Ein Leben für die Kinder – Erich Häßler 1899–2005 - Gabriele Schluttig - E-Book

Ein Leben für die Kinder – Erich Häßler 1899–2005 E-Book

Gabriele Schluttig

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Beschreibung

"Kinder sind unsere Zukunft." Von seinem medizinischen und menschlichen Vermächtnis, seinem langen Bemühen um kranke und gesunde Kinder und seinen medizinischen Erfolgen handelt das Buch von Dr. Gabriele Schluttig "Ein Leben für die Kinder". Es zeigt nicht nur die vielen medizinischen Erfolge, die er gerade bei der Einhegung von Kinderkrankheiten durch Impfungen und moderne Behandlungsmethoden erreichte. Vielmehr gibt es uns auch einen tiefen Einblick in die Persönlichkeit Häßlers. Dass er ein so hohes Alter von 106 Jahren bei bester Gesundheit und außergewöhnlich wachen geistigen Fähigkeiten erreichen durfte, kann getrost als ein Dankeschön des Schöpfers betrachtet werden. Das Buch behandelt auch die vermeintliche NS-Vergangenheit und weist klar nach, dass er mitnichten an Kindereuthanasie beteiligt war.

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Seitenzahl: 263

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-226-1

ISBN e-book: 978-3-99130-227-8

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfoto: Dieter Zöllner

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: siehe Bildnachweis

www.novumverlag.com

Vorwort

„Die Kinderheilkunde der Zukunft hat die heilbaren Krankheiten zu heilen

und die unheilbaren heilbar zu machen.

Überdies hat sie dafür zu sorgen,

daß die vermeidbaren Krankheiten vermieden werden.

Der Tod des Menschen wird immer unvermeidbar bleiben;

es muß aber vermieden werden, daß Kinder sterben.“

Albrecht Peiper (1951)

Ein ungewöhnlich langes Leben in Gesundheit und tiefer beruflicher Befriedigung geführt zu haben, ist sicherlich eine große Gnade. Eine ebenso große Gnade ist es, dieses reiche und erfüllte Leben im hohen Alter von 106 Jahren als einer der ältesten Kinderärzte der Welt und in unverminderter geistiger Klarheit zu beschließen. Mehr noch, damit über einen außergewöhnlich weiten, vor allem auch persönlich erfahrenen Überblick über die Geschichte der Kinderheilkunde zu verfügen, ist ein Geschenk. Wegweisende und prägende Beiträge für die Erfolgsgeschichte der Kinderheilkunde geliefert zu haben, ist dagegen segensreiche Leistung.

Im neunzehnten Jahrhundert entwickelte sich aus der Inneren Medizin heraus ein neues, eigenes Fach – die Kinderheilkunde. 1894 wurde mit Otto Heubner der erste deutsche Lehrstuhl für Pädiatrie etabliert. Professor Otto Heubner gilt als einer der Väter der Kinderheilkunde.

Erich Häßler wurde 1899, fünf Jahre nach diesem Meilenstein der Medizingeschichte, in das Deutsche Kaiserreich hineingeboren und sollte in seinem Leben mit Otto Heubner in vielerlei Hinsicht in Kontakt kommen. Man schreibt 1913, als Professor Heubner im Alter von siebzig Jahren in der Charité seine Abschiedsvorlesung hielt. In dieser Zeit entwickelt sich Erich Häßlers Wunsch, Medizin zu studieren.

Seit seiner eigenen Diphtherie-Erfahrung in der frühen Kindheit hat er ein lebhaftes anatomisch-physiologisches Interesse entwickelt. Erste Anatomie-Vorlesungen erhält er von seiner Mutter in der Küche bei der Obduktion von Hühnern und Kaninchen. Und Erich stellt Fragen über Fragen. So wird es ein Leben lang bleiben.

Es waren in dieser Zeit vor allem die Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Kinderlähmung, die häufig zu einer hohen Sterblichkeit im Kindesalter geführt haben. Vor dem Ersten Weltkrieg erlebten nur etwa 63 % der lebendgeborenen Kinder ihren 10. Geburtstag. Erst in den 1920er-Jahren war es durch die Entwicklung von Impfstoffen und die Verbesserung der Ernährungs- und Hygienebedingungen möglich geworden, diese Infektionskrankheiten wirkungsvoll zu bekämpfen.

1923, als junger Kinderarzt auf seiner ersten Hilfsassistentenstelle in der Kinderklinik Dresden, behandelt Erich Häßler vor allem Kinder, die an Keuchhusten und Diphtherie erkrankt waren. In diesen Jahren konnten Kinderärzte nur versuchen, die Leiden der Kinder zu mindern, denn noch standen Antibiotika nicht zur Verfügung. Oftmals waren Ärzte in dieser Zeit auch anderen Infektionskrankheiten wie Kinderlähmung, Scharlach, Masern und Ruhr gegenüber hilflos.

Vorbeugung und Behandlung, Prophylaxe und Therapie von Infektionskrankheiten standen immer im Mittelpunkt der ärztlichen und naturwissenschaftlichen Arbeiten von Erich Häßler.

Es war sein großes Verdienst, mit der Penicillin-Behandlung eine Ende der 40er-Jahre auftretende Scharlach-Epidemie in Chemnitz erfolgreich eingedämmt zu haben. Dabei wurden nicht nur Neuinfektionen vermieden, sondern Mortalität und die Komplikationsrate bei Kindern gesenkt und die Verweildauer der kleinen Patienten im Krankenhaus drastisch reduziert. Ein weiteres hohes Verdienst des schon fast Sechzigjährigen, vor allem basierend auf seinem persönlichen Engagement, ist die Erhöhung der Impfbereitschaft zur Eindämmung der Tuberkulose während seiner Zeit als Direktor der Jenaer Kinderklinik.

