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Ein Sommer, ein junger Lord, rätselhafte Geheimnisse und ein unheimlicher Fluch – in diesem englischen Herrenhaus ist die Zeit stehen geblieben! Endlich! Kurz nach ihrem Abi reist die 18-jährige Juno zu einem englischen Adelssitz, wo sie ein Jahr Gesellschafterin einer alten Dame sein wird. Dort ist alles altmodisch: Es gibt unbequeme Kleider, Kerzenlicht und kein Internet – aber auch einen jungen Lord, der Juno schon bald nicht mehr aus dem Kopf geht. Doch alles wird immer merkwürdiger, es scheint, als wäre auf dem Anwesen die Zeit stehen geblieben ... Und wer ist die geheimnisvolle Isobel Halewood, deren ehemaliges Zimmer Juno bewohnt und an die sich trotzdem niemand erinnert? Eine mysteriöse Liebesgeschichte vor der Kulisse des 19. Jahrhunderts im englischen Adel – für Fans von Jane Austen und Bridgerton
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Seitenzahl: 383
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Endlich! Kurz nach ihrem Abi reist die 18-jährige Juno zu einem englischen Adelssitz, wo sie ein Jahr Gesellschafterin einer alten Dame sein wird. Dort ist alles altmodisch: Es gibt unbequeme Kleider, Kerzenlicht und kein Internet – aber auch zwei junge Lords, die Juno schon bald nicht mehr aus dem Kopf gehen. Doch alles wird immer merkwürdiger, es scheint, als wäre auf dem Anwesen die Zeit stehen geblieben … Und wer ist die geheimnisvolle Isobel Halewood, deren ehemaliges Zimmer Juno bewohnt und an die sich trotzdem niemand erinnert?
Ein Sommer, zwei junge Lords und viele mysteriöse Geheimnisse!
Juno Sondorf
18 Jahre alte deutsche Abiturientin, die für ein Jahr eine Stelle als Gesellschafterin bei den Calvertons angenommen hat
Lord Sebastian Calverton, achter Earl of Witham
22 Jahre alt, Hausherr über Staunton House, Junos Arbeitgeber
Lady Fiona Calverton
Sebastians 18-jährige Schwester
Lady Marjorie Calverton, Dowager Countess of Witham
Weit über 80 Jahre alt, Sebastians und Fionas Großmutter
Lord Robert Farnfield, zukünftiger 7. Viscount Melton
22 Jahre alt, bester Freund von Sebastian
Mr Charles Wharton
ein amerikanischer Freund von Sebastian, Besitzer einer Waggonfabrik
Mrs Laura Wharton
seine Frau
Sicherlich kommt es Juno zugute, dass sie schon viele Bücher gelesen hat, die in englischen Adelskreisen spielen, und trotzdem dürfte auch sie glücklich darüber sein, dass sie sich einfach daranhalten kann, wie sich die jeweiligen Personen gegenseitig ansprechen. Das ist in England in der Welt des Adels nämlich gar nicht so einfach, weshalb ich hier kurz erklären möchte, wie die unterschiedlichen Arten der Anrede zustande kommen:
Sebastian Calverton ist der achte Earl of Witham. Um die Anrede abzukürzen, wird das of (wenn darauf der Name eines Ortes folgt) einfach weggelassen und anstelle des Earls wird vor den Ortsnamen der Lord gesetzt, was Sebastian zu Lord Witham macht. Als sein bester Freund erlaubt sich Robert manchmal die kumpelhafte Anrede »Witham« oder er sagt einfach Sebastian.
Als Sebastians Schwester, die keinen Adelstitel trägt, wird Fiona zu Lady Fiona Calverton, muss sich also mit dem bürgerlichen Familiennachnamen begnügen, was zu Lady Fiona abgekürzt wird. Für gute Freunde ist sie Fiona.
Lady Marjorie ist die Witwe eines Earls und darf somit den Ehrentitel Dowager Countess (was so viel heißt wie Gräfinwitwe) of Witham tragen, wird aber als Lady Marjorie angesprochen.
Was Robert Farnfield anbelangt, so ist er der Titelerbe des noch amtierenden 6. Viscount Melton, eben seines Vaters. Wahrscheinlich würde er im wahren Leben bereits einen niedrigeren Adelstitel seines Vaters übertragen bekommen haben, aber um nicht für mehr Verwirrung zu sorgen als nötig, habe ich mich hier dafür entschieden, dass er einfach als Lord Farnfield angesprochen wird. Seine Freunde nennen ihn Robert.
Personenregister
Wer wird wie angesprochen
Ewig & immer
Epilog
Sie können mich hier rauslassen. Den Rest gehe ich zu Fuß.«
Ich hatte mir so fest vorgenommen, den Taxameter nicht aus den Augen zu lassen. Und nun habe ich mich doch von der Schönheit der hügeligen Landschaft Cornwalls einfangen lassen mit dem Ergebnis, dass mein Portemonnaie gleich so leer sein wird wie mein knurrender Magen.
»Das ist aber noch ein ganzes Stück bis rauf zum Herrenhaus«, warnt mich der Taxifahrer. Obwohl er auf die Bremse geht, verlangsamt er nur unwesentlich die Fahrt.
Verstohlen werfe ich einen schnellen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Eine Stunde vor dem Nachmittagstee sollte ich da sein und jetzt bin ich schon – oh Gott, echt jetzt? – fünfzehn Minuten zu spät! Mit der Unpünktlichkeit der Bahn hatte ich gerechnet. Wieso soll die in England auch zuverlässiger sein als in Deutschland? Aber dass der Busfahrer sich nicht an die Haltestellen hält, sondern auf dem Weg für jeden stoppt, der vom Straßenrand aus winkt, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.
Mir wird heiß und kalt. Ich hasse es, zu spät zu kommen, und dann auch noch gleich am ersten Tag. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob der Taxifahrer mich nicht doch bis vor die Haustür fahren soll. Was ist wohl peinlicher? Seinen Job mit überdeutlicher Verspätung anzutreten oder seinen Arbeitgeber als Erstes darum bitten zu müssen, den Taxifahrer zu bezahlen? Letzteres, entscheide ich und behaupte: »Kein Problem! Bei dem tollen Sonnenschein!«
Schulterzuckend und mit einem geraunten »Der Kunde ist König!« hält der Taxifahrer vor dem eisernen Tor, hinter dem eine staubige Straße so gerade, als wäre sie mit dem Lineal in die Landschaft gezogen worden, den bewaldeten Hügel hinaufführt. Links und rechts von dem geschlossenen Eingangstor verliert sich die von Regen, Sturm, Sonne und Schnee ausgewaschene, beachtlich hohe Mauer in der Unendlichkeit des satten Grüns der Wiesen und Wälder. Ich kann nur vermuten, wie gigantisch groß das dahinterliegende Anwesen sein muss, von dem ich im Moment nur einen kleinen Ausschnitt erhasche.
»Das macht dann zweiunddreißig Pfund und fünfundachtzig Pence«, informiert mich der Taxifahrer.
