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Eingeschneit über Weihnachten – der perfekte Cosy Crime für Wintertage! Weihnachten bei Lillys bester Freundin Zelda! Die Rileys haben ihr Herrenhaushotel über die Feiertage geschlossen und bereiten sich auf Plätzchennaschen, Weihnachtsbraten und Geschenke vor. Doch dann steht plötzlich eine Reihe ungebetener Gäste vor der Tür: eine Lehrerin, die sich verfahren hat, ein Journalist, dessen Auto stecken geblieben ist, und als krönender AbschlussZeldas Großvater samt zerstrittenen Familienangehörigen. Schneesturm und Stromausfall schneiden das Haus von der Außenwelt ab. Als erst ein Gast gefesselt in der Bibliothek gefunden wird und wenig später ein anderer tot im Bett, ist klar: Hier geht ein Mörder um! Zum Glück ist Lilly eine leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen und macht sich sogleich an die Lösung des Falls ... Amüsant, wunderbar gemütlich und gleichzeitig extrem spannend geschrieben! Hier können sich Krimi-Fans ab 12 Jahren auf einen atmosphärischen Weihnachtskrimi wie aus der Feder von Agatha Christie freuen!
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Seitenzahl: 409
Weihnachten bei Lillys bester Freundin Zelda! Die Rileys haben ihr Herrenhaushotel über die Feiertage geschlossen und bereiten sich auf Plätzchennaschen, Weihnachtsbraten und Geschenke vor. Doch dann steht plötzlich eine Reihe ungebetener Gäste vor der Tür: eine Lehrerin, die sich verfahren hat, ein Journalist, dessen Auto stecken geblieben ist, und als krönender Abschluss Zeldas Großvater samt zerstrittenen Familienangehörigen. Schneesturm und Stromausfall schneiden das Haus von der Außenwelt ab. Als erst ein Gast gefesselt in der Bibliothek gefunden wird und wenig später ein anderer tot im Bett, ist klar: Hier geht ein Mörder um! Zum Glück ist Lilly eine leidenschaftliche Leserin von Kriminalromanen und macht sich sogleich an die Lösung des Falls ...
Ein atmosphärischer Weihnachtskrimi wie aus der Feder von Agatha Christie!
Personenregister
Erster Prolog
Zweiter Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Epilog
in der Reihenfolge ihres Erscheinens
Lilly leidenschaftliche Krimileserin und Agatha-Christie-Fan, Waise und Zeldas beste Freundin
Zelda Riley liegt der Familienzusammenhalt am Herzen und hat einen großen Wunsch: das Studium in Oxford oder Cambridge, wenn da nur die hohen Kosten nicht wären
Julian H. Cox ehrgeiziger Inspektor bei Scotland Yard, der auf seinen großen Fall wartet
Crispian Riley blond, klug, immer gut gelaunt und seit einem Jahr vergeben an die bildhübsche Claire
Harriet Riley Hotelmanagerin des Montfort Lakebay Country House Hotel
Gerald Riley großartiger Koch mit Hipsterbart und Glatze
Mathilda Pratchet Harriets ehemaliges Kindermädchen, seit einem Autounfall erblindet
Felicia Hamilton gestresste Lehrerin mit großer Liebe zu Büchern
Oscar Firth schwarz gekleideter Architekturjournalist mit einem Geheimnis
Jason Morris Handwerker, der schon jeden Flecken auf der Welt gesehen hat
Emma Wilson zweite Assistentin von Augustus Evans
Dr. Caroline Evans erfolgreiche Kardiologin und sehr selbstbewusste elegante Frau
Christopher Evans sensibler Verlagslektor, der einmal anerkannt werden möchte
Brianna Evans überzeugte Umweltschützerin mit einem Hang zu dunkler Kleidung und dunkler Schminke
Parker Evans hochnäsiger Schüler eines Elite-Internats, für den nichts wertvoller ist als Geld
Augustus Evans Self-made-Millionaire, skrupelloser Herrscher über ein Verlagsimperium und gefürchteter Familienpatriarch
Linda Boland erste Assistentin von Augustus Evans und seine langjährige rechte Hand
Zwei Wochen vor Weihnachten. Montfort.
Es gibt da dieses echt süße Foto von meiner allerbesten Freundin Zelda und mir. Ich habe es zwei Wochen vor Weihnachten aufgenommen. Darauf stehen wir neben einem dieser feuerroten Briefkästen der Royal Mail ganz in der Nähe unserer Schule. Die Dämmerung hat den trüben Spätnachmittag bereits mit einem grauen Schleier überzogen, der sich langsam blauschwarz verfärbt. Auf dem Briefkasten und unseren Pudelmützen liegt eine dünne Schicht Schnee wie frisch gestreuter Puderzucker. Was man gut sieht, weil der Briefkasten direkt unter einer Straßenlaterne steht. Zelda hat einen Briefumschlag halb in den Schlitz geschoben. Wir halten uns in den Armen, schmiegen unsere Köpfe aneinander und grinsen fröhlich in die Kamera. Was man nicht sehen kann, sind der Drehorgelspieler und die Weihnachtsmarktbuden. Aber ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass er Coming Home For Christmas spielte und ich damals dachte, wie gut der Songtitel zu dem passte, was in dem Brief stand. Dem Brief, den Zelda und ich mit sehr viel Mühe verfasst hatten und den sie gleich in den Kasten schubsen würde. Dann sind meine Gedanken ziemlich schnell über die mit Schneematsch überzogene Straße zum Gebäude der alten Stadtbibliothek gewandert, hinter deren Scheiben grüne, rote und gelbe Weihnachtssterne aus Bastelpapier klebten, und zu der Frage, ob der neueste Louise-Penny-Krimi endlich eingetroffen war. Ich habe nämlich eine große Schwäche: Ich liiiebe Krimis und verschlinge sie wie Zelda alles, was mit Jungs und Liebe zu tun hat. Aber ich komme vom Thema ab.
Damals haben Zelda und ich gedacht, dass wir da etwas richtig Gutes tun. Etwas, das ganz im Sinne von Weihnachten ist. Es ist doch das Fest der Vergebung, oder? Hätten wir auch nur ansatzweise geahnt, was wir mit dem Brief auslösen würden, wir hätten ihn in tausend Stücke zerrissen, uns geschüttelt und wären Bratäpfel essen gegangen.
Jetzt erst fällt mir auf, dass Zelda auf dem Foto den Umschlag falsch herum gehalten hat. Nicht Name und Anschrift des Adressaten sind zu erkennen, sondern der des Ortes, an dem wir bald mörderische Weihnachten erleben sollten:
Dreiundzwanzigster Dezember. London.
Die Hände tief in den Taschen seines Wintermantels vergraben, trat Inspektor Julian H. Cox einen Schritt näher an das Ufer der Themse heran. Gar nicht so weit von ihm entfernt mühten sich im Licht der Scheinwerfer Beamte der Wasserschutzpolizei unterstützt von Tauchern damit ab, einen leblosen Körper aus dem dunklen und eiskalten Wasser zu bergen.
Seit Tagen schneite es schon wie irre und das Thermometer befand sich im freien Fall.
Fröstelnd trat der Inspektor von einem Fuß auf den anderen.
Wie sehr wünschte er sich, endlich einmal an den Schauplatz eines richtig kniffligen Mordes gerufen zu werden. Eines Mordes mit schön vielen Verdächtigen und einem Mörder mit dem IQ eines Genies. Sherlock Holmes hatte seinen Moriarty. Und mit wem musste er sich herumschlagen? In seinen Jahren bei Scotland Yard war er einem unterbelichteten Verbrecher nach dem anderen begegnet. Nicht einer war darunter gewesen, der seinen scharfen Verstand auch nur für zwei Minuten gefordert hätte. Er seufzte schwer.
Wie die Dinge lagen, fror er sich auch jetzt mal wieder völlig umsonst den Hintern ab.