Bei der Betrachtung seines Lebens beeindruckt vor allem die Zielstrebigkeit, das zu erreichen und zu leben, was er von Jugend an gewollt hatte – Arzt für kranke Kinder zu sein.

Durch diese Zielstrebigkeit und Konzentrationsfähigkeit gelang es ihm, in mehreren Gesellschaftssystemen stets einzig das kranke Kind in den Mittelpunkt seines Lebens und Arbeitens zu stellen, immer und ausschließlich auf der Suche nach Verbesserung der Behandlungen seiner Leiden. In einem seiner letzten Vorträge sprach Professor Erich Häßler über den Wandel des Krankheitsbildes in den letzten 100 Jahren:

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann notwendige Maßnahmen der Gegenwart verstehen. Nur wer die verheerende Wirkung der Infektionskrankheiten, einschließlich der Tuberkulose, erlebt hat, kann die Notwendigkeit aktiver Impfungen begreifen.“

Das stetige Suchen nach neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten, Krankheiten zu erkennen und ärztliche Mittel und Wege zu finden, sie wirkungsvoll zu bekämpfen, war und ist Aufgabe und zugleich hohes Privileg der Ärzte und Wissenschaftler. Professor Erich Häßler war eine Persönlichkeit, die über eine Periode von mehr als sechzig Jahren die Kinderheilkunde aktiv gestaltet und an deren Entwicklung bis ins höchste Alter interessierten Anteil genommen hat. Er sprach zu seinen Schülern euphorisch von den Chancen einer Heilung und in großem Vertrauen darauf, dass es immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse geben werde, die nicht hoch genug wertgeschätzt werden könnten, da nur durch sie die Gesundheit unserer Kinder und damit unsere Zukunft bewahrt werden können. Er war nicht nur ein überzeugter und überzeugender Kinderarzt, sondern gleichzeitig in allen Lebensbereichen Vorbild für seine Studenten und Mitarbeiter und nicht zuletzt auch für seine eigenen neun Kinder.

Und so ist er im Gedächtnis derer geblieben, die sich noch heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Heimgang, entweder daran erinnern, seine kleinen Patienten gewesen zu sein, oder daran, wie der Doktor Häßler ihnen als jungen Eltern in höchster Not und Sorge um ihr Kind als Arzt und Mensch mit Wärme und Wissen geholfen hat.

Mit Freude durfte ich mich dem Leben und Wirken Erich Häßlers nähern, mit höchster Achtung ist der vorliegende Text entstanden. Auch die vielfache und freudige Unterstützung durch diejenigen, die Professor Erich Häßler, einer der wohl ältesten Kinderärzte der Welt, kannten, haben mich darin bestärkt, dass es nützlich wäre, die hier vorliegenden Skizzen aus seinem Leben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Lauta, im Dezember 2022

Dr. Gabriele Schluttig

Kindheit und Jugend (1899–1914)

April 1899

In acht Monaten wird ein neues Jahrhundert beginnen.

Für das Ehepaar Otto und Ida Häßler, geborene Uhlmann, begann bereits am 22. April 1899 eine neue Zeit. Der Tag war ein Sonnabend und gegen 16.00 Uhr wurde ihnen das erste Kind geboren – ein Sohn, den sie Fritz Otto Erich nannten. Erich wurde sein Rufname.

Später sollte er lernen, dass der 22. April auch der Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin, Immanuel Kant und Robert Bárány ist, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der als erster Österreicher den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt.

Ida und Otto Häßler, 1900

Der Vater Otto Häßler war das zwölfte Kind eines Bauern aus der Umgebung von Leipzig. Er erlernte den Beruf eines Kaufmanns und pachtete in der Wurzener Straße in Leipzig ein Geschäft. Die Mitgift seines Schwiegervaters ermöglichte den käuflichen Erwerb dieses Grundstückes und später auch den des Nachbargrundstückes. Die Familie konnte dadurch eine Wohnung mit vier Räumen in der 2. Etage des Hauses bewohnen.

„Der Korridor der Wohnung eignete sich für uns Kinder ausgezeichnet zum Kegel-Schieben und wurde deshalb ‚Kullerkorridor‘ genannt.“

Die Mutter Ida Häßler stammte aus Bad Schmiedeberg. Von ihrem Großvater wurden die „Locken“ in der Familie vererbt, die man noch heute bei manchem Enkel von Erich Häßler findet.

Das Kolonialwarengeschäft in Leipzig, verbunden mit einer Futtermittelhandlung und einer eigenen Kaffee-Rösterei, florierte gut. Der Tagesumsatz soll im Durchschnitt 1.000 Mark betragen haben.

Am 24. Juni 1901wurde die Schwester Johanna geboren.

Die Wurzener Straße war sehr verkehrsreich und der Hof des Hauses eng. Auf diesem hielt der Vater außerdem noch in einer Voliere Hühner und bis zu fünfzig Paar Tauben. Um einen familienfreundlichen Platz zu haben, pachtete er etwa fünfzehn Minuten stadteinwärts einen Schrebergarten mit Obstbäumen, einer Laube und einer Schaukel für die Kinder. Neben den Obstbäumen gab es im Garten eine Blumenrabatte, u. a. mit Rosen, darunter auch eine Neuzüchtung: eine gelbe Stockrose. Ein besonderer Stolz von Erich war sein eigenes Beet. Die Liebe zu seinem Garten und besonders zu Rosen blieb sein ganzes Leben lang erhalten.