Ich kneife ein Auge zu und ziehe zischend die Luft durch die Zähne. Laut ausgesprochen klingt der Betrag noch Furcht einflößender als beim Ablesen. Das Leder seines Sitzes knarzt, als sich der Fahrer mit väterlich besorgter Miene zu mir umdreht. »Und Sie sind sich auch ganz sicher, dass Sie sich nicht in der Adresse geirrt haben?«
»Zwanzig Pfund, dreißig Pfund …« Ich puste mir eine vorwitzige Haarlocke aus den Augen und halte erschrocken im Zählen inne. »Wie viele Herrenhäuser mit dem Namen Staunton House gibt es denn hier in der Gegend?«
»Nur das eine«, brummelt der Mann und öffnet sein riesiges Portemonnaie. »Es ist nur so, dass sich so gut wie nie jemand hierher verirrt. Die Calvertons gelten als ziemlich spleenig. Gefühlt haben die seit Ewigkeiten keinen Fuß mehr ins Dorf gesetzt.« Sein Zeigefinger wandert an seine Schläfe.
»Wenn es nur das eine gibt, dann bin ich hier trotzdem richtig!«
»Ganz wie Sie meinen«, erwidert der Taxifahrer schulterzuckend und steckt das Geld ein. Die Art, wie er angesichts des mickrigen Trinkgeldes die zusätzlichen Münzen einzeln und in Zeitlupe in ein Extrafach plumpsen lässt, entgeht mir nicht. Ja, sorry, aber bis vor ein paar Wochen war ich noch Abiturientin ohne festes Einkommen. »Soll ich kurz warten, um zu sehen, ob Sie da überhaupt reinkommen?« Sein Kinn ruckt in Richtung geschlossenes Eisentor.
»Das wird nicht nötig sein. Die wissen, dass ich komme. Vielen Dank und haben Sie noch einen schönen Tag!« Die Handtasche über der Schulter wuchte ich mich, meinen vollgestopften Rucksack und den megaschweren Riesenkoffer auf die Landstraße. Auch wenn diese altjüngferliche Mrs Plimpton von der Arbeitsvermittlungsagentur Plimpton & Sons established 1879 in London mich ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass auf Staunton House und allem, was dazugehört, eine strikte Kleiderordnung herrscht und ich für die Dauer meines Aufenthalts alles, was ich brauche, gestellt bekomme, will ich doch wenigstens in meiner Freizeit in meinen eigenen Klamotten rumlaufen. Ich schultere meinen Rucksack, während das Taxi hinter mir wendet und mit ziemlicher Geschwindigkeit in Richtung Busbahnhof zurückjagt. Das Dorf Staunton ist so klein, dass die britische Bahn es eines Bahnhofs nicht für würdig befunden hat.
Eine richtige Klingel kann ich nicht finden. Dafür baumelt aber eine altmodische Glocke mit romantisch verrostetem Klingelzug von einer Art Steg, der am linken Mauerpfeiler befestigt ist.
Ohne auch nur eine Sekunde zu verschenken, ziehe ich an der Eisenkette und es passiert … nichts. Wenn man mal von dem heiseren Krächzen der Glocke absieht, das so leise ist, dass es noch nicht mal den kleinen Vogel aufschreckt, der mich neugierig von der Mauer aus beobachtet.
Ich versuche es noch mal. Das Ergebnis bleibt das gleiche, aber bevor ich richtig nervös werden kann, schießt mir eine Idee durch den Kopf, die mich sofort ruhiger atmen lässt. Wenn die Calvertons wirklich so spleenig sind, wie der Taxifahrer meinte, dann könnte es doch gut sein, dass die Glocke nur eine stilechte Attrappe ist und der Klingelzug direkt im Haus auslöst. Dann müsste jetzt gleich das Tor mit einem leisen Klicken aufspringen. Was es aber konsequenterweise nicht tut. Denn solche Leute benutzen natürlich keine Fernbedienung, wenn sie stilecht den Butler losschicken können, um den Besuch in Empfang zu nehmen. Genau so wird es sein und je nachdem, wie weit Staunton House entfernt ist, kann das natürlich ein paar Minuten dauern. Zufrieden beschließe ich jetzt noch, dass das Betätigen der Klingel gleichbedeutend ist mit dem Zeitpunkt meiner Ankunft, und entspanne mich. Aber nicht lange. Denn sosehr ich auch die Zufahrt hinaufstarre, es kommt niemand, um mich abzuholen. Probehalber rüttele ich kräftig am Tor. Doch wie erwartet, lässt sich das Mistding nicht mal einen Zentimeterbreit öffnen.
Gerade als ich überlege, dass die Mauer viel zu hoch ist, um sie zu erklettern, entdecke ich jenseits des Tors zwischen den Bäumen ein gut verstecktes kleines Häuschen. Zu Jane Austens Zeiten hätte dort der Pförtner gewohnt und mit etwas Glück leisten sich Menschen, die sich heute noch den Luxus einer Gesellschafterin gönnen, auch einen Pförtner.
»Hallo? Hallo, könnte mich wohl jemand reinlassen? Ich bin Juno Sondorf. Die Calvertons erwarten mich! Hallo?«
Keine Reaktion.
Was für ein riesengroßer Scheißmist! Jetzt sitze ich irgendwo im Nirgendwo, habe bis auf die von Mrs Plimpton im fernen London keine Telefonnummer, unter der ich mich melden könnte, und so langsam, aber sicher läuft mir die Zeit davon. Wieso überhaupt hat Mrs Plimpton mir nicht von Anfang an die Telefonnummer der Calvertons gegeben und warum habe ich Idiot sie nicht danach gefragt?, ärgere ich mich, als ich mein Handy hervorzerre, um in der Agentur anzurufen.
»Bitte mach, dass die auch samstags zu erreichen sind. Bitte mach …«, bete ich leise, während ich auf das Freizeichen im Hörer lausche.
Beinahe hätte ich es überhört. Das ganz leise Klack, mit dem das Tor hinter meinem Rücken dann doch noch aufspringt.
»Na, endlich!«, hauche ich und schiebe energisch den weniger widerspenstigen Torflügel zumindest so weit auf, dass ich mich mitsamt Tasche, Rucksack und Koffer hindurchquetschen kann. Jetzt aber los! Doch bevor ich mich in Bewegung setze, straffe ich die Schultern, hole tief Luft und lasse für einen kurzen Moment den rechten Fuß über der unsichtbaren Grenzlinie zwischen der Landstraße und dem Park von Staunton House schweben, gerade so lange, wie es braucht, um diesen Moment für die Ewigkeit in mein Gedächtnis einzubrennen. Denn das hier wird der erste Schritt in mein neues Leben.
Kaum bin ich durch das Tor geschlüpft, fällt es hinter meinem Rücken mit dem gleichen fast geräuschlosen Klacken wie vorhin wieder ins Schloss.
Oh, mein Gott, ist das schön hier!« Staunend lege ich den Kopf in den Nacken und blinzele gegen das gleißende Sonnenlicht zu den sattgrünen Baumkronen hinauf, die sich wie riesenhafte Beschützer von beiden Seiten dicht an die sandige Zufahrt drängen. Dann bemerke ich die Luft: würzig, klar, ein Hauch von Salz. Mein geliebtes Meer, dessen Nähe mit ein Grund war, warum ich mich für die Anstellung bei den Calvertons entschieden habe, ist nicht weit weg. Ich folge der staubigen Allee die kleine Anhöhe hinauf. Wie still es hier ist. Nur die Schreie der Möwen und das leise Rauschen der Meeresbrise in den Blättern der Bäume sind zu hören. Als ob es die Welt da draußen gar nicht gäbe. Bei diesem Gedanken drehe ich mich noch einmal um und blicke zum Eingangstor zurück. Als wären die Bäume hinter mir noch näher zusammengerückt, fällt mein Blick auf eine Mauer aus undurchdringlichem Grün. Das Tor dahinter ist verschwunden.