Morgen war der vierundzwanzigste Dezember und London ächzte schon seit Wochen unter den Touristenmassen, die zum Weihnachtseinkauf in die Hauptstadt gekommen waren. Er warf einen Blick dorthin, wo, für ihn unsichtbar, hinter der Biegung des Flusses das Leben der Hauptstadt pulsierte. Bei Harrods, Selfridges und die Oxford und Regent Street rauf und runter funkelte die Weihnachtsbeleuchtung in den Schaufenstern der Geschäfte um die Wette. Zum Klang der Weihnachtslieder hetzten die Menschen schwer bepackt in Richtung U-Bahn-Stationen. Wenn sie nicht – und von dieser Sorte gab es auch nicht wenige – vor der Heimfahrt noch in ein festlich geschmücktes Pub einkehrten, um sich mit Freunden zu treffen und die Feiertage mit dem ein oder anderen Pint einzuläuten. Schätzungsweise hatte es einer von ihnen zu gut gemeint mit dem Bier und war in die Themse gestürzt. Ob betrunken oder stocknüchtern, die unerbittliche Strömung des mächtigen Flusses gab niemanden wieder frei. Zumindest nicht lebend.
Inspektor Cox blinzelte die Schneeflocken aus den Augen.
Ohne darüber nachzudenken, wie nah er dem Wasser schon gekommen war, ging er einen weiteren Schritt dem Boot entgegen, das langsam auf ihn zuhielt.
»Verdammt!« Beinahe wäre er im Matsch ausgeglitten.
»Es ist eine Frau!«, rief ihm einer der Polizisten zu.
Cox reckte den Hals, um besser sehen zu können.
»Vielleicht ist es ja die, die vor ein paar Tagen von der Millennium Bridge in den Fluss gestoßen worden ist, Sir!«
Augenblicklich durchkribbelte die Aufregung Cox’ Körper wie eine Million Ameisen auf Völkerwanderung.
Unwillkürlich machte er den nächsten und damit verhängnisvollen Schritt nach vorn. Eiskaltes Wasser umspülte seine teuren Kalbsnappaschuhe. Er fluchte. Fast im selben Augenblick rutschte er auf dem glitschigen Schlick aus. Auf der Suche nach Halt ruderte Cox mit den Armen. Doch die Reling des Polizeibootes war viel zu weit entfernt, als dass er sich an ihr hätte festklammern können. Mit einem zischenden Laut versank er im Wasser.
Bevor die eisigen Wellen über seinem Kopf zusammenschlugen, konnte er aber noch einen Blick auf die tote Frau werfen. Auch wenn ihr Haar nach mehreren Tagen im Flusswasser nicht mehr ganz so leuchtend rot war, die sehr teure Designerkleidung nicht mehr vor Sauberkeit blitzte und sich an den Gliedern des schweren Goldarmbands Schlingpflanzen verfangen hatten, war er sich sicher. Er hatte diese Frau schon mal gesehen. Und er wusste auch ganz genau wo und wann.
Es musste so gegen siebzehn Uhr gewesen sein. Und zwar vor genau fünf Tagen, am achtzehnten Dezember. Im Tearoom des Savoy.
Gerade als er den Kopf wieder aus dem Wasser streckte und auf allen vieren hustend und keuchend zurück an Land krabbelte, blitzte das Bild in seinem Kopf auf.
Die Frau hatte ihn sofort an die Designerin Vivienne Westwood erinnert. Sie saß in der edlen Nische, rechter Hand des kleinen Tisches, an dem er gerade seine Bestellung aufgab. Ganz offensichtlich war sie in eine hoch emotionale Unterhaltung vertieft. Ihr Gesprächspartner saß so, dass er von einer großen dunkelgrünen Kristallschale mit hoch aufgetürmten und bunt funkelnden Weihnachtskugeln verdeckt wurde.
»Alles in Ordnung, Inspektor?«, rief einer der Polizisten vom Boot zu ihm herüber.
»Ja, ja, alles gut!«, knurrte Cox geistesabwesend. Er war nass bis auf die Knochen, aber das interessierte ihn deutlich weniger als das, was er im Savoy erfahren hatte. Kommissar Zufall war doch immer noch der beste Helfer.
Er spürte die Kälte nicht, die unaufhaltsam von seinem Körper Besitz ergriff. Dazu war er viel zu aufgeregt. Er musste nach Hause und packen und seiner Freundin klarmachen, dass sie ohne ihn Weihnachten feiern durfte. Denn er wurde zu etwas Wichtigerem gerufen: Mord. Und er wusste genau, wo der geschehen würde.
»Weihnachten im Montfort Lakebay Country House Hotel«, hatte die Frau gesagt. Dummerweise war dann eine ziemlich lautstarke Touristengruppe in den Tearoom gestolpert, sodass er die nächsten Sätze nicht mitbekommen hatte. Erst als der Oberkellner dem Grüppchen mit unbeweglicher Miene einen abgelegenen Tisch zugewiesen hatte und alle endlich saßen, war es wieder so still geworden, dass er die nächsten Sätze verstehen konnte.
Inspektor Cox spürte ein Kribbeln in den Fingern.
Die Frau hatte etwas Entscheidendes gewusst. Nun war sie tot. Und Inspektor Cox hatte den Fall, auf den er schon so lange gewartet hatte.
Schon als Zelda mich das erste Mal nach der Schule mitgenommen hat, war das Montfort Lakebay Country House Hotel mir als der himmlischste Ort auf der Erde erschienen.
Und das lag nicht daran, dass es in einem echt urigen ehemaligen Herrenhaus untergebracht war, das vor zig Jahrhunderten von irgendeinem Lord im malerischen Lake District direkt am Lake Montfort erbaut worden war. Es lag auch nicht an den knarzenden Ledersofas, den schweren Vorhängen, den Holzvertäfelungen, den alten, riesengroßen Ölgemälden, der wunderbaren Bibliothek, all den Kaminen, der überraschend kleinen, aber historischen Ritterrüstung oder der Standuhr im Hotelfoyer, die jede Viertelstunde die Vergänglichkeit der Zeit verkündete. All das war unglaublich schön und stimmungsvoll, aber was mir das Herz wärmte wie ein loderndes Feuer in einer frostigen Winternacht, war etwas, das nichts mit Besitz zu tun hatte. Das hier war ein Zuhause, ein richtiges, fröhliches, liebevolles, trubeliges Zuhause. Genau so, wie ich darüber in Büchern gelesen und wie ich es mir immer zurechtgeträumt hatte. In den vielen Nächten, in denen ich zusammengerollt in meinem Bett im Heim gelegen und mir vorgestellt hatte, wie mein Leben ausgesehen hätte, wären meine Eltern nicht so früh gestorben, und ob ich dann eine Schwester und vielleicht auch noch einen Bruder gehabt hätte. Ich würde es nie erfahren.
Aber seit jenem denkwürdigen Tag, an dem ich Zelda und später dann auch ihre Familie kennengelernt habe, waren diese wehmütigen Gedanken wie weggeblasen. Und gerade heute war ich glücklich bis in die Fingerspitzen! Denn ich durfte die Weihnachtsferien bei Zelda verbringen. Ihre Eltern hatten alles Nötige mit der Heimleitung geklärt und gestern Abend war ich mit Sack und Pack in Zeldas Zimmer einzogen, in dem für meine Wochenendbesuche schon lange ein zweites Bett für mich bereitstand.
Aus der Küche, in der Zeldas Vater Gerald schon seit Tagen für das Festessen schnippelte, kochte, rührte und backte, schlängelte sich ein himmlisches Weihnachtsduftgemisch aus Zimt, Lebkuchen, Kardamom und Vanille über die hölzerne Treppe bis zur zweiten Etage hinauf. Wo es in unsichtbaren Schwaden unter dem Türspalt hindurch in Zeldas mit Kugeln, Kerzen und Tannenzweigen festlich geschmücktes Zimmer waberte.