Kolonialwarengeschäft Otto Hässler

In der damaligen Zeit durften Mütter mit einem Kinderwagen nicht den Bürgersteig benutzen, sondern hatten den Wagen auf der Fahrbahn zu schieben. Die Mutter von Erich und Johanna, die noch im Kinderwagen lag, wurde einmal auf ihrem Weg in den Schrebergarten von einem Schutzmann darauf aufmerksam gemacht und vom Bürgersteig verwiesen.

Die Kinder verbrachten einen großen Teil der Sommer bei den Großeltern in Bad Schmiedeberg. Häufig wurden Ausflüge in die Dübener Heide unternommen, man konnte für fünf Pfennige mit der Eisenbahn bis nach Loschwitz fahren. Wenn die Großmutter mitkam, blieb sie allerdings im erstbesten Restaurant sitzen. Besonders die Jahreszeit, in der Heidelbeeren und Pilze gesammelt wurden, war für die ganze Familie interessant. Bis in das hohe Alter bewahrte sich Erich Häßler die Lust am Wandern und das Interesse am Pilzesuchen. Die Großmutter selbst verwendete nur Steinpilze und Pfifferlinge, andere zu probieren, dazu war sie nicht zu bewegen.

Erich und Johanna Häßler, um 1903

Eine andere Erinnerung aus der Kindheit wird Erich Häßler bis an sein Lebensende begleiten.

„Von den sonstigen Geschenken[Anm.: gemeint sind Weihnachtsgeschenke]erfreuten mich immer wieder besonders schon angetriebene Hyazinthen in Gläsern und Krokusse in länglichen Glasschalen.“

Wann immer in der Zeit nach 1961 Kinderärztetagungen in der Bundesrepublik stattfanden, brachte er von dort Hyazinthenzwiebeln mit und zog diese während der Weihnachtszeit in Töpfen vor. Alle Kinder und Schwiegerkinder, die in den Wintermonaten Geburtstag hatten, bekamen von ihm jährlich eine blühende Hyazinthe geschenkt.

1905meldete ihn sein Vater zur 1. Höheren Bürgerschule an, nur Knaben wurden aufgenommen. Sein Schuljahr begann nach Ostern und auf den Straßen lagen noch Schneehaufen.

Das „Höhere“ bezog sich auf das Schulgeld, dafür konnte die Schülerzahl in den Klassen relativ klein gehalten werden. Nach dem 4. Schuljahr wechselte die Mehrzahl der Schüler auf eine Realschule oder ein Gymnasium. In diesem betrug die Schulzeit nochmals 9 Jahre und endete mit dem Abitur.

In der Weihnachtszeit des 2. Schuljahres erkrankte Erich Häßler an Halsbeschwerden. Nach einem Abstrich erklärte der Hausarzt, es handele sich um Diphtherie und er müsse dem Kind eine Spritze in den Oberschenkel geben.

Noch im 19. Jahrhundertstarben in Deutschland jährlich etwa 50.000 Kinder an Diphtherie, die Krankheit wurde einst als „Würgeengel der Kinder“ bezeichnet. Diese Bezeichnung rührt daher, dass die Kinder meist sehr qualvoll durch Ersticken starben. Ursache für die Erkrankung ist eine Infektion mit dem Bakterium Corynebacterium diphtheriae, dessen Toxin zu massiven Schwellungen im Hals führt.

Erst im Jahr 1890, nach der Entdeckung und Entwicklung eines Diphtherieimpfstoffes durch Emil von Behring, wurde es möglich, die bis dahin klassische Behandlung durch einen Luftröhrenschnitt abzulösen. Das Gegenmittel gegen das Diphtherie-Toxin (passive Impfung) neutralisiert dieses, wenn es sich frei im Körper befindet. Allerdings kann es nichts gegen jenes Toxin ausrichten, das bereits an Körperzellen gebunden ist. Deshalb kam es darauf an, bei Diphtherieverdacht so schnell wie möglich zu handeln.

Im Jahr 1901erhielt Emil von Behring für seine Arbeiten den ersten Nobelpreis für Medizin.

Nach Einschätzung des späteren Mediziners Erich Häßler [Anm.: gemeint: 1980er-Jahre]hat der Hausarzt der Familie Häßler zu lange mit der Behandlung gewartet. Die Folge war bei dem Kind Erich eine Stimmbandlähmung, er wurde tonlos und konnte längere Zeit die Schule nicht besuchen. In sein Zensurenbuch schrieb der Lehrer in allen Fächern eine 0, die Versetzung in die nächste Klasse erfolgte aber trotzdem.

Bedingt durch die eigene Krankheit, begann Erich in dieser Zeit sein erstes anatomisches Interesse zu entwickeln. Er war immer dabei, wenn seine Mutter ein geschlachtetes Huhn für das Essen vorbereitete. Sie musste ihm jedes der ausgenommenen Organe zeigen und eingehend erklären.

