Du weißt doch, dass wir am gleichen Tag Geburtstag haben. Können wir den nicht zusammen feiern? Dann teilen wir uns auch die Kosten und ich frage meine Ma, ob sie für uns einen Salat oder so macht.“

Günter findet die Idee Klasse: „Au ja! Das wäre was – mal wieder so eine richtige Party. Dann müsst ihr aber auch ein paar Mädels einladen!“

„Meinst du?“, fragt Wolfgang und sieht schon bessere Chancen seine Eltern zu überreden, wenn er ihnen eine Beteiligung an den Kosten anbieten kann.

Rainer wird allein bei dem Gedanken an Mädchen ganz anders und ruft aufgeregt: „Genau! Das wär’s! Für die Mädels müsst ihr unbedingt Bowle und so ein Zeug machen. Darauf fahren die nämlich ab, weiß ich von meiner älteren Schwester!“

„Hör mal, nur so nebenbei, wenn du schon von Mädchen sprichst“, bemerkt Andreas mit einem Seitenblick auf Hans-Jürgen. „Dass du es weißt, und ihr alle könnt euch das auch gleich hinter die Ohren schreiben: Von Dagmar lasst ihr eure Finger. Das ist mein Mädchen!“

„Oh, oh… was sind denn das für Töne?“, macht sich Wolfgang über Andreas lustig.

„Verliebt, was?“ Hans-Jürgen grinst frech und Rainer setzt noch eins drauf: „Hast du schon mit der?“

„Meiin Määdchen“, ahmt Wolfgang Andreas nach und biegt sich fast vor Lachen. „Von der sollen wir unsere Finger lassen. Habt ihr das gehört, Jungs? Dabei hat mit der doch schon fast jeder. Die nimmt es nicht so genau und lässt jeden ran!“

„Ach leckt mich doch alle! Ihr könnt mich mal. Aber lasst euch das gesagt sein: In dem Punkt verstehe ich keinen Spaß!“ Andreas wendet sich wütend ab und würdigt seine Schulkameraden keines Blickes mehr.

„Komm, so haben wir das nicht gemeint. Jetzt stell dich nicht so an!“, ruft ihm Hans-Jürgen hinterher und versucht zu beschwichtigen. Aber Andreas hat sich schon auf und davon gemacht.

„So kenne ich Andreas gar nicht“, sagt Wolfgang kleinlaut. „Der ist jetzt ganz schön sauer. Den lassen wir lieber erst mal in Ruhe!“

Buer – Freitag, 21. April 1972, 18.00 Uhr

Endlich ist es so weit: Heute soll die große Gartenfete steigen! Nur spielt das Wetter leider überhaupt nicht mit, denn für die Jahreszeit ist es immer noch deutlich zu kalt. Immerhin ist es heute trocken geblieben und die jungen Leute wollen sich ihren Spaß nicht nehmen lassen. Wie eine Handvoll anderer Mädchen ist Dagmar ebenfalls von Wolfgang zu seinem fünfzehnten Geburtstag eingeladen worden. Fast wäre die Party aber schon ins Wasser gefallen, denn Wolfgang hatte sich lange nicht getraut seine Eltern zu fragen. Er wartete immer auf einen günstigen Moment, der aber nie kam, weil seine Eltern völlig überarbeitet und deshalb gereizt waren. Schließlich blieb ihm aber nichts anderes übrig und er musste sie über seine Pläne in Kenntnis setzen, denn mittlerweile hatte er schon mehrere Einladungen an seine Freunde ausgesprochen. Nicht auszudenken, wenn ihm noch ein Strich durch die Rechnung gemacht worden wäre. Wie stände er dann vor seinen Freunden da? Wo die meisten schon ihr Kommen zugesichert haben und dem Ereignis entgegenfiebern. Längst hat es sich auch wie ein Lauffeuer in der Schule herumgesprochen, dass Wolfgang und Andreas gemeinsam ihre Geburtstage feiern werden. Gerade so eine Gartenfete gibt es nicht alle Tage und ist daher etwas Besonderes!