Alles war perfekt. Nur etwas fehlte noch …
»Lange halte ich die Warterei nicht mehr aus!«
Ich schaute von meiner leicht verunglückten Schleife auf und blickte zu Zelda hinüber, die vor dem Kamin kniete und missmutig die Lippen kräuselte.
»Wann kommt er denn nur?«
»Der kommt schon«, erwiderte ich und zerrte die blöde Schleife wieder auf. »Bei dem Wetter können doch alle nur kriechen.«
Zur Verdeutlichung nickte ich zum Fenster, hinter dem im Licht der Parklaternen die watteweichen Schneeflocken vom Himmel trudelten, als würde Frau Holle direkt über uns ihre Betten ausschütteln. Hatte es noch vor zwei Wochen so ausgesehen, als würden wir es mit einem schmuddeligen Matschweihnachtswetter zu tun bekommen, so versetzte der Satellitenfilm seit Tagen die Meteorologen in Schockstarre. Klirrende Kälte mit heftigen Schneefällen sagten sie voraus. Mit schweren Stürmen würde wohl auch zu rechnen sein. Kurz: Angeblich stand uns das schlimmste Weihnachtswetter seit Aufzeichnung der Wetterdaten bevor. Überall wurde dazu aufgerufen, Vorräte für mehrere Tage anzulegen, genug Trinkwasser und Konserven im Haus zu haben. Kerzen, Streichhölzer, Taschenlampen, Batterien und ein Campingkocher seien auch eine gute Idee. Denn Stromausfälle waren zu befürchten. Was ich, ehrlich gesagt, megaabenteuerlich fand! Sogar die Vorstellung, dass wir für mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten sein könnten. Was allerdings nicht eintreten durfte, bevor Zeldas Großvater eingetroffen war.
Wir beide fieberten dem heutigen Abend nämlich nicht nur wie wahnsinnig entgegen, weil Weihnachten war, sondern auch, weil wir eine besondere Überraschung für Zeldas Mum geplant hatten. Die Sache war nämlich die: Zelda war ihrem Großvater noch nie begegnet, und zwar weil Harriet, ihre Mutter, den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen hatte. Das war jetzt schon bestimmt zwanzig Jahre her. Warum wussten wir nicht. Mussten wir auch gar nicht. Uns reichte die Tatsache, dass Weihnachten war. Das Fest der Liebe, der Vergebung und der Familie. Harriet würde vielleicht Augen machen! Oh, ich konnte es auch kaum abwarten!
»Du hast bestimmt recht!«, sagte Zelda beruhigt, schob den rechten Ärmel ihrer Strickjacke hoch und beugte sich zu den Holzscheiten vor, um das Feuer in Gang zu halten.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle noch erwähnen, wer Zeldas Großvater war. Der große Augustus Evans.
Vor Monaten hatte Zelda mir total stolz ihr Grandpa-Buch gezeigt. So nannte sie den fetten Ordner, in dem sie wie ein Eichhörnchen alles gesammelt hatte, was sie in Zeitungen oder im Internet über ihn gefunden hatte. Deshalb wusste ich jetzt auch ziemlich genau über ihn Bescheid, zum Beispiel dass er sein gigantisches Verlagsimperium aus dem Nichts erschaffen hatte. Na ja, ganz aus dem Nichts stimmt auch nicht. Sein Vater hatte einen kleinen Kinder- und Jugendbuchverlag in Manchester gehabt. So unbedeutend, dass er wohl immer kurz vor der Pleite stand. Doch dann stieg Augustus ein und machte das Ding riesengroß. Später hat er dann auch noch reich geheiratet. Eine Adelige, deren Familie von der Wahl ihrer Tochter nicht begeistert gewesen ist. Es muss wohl die große Liebe gewesen sein. Wie bei Jane Austen, hatte Zelda dazu geseufzt und irgendwas von wegen »nur mit umgekehrten Rollen« gefaselt, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Die beiden bekamen zwei Kinder und eins davon war Harriet, so heißt, wie gesagt, Zeldas Mutter. Von ihr hat Zelda das herzförmige Muttermal geerbt, das sich an der Innenseite ihres rechten Handgelenks befindet. Und Harriet behauptet steif und fest, dass alle Mitglieder der Familie Evans es genau an dieser Stelle tragen.
Zelda hatte sich für ein Holzscheit entschieden und legte es ins prasselnde Feuer. Ich betrachtete den großen Kamin mit regelrechter Dankbarkeit. Denn seit dem Nachmittag streikte die Heizung. Im ganzen Hotel, was ich wahnsinnig gemütlich und herzerwärmend nostalgisch fand. Nur Zeldas Mutter schien meine Begeisterung nicht wirklich zu teilen.
»Weißt du was? Ich kann hier nicht länger tatenlos hocken.« Zelda wischte sich die Späne von den Händen, warf ihre nussbraunen Haare über die Schulter und stieß sich mit einem Ruck vom Boden ab. »Wir gehen jetzt zur Straße und gucken nach, ob Schnee auf dem Wegweiser zum Hotel pappt. Nicht dass Grandpa am Ende da noch vorbeirauscht.«
Schon allein die Vorstellung, bei den frostigen Temperaturen raus in das Schneetreiben und die ganze lange Einfahrt bis zur Straße runterstapfen zu müssen, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Gott sei Dank ersparte mir ein kurzes Klopfen eine Antwort. In der nächsten Sekunde flog Zeldas Zimmertür auf und ein blonder Kopf mit Zopf und Undercut schob sich in den Raum. »Die Carol Singers sind da!«
Schon polterten Schritte den breiten Flur in Richtung Treppe hinunter. Das war Crispian gewesen. Zeldas Bruder. Siebzehn, meganett, megasportlich, immer gut gelaunt und – seufz – seit einem Jahr vergeben. An die bildhübsche Claire.
»Ist das schön!« Völlig ergriffen packte ich Zelda am Arm. Am liebsten wäre ich so lange auf dem letzten Treppenabsatz stehen geblieben, bis ich mich an dem malerischen Bild zu unseren Füßen sattgesehen hatte. Das Foyer lag in vollkommener Dunkelheit. Nur der Schein des lodernden Kaminfeuers züngelte aus der Sitzecke über den Steinboden. Gleichzeitig erfüllte Silent Night, Holy Night so ergreifend feierlich den Raum, dass mir Tränen in die Augen stiegen. In der Eingangstür standen fünfzehn oder mehr dick eingemummelte Gestalten, auf die langsam watteweiche Schneeflocken rieselten.
Wortlos fasste Zelda mich bei der Hand, drückte sie und zog mich die letzten Stufen hinab zu dem kleinen Grüppchen leicht fröstelnder, aber andächtiger Zuhörer. Zielstrebig hielt sie auf Crispian zu, der ganz rechts am Türrahmen lehnte, und hakte sich mit dem einen Arm bei ihm ein, mit dem anderen bei mir. Auf meiner linken Seite stand Harriet. Als sie mich entdeckte, legte sie den Arm um meine Schultern, drückte mich und lächelte mich an.
Ich musste vor Rührung schlucken. Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Neugierig beugte ich mich ein wenig vor: Richtig, auf ihrer anderen Seite hielt Harriet Mathilda, das alte Kindermädchen, im Arm. So klein und zierlich, dass ich immer Angst hatte, sie könnte zerbrechen. Doch um Mathilda musste man sich keine Sorgen machen. Obwohl ein Autounfall schon lange vor Zeldas Geburt sie ihr Augenlicht gekostet hatte, ließ sie sich von nichts so einfach aus der Bahn werfen.
»Jetzt kann Weihnachten kommen!«, rief Zeldas Vater Gerald in den aufflammenden Abschlussapplaus hinein, den die Sänger nach dem siebten Lied mit kleinen Verbeugungen entgegennahmen. »Wie schön, dass ihr bei diesem lausigen Wetter extra zu uns rausgekommen seid! Und bitte entschuldigt, dass ich nicht von Anfang an dabei sein konnte. Aber ich musste meine Töpfe im Auge behalten. Trotzdem ist mir nicht ein Ton entgangen. Was wäre Weihnachten ohne einen Auftritt der Montfort Carol Singers? Kommt doch bitte alle rein und wärmt euch auf.«
Mit rot gefrorenen Nasen schlurften die Carol Singers ins Foyer; der letzte sperrte hinter sich Schnee und Kälte aus. Wie die Enten ihrer Mutter folgten sie Gerald zum Empfangstresen, wo er Tabletts mit dampfenden Bechern, Keksschälchen, Milchkännchen und Zuckerdosen arrangiert hatte.