Mit nachdenklich gekräuselter Stirn wende ich mich wieder in Gehrichtung. Im nächsten Moment trete ich aus dem Wald heraus und was ich jetzt zu sehen bekomme, lässt mich nach Luft schnappen. Mir schräg gegenüber thront auf der Kuppe eines Hügels inmitten einer gigantisch großen, top gepflegten Rasenfläche stolz und erhaben das Ziel meiner Reise: Staunton House. House? Echt jetzt? House? Ne, das ist ein Palast! Und was für einer!
Meine Augen gleiten über die symmetrische graue Steinfassade mit den vielen Sprossenfenstern, in denen sich das Sonnenlicht spiegelt. Über die unzähligen Schornsteine und Skulpturen, die die Brüstung des flachen Daches schmücken, in dessen Mitte sich eine gewaltige Kuppel erhebt. Und das ist mein neues Zuhause? Für die nächsten verdammten dreihundertfünfundsechzig Tage? Voll crazy!
Logo haben meine Großmutter und ich die Familie Calverton und Staunton House gegoogelt, kaum dass mein Zoom-Meeting mit der Arbeitsvermittlungsagentur in London beendet war. Gefunden haben wir nur das Foto von einem eingestaubten Gemälde, auf dem irgendwo in der Ferne ein graues Gebäude abgebildet war, das angeblich Staunton House darstellen sollte, nebst dem knappen Verweis darauf, dass die Calvertons hier schon seit Jahrhunderten sehr zurückgezogen leben. Weder das undeutliche Foto bei Wikipedia noch die Tatsache, dass Mrs Plimpton von einem Herrenhaus gesprochen hat, haben mich auf diesen unglaublichen Anblick vorbereiten können.
»Jackpot!«, kreische ich und reiße die Arme in die Luft, um mit wackelndem Po Emmas und meinen Shake-it-Baby-Freudentanz aufzuführen.
Apropos, Emma! Die glaubt mir doch kein Wort, wenn sie heute Abend beim verabredeten Video-Call zu hören bekommt, dass ihre beste Freundin, Juno Sondorf, also ich, in einem Mega-Jane-Austen-Downton-Abbey-Stately Home, bei waschechten Adeligen und hopefully in Gesellschaft eines kettenrasselnden Gespenstes untergekommen ist.
Gut, Letzteres weiß ich erst nach der Geisterstunde, die ja bekanntlich um Mitternacht beginnt. Oh, mein Gott!
Wie spät ist es eigentlich?
Shit! Shit! Shit! Gleich Viertel vor fünf, verrät mir mein Handy. Wenn ich jetzt nicht lossprinte, werde ich wahrscheinlich die erste Gesellschafterin in der Geschichte der Calvertons sein, die ihren Job verliert, bevor sie ihn überhaupt angetreten hat.
Mein Top klebt an meiner Haut und zwischen meinen Zehen reiben sich schmerzhaft die Sandkörner, die sich unbemerkt auf der Zufahrtsstraße in meine Flip-Flops gemogelt haben, als ich die gekieste Auffahrt überquere und die Stufen zur Haustür – oder treffender ausgedrückt: zum Eingangsportal – hinaufkeuche. Ich muss ja einen großartigen Anblick bieten! Eilig streiche ich die verschwitzten roten Locken von meinen feuchten Wangen und gebe mir ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen, bevor ich die Hand nach dem eisernen Klingelzug ausstrecke, der hier neben der Haustür baumelt. Vorsorglich ziehe ich gleich drei Mal beherzt daran. Und siehe da, irgendwo unter meinen Füßen schrillt in der Tat und nur leicht zeitversetzt ein Glöckchen auf. Drei Mal. Sofort taucht vor meinem inneren Auge diese eine spezielle Wand im Personaltrakt von Downton Abbey auf. Die mit den Glöckchen und den dazugehörigen Schildchen, auf denen mit geschwungener Schrift geschrieben steht, zu welchem der vielen Räume im Haus sie gehören. Und gerade jetzt in diesem Moment hat das Glöckchen über der Tafel mit der Aufschrift Main Entrance, Haupteingang, verkündet, dass ein Besucher da ist.
Ich trete zwei, drei Schritte zurück, weil ich es selber nicht ausstehen kann, wenn Besucher buchstäblich mit der Tür ins Haus fallen. Den Kopf in den Nacken gelegt, inspiziere ich diese coole Fassade. Die Front ist ganz schön lang und ziemlich hoch. Die Räume im Erdgeschoss und ersten Stock müssen gigantische Ausmaße haben, denn ansonsten gibt es nur noch schmale Souterrainfenster und eine Reihe winzig kleiner Fenster über dem ersten Stock. Und die Kuppel natürlich. Deren Heizkostenrechnung möchte ich nicht bezahlen müssen.
Ganz außer Atem, aber glücklich, endlich da zu sein, winke ich der Person zu, die mich von einem Fenster im ersten Stock aus beobachtet. Meine ich zumindest. Vielleicht hat sich aber auch nur ein vorbeifliegender Vogel in der Fensterscheibe gespiegelt. Denn jetzt ist der Schatten verschwunden.
Ohne Hast trete ich vom Fenster zurück. Gut möglich, dass sie meine Silhouette gesehen hat, mehr aber auch nicht.
Zufrieden lasse ich meinen Blick ein letztes Mal durch das Zimmer gleiten, das sie ab heute bewohnen wird. Alles ist perfekt arrangiert und wartet auf den neuen Gast.
Sie ist perfekt und völlig ahnungslos! Und wenn sie bemerkt, in was … nein, falls sie bemerkt, in was sie da geraten ist, wird es zu spät sein. Genau genommen war es das schon in dem Moment, in dem sie durch das Tor getreten ist.
Endlich erklingt hinter der Tür das bedächtige Klappern von Schuhsohlen auf steinernem Boden, beide Türflügel schwenken gleichzeitig auf und mir gegenüber steht ein älterer Herr in Butleruniform. Mit aller Macht versuche ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Ihn zu bestaunen wie ein Ausstellungsstück im Museum, käme bestimmt nicht gut an. Aber dieser Mann da vor mir ähnelt auf geradezu lächerliche Weise exakt meiner Vorstellung von dem klassischen englischen Butler. Sein weißes schütteres Haar, das an den Schläfen schon weit zurückgewichen ist, trägt er streng nach hinten gekämmt. Der ganze Mann strahlt eine einschüchternde Vornehmheit aus. Mit vorgerecktem Kinn lässt er seine ausdruckslosen Augen im Zeitlupentempo über mich wandern. »Ja, bitte?«
»Ich bin Juno«, platze ich heraus. »Sondorf. Die neue Gesellschafterin. Lord Witham wartet schon auf mich. Ich bin zu spät dran. Ich weiß, aber …«
Ein kurzes Zucken seiner rechten Augenbraue bringt mich sofort zum Schweigen.
»Der Dienstboteneingang befindet sich dort hinten, Miss Sondorf.« Kurz deutet er rechts um das Haus herum. Beide Türknäufe schon in den Händen fügt er noch hinzu: »Melden Sie sich bei Mrs Goring. Sie ist unsere Erste Hausdame und wird sich um Sie kümmern.«
Damit schnappen die Türen ins Schloss.