Im September 1907verlor Erich seinen Vaterdurch dessen Freitod. Dieser hatte Verbindlichkeiten unterschrieben, die zu diesem Zeitpunkt fällig wurden, für deren Begleichung aber kein Bargeld vorhanden war. Sein Schwiegervater, der Schmiedeberger Großvater trat zwar für die Verbindlichkeiten ein, aber für die Familie Häßler änderte sich vieles – das Geschäft wurde verpachtet, die Wohnung verkleinert und vor allem der von Erich geliebte Schrebergarten aufgegeben.

Trotzdem ermöglichte es seine Mutter, dass er ein Städtisches Realgymnasium, die Petrischule am Floßplatz, besuchen konnte, denn es war der Wunsch seiner Eltern gewesen, dass er das Abitur ablegen und eventuell später studieren konnte.

Erich bestand die für alle Anwärter obligatorische Aufnahmeprüfung und trug nunmehr von der Sexta bis zur Oberprima die vorgeschriebene dunkelbraune Mütze. Bereits ab der Sexta erhielt er Lateinunterricht, später standen auch Französisch und Englisch auf dem Lehrplan, aber immer wurden die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer hervorgehoben.

Erich als Schüler, 1915

Aus diesen Schuljahren blieben Erich verschiedene Ereignisse in besonderer Erinnerung.

In den Jahren 1868 bis 1894lehrte und arbeitete der Internist und Kinderarzt Prof. Dr. med. Johann Otto Leonhard Heubner an der Universität Leipzig. Im Jahr 1888 gründete er gemeinsam mit dem PD für Chirurgie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, Robert Hermann Tillmanns, einen „Verein zur Errichtung und Erhaltung eines Kinderkrankenhauses“ in Leipzig. Es wurde 1891 in Leipzig-Reudnitz eingeweiht und hatte 132 Betten. Heubner leitete dieses Kinderkrankenhaus, das seinerzeit als die modernste, mit einer eigenen kinderchirurgischen Abteilung ausgestattete, Kinderklinik galt. Tillmanns leitete diese chirurgische Kinderstation.

Heubner hatte den von Behring entwickelten Impfstoff als „das Behring’sche Gold“ bezeichnet und in der Zusammenarbeit mit diesem gelangen ihm bei der Behandlung der Diphtherie mit dem Heilserum große Erfolge. Noch heute gilt Heubner als einer der Väter der Kinderheilkunde.

Zur weiteren finanziellen Unterstützung dieser Kinderklinik fanden jährlich in Leipzig Straßensammlungen statt, bei denen die Schüler künstliche Blumen verkauften. Auch Erich Häßler verkaufte mal Apfelblüten, mal Kornblumen, was ihm großen Spaß machte, denn vor allem Droschkenkutscher kauften diese gern, um ihre Droschken für die Gäste attraktiv und einladend zu gestalten.

1909beging die Leipziger Universität ihre 500-Jahr-Feier.

Um den Festumzug aus der Nähe betrachten zu können, hatte Erichs Mutter in der Innenstadt ein Fenster gemietet. Der Umzug fand in Original-Wagen und -Trachten statt, die dem Einzug der Prager Professoren und Studenten 1409 in Leipzig nachgebildet waren.

Am 9. März 1913, dem Sonntag Judika, wurde Erich Häßler in der Lukaskirche zu Leipzig-Volkmarsdorf konfirmiert. Sein Konfirmationsspruch lautete:

„Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.“

Von seinen Großeltern erhielt er ein Gesangbuch und von den Paten einen goldenen Ring mit einem Rubin. Der Ring blieb immer in seinem Besitz und er konnte ihn später seiner zweiten Ehefrau schenken.

In besonderer Erinnerung blieb Erich Häßler die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals am 18. Oktober 1913. Schon in den Jahren zuvor war er mit seiner Mutter und auch mit Schulkameraden auf der Baustelle gewesen und die Schüler hatten durch einen Losverkauf an der Unkostendeckung teilgenommen. Dafür durften sie zur Einweihung in den zuführenden Hauptstraßen Spalier stehen und konnten somit den Festumzug aus nächster Nähe verfolgen. Es war das einzige Mal, dass Erich den deutschen Kaiser Wilhelm II. zu Gesicht bekam(„In allem Jubel machte er ein sehr ernstes Gesicht“). Allgemein war aufgefallen, dass der Zar von Russland nicht persönlich erschienen war, sondern sich durch den Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch vertreten ließ.

Außerdem fand im gleichen Jahr 1913 in Leipzig das 12. Deutsche Turnfest statt, an dem Erich zusammen mit anderen Schülern Keulenschwingen vorführte.

Im darauffolgenden Jahr 1914 fand in einer Kuppelhalle, die 1913 als Ausstellungshalle für die „Internationale Baufach-Ausstellung“ (IBA), errichtet worden war, die Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik (BUGRA) statt. Natürlich hatte Erich ein Schüler-Dauer-Abonnement mit Lichtbild und bekam eines Tages die Gelegenheit, in einem Gartenrestaurant König Friedrich August von Sachsen und Graf Zeppelin zu sehen. Zu deren Begrüßung überflogen gleichzeitig drei Zeppelin-Luftschiffe das Ausstellungsgelände – die in der Sonne silbern glänzenden Riesenzigarren waren ein imposanter Anblick.

Die Kuppelhalle ist heute die älteste erhaltene Halle auf dem alten Messegelände.

Leider fand die BUGRA durch den Kriegsausbruch ein vorzeitiges Ende.

Der Erste Weltkrieg (1914–1918)

Am 1. August 1914 erfolgte durch Wilhelm II. die Anordnung zur Generalmobilmachung in Deutschland.