Wolfgang fühlt sich wie ein Hahn im Korb, denn mit einem Mal steht er im Mittelpunkt, und alles dreht sich nur um ihn. Die Mädchen hatten ihn vor der Einladung kaum beachtet. Jetzt wird er von den Mädchen belagert und kostet das richtig aus. Die süßesten Dinger wollen auch zu seiner Party eingeladen werden und haben versucht, sich bei ihm einzuschmeicheln. Hinter dem Rücken von Andreas hat er Dagmar ebenfalls eine Einladung zukommen lassen, wovon Andreas natürlich Wind bekommen hat. Als er ihm dann auch noch gestehen musste, dass sie bereits zugesagt hat, war Andreas enttäuscht, denn sie sollte zu seinem Geburtstag kommen, und er wollte sie selbst einladen. Aber letztendlich war er froh, dass sie überhaupt kommen würde, und so hat er sich mit Wolfgang auf die Planungen und Vorbereitungen gestürzt. Beide würden sie ihren fünfzehnten Geburtstag feiern und Wolfgang hoffte, bei dieser Gelegenheit ein wenig mehr Erfahrungen mit den Mädchen sammeln zu können. Vielleicht ist ja etwas Fummeln drin, oder wenigstens ausgiebiges Knutschen.

Andreas hat in diesem Punkt aber konkretere Vorstellungen und eindeutige Absichten! Noch ist es ihm nicht einmal gelungen Dagmar zu küssen. Aber er träumt schon seit längerem von ihr, sie zu streicheln, überall zu streicheln, sie ganz langsam auszuziehen. Überall würde er sie küssen wollen und bei dem Gedanken, wie sie mit ihren Händen über seinen Rücken fährt und sich dann langsam immer weiter nach unten tastet, wird ihm ganz schwindelig. Natürlich ist er sich seiner Verantwortung bewusst und hat vorgesorgt. Eine Packung Kondome hat er extra für den heutigen Abend besorgt und für den Fall aller Fälle auch noch eine wärmende Decke eingepackt. Schließlich soll Dagmar nicht frieren müssen. Auf das Gerede der anderen, dass Dagmar es mit jedem treibt, gibt er nichts. Wahrscheinlich geben sie nur an und würden selbst gerne mal mit ihr alleine sein. Die wollen sich bestimmt nur wichtig tun! Dagmar ist bestimmt kein Mädchen die so leicht zu haben ist. Ob sie wohl noch Jungfrau ist? Dann hat sie vielleicht Angst und traut sich gar nicht? Wovon hat Rainer noch gleich gesprochen? Von einer Bowle, auf die die Mädchen abfahren? Die könnte Dagmar etwas lockerer machen. Wenn dann alles gut läuft, dürften die Leute nur nicht zu lange bleiben, und er muss Wolfgang dazu überreden, ihm für ein Stündchen die Laube zu überlassen.

Auf dem Weg zur Party treffen sich zufällig Dagmar und Friedrich und da sie, wie sich schnell herausstellt, dasselbe Ziel haben, gehen sie den Rest gemeinsam. Schon von weitem hören sie die Musik aus den Lautsprechern dröhnen – Lola, ein Dauerbrenner von den Kings. Das macht es für sie einfach, den richtigen Garten in der weiträumigen Anlage zu finden, denn bei den vielen Wegen kann man sich schnell verlaufen. So müssen sie nicht lange suchen und erreichen gut gelaunt das Eingangstor. Andreas tritt gerade aus der Gartenlaube und sieht Dagmar mit Friedrich zusammen ankommen. Enttäuscht macht er auf dem Absatz kehrt und zieht sich zurück. So ist das also, denkt er sich, Friedrich hat sich an Dagmar herangemacht. Und dabei tut er immer so scheinheilig. Als würde ihm nichts an Dagmar liegen. Wenn die schon zusammen hier aufkreuzen, läuft da ganz sicher was. Nur weiß ich noch nichts davon.

„Schön, dass ihr gekommen seid“, werden Dagmar und Friedrich von Wolfgang begrüßt. „Was wollt ihr trinken? Friedrich, du willst sicher ein Bier. Und du, Dagmar? Möchtest du ein Glas Bowle. Hat Andreas extra für euch Mädels gemacht.“

Friedrich greift dankend nach der angebotenen Flasche Bier, öffnet sie mit einem gekonnten Griff und nimmt sofort einen kräftigen Schluck. Er sieht sich um und stürzt gleich auf Viola zu, die verträumt in einer Hollywood-Schaukel abhängt.