Verdattert starre ich eine Weile die geschlossene Tür an. Okay, das ist jetzt nicht gerade ein Paradebeispiel für die hochgelobte britische Höflichkeit gewesen. Und … echt jetzt? Dienstboteneingang? Erste Hausdame? Mit dem Downton-Abbey-Vergleich scheine ich ja mitten ins Schwarze getroffen zu haben. Grinsend hüpfe ich die Stufen wieder hinunter und mache mich auf die Suche nach dieser Mrs Goring. Erste Hausdame. Dienstboteneingang. Voll mega!
»Sie sind also Miss Sondorf, die neue Gesellschafterin ihrer Ladyschaft?«, begrüßt mich die erste Hausdame im Souterrain des Herrenhauses. Haben die noch nie eine junge Frau in Shorts gesehen? So wie mich nach dem Butler jetzt auch diese Mrs Goring anstarrt, ist zumindest klar, dass sie meine Aufmachung erstaunlich, verwunderlich, verwerflich … was? … obszön finden?
Aber hinter der gefurchten Stirn und in dem forschenden Blick der Ersten Hausdame, der über mein sommersprossiges Gesicht und meine grünen Augen wandert und an meinen roten ellenbogenlangen Haaren kleben bleibt, schimmert noch etwas anderes auf, das ich zwar nicht genau benennen kann, mir aber ein ungutes Gefühl vermittelt. Okay, Antipathie auf den ersten Blick. Das ist es. Sie mag mich nicht.
»Genau die bin ich!«, gebe ich umso strahlender zurück, während ich sie nun meinerseits ganz genau unter die Lupe nehme. Ist das gothic oder was für eine Stilrichtung soll das sein? Bodenlanges schwarzes hochgeschlossenes Kleid. Im Nacken zu einer Art Rolle zusammengestecktes braunes Haar. Sofort muss ich wieder an Downton Abbey denken, aber das trifft es nicht. Dieses Outfit ist eher im späten neunzehnten Jahrhundert zu verorten. Im ersten Moment denke ich, dass für den Abend ein Kostümball anstehen muss. Das würde zumindest erklären, warum alle Angestellten so altmodisch herumlaufen. Okay, im Buckingham Palace sind ja auch noch antiquierte Dienerkluften en vogue, aber dass die weiblichen Mitarbeiterinnen lange schwarze oder graue Kleider tragen, die zum Teil von fast ebenso langen weißen Schürzen bedeckt werden, und auf ihren zum Dutt zusammengefassten Haaren weiße Häubchen wie Krönchen blitzen, ist ja wohl ziemlich seltsam. Die Erinnerung an den Taxifahrer und an seine Bemerkung über die Calvertons kommt mir in den Sinn. Dass Engländer ganz schön spleenig sein können, ist ja genauso ein offenes Geheimnis, wie die Tatsache, dass sich so mancher die goldene Zeit des britischen Empires zurückwünscht, siehe Brexit, aber gleich so konsequent?
Oder aber … Ich lasse beide Theorien sausen und taste mit meinen Augen unauffällig die Decke ab, von der eine gusseiserne Laterne baumelt. Möglicherweise war die ausgeschriebene Stelle der Gesellschafterin nur die halbe Wahrheit und ich bin mitten in ein neues Reality-Show-Format vor historischem Hintergrund gestolpert. Dem englischen Adel geht es finanziell ja schon lange nicht mehr gut. Möglicherweise haben die Calvertons sich zur Geldbeschaffung an Netflix verkauft. Also, wo sind die Kameras versteckt?
»Ich hoffe, es gibt einen guten Grund für Ihre Verspätung?« Mrs Goring zieht scharf die Luft ein und gibt mir nicht wirklich die Chance zu antworten. Dabei hätte ich gerne klargestellt, dass ich normalerweise ein sehr zuverlässiger Mensch bin.
»Pünktlichkeit ist eine Tugend, die wir hier sehr pflegen, Miss Sondorf. Ich darf Sie bitten, in Zukunft mehr auf die Uhr zu achten.« Aufseufzend stößt sie die Luft aus. »Sei es drum, dann folgen Sie mir bitte!«
Sie spielt die distinguierte Hausdame wirklich mit Bravour und auch die leicht angestaubte Wortwahl passt perfekt zu ihrer Rolle. So viel steht schon mal fest.
Die Schlüssel, die an einem Eisenring von einem Lederband baumeln, das Mrs Goring um ihre Taille gebunden trägt, klimpern leise, als sie vor mir an der offen stehenden Küchentür vorbei auf die in die oberen Etagen führende Treppe zugeht.
»Ich werde Sie jetzt auf Ihr Zimmer bringen, damit Sie sich zivilisiert herrichten können. Ihre Frisur muss dringend in Ordnung gebracht werden. Und oben liegt ein Kleid für Sie bereit. Weil Mary gerade anderweitig beschäftigt ist, werde ich Ihnen dabei zur Hand gehen.«
Ich habe ihr kaum zugehört, sondern im Vorbeigehen in die Küche geschielt, wo eine dicke Köchin und zwei junge Mädchen mit großen Hauben auf dem Kopf damit beschäftigt sind, Scones und Sandwiches auf einer Etagere anzurichten. War ja klar, dass mein ausgehungerter Magen sich sofort zu Wort meldet, was aber bei dem ganzen Geklapper und Geschnatter in der Küche niemand mitbekommt. Ich kneife die Augen zusammen. Mit einem dicken Lappen in der Hand hat die Köchin sich gerade ächzend vorgebeugt und eine Eisenklappe im Herd geöffnet, auf dem ein kupferner Wasserkessel brodelt. Flammen schlagen ihr entgegen, als sie beherzt einen Packen Holzscheite in die Öffnung schiebt und sie dann krachend zudonnert.
»Äh, bitte was?« Der Anblick dieses aus der Zeit gefallenen Möbelstücks hat mich so absorbiert, dass ich beinahe gegen Mrs Goring gestolpert wäre, denn die ist auf der untersten Treppenstufe stehen geblieben und hat eine fordernde Hand nach meinem Koffer ausgestreckt.
»Nun geben Sie mir schon Ihren Koffer! Seine Lordschaft möchte Sie bestimmt noch vor dem diamantenen Thronjubiläum Ihrer Majestät begrüßen!«
In der englischen Geschichte gab es nur zwei Königinnen, die es bis zum diamantenen Thronjubiläum geschafft haben. Die eine war Königin Elizabeth II., die erst vor Kurzem gestorben ist, und die andere Königin Victoria. Passt zur Mode und dem antiken Holzofen in der Küche. Ausgehendes neunzehntes Jahrhundert. Offensichtlich habe ich es hier mit einem Fall von sehr treuer Königinnenliebe zu tun.
Die Treppe windet sich weiter nach oben, aber anstatt ihr zu folgen, schreitet Mrs Goring entschlossen auf die Tür am Ende des ersten Absatzes zu, öffnet sie und tritt zur Seite, um mich vorzulassen.
In dem Meer aus funkelndem Sonnenlicht, das sich durch die Kuppel, die wie eine herrschaftliche Krone über allem schwebt, in den vor mir liegenden Raum ergießt, erkenne ich blinzelnd eine gigantisch große Halle. In der Mitte thront ein riesiger ovaler Tisch aus edlem glatt poliertem Mahagoni, geschmückt mit einem bunten Blumenarrangement in einer silbernen Schale, das einen Duft nach Sommer und lauen Nächten verströmt.