Es war die Zeit der großen Schulferien.

Erich war zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und dem Großvater zur Kur in Bad Dürrenberg.

Erinnerungsfoto Familienausflug

Es waren nicht nur die Ausflüge, die ihm in Erinnerung geblieben waren. Sie erlebten, dass auf der nahe gelegenen Bahnstrecke unaufhörlich Soldatenzüge, meist Güterwagen, an die Front rollten. Die Soldaten waren in guter Stimmung. So hatten sie fröhliche Losungen mit Kreide an die Wagenwände geschrieben wie:„Bei schlechtem Wetter findet der Krieg im Saale statt.“

Die allgemeine Kriegsbegeisterung war ungeheuer. Der Krieg wurde als reine Verteidigung der Heimat aufgefasst und viele Menschen dachten, ein moderner Krieg dauere nicht lange und man wäre Weihnachten wieder zu Hause.

Später sagte Erich Häßler:

„Dieses Gefühl kann von keinem nachempfunden werden, der diese Zeiten nicht selbst erlebt hat.“

Er besuchte weiter das Gymnasium in Leipzig. Der Krieg zog sich in die Länge und die Schüler erlebten, dass viele ihrer Lehrer eingezogen wurden. Bald wurden auch die Schüler zu Hilfsdiensten herangezogen, so z. B. zur „Reichswollwoche“, einer Kleidersammlung. Sie ernteten im Rosenthal wilden Knoblauch für die Konservenindustrie und teilten Brotmarken aus. Erich hatte dabei das Glück, diese Marken zusammen mit seinem Lateinlehrer zu verteilen. Dieser sprach mehrere Sprachen und er erklärte ihm dabei an Beispielen die Zusammenhänge zwischen der lateinischen und der etruskischen Sprache und Kultur. Nach der Markenverteilung lud der Lehrer Erich regelmäßig zu einem Frühstück in den „Thüringer Hof“ ein.

Über den „Thüringer Hof“ wurde damals folgende Legende erzählt:

Der Elefant Nelly im Zoologischen Garten konnte aus Nahrungsmangel nicht mehr aufstehen und musste notgeschlachtet werden. Er soll dem Thüringer Hof zugeführt und dort verspeist worden sein, angeblich hätte der Rüssel am besten geschmeckt. Als dies bekannt wurde, eilte ein Gast zum Thüringer Hof, um sich eine Portion Elefant zu bestellen. Aber der Wirt meinte, wegen eines Gastes schneidet der Koch den Elefanten doch nicht an.

Im Jahr 1916 wurde für die Schüler eine vormilitärische Ausbildung eingeführt, die manchmal ganze Tage in Anspruch nahm, an denen sie nicht in die Schule gehen konnten. Diese Ausbildung fand teilweise in Lindenthal statt, wo die Schüler auch das Ausheben von Schützengräben übten. An einem solchen Tag mussten Erich und seine Mitschüler den Absturz eines Eindecker-Flugzeuges erleben, dem in der Luft eine Tragfläche abgebrochen war.

Trotz des unregelmäßigen Unterrichts versetzte man die Schüler seiner Klasse zur schnelleren „Förderung“ schon nach den Weihnachtsferien 1916, anstatt zu Ostern 1917, von der Obersekunda in die Unterprima.

Im Jahr 1917 wurde der Geburtenjahrgang 1899 regulär eingezogen.

Erich Häßler als Soldat, Oktober 1917

Erich Häßler wurde am 21. Juni 1917 zum Heeresdienst einberufen. Zusammen mit drei Klassenkameraden kam er zum Fußartillerieregiment No. 12, das als sächsisches Regiment in Metz stationiert war.

Als Schulabschluss wurde ihnen die Oberprimareife zuerteilt.

Die ehemaligen Schüler, jetzt Landsturmpflichtige, fuhren in Zivilkleidung und in normalen Personenwagen nach Metz ab. In dieser Gegend gab es schon nächtliche Fliegerangriffe. Allerdings wurden von den Menschen die herabfallenden Splitter der Abwehrgeschosse meist mehr gefürchtet als die kleinen Bomben, die per Hand aus den Flugzeugen herausgeworfen wurden.

Alle, die das „Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis“ [Anm.: Mittlere Reife]hatten, wurden zu einem Zug zusammengezogen. Ihr Unterricht erfolgte in Schießlehre, Flugbahnberechnung und Geländezeichnen, und im Praktischen vor allem im Transportieren und Einführen von 15 cm Granaten.

Daneben erinnert sich Erich Häßler, dass von Zeit zu Zeit Photographen in die Garnison kamen und die Kadetten es attraktiv fanden, sich neben einem alten französischen 22 cm-Mörser fotografieren zu lassen.

Die Verpflegung im Regiment war nicht schlecht, meist gab es Eintopf, der mengenmäßig nicht begrenzt war, und am Wochenende zusätzlich Dampfnudeln und Zigaretten.

Alle vier Wochen wurden sie zum Gottesdienst in die Kathedrale von Metz abkommandiert.

Nach dieser Ausbildung kam Erich Häßler zu einem anderen Frontabschnitt vor Metz. Er wurde Gefreiter und nach einem Offiziers-Aspiranten Kurs im Januar 1918 wurde er als Unteroffizier dem Landsturm Fuß-Art. Reg. IX AK zugeteilt und war vorwiegend Artilleriebeobachter im Schützengraben an der Westfront. Gleichzeitig erfolgte auch eine spezielle Ausbildung im Handgranatenwerfen und Schießen mit Karabinern.