»Lasst es euch schmecken!«, lud er alle ein. »Und keine Sorge, in der Küche wartet noch mehr!«
Geralds Wangen glühten vor Aufregung, als er wieder in die Küche zurückeilte, um Nachschub zu holen. Rein vom Äußeren her passen Zeldas Eltern nicht wirklich zusammen. Harriet ist bildhübsch, mit wunderschönen langen braunen Haaren, die wie ein Wasserfall über ihre schmalen Schultern fließen. Mit ihren eins siebzig ist sie wirklich keine Riesin, trotzdem ist Gerald kleiner als sie. Er hat kein einziges Haar mehr auf dem Kopf, dafür trägt er einen Hipsterrauschebart. Außerdem spannt sich seine Chefkochjacke bedrohlich über ein kleines Bäuchlein, von dem Zelda behauptet, für sie sei es das gemütlichste Fernsehkissen.
»Wie wäre es mit einem Tässchen Tee, Poppy?« Gerald war schon mit einem neuen Tablett aus der Küche zurück. »Und du, Lilly, magst du denn gar nichts haben?«
»Doch, klar!« Wegen seiner kurzzeitigen Abwesenheit hatte er nicht mitbekommen, dass ich schon drei seiner unschlagbaren Schokozimtkekse verdrückt hatte. Ich griff mir schnell noch einen und schob ihn mir begeistert in den Mund.
»Ich danke dir, Gerald«, seufzte jetzt die angesprochene Poppy neben mir und schleuderte den Bommel ihrer Strickmütze in den Nacken. »Ein Tee, ein Keks und dann müssen wir auch schon wieder los«, ließ sie den Rest ihrer Truppe wissen, bevor sie sich einen Becher schnappte und wohlig schaudernd die Hände um das warme Porzellan legte. Offenbar handelte es sich bei ihr um die Chorleiterin. »Das Schneetreiben wird immer dichter und mein alter Klapperbus mag die Kälte eh nicht.«
Last Christmas I Gave You My Heart, mischte sich die Stimme von George Michael in das Geschnatter der vielen Menschen. Harriet musste das Radio, das im Hintergrund lief, lauter gestellt haben. Ich hätte vor Glück heulen können. Es war einfach alles so perfekt, besser als im Film.
»Möchtest du?« Urplötzlich stand Crispian vor mir und hielt mir ein Keksschälchen unter die Nase.
Es waren die falschen. Die mit Haselnüssen. Auf die steh ich eigentlich nicht so und mittlerweile war ich so satt, dass ich kaum noch Papp sagen konnte, und trotzdem behauptete ich: »Gerne!« Zu meinem großen Ärger kam das wieder mal in dieser komisch hohen Tonlage heraus, die meine Stimme immer dann annahm, wenn ich mit Crispian redete.
»Kekse sind eine großartige Erfindung«, plapperte ich jetzt auch noch los und das mit vollem Mund. »Am liebsten mag ich die mit Schokolade, weißt du, die mit ganzen Stücken. Weiße Schokolade ist okay, zartbitter ist besser. Und die mit Nougatfüllung sind einfach der Hammer.«
Crispian lächelte das süßeste Lächeln der Welt. Eins mit Grübchen. Das war wie Schokoladenpudding mit Schlagsahne. Unwiderstehlich.
»Und was ist mit denen hier?« Er nickte zur Schale in seiner Hand. Bestimmt war ihm aufgefallen, dass ich nur ein einziges Mal von dem Keks abgebissen hatte.
Ich schlug die Augen nieder. »Nicht so.«
Crispian nahm mir den angeknabberten Keks aus der Hand, schob ihn sich in den Mund und hielt mir grinsend den ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase. Ich interpretierte das als ein »Warte kurz«. Im nächsten Moment quetschte er sich an Poppy vorbei zum Tresen durch und war in einer Sekunde tatsächlich wieder zurück. Als ich sah, was er mir da fein säuberlich auf einer Serviette präsentierte, machte mein Herz einen Hüpfer: Er hatte einen Nougatkeks geholt. Extra für mich.
»Hau rein!«, sagte er, was ein wenig die romantische Stimmung ruinierte, aber das sah ich ihm großmütig nach. Mit einem gar nicht gekieksten »Danke schön!« nahm ich den Keks entgegen. Crispian zwinkerte mir zu und mischte sich mit seinem Keksschälchen unter die Carol Singers. Sehnsüchtig schaute ich ihm nach.
Seit meinem ersten Tag an der Montfort Grammar and Boarding School und einem denkwürdigen Experiment im Chemieunterricht, bei dem ich, wäre Zelda nicht gewesen, die ganze Schule abgefackelt hätte (dabei war Phosphor im Spiel!), waren Zelda und ich die absolut besten Freundinnen. Die Chemie (haha!) stimmte einfach von Anfang an und deshalb ging ich seit jenem Montag vor knapp einem Jahr bei den Rileys ein und aus. Und mindestens ebenso lange schwärmte ich heimlich für Crispian. Na ja, heimlich …! Zelda hat mittlerweile so viel Erfahrung mit ihren Liebesromanen gesammelt, dass sie die verräterischen Anzeichen schneller erkannt hat, als mir lieb war. Aber zum Glück kann sie schweigen wie ein Grab. Wenn sie in der Nähe war, gelang es mir sogar, halbwegs normal mit Crispian zu reden. Aber wehe, ich begegnete ihm alleine!
Wo steckte Zelda überhaupt? Suchend schaute ich mich nach ihr um. Und da fiel mir der Schatten auf. Die Schals gelockert und die schneenassen Mützen vom Kopf gezogen, unterhielten sich die Mitglieder der Carol Singers in kleinen Grüppchen mit den Rileys. Zu denen ich Mathilda selbstverständlich dazuzählte. Aber eine Person schlich sich, eingemummelt bis zur Nasenspitze, an der Rezeption vorbei auf den im Dunkeln liegenden Gang, der vorbei an Garderobe und Vorratskammer zur Küche führte. Da sich in der Garderobe auch die Toiletten befanden, maß ich dem Schatten allerdings keine Bedeutung bei und vergaß ihn sofort wieder.
Ich entdeckte Zelda auf einem der weinroten Lesesofas in der Sitzecke, wo sie es sich mit Mathilda bequem gemacht hatte. Die beiden kuschelten sich neben dem gemütlich prasselnden Kaminfeuer aneinander und so wie es aussah, beschrieb Zelda ihr den mit bunten Kugeln, Lichterketten und Glitzerfiguren geschmückten Weihnachtsbaum. Gerade als ich mich zu ihnen gesellte, ließ Zelda ihre Augen wie zufällig über die alte Ritterrüstung in der Ecke zu der großen Standuhr zwischen den beiden Sprossenfenstern huschen. Der kleine Zeiger stand knapp vor der Sieben und der große machte sich schon zum Sprung auf die Zwölf bereit. Als ihr fragender Blick meinen traf, deutete ich nach draußen. Das Wetter war ganz bestimmt nicht besser geworden. Gleichzeitig ertönte über dem genüsslichen Teegeschlürfe und Keksgeknupser der Erkennungsjingle der BBC-2-Nachrichten.
»Aus aktuellem Anlass … zuerst eine amtliche Unwetterwarnung für England, Wales und Schottland.«
Die Gespräche erstarben und alle lauschten angespannt.