Dagmar probiert von der Bowle, trinkt das Glas in einem Zug leer und meint, dass da ja wohl gar nichts hinter wäre. Sofort lässt sie sich das Glas auffüllen. Get It On von T. Rex wird jetzt gespielt, nicht gerade der Musikgeschmack von Dagmar. Sie steht im Moment mehr auf Pink Floyd. Gemeinsam mit Renate beschließt sie auch erst einmal etwas zu essen. In dem kleinen Gartenhäuschen gibt es verschiedene Salate, Frikadellen und einen Topf mit heißen Würstchen.

Dagmar nimmt sich einen Pappteller: „Ich nehme von dem Nudelsalat. Willst du auch etwas davon?“

„Nee, ich nehme mir lieber von dem Kartoffelsalat und dazu eine Wurst.“

Während sie auf einer Bank Platz nehmen und sich ihr Essen schmecken lassen, sehen sie den anderen zu. Auf dem Rasen tanzen einige Gäste zu Chirpy Chirpy Cheep Cheep von Middle of the Road, andere umarmen sich und tauschen erste Küsse. Dagmar trinkt ein Glas Bowle nach dem anderen und merkt, wie sie langsam immer betrunkener wird.

Wolfgang ergreift die Gelegenheit und will die Gunst der Stunde nutzen. Er legt einen Arm um Dagmars Hüfte und schiebt sie bis hinter das Gartenhaus. „Komm, stell dich nicht so an“, haucht er ihr ins Ohr. Er presst sie gegen einen Zaun, drückt sich an sie und will ihr einen Kuss geben. Doch sie wehrt sich mit Händen und Füßen und schreit: „Lass mich los, hau ab, lass mich los!“ Obwohl ihr Magen rebelliert und sich in ihrem Kopf alles dreht, gelingt es ihr, sich von ihm zu befreien. Schleunigst geht sie wieder zurück zu den anderen und lässt Wolfgang einfach stehen.

„Hast du Dagmar gesehen?“, hört Andreas eine Stimme hinter sich. „Die hat ganz schön was intus. Als sie hier ankam, war die schon zugedröhnt. Total bekifft.“

Andreas hat selbst eine Tüte geraucht, nachdem die Bowle fertig war und er sich auf den Weg machen wollte. Er braucht das, um das Elend dieser Welt, wie er sagt, besser ertragen zu können. Jetzt sorgt er sich aber um Dagmar, zumal sie offensichtlich mehr von der Bowle getrunken hat, als ihm lieb ist. Überall hält er nach ihr Ausschau, doch kann er sie nirgendwo entdecken. Er klettert auf eine Bank, um einen besseren Überblick zu haben. Das darf doch nicht wahr sein! Da hinten kniet sie auf dem Rasen und muss sich immer wieder von neuem übergeben. Sein schlechtes Gewissen sagt ihm, dass die Bowle wohl doch zu stark geraten ist. Vielleicht hätte er den zusätzlichen Weinbrand weglassen sollen. Obwohl ihm bereits beim Anblick übel wird, geht er zu ihr: „Dagmar, kann ich dir irgendwie helfen?“

„Hau ab und lass mich in Ruhe!“, ist alles, was sie ihm schroff entgegnet.

Das hat gesessen! Sein Mädchen, das Mädchen seiner Träume, lässt ihn eiskalt abblitzen. Schon seit Wochen, nein, seit Monaten träumt er davon, sie einmal in seine Arme zu nehmen. Möchte sie einmal streicheln, ihre Haut fühlen, ihren Geruch wahrnehmen. Natürlich hat er gehofft, dass das auf Gegenseitigkeit beruht und sie auch etwas für ihn empfindet. Für ihn ist sie etwas Besonderes, ein ungewöhnliches Mädchen und in allem, was sie sagt, viel kritischer als die anderen. Wie gerne hat er ihr immer im Unterricht zugesehen, wenn sie etwas erklärt hat. Aber noch mehr hat er an ihr gemocht, wenn sie sich über eine Ungerechtigkeit aufgeregt hat. Dann hat sie immer so einen Blick, der ihn fasziniert. Wenn er abends in seinem Bett lag und nicht einschlafen konnte, dann nur deshalb, weil er immer ihr Bild vor Augen hatte. Und jetzt schickt sie ihn einfach weg und sagt, dass er abhauen soll. Das tut weh! Gut, aber er hat verstanden. Er wird sie nie wieder ansprechen. Es gibt genug Mädchen auf dieser Welt. Mädels, ich komme!