Leise klatschen meine Flip-Flops über die zum schwarzweißen Schachbrettmuster angeordneten Fliesen und verstummen erst, als ich zögernd den farbenfrohen Orientteppich betrete, dessen Mitte der Tisch für sich beansprucht.
»Wahnsinn!« Staunend wie ein kleines Kind in Disney World lege ich den Kopf in den Nacken und drehe mich langsam um mich selbst. Weit über mir ragt die kathedralenartige Kuppel in den blauen Himmel hinauf. In der Wölbung hat ein Deckenmaler eine strahlende Sonne umgeben von ein paar weißen Wölkchen verewigt, sodass über der großen Halle von Staunton House auch beim stürmischsten Wetter jederzeit die Sonne scheint. Eingefasst wird dieses Bild von langen, bogenförmigen Sprossenfenstern, die sich dicht unterhalb der Kuppel hinter einem durch ein verschnörkeltes Eisengitter gesicherten Rundgang befinden.
Ein gutes Stück tiefer zieht sich über drei Seiten der Halle eine durch Säulen unterteilte Empore entlang. Ihr mit kunstvollen Ornamenten gestaltetes Geländer folgt dem Verlauf der Treppe, die bestimmt genauso breit ist wie die zu unserem Rathaus in Aachen, in die Halle hinunter. Nur flüchtig nehme ich vor der ersten Stufe die auf mich wartende Mrs Goring wahr.
Plötzlich ertönt hinter einer der Türen schallendes Gelächter.
»Die Herrschaften haben sich dazu entschlossen, nicht länger auf Sie zu warten und den Tee nun einzunehmen!«, beantwortet Mrs Goring in mahnendem Ton meine nicht gestellte Frage. Gleichzeitig schwingt die Tür zum Souterrain auf. Zwei Diener, angeführt vom Butler, dessen Namen ich immer noch nicht kenne, eilen bepackt mit Etageren grußlos an mir vorüber. Mit ihnen verschwinden die Scones und Sandwiches, die ich eben noch in der Küche bestaunt habe, hinter besagter Tür. Und wieder meldet sich mein knurrender Magen zu Wort und erinnert mich daran, dass das letzte pappige Automatensandwich schon viel zu lange her ist.
»Miss Sondorf?«
»Oh, Entschuldigung, Mrs Goring. Ich komme!«
Diesmal wartet sie nicht, um mir den Vortritt zu lassen, sondern marschiert mit gerafftem Kleid die mit einem dunkelgrünen Teppich ausgelegte Steintreppe hinauf. Keine Frage, die Herrschaften auf den Ölgemälden, Herren und Damen, die mich an der Wand wie stumme Zeugen auf meinem Weg hinauf zur Empore begleiten, müssen die Vorfahren der Calvertons sein. Wie gerne ich sie genauer betrachten würde, aber das muss warten. Wir eilen über Flure, an weiteren Gemälden, Standbildern, schön geschmückten Tischchen und unzähligen Zimmertüren vorbei, bis Mrs Goring endlich vor einer von ihnen stehen bleibt und den Türknauf dreht.
»Es wird gewünscht, dass Sie in unmittelbarer Nähe Ihrer Ladyschaft untergebracht werden, damit Sie ihr jederzeit und ohne Verzögerung zur Verfügung stehen«, erklärt mir die Hausdame und stellt meinen Koffer neben dem breiten Himmelbett ab. »Ihr Zimmer liegt hinter der zweiten Tür weiter den Flur hinunter.«
Die genauere Inspektion muss ich leider auf später verschieben, doch so viel steht fest: Es ist ein Zimmer wie für eine Prinzessin gemacht. Ganz bestimmt das Gegenteil von modern, aber alles edel und mit Liebe zusammengestellt: der Frisiertisch mit bauchigen Beinen und dreigeteiltem Spiegel, die zwei antiken Sessel, zwischen denen ein runder Holztisch mit strahlenförmigen Einlegearbeiten glänzt wie frisch lackiert, der hohe Sekretär mit den vielen Schubladen und Fächern und der Kamin mit dem aufwendig gearbeiteten Sims, der mit zwei Kerzenleuchtern und einer dunkelblauen Vase geschmückt ist und über dem ein großer Spiegel im vergoldeten Rahmen die Wand ziert. Und nicht zu vergessen, das niedliche Beistelltischchen direkt neben der Tür.
»Ich hoffe, das Zimmer sagt Ihnen zu?«
Obwohl im Kamin ein wohliges Feuer lodert, schlinge ich fröstelnd die Arme um mich. Fast gleichzeitig befällt mich ein ganz eigentümliches Gefühl. Als ob … und ich weiß, dass sich das jetzt lächerlich anhört, aber es ist, als ob mich dieses Zimmer nicht haben wollte. Als ob es jemand anderen erwartet habe.
»Oh, Sie frieren! Das tut mir leid. Die Wände dieser Gemäuer sind so dick, dass wir selbst im wärmsten Sommer in manchen Zimmern die Kamine befeuern müssen, deshalb hatte ich Mary auch angewiesen …« Mrs Gorings Augen, die, während sie spricht, zum Kamin wandern, verengen sich. Ich folge ihrem Blick. Nur noch eine dünne Rauchsäule, die sich dem Kaminschacht entgegenschlängelt, erinnert daran, dass da vor Sekunden noch das reinste Lagerfeuer gebrannt hat. Emmas Eltern haben auch einen Kamin, den wir im Winter anwerfen, wenn wir gemütlich Serien bingen. Deshalb kann ich aus Erfahrung sagen, dass kein Feuer der Welt, das eben noch so hell gelodert hat, in nur einem Wimpernschlag verlöschen kann.
»Ach, was hat das dumme Ding denn da wieder angestellt?« Mrs Goring presst verärgert die Lippen aufeinander, hat sich aber schnell wieder im Griff. »Wenn Sie rasch aus Ihren Sachen schlüpfen wollen, dann helfe ich Ihnen beim Ankleiden. Dabei wird Ihnen auch wieder warm. Und selbstverständlich werde ich dafür Sorge tragen, dass Mary das Feuerholz in Zukunft richtig aufschichtet.«
Mrs Goring deutet mit der Hand auf einen Berg aus schwarz-weiß gestreiftem Stoff, den jemand für mich auf dem Bett bereitgelegt hat. Auf dem Boden davor steht ein Paar museumsreifer schwarzer Schnürschuhe. Aus Leder und Stoff mit feinen Stickereien verziert, breiten Seidenbändern zum Zuschnüren und niedrigem Absatz.
»Sie passen«, liest Mrs Goring mal wieder meine Gedanken. »Ihre Garderobe für Staunton House war der Grund, weshalb Mrs Plimpton Ihre Maße abgefragt hat.«
»Auch dafür?« Mit einer Mischung aus wohligem Grusel und echtem Entsetzen trete ich ans Bett und hebe mit beiden Händen das Folterinstrument hoch, das Frauen jahrhundertelang das Atmen unmöglich gemacht hat. »Ein Korsett?«
»Selbstverständlich«, antwortet Mrs Goring entschieden.