»Eine gigantische Unwetterfront mit extremem Schneefall und starken Sturmböen bewegt sich schneller als erwartet von Nordosten kommend auf das Vereinigte Königreich zu. Die Temperaturen werden auf bis zu minus fünfzehn Grad fallen. Mit Stromausfällen ist lokal zu rechnen. Wer jetzt noch kein Dach über dem Kopf hat, sollte schleunigst zusehen, dass er nach Hause kommt. Hoffen wir mal, dass der Weihnachtsmann und seine Rentiere sturmerprobt sind, denn ansonsten gehen wir dieses Jahr alle leer aus.«
»Hoffentlich bekommt Jason unsere Heizung schnell wieder flott!«, stöhnte Harriet und drehte das Radio etwas leiser.
»Jason ist hier?«, rief Crispian irgendwo aus der Menge. Jetzt entdeckte ich ihn. Er hatte sich bis zu dem riesigen Ölgemälde vorgearbeitet, das den Erbauer des Montfort Lakebay Country House zeigte und gegenüber der Sitzecke die riesenhohe Wand schmückte. Bei dem Porträtierten handelte es sich um den soundsovielten Earl of Montfort. Mit Halskrause, lustig kurzen Pluderhosen, Spitzbart und Schwert an der Seite.
»Jason werkelt schon seit Stunden im Keller herum. Letzte Woche hat er unser altes Schätzchen nur notdürftig wieder zusammengeflickt. Ihm fehlte ein Ersatzteil, das er inzwischen besorgt hat. Aber er hat direkt gesagt, dass auch das neue Ventil-Dingsbums keine Dauerlösung sein wird.« Schicksalsergeben breitete Harriet die Arme aus. »Mir würde es schon reichen, wenn er die Heizung über dieses Unwetter retten könnte. Nicht auszudenken, wenn wir hier bei minus fünfzehn Grad ohne auskommen müssten.«
»Unwetter! Das ist dann wohl unser Stichwort«, rief Poppy, die ich ohne ihre Bommelmütze beinahe nicht erkannt hätte. Mit hastigen Schritten marschierte sie auf die Eingangstür zu. »Gerald, Harriet, Mathilda. Kinder. Habt vielen Dank für die Stärkung.« Sie winkte in die Runde, bevor sie entschlossen in die Hände klatschte: »Leute! Wir müssen los!«
»Ich gucke mal, ob ich Jason irgendwie helfen kann.« Im Vorbeigehen stellte Crispian die Keksschale auf dem Rezeptionstresen ab und verschwand aus meinem Blickfeld.
Mathilda machte sich schon mal in die Bibliothek auf, wohin Zelda und ich ihr gleich folgen würden. Denn wir hatten versprochen, ihr beim Schmücken zu helfen. Bis dahin bauten wir uns neben Gerald und Harriet schlotternd in der Eingangstür auf und winkten dem klapprigen VW-Bus hinterher, der gefährlich schnell auf die verschneite Kurve zuschlitterte.
»Hoffentlich schaffen sie es noch rechtzeitig nach Hause!« Fürsorglich schlang Gerald seine wärmenden Arme um die bibbernde Harriet. Ach, die beiden waren einfach immer so lieb miteinander.
»Bestimmt«, seufzte Harriet zuversichtlich und kuschelte sich wohlig an ihn. »Du kennst doch Poppy. Die fährt einen ganz schön heißen Reifen.«
»Eben«, brummte Gerald.
Die Arme gegen die Kälte fest um uns geschlungen, spähten Zelda und ich noch erwartungsvoll durch das dichte Schneetreiben die Auffahrt hinunter, als sich die beiden längst wieder in die wohlige Wärme des Hotels zurückgezogen hatten.
»Willst du immer noch zum Schild runtermarschieren?« Wie sehr ich hoffte, dass Zelda Nein sagen würde!
»Ich glaube, das wird nicht nötig sein, Lillylein!«, jubilierte sie und stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite.
Die rot leuchtenden Rücklichter des VW-Busses waren gerade in der Dunkelheit verschwunden, da drang ein wütendes Gehupe zu uns herauf, was nur eins bedeuten konnte: Poppy war in der lang gezogenen Kurve ein anderes Auto entgegengekommen. Das musste er sein! Zeldas Großvater war da! Er war wirklich gekommen!
Ich hatte einen Rolls-Royce oder Bentley oder einen Mercedes oder sonst ein gediegenes Auto erwartet. Eben ein Gefährt, das ich mit so einem wichtigen Mann wie Zeldas Großvater in Verbindung gebracht hätte. Und deshalb traute ich meinen Augen kaum, als sich ein Mini bedächtig um die Kurve arbeitete, bevor er auf den Hotelparkplatz einbog. Mir schwante nichts Gutes.
Mit hypnotischem Blick starrte Zelda das beschlagene Seitenfenster an, hinter dem im gleichen Augenblick, in dem der Motor verstummte, die Innenbeleuchtung aufflackerte. Aus einem schemenhaften Schatten wurden die undeutlichen Umrisse einer Gestalt, die hinter dem Steuer saß, den Gurt abschnallte und ihre Sachen zusammensuchte. Ob Mann oder Frau, war unmöglich zu erkennen. Ich hielt den Atem an.
Die Wagentür schwang auf und …
»Halleluja!«
Der erleichterte Seufzer kam eindeutig von einer Frau, und die kletterte jetzt etwas umständlich aus dem Wagen ins Licht der Parkplatzlaternen.
»Oh!« Zeldas Schultern sackten nach unten.
»Wer zum Henker ist das denn?«, murmelte ich total enttäuscht. Das Hotel war bis Neujahr geschlossen. Harriet erwartete keine Gäste. Die Angestellten hatten Urlaub und waren in alle Himmelsrichtungen verstreut.
»Die Straßenverhältnisse sind der reinste Albtraum, dabei soll der Spaß ja erst noch so richtig losgehen.« Die Frau drückte eine graue Wollmütze auf ihre schulterlangen blonden Haare und zog den Gürtel um ihren roten Steppmantel fester. Sie war noch nicht so wahnsinnig alt. Bestimmt erst Anfang dreißig. »Zentimeterhoch liegt der Schnee und von Schneepflügen keine Spur. Man kann nur kriechen, weil die Sicht auch sehr zu wünschen übrig lässt. Dann ist meine asthmatische Klimaanlage auch noch ab Lancaster in den Streik getreten.«
Ihr Kopf verschwand im Wageninneren, und als sie wieder daraus hervorkroch, zerrte sie eine verräterisch große, rechteckige Ledertasche mit einem überlangen Riemen, zwei Schnallen und Stiftfächern auf der Vorderseite mit sich.
»Eine Lehrerin?«, stöhnte ich entsetzt auf. »Hat man denn noch nicht mal in den Ferien vor denen seine Ruhe?«
»Die sind wir ganz schnell wieder los!«, knurrte Zelda angriffslustig.
Mit einem entschiedenen Schubs donnerte die Frau die Wagentür zu, stemmte die Hände in die Hüften und blinzelte gegen die Schneeflocken an, um die Fassade des Hotels genauer in Augenschein zu nehmen. Sie nickte anerkennend. »Ein bisschen anders als im Prospekt, muss wohl an den Lichtverhältnissen liegen, aber trotzdem wunderschön!« Händereibend eilte sie um den Wagen herum und öffnete die Heckklappe.
»Entschuldigen Sie, Mrs …!« Zelda trat einen Schritt vor, erinnerte sich aber dann offensichtlich daran, dass sie ihre plüschenen Hausschuhe trug, und sprang schnell zurück ins Trockene. »Das Hotel ist geschlossen. Bis zum Ende der Ferien.«
Mit einem Rums landeten die beiden verbeulten Koffer, die die Frau gerade aus dem Kofferraum gehievt hatte, im Schnee. Kurz starrte sie uns fassungslos an. Doch schon im nächsten Moment verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen.