Dass Dagmar den Satz schon bereut hat, bevor sie ihn überhaupt ausgesprochen hat, kann er nicht wissen. Er ahnt es nicht einmal. Und er weiß auch nicht, wie peinlich es ihr war, dass ausgerechnet er, den sie so sehr mag, sie in dieser Situation antreffen musste. Vollgekotzt und in erbärmlicher Verfassung.

Buer – Montag, 5. Februar 1973, 8.05 Uhr

Nach dem unangenehmen Vorfall im Schrebergarten hat sich Andreas enttäuscht zurückgezogen. Dagmar hat ihn in den folgenden Wochen kaum noch gesehen, da er auch dem Schulunterricht immer häufiger fern blieb. Gelegentlich hat sie ihn mit Leuten, die sie nicht kannte, in der Klamotte, im Wagenrad, dem Lokal ohne Namen oder in der Lanze1 gesehen, aber zu einem Gespräch ist es zwischen ihnen nie mehr gekommen.

An der Hauptschule in Buer haben in diesem Jahr qualifizierte Schüler die Möglichkeit, eine zehnte Klasse zu besuchen und die Schule mit der mittleren Reife abzuschließen. Wie jeden Morgen begrüßen sie ihre Lehrerin, wenn die ihre Tasche auf dem Pult ablegt: „Guten Morgen Frau Wagener.“

Etwas zögerlich kommt ihre Antwort: „Guten Morgen. Ich hoffe, ihr habt ein schönes Wochenende verbracht. Einige von euch haben sicher das herrliche Wetter genutzt und sind zum Rodeln ins Sauerland gefahren. Na ja, das hätte ich auch gerne gemacht, aber ich musste mich erst um meine kranke Mutter kümmern und dann wollte ich endlich auch eure Arbeiten korrigieren. Egal.“

Den Schülern fällt die Unruhe von Frau Wagener auf, die etwas unsicher im Klassenraum auf und ab geht. Wieso redet sie um den heißen Brei und erzählt ihnen von ihrer kranken Mutter? Was hat das zu bedeuten? Wird sie vielleicht versetzt und wechselt zu einer anderen Schule? Ist sie selbst krank und wird für längere Zeit ausfallen? Alle warten gespannt auf ihre nächsten Worte und blicken erwartungsvoll auf ihre Lehrerin. Im Klassenraum ist es gespenstisch still. Endlich holt Frau Wagener tief Luft und setzt zum Sprechen an: „Was ich euch heute zu sagen habe… es fällt mir jetzt wirklich nicht leicht, und ich habe lange überlegt, wie ich es euch sagen soll. Aber es nutzt ja nichts: Euer Mitschüler Andreas wird unsere Schule nicht weiter besuchen.“

Die Schüler sehen sich fragend an, keiner weiß etwas zu sagen, es herrscht betretenes Schweigen. Fast gleichzeitig erwachen alle allmählich aus ihrer Lethargie. Die ersten rutschen nervös auf ihren Stühlen hin und her, es wird getuschelt. Ihre Lehrerin weiß auch nicht so recht, ob sie jetzt einfach zum Unterrichtsgeschehen übergehen soll und beschließt, ihren Schülern erst noch etwas Zeit zu lassen, um die Information sacken zu lassen. Plötzlich stürmen eine Menge Fragen auf sie ein: Was ist geschehen, warum kommt er nicht wieder, ist er krank, hat er die Schule gewechselt, ist er verzogen. Frau Wagener weiß nicht so recht, was sie antworten soll. „Es tut mir leid. Aber mehr Informationen habe ich auch nicht bekommen. Mir ist lediglich von der Schuldirektion mitgeteilt worden, dass Andreas nicht mehr am Unterricht teilnimmt und sich daran nichts mehr ändern wird.“

Nach einem ersten Schock haben sich alle schließlich doch wieder beruhigt. Wenn man es genau nimmt, macht es für sie kaum einen Unterschied. Denn oft haben sie Andreas bisher in diesem Schuljahr sowieso nicht gesehen. Niemand von ihnen wusste, warum er der Schule fern blieb, wo er sich währenddessen herumgetrieben und was er in der Zeit angestellt hat. Nur sporadisch ist er ohne eine Vorankündigung erschienen und hat am Unterricht teilgenommen. Und genau so unvermittelt, wie er auftauchte, ist er auch wieder verschwunden, ohne je eine Erklärung abgegeben zu haben.