Die gesamte militärische Ausbildung der eingezogenen Schüler erfolgte direkt an der Front.

Die Schützengräben der deutschen und französischen Soldaten lagen beidseitig der Frontlinie. Aus diesem Grund bestand zwischen den beiden Gegnern eine Absprache, dass die Übungen im Abschießen der Kanonen nur wechselseitig durchgeführt wurden.

Erich Häßler vor einem französischen Mörser

In dieser Zeit erlebte er selbst Gasangriffe und Schützengrabenkämpfe. Während eines Angriffs auf seine Batterie half Erich, verschüttete Kameraden auszugraben und zu bergen, und wurde dafür mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse „Für Rettung von Kameraden unter eigener Lebensgefahr“ ausgezeichnet.

Leider erfuhr er auch, dass ehemalige Klassenkameraden von ihm gefallen waren, und auch er selbst wurde einmal irrtümlicherweise als gefallen gemeldet. Wie viele Menschen in dieser Zeit und vor allem auch wie viele der an den Fronten Kämpfenden erkrankte Erich Häßler an der Spanischen Grippe. Er lag eine Nacht bewusstlos im Schützengraben und wurde für tot erklärt. Glücklicherweise ging diese falsche Meldung nicht an seine Familie heraus.

Im Herbst 1917gab es einen Erlass, dass Soldaten mit der Oberprima-Reife einen Abitur-Kursus absolvieren könnten. Erichs Mutter hatte ein solches Gesuch eingereicht, in der Hoffnung, dass ihr Sohn auf diese Weise nach Hause kommen könnte. Dieses Gesuch wurde aber abgelehnt, da es nur für Soldaten in der Heimat galt – Metz aber war Kriegsgebiet.

Zu seiner großen Überraschung war das Gesuch irgendwie weitergelaufen und während eines Frühappells im Oktober 1918 wurde die Meldung verlesen:

„Vicefeldwebel Häßler wird zum Abitur nach Mons in Belgien kommandiert.“

Noch am gleichen Tag reiste er ab, erfuhr allerdings in Mons, dass der Abiturkurs für Frontsoldaten bereits beendet war und die Prüfungen am nächsten Tag beginnen sollten. Obwohl er seit über einem Jahr kein Schulbuch mehr in der Hand gehabt hatte, meldete er sich zu den Prüfungen in Deutsch, Latein, Französisch und Mathematik an. Er bestand das Abitur mit der Gesamtnote 3.

Mit der Abdankung des deutschen Kaisers endete der Erste Weltkrieg Ende 1918. In dem am 11. November 1918 unterzeichneten Waffenstillstandsvertrag war der Rückzug der deutschen Truppen genau festgelegt. Als Front-Besatzung zog das Regiment, zu dem Erich Häßler gehörte, als letzte deutsche Truppe aus Metz ab. Jeder konnte vom Proviant mitnehmen, was er tragen konnte. Erich entschied sich für eine Kiste mit Fleisch- und Wurstwaren in Blechdosen.

Anfang Dezemberwar Erich Häßler wieder in Leipzig.

Dort nutzte er fast sofort die Möglichkeit, sich an der Universität als Medizinstudent immatrikulieren zu lassen.

Studium und Promotion (1919–1924)

Im Januar 1919besuchte Erich Häßler seine erste anatomische Vorlesung. Nach eigenen Worten verstand er – nichts. Der Dozent sprach mit Selbstverständlichkeit von einer „Chorda dorsalis“, aber Häßler konnte sich darunter nichts vorstellen.

Da jedoch im Februar 1919 ein neues Zwischensemester begann, beschloss er, von diesem Zeitpunkt an regelmäßig an allen Vorlesungen teilzunehmen.

Die ersten akademischen Lehrer von Erich Häßler waren in AnatomieProf. Dr. med. Hans Held(1917–1934 ordentlicher Professor für Anatomie und Histologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig) undProf. Dr. med. Werner Karl Spalteholz(1912–1929 planmäßiger außerordentlicher Professor für Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig).

Professor Held war bekannt für seine wunderschönen anatomischen Zeichnungen während der Vorlesungen an der Wandtafel. Erst später lernten die Studenten, dass diese mit für die Hörer unsichtbarer Kreide vorgezeichnet waren. Er wiederholte sein Kolleg jedes Jahr mit Witzen an der gleichen Stelle, wie zum Beispiel:

„Die Zunge ist ein bewegliches, manchmal viel zu bewegliches Organ.“

Die Vorlesungen in Zoologie hieltProf. Dr. phil. habil. Johannes Meisenheimer(1914–1933 ordentlicher Professor für Zoologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig), der sehr schnell sprach, sodass man ihm nur schwer folgen konnte.

Bereits in den frühen Morgenstunden fanden die Vorlesungen in Botanik beiProf. Dr. phil. Wilhelm Friedrich Pfeffer(1887–1920 ordentlicher Professor für Botanik an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig) statt. Physik hörte Erich Häßler beiProf. Dr. phil. Otto Heinrich Wiener(1899–1926 ordentlicher Professor für Physik an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig).

Daneben gab es noch Vorlesungen in Chemie, verbunden mit einem Praktikum in Analysen, und natürlich die anatomischen Präparierübungen.