»Nein, nein, nein!« Der Zeigefinger ihrer rechten Hand schnellte wie ein Metronom von links nach rechts und wieder zurück. »Ich bin hier goldrichtig. Und erzählt mir nichts anderes, denn sonst müsste ich einen Schreianfall bekommen, und glaubt mir, das wollt ihr nicht!«
Mit einer geübten Handbewegung schulterte sie erst die prall gefüllte Lehrerinnentasche, dann hob sie ächzend die beiden Koffer an. Sie straffte die Schultern und hielt mit der Erbarmungslosigkeit einer Dampfwalze auf uns zu. Wären wir nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen, hätte sie uns einfach überrannt.
»Echt jetzt?« Zelda bekam den Mund nicht mehr zu.
»Mrs …« Harriet suchte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen, den ihr unerwarteter Gast ihr vor zehn Sekunden genannt hatte. Zusammen mit uns stand sie wie eine unüberwindliche Mauer hinter der Rezeption.
»Hamilton. Felicia Hamilton!« Mrs Hamilton zog ihre Wollmütze vom Kopf. »Ich habe gebucht. Schon im August. Gucken Sie nach!«, verlangte sie und beugte sich weit über den Tresen. Mit dem Zeigefinger klopfte sie auf den vor den Augen der Gäste eigentlich gut versteckten und zugeklappten Laptop. »Nun schalten Sie das Ding schon an und Sie werden sehen, dass ich Ihnen keinen Unsinn erzähle. Felicia Hamilton.«
Der tanzte bestimmt kein Schüler auf der Nase herum.
»Mrs Hamilton, wenn Sie mir nur einen Moment zuhören wollten, es ist, wie meine Tochter Ihnen schon …«
Mrs Hamilton schnitt Harriet einfach das Wort ab.
»Moment!« Die Lehrerinnentasche landete auf dem Boden. Zelda und ich beugten uns über den Tresen und sahen, wie Mrs Hamilton die Ärmel ihres Steppmantels hochschob, bevor sie in die Hocke ging, um in der Tasche zu wühlen. »Ich habe reserviert, Mrs Riley. Und ich kann es auch beweisen.« Triumphierend reckte sie ihr Handy in die Höhe und richtete sich wieder auf. »Ein Doppelzimmer mit Seeblick und Badezimmer mit Badewanne. Vollpension.« Sie hielt Harriet, Zelda und mir das Handy unter die Nase. »Bitte schön! Die Buchungsbestätigung, die ich von Ihrem Hotel erhalten habe!« Ein siegessicheres Lächeln breitete sich auf ihrem spitzen Gesicht aus. »Da steht es schwarz auf weiß! Und jetzt behaupten Sie noch mal, Ihr Hotel sei geschlossen. Montfort Lakeside Country House Hotel. Ein Doppelzimmer. Vom vierundzwanzigsten Dezember bis zum …«, zitierte sie das, was wir auf dem Handydisplay lesen konnten.
»Ach, jetzt verstehe ich!«, fiel Harriet ihr ins Wort.
»Wer lesen kann, ist im Vorteil«, murmelte Zelda und ich musste kichern.
»Sehen Sie, es ist doch eigentlich alles ganz einfach!«, säuselte Mrs Hamilton mit dem nachsichtigen Ton, mit dem sie im wahren Leben wahrscheinlich einen Schüler lobte, der endlich kapiert hatte, dass zwei und zwei vier sind. Sie drückte die rechte Seitentaste ihres Handys und der Bildschirm wurde schwarz.
»Das ist es wirklich.« Harriet strich sich das Haar über die Schulter zurück. »Sie haben den falschen Hotelnamen in Ihr Navi eingegeben, Mrs Hamilton. Da sind Sie nicht die Erste, der das passiert. Wir sind hier im Montfort Lakebay Country House Hotel. Sie wollten aber zum Montfort Lakeside Country House Hotel und das liegt am gegenüberliegenden Ende des Sees.«
Es dauerte einen Moment, bis Mrs Hamilton die Information und die Konsequenzen daraus verarbeitet hatte. Ihre Schultern sackten kraftlos nach vorn.
»Tun Sie mir das nicht an!« Mit einem Ruck richtete sie sich wieder auf. »Gute Frau, ich hatte in letzter Zeit sehr viel um die Ohren. Ich brauche wirklich ganz dringend Urlaub. Das verstehen Sie doch!«
»Selbstverständlich und trotzdem …« Harriet hob bedauernd die Schultern. »Wenn Sie sofort losfahren, schaffen Sie es bestimmt noch.«
»Auf der anderen Seite des Sees, sagten Sie? Das ist eine wirklich lange Strecke. Der See ist gigantisch groß. Und dann auch noch bei diesem Wetter!« Mrs Hamilton drehte den Kopf zu den beiden Sprossenfenstern hinter der weinroten Ledersitzgruppe, die den Blick auf das wilde Schneeflockengewirbel preisgaben. »Tut mir leid, aber ich gehe nirgendwo mehr hin! Ich streike!« Zur Bekräftigung ihrer Worte verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Das würde ich mir an Ihrer Stelle überlegen«, riet Zelda. »Unsere Heizung ist ausgefallen.«
»Was kann ich dafür, dass Ihr Hotel bis auf diese eine lächerliche Silbe den gleichen Namen trägt wie das, in dem ich gebucht habe?« Die Sache mit der Heizung schien Mrs Hamilton geflissentlich überhört zu haben. »Das ist bewusste Irreführung der Kundschaft und genau deswegen ist es Ihre Pflicht, mir jetzt und sofort ein Zimmer anzubieten. Mit Seeblick und Badewanne. Und Kamin.«
Unschlüssig fuhr sich Harriet mit der Zunge über die Lippen. Nicht einknicken, dachte ich, während ich sie mit meinem Blick zu hypnotisieren versuchte. Nicht einknicken!
Das kommt jetzt wahrscheinlich sehr egoistisch rüber, aber ich hatte mich auf ein richtig schönes Weihnachtsfest mit Zeldas Familie gefreut. Auf Truthahn, Knallbonbons und Weihnachtspudding. Auf Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen See, heißen Tee und lange Spielenachmittage, die nur von sehr langen Fernsehnachmittagen unterbrochen wurden. Auf einen nervigen Fremdkörper an der Festtafel hatte ich echt überhaupt gar keine Lust.
Klar, es war Weihnachten. Herbergssuche und das alles. Und trotzdem. So weit konnte doch auf der anderen Seite des Sees gar nicht sein.
Harriets nachdenklich gefurchter Stirn nach zu urteilen, wog sie genau die gleichen Überlegungen gegeneinander ab. Es war Zelda, die widerstrebend einlenkte und das Unvermeidliche und einzig Wahre kurzerhand aussprach:
»Sie können bleiben«, brummte sie. »Es ist Weihnachten, und wie ich meinen Vater kenne, hat er für eine ganze Fußballmannschaft gekocht.«
»Du hast völlig recht, Zelda«, pflichtete Harriet ihr prompt bei. »Bei der aktuellen Wetterwarnung ist es wirklich zu riskant, die Strecke um den See zu fahren. Bitte seien Sie unser Gast!«
»Na, wenn Sie mich so höflich bitten …!« Mrs Hamilton zauberte ein charmantes Lächeln auf ihr Gesicht. »Wenn das Hotel eh gerade leer ist, dürfte das ja mit dem Seeblick und der Badewanne kein Problem sein, oder? Kann mir jemand mit dem Gepäck helfen? Sie werden meine Anwesenheit gar nicht bemerken. Versprochen! Alles, was ich will, ist Ruhe.«
Ich biss mir auf die Zunge. Na toll!
»Aber selbstverständlich!«, seufzte Harriet pflichtschuldigst.
»Eine Frage, Mrs Hamilton?«, setzte Zelda an und ich wusste sofort, wonach sie sich erkundigen wollte. »Ist das Hinweisschild an der Straße noch gut zu erkennen?«
»Gott sei Dank ist es das. Wäre es nicht so schön beleuchtet, wäre ich nämlich in den Graben gefahren.«
Harriet lächelte verkniffen und nahm den Telefonhörer auf. Ihre Finger huschten über die Tastatur. Dann lauschte sie. »Crispian? Wie läuft es mit Jason und der Heizung?« Im Zeitlupentempo zogen sich ihre Augenbrauen zu düsteren Gewitterwolken zusammen. Das konnte nur eins heißen. Die Heizung war unwiederbringlich hinüber. Kaminfeuer überall. Wie in Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte.