»Ich nehme an, es soll möglichst stilecht sein«, nicke ich. »Allerdings wäre es wirklich nett gewesen, wenn Mrs Plimpton mir direkt gesagt hätte, auf was ich mich hier einlasse.«
»Einlasse?« Mrs Gorings Mundwinkel wandern nach unten. »Sie sind die Gesellschafterin der Dowager Countess of Witham. Das ist eine Ehre und nichts, worauf man sich einlässt.«
»Schon klar!«, keuche ich, als ich hinter der Spanischen Wand Shirt, Shorts und Sneakers abstreife. So viel steht fest: Entweder sind die hier alle wirklich sehr spleenig bis (hoffentlich) harmlos irre oder ich liege mit meiner Theorie von der Reality-Show goldrichtig. Aber dann kann man das doch zugeben.
Irgendwie finde ich beide Möglichkeiten ziemlich witzig, denke ich noch, als Mrs Goring mir schwarze Strümpfe, eine komische, pludrige, mit Spitzen besetzte weiße lange Unterhose und ein, wie ich glaube, Nachthemd anreicht. So oder so werde ich endlich zwar nicht wirklich eine Lady, aber doch immerhin eine Dame auf einem prunkvollen englischen Herrensitz in längst vergangenen Zeiten spielen können. Ach, wie herrlich!
Eine Lage folgt auf die nächste. Sekunden später stütze ich mich nach Luft japsend an einem der Bettpfosten ab. Mit jedem Mal, das Mrs Goring energisch an den Schnüren des Korsetts zerrt, presst sich das von Stoff umspannte Gestell aus (ich schätze mal) Fischbein immer enger um meine Rippen und schnürt meine Taille erbarmungslos zusammen. Erst als ich kaum noch Luft bekomme, dafür aber das vorweisen kann, was man eine Wespentaille nennt, ist Mrs Goring zufrieden. Als Nächstes bindet sie mir ein sehr eigentümliches Drahtgestell um die Taille, das sie über meinem Po in Position bringt. Dann wendet sie sich zum Bett um. Ein Teil des Stoffbergs entpuppt sich als schwarz-weiß gestreifter bodenlangen Rock, in den sie mich schlüpfen lässt. Darüber legt sie eine Art Schürze, die schwarz, weiß und rot, aber diesmal nicht senkrecht, sondern quer gestreift ist. Und zu guter Letzt folgt das schwarz-weiß gestreifte Oberteil, das nichts anderes als eine Art Jacke ist, die von unten bis zum engen Stehkragen mit Ösen geschlossen wird.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit die ganze Prozedur in Anspruch genommen hat, genauso wenig, wie ich weiß, in wie vielen Lagen von Unterröcken ich stecke, aber als ich mich am Ende vor dem Spiegel über dem Kamin drehe, sieht mir eine sehr veränderte und sehr zufrieden lächelnde Juno entgegen. Ganz vorsichtig betaste ich die ordentliche Hochsteckfrisur, die Mrs Goring mit flinken Fingern, Schildpattkämmen und Haarnadeln aus meinen wilden Locken gezaubert hat. Hier und da zwackt was, aber es wird schon gehen. Was das hochgeschlossene Kleid und das im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Korsett angeht, kann ich nur hoffen, dass die Calvertons ihr Kostüm-Spiel so konsequent treiben, dass sie die pralle Sonne genauso meiden, wie es die Viktorianer getan haben.
Trotz des Daisy-Duck-Hinterns, für den ich das Drahtgestell und ein kleines Kissen verantwortlich mache, finde ich mich sehr elegant und damenhaft. Auch wenn die Bewegungsfreiheit sehr zu wünschen übrig lässt, seufze ich glückselig auf.
»So sind Sie präsentabel!« Mrs Goring nickt. »Dann wollen wir Seine Lordschaft nicht länger warten lassen.«
Mylord, Miss Sondorf ist eingetroffen«, meldet Mrs Goring, nachdem sie mich in einen Raum im Erdgeschoss geschoben hat, den ich als Arbeits- oder vielleicht Studierzimmer bezeichnen würde. Der Mann hinter dem Schreibtisch schaut nur flüchtig von seinen Unterlagen auf.
»Danke, Mrs Goring«, sagt er und vertieft sich wieder in seine Arbeit. Er hat uns nicht wirklich eines Blickes gewürdigt. Und das ist auch gut so, denn ansonsten hätte er mir unter Garantie angesehen, wie geflasht ich bin. Seine Stimme klingt rau und unendlich sanft zugleich. Ich fahr unglaublich auf Stimmen ab und die hier ist Himbeereis mit Schlagsahne. Aus Erfahrung weiß ich allerdings auch, dass Stimmen trügen können. Mega Stimme ist nicht immer gleich mega Typ.
Trotzdem spüre ich, wie mir die Röte in die Wangen steigt, weshalb ich Mrs Goring zum Abschied nur kurz zunicke, als sie sich zur Tür umdreht, die sich keine drei Sekunden später hinter ihr schließt.
Nun, was bist du? Volltreffer oder Niete? Kann er nicht noch mal aufgucken? Ne, kann er nicht!
Während das leise Ticken der Kaminuhr anzeigt, wie quälend langsam die Zeit vergeht, trete ich vor dem Schreibtisch ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und beobachte, wie Seine Lordschaft in aller Seelenruhe macht, was auch immer er mit den dicken Büchern anstellt, die aufgeschlagen vor ihm liegen. Er liest konzentriert, scheint Zahlenkolonnen zusammenzurechnen und notiert die Summen mit einem Füller. Lange, schmale Hände hat Lord Witham und gepflegte Fingernägel. Weil ihm sein schwarzes Haar in dicken Strähnen über die Stirn fällt, kann ich leider nicht viel von seinem Gesicht erkennen. Von Mrs Plimpton weiß ich, dass er nur vier Jahre älter ist als ich. Schon witzig! Nur vier Jahre! Und trotzdem strahlt er in seinem viktorianischen Outfit bestehend aus beigem Jackett, brauner Weste, weißem Hemd mit Stehkragen und dem mit einer perlenbesetzten Krawattennadel geschmückten Halstuch eine Autorität und Vornehmheit aus, von denen andere Zweiundzwanzigjährige sehr weit entfernt sind.
Verstohlen werfe ich einen Blick zur Kaminuhr. Der Tee dürfte mittlerweile kalt sein.
»Ich weiß, Miss Sondorf, eine ganze Teegesellschaft wartet auf uns. Und sie wird sich auch noch einen Augenblick länger gedulden müssen.«
Diese Stimme! Sie fährt mir durch Mark und Bein. Ertappt drehe ich mich wieder zu ihm um. Doch er studiert immer noch seine Unterlagen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schraubt er langsam und gemächlich die Kappe auf den Füller, bevor er ihn im Zeitlupentempo in ein mit Samt ausgeschlagenes Holzkästchen legt und die Bücher schön eins nach dem anderen zuklappt. Mich beschleicht das Gefühl, dass das alles mit voller Absicht geschieht. So wie ein unausgesprochenes »Sie haben mich warten lassen und deshalb lasse ich jetzt Sie warten«.