Am Tag seiner Immatrikulation hatte Erich Häßler mit einem Freund eine Kneipe besucht, in der sich die Arionen trafen, und dieser Freund überredete ihn, sich der Burschenschaft anzuschließen. Für einen späteren Berufseinstieg wäre es doch gut, die Unterstützung einer Alt-Herrenschaft zu haben. So wurde er gleich am ersten Tag stud. med. und Arione. Später sagte er:

„Ich habe die sofortige Immatrikulation und das Aktivwerden beim Arion niemals bereut.“

Die Arionen waren eine Studentenverbindung im Dachverband der Deutschen Sängerschaft. Ihr Name bezog sich auf eine Gestalt der griechischen Mythologie, dem Arion von Lesbos, ein Sänger und Dichter, der im 7. Jahrhundert v. Chr. gelebt hatte.

Es war keine schlagende Verbindung, sondern vorrangig ein Gesangsverein, und dies gefiel dem sangesfreudigen Erich Häßler. Trotzdem waren die Mitglieder verpflichtet, gegebenenfalls in einem „Ehrenhändel“ Satisfaktion mit dem Schläger oder dem Säbel zu geben. So mussten sie beim Universitätsfechtmeister den „Paukboden“ belegen, d. h. Fechten lernen.

„Ich bin später nur ein paar Mal als Paukarzt tätig gewesen, d. h., es musste immer ein Medizin-Kundiger an Ort und Stelle sein, um eventuelle Wunden zu nähen.“

Erich Häßler erinnerte sich, dass er neben den medizinischen Vorlesungen und Praktika zwei bis drei Mal in der Woche die Arionen in einer Kneipe traf.

„Es ging immer lustig zu, aber es gab keine Trunkenheit, denn es gab ja nur Dünnbiere und die Biermarken bekamen wir meist von den Alten Herren geschenkt.“

Er nahm Unterricht beim Fuchsmajor für die Burschenprüfung in Musikgeschichte und Musiklehre und nahm an Gesangsproben teil, in denen für Konzertauftritte geübt wurde.

Beliebt waren auch die Feste der Arionen, die speziell zu jeder der vier Jahreszeiten stattfanden und an denen unter Verkleidung (auch die Damenrollen wurden von Arionen gespielt) meist griechisch-römische Sagen vorgeführt wurden. Dazu konnte jeder Arione eine Dame einladen, und auch der Student Erich machte mehrmals davon Gebrauch („… ich habe dabei eine Reihe netter junger Mädchen kennengelernt“).

1919, Theateraufführung der Arionen Erich Häßler, untere Reihe – 2. Person von rechts

Natürlich wurden Band und Mütze der Arionen auch beim Besuch der Vorlesungen getragen. Diese waren immer gut besucht. Es waren zum einen, bedingt durch den Krieg, vier Jahrgänge in einem Studienjahr zusammen, und zum anderen nahmen auch viele ehemalige Offiziere ein Studium auf. In den meisten Hörsälen herrschte starkes Gedränge, nicht alle Hörer fanden Sitzplätze; viele saßen auf den Treppenstufen oder mussten in den Gängen stehen. Aus diesem Grund waren die Studenten bestrebt, noch vor dem Beginn eines Semesters ihre Visitenkarten auf einem möglichst günstigen Platz zu postieren, der dann als belegt galt. Und dies wurde von allen respektiert. Allerdings musste man sich dazu mit dem Laboratoriums- oder Anatomiediener gut verstehen, um vorab hereingelassen zu werden.

Eine Ausnahme waren die Vorlesungen der Physiologie beiProf. Dr. med. habil. Siegfried Garten(1916-1923 ordentlicher Professor für Physiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig), der sich vorbehalten hatte, die Visitenkarten selbst zu verteilen.

Er setzte alle Studentinnen auf die an den Bankreihen befindlichen zusätzlichen Kippsitze, sodass sie wie eine Einrahmung der männlichen Studenten wirkten.

Aber die Mitgliedschaft bei den Arionen bedeutete auch eine andere Verpflichtung für Erich Häßler.

1919waren in Leipzig unruhige Zeiten. Das deutsche Heer war aufgelöst worden, es gab keine Wehrpflicht mehr. Dafür sollten sogenannte Freiwillige eingezogen werden und die Reichsregierung wandte sich besonders an Studenten, die sich zu einem Freiwilligenverband melden sollten. Es waren meist aus dem Weltkrieg heimgekehrte Studenten, militärisch ausgebildet, die sich meldeten. Auch der Rat der Stadt Leipzig wurde aufgefordert, ein Zeitfreiwilligenregiment zu gründen. Erich Häßler wurde im Mai 1919 Mitglied dieses Regimentes, da der Konvent der Sängerschaft Arion den Beschluss gefasst hatte, alle Mitglieder dazu aufzurufen. Insgesamt bestand das Leipziger Zeitfreiwilligenregiment nur zum kleineren Teil (etwa ein Drittel) aus Studenten, der Rest waren Beamte und Angestellte. Niemand der Sängerschaften hatte einen Einsatz erwartet, denn sie sollten nur den Ersatztruppenteilen zugeteilt werden. Als Vizefeldwebel d. R. (der Reserve) hatte Häßler keine größere Befehlsgewalt.

Die studentischen Mitglieder des Zeitfreiwilligenregiments blieben zu Hause wohnen, konnten aber ihre Ausrüstung, d. h. ihre Uniform, mit nach Hause nehmen. Am Kragen der Uniform war ein Lindenblatt aus Metall angebracht, und sie wurden deshalb von manchen anderen Studenten als „Lindenblattindianer“ bezeichnet.