»Dann kann man nichts machen. Sag Jason bitte, er soll jetzt Schluss machen, damit er es noch nach Hause schafft. Okay. … Stopp! Halt! Nicht auflegen! Könntest du bitte zur Rezeption kommen? Du müsstest einem Gast mit dem Gepäck … Ja, ich weiß, dass wir geschlossen haben, mein Sohn. Es handelt sich um eine Art Notfall.«
»Wow! Was ist denn da drin?« Verblüfft wog Crispian Mrs Hamiltons Koffer in den Händen. »Haben Sie die Goldreserven der Bank von England gestohlen?«
Mrs Hamilton lächelte mitleidig. »Da ist etwas viel Wertvolleres drin. Literatur.«
Nachdem Mrs Hamilton Namen, Anschrift, Geburtsdatum und -ort und noch ihren Beruf – Lehrerin, wir hatten mit unserer Vermutung also richtiggelegen! – in das Leder gebundene Gästebuch eingetragen hatte, wandte Harriet sich zu den Schlüsselfächern in ihrem Rücken um.
»Zimmer Nummer fünf. Das Jane-Austen-Zimmer.«
Hier sollte ich noch was erklären: Harriet war nicht die Eigentümerin des Hotels. Sie leitete es aber und das mit absoluter Liebe zum Detail. Für jedes Zimmer hatte sie sich ein eigenes Motto überlegt und es danach gestaltet: Jane Austen, Downton Abbey, Oscar Wilde, Charlotte Brontë, Shakespeare und, und, und. Im ganzen Königreich hatten sie und Gerald Flohmärkte bereist und Antiquitätenläden besucht, um passende Möbelstücke und ausgefallene Accessoires zusammenzusuchen. Als die letzte Vase ihren Platz gefunden hatte, hat sie sogar ein paar Tränchen verdrückt. Das hatte Zelda mir erzählt. Nur ein Detail fehlte Harriet noch zu ihrem Glück.
»Ein Butler«, hörte ich sie manchmal seufzen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Meistens scrollte sie da gerade durch die Websites anderer Hotels. »Ein diplomierter Butler, der wäre es!« Den wollte sie nicht für sich, sondern für die Gäste, denn vor allem die vom Kontinent hielten einen Butler für den Inbegriff des gehobenen britischen Lebensstils. Nur konnte Harriet sich den trotz zahlreicher zufriedener Gäste immer noch nicht leisten.
Zielsicher griff sie jetzt nach dem antiken Schlüssel mit dem bronzefarbenen Anhänger und übergab ihn an Mrs Hamilton.
»Jane Austen?« Mrs Hamilton strahlte. »Können Sie Gedanken lesen?«
»Ich gebe mir Mühe!«, erwiderte Harriet mit einem zufriedenen Lächeln. »Wunderschöner Seeblick und eine Badewanne auf Löwenfüßen und im Regal finden Sie natürlich die Werke der lieben Miss Austen. Später stoßen wir hier im Foyer mit Weihnachtspunsch auf das Fest an und dann verwöhnt uns noch mein Mann mit seiner berühmten Weihnachtssandwichtorte. Wenn Sie also mögen, sind Sie herzlich dazu eingeladen.«
»Danke, Mrs Riley.« Glückselig presste Mrs Hamilton den Schlüssel an ihre Brust, als wäre er der kostbarste Schatz der Kronjuwelen. Sie schien sich wirklich sehr auf Ruhe und Beschaulichkeit zu freuen. Na gut, dann sollte sie eben mit uns feiern.
»Wir müssen in den ersten Stock.« Als erfahrener Aushilfspage ließ Crispian ihr galant den Vortritt. Mir wurde ganz warm ums Herz. Hoffentlich wusste Claire, was für ein Glück sie mit Crispian hatte! Ich will ganz ehrlich sein. Emanzipation, Gleichberechtigung, Frauenrechte sind für mich selbstverständlich. Aber ich mag es schon auch, wenn ein Junge ein Mädchen höflich behandelt. Ihr die Tür aufhält und sie zum Eis einlädt. Das eine schließt das andere ja nicht aus.
»Nichts zu danken«, sagte Harriet und setzte sehnsuchtsvoll hinzu: »Ein paar freie Tage!« Dabei machte sie ein Gesicht wie ein Kind, dem man den Schokoladenweihnachtsmann schon vor die Nase gehalten, dann aber im letzten Moment wieder weggenommen hatte. »Was soll’s? Ich sage Gerald Bescheid, dass er für den Abendimbiss einen Teller mehr aus dem Schrank nehmen soll. Und hattet ihr nicht versprochen, Mathilda in der Bibliothek zur Hand zu gehen?«
»Ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen!«
»Woher weißt du nur immer, wer einen Raum betritt?«
Ehrlich, Mathildas Fähigkeiten grenzten für mich an ein Wunder. Wir hatten auf dem Weg in die Bibliothek nicht ein Wort gesprochen, auch nicht gekichert oder so, als ich die Tür geöffnet hatte und wir nacheinander den wohlig warmen Raum betraten. UND Mathilda saß mit dem Rücken zu uns. Okay, der Aspekt zählt nicht. Schließlich hätte sie uns auch nicht erkennen können, wenn sie mit ihren blinden Augen direkt in Richtung Tür geschaut hätte.
»Weil die Natur es so eingerichtet hat, dass sich alle anderen Sinne schärfen, wenn man einen einbüßt«, antwortete Mathilda und betastete forschend die große dunkelrote Weihnachtskugel in ihrer Hand, auf der silberner Glitter wie Sternenstaub glitzerte.
Mathildas silbergraues Haar war zu einem schicken Kurzhaarschnitt frisiert und wie immer trug sie einen knielangen Rock, hohe Schuhe und über ihrem Twinset die obligatorische Perlenkette. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war. Sie war schon Harriets Kindermädchen gewesen, bevor die sie dann viele, viele, sehr viele Jahre später als Nanny für Crispian und Zelda eingestellt hatte. Das Leben hatte Mathilda tiefe Furchen ins Gesicht gemalt und genau das machte sie in meinen Augen unglaublich schön. Stundenlang hätte ich sie anschauen und ihre Falten und Runzeln studieren können. Absolut faszinierend war auch die große Sicherheit, mit der sie sich trotz ihrer Erblindung durch das Hotel bewegte, an der Rezeption aushalf und Gäste auf ihre Zimmer führte.
»Seit meinem Unfall habe ich gelernt, gewissermaßen mit Händen, Nase und Ohren zu sehen. Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber der Tast- und Geruchssinn und das Gehör verraten einem mitunter mehr, als man mit bloßem Auge sehen kann. So lausche ich auf Geräusche, Zwischentöne, Feinheiten, die anderen Menschen vielleicht gar nicht auffallen. Du, meine liebe Lilly, gehst leise, fast wie eine Katze, während Zelda marschiert wie eine ganze Elefantenhorde.«
»Tu ich gar nicht!«, lachte Zelda und schob die Kisten und Kästen, aus denen Bänder, Girlanden, Lichterketten und anderer Weihnachtsschmuck hervorquollen, etwas beiseite, damit wir uns auf das Sofa gegenüber von Mathilda setzen konnten. »Was hast du für uns übrig gelassen?«
Mathilda nickte zum Mistelzweig, der links vor mir auf dem Sofatisch bereitlag. »Der wartet darauf, über der Tür angebracht zu werden, Lilly. Und die Girlande vor deiner Nase, Zelda, gehört um den Kaminsims drapiert. Und bitte häng diese Kugel hier genau in die Mitte. Ich liebe es so sehr, mir vorzustellen, wie das Licht des Feuers den silbernen Glitter zum Leuchten bringt. Und jetzt erzählt mir von der Frau, die gerade eingecheckt hat!«
Ich sage es ja: Mathilda hat magische Kräfte.