»Diese modernen Füllfederhalter sind eine famose Erfindung«, sagt er scheinbar mehr zu sich selbst als an meine Adresse gerichtet. Zwischen beiden Zeigefingern nimmt er den Füller wieder hoch und betrachtet ihn. »Erst vor zwei Jahren hat ein Mr Waterman das Patent darauf erhalten. Mein Freund Wharton hat mir dieses Exemplar aus Amerika mitgebracht. Man muss die Feder nicht mehr in die Tinte tauchen, sondern die Flüssigkeit befindet sich in einer Art Tank, der sie beim Schreiben gleichmäßig und ohne zu klecksen an die Feder abgibt. Aber entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht mit technischen Details langweilen.«
Ich weiß, wie ein Füller aussieht. Ich würde aber gerne wissen, wie du aussiehst. Denke ich mir, spreche es aber natürlich nicht laut aus. Ich will ja keine Spielverderberin sein, aber ich möchte wenigstens gerne wissen, in welchem Jahr die ganze Veranstaltung hier stattfinden soll. Und um das möglichst elegant herauszubekommen, hat er mir gerade eine mega Steilvorlage geliefert.
»Sie langweilen mich nicht!«, spiele ich das Spiel mit. Da treffen sich unsere Blicke. Seine Augen! Sie sind so dunkel, dass ich sie mehr schwarz als braun nennen würde. Der Typ ist ein Volltreffer. Eindeutig. Und ich weiß nicht, ob ich darüber glücklich oder unglücklich sein soll. Immerhin ist er ab heute mein Chef.
»Seit wann gibt es diese … Schreibgeräte denn genau?«, stammele ich und hoffe, dass ihm meine Unsicherheit nicht auffällt.
Oh, mein Gott, was für ein perfektes Gesicht er hat! Ebenmäßige Gesichtszüge und hohe Wangenknochen. Das gepaart mit seinen schwarzen Haaren und den dunklen Augen. So habe ich mir immer Dorian Gray vorgestellt. Mysteriös und verführerisch schön, aber nicht auf diese gelackte Art, sondern mehr so Leonardo-da-Vinci-Skulptur-schön. Und obwohl man seinen muskulösen Oberarmen, die sich unter den Ärmeln seines Jacketts abzeichnen, ansieht, dass er viel Sport treibt, ist er von einer zerbrechlichen, tiefgründigen Eleganz.
»1884. Selbstverständlich.«
Demnach tun wir also so, als würden wir uns im Jahr achtzehnhundertsechsundachtzig befinden? Sehr spannend!
Mit einem gequälten Seufzer legt er den Füller wieder in sein Kästchen zurück. Ja, sorry, aber ich weiß nun mal wirklich nicht, wann der gute Herr Waterman das Patent erhalten hat.
Bedächtig schiebt er seinen Stuhl zurück, steht auf und umrundet den Schreibtisch. Er ist groß. Bestimmt eins neunzig und nicht nur deshalb schaut er ganz eindeutig auf mich herab. »Sebastian Calverton, ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, Miss Sondorf. Aber bitte nehmen Sie doch Platz!« Galant rückt er den vor mir stehenden Stuhl vom Tisch ab und deutet mit der Hand darauf.
»Danke!«, krächze ich und lasse mich eher unelegant darauffallen. Mit so einem Rock ist das aber auch eine seltsame Angelegenheit! Egal wie absorbiert ich bin, dass er das Wort »endlich« besonders betont hat, ist mir aufgefallen. »Es tut mir echt total leid, dass ich zu spät gekommen bin, Eure Lordschaft. Das ist normalerweise nicht meine Art. Ich bin sehr zuverlässig. Aber erst hatte der Zug Verspätung und dann …«
Er setzt sich wieder hinter den Schreibtisch, nickt, legt die Handflächen aneinander und tippt mit beiden Zeigefingern gegen seine Oberlippe. »Grundsätzlich, Miss Sondorf, sind Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit Dinge, auf die wir hier sehr großen Wert legen, weshalb ich in Ihrem eigenen Interesse hoffe, dass sich so etwas wie heute nicht wiederholt.«
»Natürlich nicht!«, verspreche ich und schalte in den unverbindlichen Geschäftsmodus, in dem er dieses Gespräch wohl führen will.
»Damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren, möchte ich Ihnen kurz Ihre Aufgaben auf Staunton House erklären.«
»Okay!« Jetzt kommt also die Begründung für das ganze Kostümtheater.
»Wie Sie wissen, habe ich Sie als Gesellschafterin für meine Großmutter, Lady Marjorie Calverton, die Dowager Countess of Witham, eingestellt.«
Ich nicke.
»Ihre Hauptaufgabe wird darin bestehen, meiner Großmutter aus ihren Lieblingsromanen vorzulesen. Wie ich Ihren Unterlagen entnommen habe, teilen Sie beide da die gleichen Vorlieben. Jane Austen, die Brontës, George Eliot …«
Ich nicke. Schon wieder! Ich kann einfach nicht anders, als ihn anzustarren, womit ich dringend aufhören muss.
»Meistens reicht es der Dowager aber, vor dem Haus zu sitzen, den Blick in den Park und die Gedanken in ihre Traumwelt zu richten, in der sie sich seit Längerem am liebsten aufhält. Deshalb werden Sie viel Zeit zu Ihrer freien Verfügung haben.«
Um nicht schon wieder einfach nur blöd zu nicken, werfe ich schnell ein: »Mrs Plimpton sagte mir schon, dass die alte Dame ziemlich durch den Wind ist.«
Seine linke Augenbraue schießt tadelnd in die Höhe.
»Ich weiß zwar nicht genau, was Sie mit dieser seltsamen Redewendung ausdrücken wollen, aber wir hier bevorzugen die Umschreibung ›nostalgisch‹«, weist mich Lord Witham zurecht. Höflich, aber doch scharf genug, um mir klarzumachen, dass ich gerade eine unsichtbare Linie überschritten habe.
»Nostalgisch«, wiederhole ich und nicke schon wieder. »Klar!«
»Wie mir Mrs Plimpton in ihrem Schreiben versicherte, sprechen Sie für eine Deutsche ein ganz passables Englisch. Was ich bis auf die eine mir ungeläufige Redewendung bestätigen kann. Sollten Sie dennoch Verständigungsprobleme haben, scheuen Sie sich bitte nicht, dies freiheraus zu sagen.«
»Geht klar!«
»Während Ihrer Freizeit können Sie sich in Staunton House und allem, was dazugehört, frei bewegen: Bibliothek, Orangerie, die Stallung, der Park.« Er zögert kurz. »Können Sie reiten?«
Mein Herz macht einen Hüpfer. »Mein letzter Ausritt ist schon eine Weile her. Aber Reiten ist ja wie Radfahren. Das verlernt man nicht.«
Diesmal wandern gleich beide Augenbrauen skeptisch in die Höhe. Und so langsam, aber sicher beschleicht mich der Verdacht, dass er ziemlich überheblich ist.
»Pferde sind meine Leidenschaft. Ich züchte sie. In den nächsten Tagen müsste meine Lieblingsstute fohlen.«
»Das ist ja großartig. Darf ich dabei sein?«, rufe ich begeistert.
Jetzt habe ich ihn sichtlich geschockt. »Eine Geburt kann eine sehr unschöne Sache sein. Ich glaube nicht, dass es angebracht ist, eine junge Dame dem auszusetzen.« Er räuspert sich. Bevor ich widersprechen kann, redet er schon weiter. »Wie auch immer. Es ist der Wunsch meiner Großmutter, dass ihre Gesellschafterinnen so behandelt werden, als wären sie ein Teil der Familie. Weshalb von Ihnen erwartet wird, dass Sie an allen Mahlzeiten und familiären Aktivitäten teilnehmen. Sollte meine Großmutter allerdings aus Rücksichtnahme auf ihr Alter und ihre angeschlagene Konstitution auf die Teilnahme verzichten müssen, wäre es wohl im Interesse aller, Sie täten es ihr gleich.«
Mit einem Ruck schiebt er seinen Stuhl zurück.