Im März 1920 rückten etwa 15.000 Soldaten in Leipzig ein, ohne größeres Blutvergießen wurde die Ordnung in der Stadt wiederhergestellt. Trotzdem hatte es auf beiden Seiten Tote und Verletzte gegeben.

In dieser Zeit waren gerade Semesterferien und Erich Häßler war zu Besuch bei Verwandten in Torgau. Um nicht als fahnenflüchtig zu gelten, kehrte er sofort nach Leipzig zurück, als er von den Geschehnissen in der Stadt hörte. Inzwischen war es in der Stadt wieder ruhig geworden. Die Studenten wurden im Hotel „Stadt Rom“ einquartiert und konnten nach einigen Tagen wieder nach Hause gehen.

Am 14. März 1944übergab er seinen Lebenslauf auf Anforderung des Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, dem Beauftragten für medizinische Wissenschaft und Forschung in Berlin.

„Vom 12. Mai 1919 bis zur Auflösung des Regimentes Ende Juli 1920 gehörte ich dem Zeitfreiwilligenregiment Leipzig an und nahm an den schweren Kämpfen des Regimentes teil. Hierfür erhielt ich die Ehrenurkunde für Freikorpskämpfer.“

[Anm.: Ein Regiment bestand aus fünf Kompanien, davon die Kompanie der Sängerschaften als Reserve.]

Insgesamt sollen wohl in der Nachfolgezeit etwa 100.000 Freikorpskämpfer Anträge zur Verleihung dieser Urkunde gestellt haben. Was Erich Häßler zu dieser Zeit nicht wusste: Auch sein späterer Mitarbeiter Oskar Harnapp, mit dem er bis zu dessen Wechsel an die Charité in Berlin an der Kinderklinik Leipzig zusammenarbeitete, diente 1919 im Zeitfreiwilligen-Regiment Leipzig.

Die Polizeiakten über Erich Häßler enthalten für diesen Zeitraum allerdings keine Eintragungen, so wie es bei anderen Studenten unter der Rubrik „Strafen und Bemerkungen“ erfolgt war. Bei ihm enthält diese Rubrik nur die einfache Bemerkung:

„Paß erh.[alten] 21. 7. 31 – 25. 2. 35 Ehe-Kin[der]-Antrag – Am 4. 8. 36 Fam. Paß erh[alten]“

Die Entwicklung der Burschenschaft konnte Erich Häßler nicht voraussehen. Die Alten Herren als Vorbild nehmend, war er der Meinung, sein ganzes Leben lang ein Arione zu bleiben. Er blieb es auch, aber in einer anderen Weise.

Bereits 1935 wurden die Sängerschaften verboten und als Kameradschaften in den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) eingegliedert. Auch die DDR lehnte die ehemaligen Studentenverbindungen als nationalistische Organisationen ab. Allerdings blieb der Kontakt der Arionen auf postalischer Ebene bestehen und mindestens einmal jährlich traf man sich (konspirativ) in Räumen evangelischer Gemeinden, in denen die Pfarrer Bundesbrüder waren. Meist stand in diesen Räumen auch ein Klavier. Allerdings wurden die Mitglieder immer älter und es wurden Ausweichräumlichkeiten gesucht und auch gefunden.

Schon in seiner Zeit als Leiter der Kinderklinik am Zeisigwald in Chemnitz blieb Erich Häßler in Verbindung mit den Arionen, es gab regelmäßige Treffen. In späteren Jahren fanden offenbar auch in der Jenaer Kinderklinik, deren Leiter der Arione Prof. Erich Häßler war, solche Treffen statt.

Erst 1990 kam es zu einer Wiedergründung der Sängerschaft in Jena. Am 3. Juni 1990 (Pfingstsonntag) unterzeichneten elf Bundesbrüder in der historischen Weinstube des Jenaer Stadtmuseums „Göhre“ die Urkunde zur Reaktivierung der Sängerschaft zu St. Pauli Jena. Erich Häßler gehörte zu den Wiedergründungsmitgliedern.

Schon ab 1919 machte die zunehmende Inflation auch den Studierenden erhebliche Sorgen. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Studenten brach aus finanziellen Gründen das Studium ab, allen anderen an der Universität erschien es wünschenswert, das Studium so rasch wie möglich zu beenden.

Für Erich Häßler kam ein Abbruch des Medizinstudiums nicht infrage.

Er wohnte weiter bei seiner Mutter. Eine Zeit lang bekam er ein privates Leistungsstipendium, das von der Universität ausgeschrieben worden war, aber es blieb schließlich nur die Möglichkeit, neben dem Studium selbst Geld zu verdienen.

Zusammen mit anderen Studenten übernahm er die Nachtwachen im Alten Rathaus (dazu musste man Soldat gewesen sein). Sie wurden gut bezahlt und in einem separaten Raum des Rathauses konnte man nachts gut lernen.

Gleichzeitig übernahm er während der Messezeiten in den Hallen der Technischen Messe den Telefondienst, d. h. wenn ein Aussteller angerufen wurde, musste er diesen an das Telefon holen. Seine einzige Erinnerung an diese Tätigkeit war, dass er bei solchem Anruf den Reichspräsidenten Ebert sah, als er ihn an das Telefon holte.

Aber das Studium blieb für Erich Häßler immer das Wichtigste.

Um das Physikum ablegen zu können, studierte man in Leipzig sechs Trimester [Anm.: Dies bedeutete 3 Semester in einem Jahr]