Die reguläre Schulzeit endete zu der Zeit nach neun Jahren und im Anschluss konnte man entweder eine Ausbildung beginnen oder bei einem entsprechenden Notendurchschnitt noch ein weiteres Jahr die Schule besuchen, um so die Qualifikation für die Fachoberschulreife zu erlangen. Diese Möglichkeit besteht erst seit dem letzten Jahr an dieser Schule, und es haben sich insgesamt weniger als zwanzig Schüler dazu entschlossen von dem Angebot Gebrauch zu machen. Zu dem neuen Klassenverband gehören auch Schüler aus einem benachbarten Stadtteil, weil die Einrichtung eines zehnten Schuljahres ohne diesen Neuzugang unrentabel gewesen und gar nicht zu Stande gekommen wäre. Für diese Mädchen und Jungen war Andreas quasi ein Fremder, den sie nur sehr selten zu Gesicht bekamen. Seine Abwesenheit für die restlichen Monate bis zu ihrem Abschluss macht für sie kaum einen Unterschied. Sie haben sich am ehesten mit der Situation abgefunden, dass er nun endgültig dem Unterricht fern bleiben würde.

Die Wochen vergehen, das Frühjahr zieht ins Land und das Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“ bewahrheitet sich auch in diesem Fall wieder. Die Erinnerungen an Andreas verblassen immer mehr, so dass es ihn auch für Dagmar bald schon nicht mehr gibt. Neuerdings trifft sie sich immer häufiger mit einem drei Jahre älteren Jungen, den sie in einem Jugendheim kennen gelernt hat. Sie selbst wird bald eine Ausbildung beginnen, während ihr neuer Freund Philipp seine schulische Laufbahn mit dem Abitur abschließen und im Anschluss ein Jurastudium in Münster beginnen wird. Für seine Ortswahl hat er allerdings zur Bedingung gemacht, dass Dagmar ihm nach Münster folgen soll, sobald sie ihre Ausbildung beendet hat.

1 Bis auf das Lokal ohne Namen, das immer noch eine Jugendkneipe, wenn auch im anderen Stil, ist, existieren die genannten Lokale heute nicht mehr.

Buer – Donnerstag, 19. Juni 1980, 10.30 Uhr

Es regnet unaufhörlich und dazu ist es viel zu kalt für die Jahreszeit. Besonders zum Heiraten ist es kein schöner Tag, aber wer kann schon bei den Hochzeitsplanungen absehen, welches Wetter vorherrschen wird? Vor dem Rathaus in Buer quält sich eine kleine Menschengruppe vom Polizeipräsidium kommend, wo sie ihre Autos parken konnten, über die verkehrsreiche und mehrspurige De-La-Chevallerie-Straße. Der kräftige Wind macht es den Frauen fast unmöglich, ihre Regenschirme zu halten und dafür zu sorgen, dass sie einigermaßen manierlich das Standesamt erreichen. Zu allem Überfluss müssen sie auch noch auf die Straßenbahnschienen achtgeben um nicht mit den Schuhabsätzen stecken zu bleiben.

Fröstelnd erreicht die Hochzeitsgesellschaft schließlich den schützenden Bereich des Gebäudes und hat sich wartend vor dem Trausaal versammelt. Ein Standesbeamter begrüßt sie freundlich und bittet sie, einzutreten.

„Wir haben uns hier versammelt, um …“, Dagmar hört nur mit halbem Ohr die Worte des Standesbeamten. . „…den hier anwesenden Philipp… dann antworten Sie laut und deutlich mit einem JA.“

Ein schwaches „Ja“, bringt sie gerade noch über ihre Lippen. Doch der Rest der eigentlichen Trauung rauscht nur so an ihr vorbei, weil es ihr gar nicht gut geht. Um nicht zu sagen, ihr geht es richtig schlecht. Nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt, bei dem ihr die Ärzte äußerste Bettruhe verordnet haben, ist sie immer noch sehr geschwächt. Beinahe hätte das zur Folge gehabt, dass die geplante Trauung im Hospital vollzogen worden wäre. Immer noch hat sie keinen Appetit und klagt häufig über Übelkeit.