Für mich sind Bibliotheken die schönsten Rückzugsorte. Dafür sorgen schon allein die unzähligen Bücher, die ringsum vom Boden bis zur Decke die Regale an den Wänden füllen. Aber eine Bibliothek, die für Weihnachten geschmückt und dekoriert wird, ist einfach unschlagbar. Da ist natürlich als Erstes der prächtige Weihnachtsbaum zu nennen, der schon seit Wochen bis zu dem Engel auf der obersten Tannenspitze geschmückt war. Gerald und Jason hatten ihn schräg gegenüber des großen Kamins vor einer der drei Fenstertüren an der Seeseite zwischen zwei Bücherregalen so aufgestellt, dass die mächtigen Zweige genug Platz hatten, sich schützend über die Weihnachtsgeschenke auszubreiten. Dann waren da die dicken roten Kerzenstumpen in den Windlichtern auf den Fensterbänken vor den vier Sprossenfenstern, die den Blick in den Park freigaben. Ihr Schein vervielfachte sich im Spiegel der Scheiben und erweckte so die Illusion von Hunderten leuchtender Lichter. Dazu die wild wirbelnden Schneeflocken. Perfekter hätte kein Hollywood-Regisseur seine Bibliothekskulisse inszenieren können.
Weil die Türen im Montfort richtig hoch sind, musste ich erst die Leiter aus der Abstellkammer unter der Treppe holen, bevor ich mich mit Mistelzweig und Reißzwecken ans Werk machen konnte. Zelda hatte den Kaminsims schon mit der Girlande verziert und die rote Kugel baumelte bereits über dem Feuer, dass der Glitzerstaub nur so strahlte, als ich endlich die Leiter hinaufkraxelte.
»Ihr Zweitfach ist unter Garantie Geschichte!«, überlegte Zelda mit kraus gezogener Nase. Natürlich galt diese Bemerkung Mrs Hamilton, von der sie Mathilda in meiner Abwesenheit berichtet haben musste. Ich wusste, dass diese Zuordnung für Mrs Hamilton kein Kompliment war. Denn auch wenn Zelda in Geschichte auf einer Eins stand, fand sie Verfassungen, Verträge und Grenzverschiebungen gähnend langweilig. Erst wenn es um Liebschaften (Cäsar und Kleopatra), Leidenschaften (Napoleon und Joséphine) oder unmögliche Allianzen (Elisabeth I. und Robert Dudley, die Liebe ihres Lebens) ging, war sie voll bei der Sache.
»Englisch und Latein!« Das lag für mich auf der Hand.
Mit höchster Konzentration balancierte ich auf der klapprigen Leiter und bohrte die Reißzwecke erst durch das rote Band, das um den Mistelzweig gebunden war, und versenkte sie dann im weichen Holz des Türrahmens.
Die Indizien sprachen für sich. Begeisterung für Jane Austen und gute Literatur. Fester Glaube an Regeln. Suche erst das Prädikat. Es wird dir den Weg zum Subjekt weisen und der Rest ergibt sich, wenn du deine Grammatik draufhast. So machte man das doch, wenn man einen Text aus dem Lateinischen übersetzen muss. Hatte ich mir zumindest sagen lassen. Bei dem Gedanken an Konjugationen und Deklinationen und sonstige -ionen musste ich mich schütteln.
»Können wir bitte das Thema wechseln?« Als ich mich zu Zelda umsah, war sie gerade dabei, die Weihnachtssocken an den Kaminsims zu hängen. Für jeden gab es eine. Und damit es am Weihnachtsmorgen zu keinen Verwechslungen kommen konnte, war der Name des Besitzers aufgestickt worden. Ich las: Gerald, Harriet, Mathilda, Crispian und Zelda. Mit strahlenden Augen hielt Zelda eine sechste Socke in die Höhe und streckte sie mir entgegen. Ich schluckte gegen den aufsteigenden Kloß in meinem Hals an.
»Sie ist … sie ist … wunderschön!«, stammelte ich völlig überwältigt. »Ich danke euch!«
In verschnörkelter Schrift und mit grüner Wolle war mein Name auf den weihnachtsroten Socken gestickt worden. Lilly.
»Was heißt denn hier euch?« Entrüstet ließ Zelda den Socken wieder sinken. »Bedank dich bei mir! Ich habe mir die Finger wund gepikt an dieser schrecklich unhandlichen, fetten Sticknadel mit ihrer fies spitzen Spitze!«
Ich prustete los, Zelda war einfach zu witzig. Wie sie wütend tat, weil sie das Lob für ihren selbstlosen Einsatz mit dem Rest ihrer Familie teilen sollte. »Alle fanden die Idee super und dann haben sie mich alleine arbeiten lassen!«
»Du bist eben eine echte Freundin!« Jetzt erinnerte ich mich auch wieder: Letzte Woche waren ihre Fingerkuppen mit Pflastern zugetapt gewesen und auf meine Nachfrage hin hatte sie behauptet, sie hätte Gerald in der Küche geholfen. Was ich ihr nicht eine Sekunde abgenommen hatte. Zelda und Küchenarbeit? Nie im Leben! So schnell ich konnte, kletterte ich die Leiter hinunter und flog ihr in die Arme. »Du bist so ein Schatz!«
»Damit ist es amtlich«, keuchte Zelda und wand sich nach Luft schnappend aus meiner Umarmung. »Ab heute gehörst du zu den Rileys und hast den Gaststatus, der dich unter Artenschutz gestellt hat, verloren.« Zelda zuckte mit gespieltem Bedauern die Schultern. »Tut mir echt leid für dich!«
»Damit komm ich schon klar!«
Lilly Riley, ließ ich mir leise auf der Zunge zergehen, während ich wieder zur Leiter zurückschlenderte. Klang das nicht, als hätten diese beiden Namen schon immer zusammengehört?
»Geschichtsunterricht kann sehr spannend sein«, nahm Mathilda Zeldas Bemerkung zu meinem Leidwesen wieder auf, während ich die Leiter zusammenklappte, sie an die Wand lehnte und zum Sofa zurückging, um den restlichen Weihnachtsschmuck genauer unter die Lupe zu nehmen. Mathilda hatte es sich mittlerweile auf einem Höckerchen vor dem Weihnachtsbaum bequem gemacht. Neben ihr stand eine Kiste mit ein wenig Moos, Heu und den Krippenfiguren. »Heinrich VIII. zum Beispiel.« Sie beugte sich vor und nahm den hölzernen Josef aus der Kiste.
»Oh, ja, bei dem konnte man als Frau nur zusehen, dass man bei drei weg war!«, rief Zelda düster und drehte sich mit leuchtenden Augen zu uns um. Dann zählte sie an sechs ihrer Finger das Schicksal seiner Ehefrauen auf: »Divorced. Beheaded. Died. Divorced. Beheaded. Survived.«
Schon wieder musste ich lachen. Klar, dass sie da Bescheid wusste.
»Er brauchte nun mal einen Erben für seinen Thron«, wandte Mathilda ein.
»Ist das ’ne Entschuldigung?«, entrüstete sich Zelda und ich fand auch, dass er sich für das Problem eine andere Lösung hätte einfallen lassen können als Scheidung und Enthauptung.
Mathilda überlegte kurz. »Oder Richard III., der angeblich seine beiden Neffen hat ermorden lassen, damit ihm niemand die Krone streitig machen konnte. Obwohl man da ja mittlerweile auch Heinrich VII. im Verdacht hat. Oder Nero, der Muttermörder.«
Das fiel schon mehr in mein Gebiet.
»Manchmal gibt es nichts Gefährlicheres als die eigene Familie«, hörte ich Mathilda nachdenklich seufzen, gerade als ich die Weihnachtsgurke in dem Karton mit dem restlichen Christbaumschmuck entdeckte.