Eigentlich sollte die standesamtliche Eheschließung an ihrem Wohnort in Münster stattfinden. Doch aus Rücksicht auf die Verwandtschaft hat man sich dann doch auf Buer geeinigt, wo Philipp und Dagmar schließlich auch aufgewachsen sind. Ihre Eltern waren schon lange der Meinung, dass es endlich Zeit für eine Vermählung wäre. Nach so vielen Jahren, in denen sie bereits in „wilder Ehe“ zusammen gelebt haben. Besonders die Mutter von Philipp trägt es ihnen nach und hat sie immer wieder fühlen lassen, dass dieser Zustand nicht ihre Zustimmung gefunden hat. Aber so wirklich anerkennen kann sie die Trauung auch jetzt noch nicht. Nach ihrem Verständnis wird eine Ehe nicht auf einem Standesamt geschlossen, sondern vor Gott in einer Kirche.

Gladbeck – Dienstag, 22. Mai 2012, 14.30 Uhr

Dagmar ist mittlerweile vierundfünfzig Jahre und lebt in Gladbeck. Vor wenigen Wochen ist sie erst aus Waltrop, einer nördlich im Ruhrgebiet gelegenen kleinen Stadt, hierher gezogen. Bei einer organisierten Radtour des örtlichen Anbieters Heinrich Praß, der nicht nur Fahrten in der näheren Umgebung, sondern auch in Europa und sogar auf anderen Kontinenten anbietet, hat sie Marianne kennen gelernt und in ihr eine neue Freundin gefunden. Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden.

Heute haben sie sich zufällig in der Fußgängerzone getroffen und setzen den Stadtbummel gemeinsam fort. An einigen schön dekorierten Schaufensterauslagen unterbrechen sie ihren Gang. Leider blicken sie in viele leer stehende Geschäftslokale, in denen lediglich Hinweisschilder mit den Telefonnummern der Vermieter die Auslagen zieren. Wie schon in anderen Städten zu beklagen ist, zeichnet sich auch hier eine ähnliche Entwicklung ab. Immer mehr traditionelle Geschäfte schließen im Ruhrgebiet ihre Pforten, was einen inflationären Leerstand zur Folge hat. Wo einst mehrstöckige Kaufhäuser die Kundschaft anlockten, ragen nur noch zu Schrottimmobilien verkommende Gebäude in den Himmel. Gigantische, aus dem Boden gestampfte Einkaufscenter in Oberhausen und Essen locken dagegen die Kunden an und zwingen örtliche Händler in die Knie. Aber genau diese in die Nachbarstädte abgewanderten Kunden beklagen die zunehmende Verwaisung ihrer Städte. Auf der anderen Seite ist eine allgemein schwindende Kaufkraft zu verzeichnen. Bei den mittellos gewordenen Bürgern ist einfach nichts zu holen und so stehen selbst schon die ersten Ladenlokale in den neuen Centern leer und geben ein trauriges Bild ab. Die Menschen im Ruhrgebiet haben enorm unter dem Strukturwandel zu leiden. Ihr knapper werdendes Geld müssen sie mehr denn je zusammenhalten. Die einzigen, die von dieser Entwicklung zu profitieren scheinen, sind sogenannte Billigketten, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen.

„Sollen wir uns in ein Eiscafé setzen? Ich habe heute meinen spendablen Tag und gebe dir etwas aus!“ sagt Marianne mit Blick auf die vielen einladenden Tische. Im Schatten der großen Bäume lässt es sich herrlich ausspannen. Es ist der erste richtig warme Tag in diesem Jahr. Nach verheißungsvollen Tagen im März mit viel Sonnenschein war das Frühjahr viel zu kalt. Selbst zu Ostern hat das Wetter die Hoffnung der Biergartenbetreiber nicht erfüllen können.

Dagmar hatte zwar andere Pläne für den heutigen Tag, aber was soll’s? Warum soll sie nicht die Einladung annehmen und sich einfach mal eine Auszeit nehmen? Es wird ihr gut tun, ein paar Worte mit Marianne zu wechseln.