Im ersten Moment versetzt mir sein letzter Satz einen fiesen Stich. Im zweiten sehe ich seine offensichtliche Bitte auf Intimsphäre eher als Erleichterung. Vielleicht habe ich ja auch nicht immer Lust, meine Zeit mit den Calvertons zu verbringen.
»Ich hätte noch eine Frage«, sage ich schnell, bevor er aufsteht und die Gelegenheit vorüber ist.
»Bitte!« Sein Tonfall lässt keinen Zweifel daran, dass ich ihm nicht noch mehr seiner kostbaren Zeit stehlen soll.
»Mrs Plimpton sprach von einer strikten Kleiderordnung … Allerdings hat sie mir nichts von dieser Kostümierung hier erzählt.« Ich lasse meine rechte Hand an mir rauf- und runtergleiten.
»Ich verstehe nicht«, erwidert Lord Witham nüchtern. »Gefällt Ihnen das Kleid nicht? Es steht Ihnen selbstverständlich frei, ein anderes aus Ihrem Kleiderschrank zu wählen.«
»Nein, nein!«, beeile ich mich zu versichern. »Das Kleid ist unbequem, aber schön. Ich frage mich nur, warum ich es anziehen soll und warum sich hier alle so altmodisch kleiden. Ist das ein Spiel, eine Reality-Show oder mögen Sie es einfach gern viktorianisch? Ich meine, ich komme damit klar. Ich würde nur gerne den Grund für diese Scharade wissen.«
»Ich muss gestehen, dass ich Ihnen nicht wirklich folgen kann, Miss Sondorf.« Lord Witham räuspert sich irritiert. »Bisher lebte ich in der Vorstellung, dass sich Europa und England in Mode und Lebensweise nicht allzu sehr unterscheiden.«
»Tun sie auch nicht.«
»Damit wäre Ihre Frage dann wohl beantwortet. Sie tragen dieses Kleid und wir leben, wie wir leben, weil das nun mal unserer Zeit entspricht.«
Um zu verdeutlichen, dass sich das Thema für ihn damit erledigt hat, erhebt er sich von seinem Stuhl. Wenn ich seine verwirrte Miene richtig interpretiere, mit der er jetzt auf die Tür zugeht, dann fragt er sich gerade, was für einen seltsamen Vogel Mrs Plimpton ihm da geschickt hat. Und ganz ehrlich: Die gleiche Frage stelle ich mir auch. Nur umgekehrt.
Noch in der großen Halle höre ich leises Gemurmel, das augenblicklich zu einer angeregten Unterhaltung anschwillt, als ich hinter Lord Witham die Bibliothek betrete.
Ich bin im Himmel! Deckenhohe Regale aus edlem, dunklen Holz voller Bücher. Alle, soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen kann, in Leder gebunden. Der hölzerne Boden verschwindet fast komplett unter den vielen Teppichen und durch die bodentiefen Fenster erhasche ich einen Blick auf den gepflegten unendlich weiten Park hinter dem Haus.
»Bitte entschuldigt unsere Verspätung.« Schon bei Lord Withams ersten Wort verstummt das Gespräch und insgesamt drei Augenpaare richten sich auf ihn, um dann neugierig zu mir herüberzuwandern. Nur eine Person merkt gar nicht, dass wir eingetreten sind. Lady Marjorie Calverton, die Dowager Countess of Witham, muss mir niemand vorstellen.
Gegenüber einem ziemlich breiten und hohen Kamin begrenzen zwei Sessel die Sitzgruppe aus zwei Sofas und einem zum Tee gedeckten Tisch. In einem von ihnen thront mit kerzengerader Haltung die alte Dame. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid, die grauen Haare sind hochgesteckt. Selbst durch die durchbrochene Spitze ihrer schwarzen Handschuhe kann ich erkennen, dass ihre Finger von Arthritis gezeichnet sind. Majestätisch ruht ihre Hand auf dem silbernen Griff eines Gehstocks, während sich ihre Augen in dem Gemälde eines Sees über dem Kamin zu verlieren scheinen.
Das Sofa uns gegenüber wird von einem Mann und einer sehr dicken Frau belegt. Auch sie sind altmodisch gekleidet. Gerade lang genug, dass wir die mit Clotted Cream und Marmelade bestrichenen Sconeshälften gut sehen können, hebt der Mann seinen Teller an. »Köstlich, Sebastian, wirklich köstlich. Wie immer!«
»Das freut mich«, antwortet Lord Witham kühl. »Darf ich euch Miss Sondorf, die neue Gesellschafterin meiner Großmutter, vorstellen?«
»Sondorf? Ist das deutsch?«, erkundigt sich die dickliche Frau. Genauso wie den Mann neben ihr enttarnt ihr Akzent sie als Amerikanerin.
»Ja, genau!«, bestätige ich, während ich zum ersten Mal dankbar für dieses lange Kleid bin. Wenn es auch unbequem ist, gerade versteckt es hervorragend meinen nervös wippenden rechten Fuß. Ich hasse es, wenn sich alle Blicke auf mich konzentrieren. Und ich hasse es noch viel mehr, wenn ich eine Situation nicht einschätzen kann. Kameras habe ich im Übrigen nicht eine entdecken können. In keinem Raum.
»Das hier sind mein Freund Charles Wharton und seine Gemahlin Laura Wharton. Wie jedes Jahr beehren Sie uns auch in diesem Sommer als unsere Hausgäste.« Nur an mich gewandt setzt Lord Witham hinzu: »Sie erinnern sich vielleicht. Der Füllfederhalter.«
Denkt der, ich bin doof? Den Transfer hatte ich auch schon ganz alleine hergestellt, sobald er den Namen ausgesprochen hatte.
»Herzlich willkommen!«, lacht Mr Wharton herzhaft, hievt sich aus den weichen Kissen und schüttelt mir über den Tisch und das zweite Sofa hinweg die Hand. »Da hatten Sie es ja nicht so weit wie wir. Die lange Schiffspassage ist ein Gräuel. Besonders wenn Sturm aufkommt. Aber Cornwall entschädigt uns doch jedes Mal für alle Unbill!«
»Unbill?« Ich werfe Lord Witham einen unsicheren Blick zu.
»Beschwernis«, übersetzt er, ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen.
»Kommen Sie, Kindchen, setzen Sie sich doch zu mir!« Kichernd klopft Mrs Wharton neben sich. »Wharton kann sich uns gegenüber hinsetzen. Da hat er ein Sofa ganz für sich allein.«
Auf den ersten Blick wirkt sie sehr freundlich, aber schon auf den zweiten warnt mich mein Bauchgefühl, sie lieber mit Vorsicht zu genießen.
»Ich muss dich leider um etwas Geduld bitten, meine liebe Laura. Denn natürlich muss ich Miss Sondorf erst meiner Großmutter und Fiona vorstellen, bevor du sie ins Kreuzverhör nehmen kannst.«
Die Enttäuschung steht ihr zwar ins pausbäckige Gesicht geschrieben, doch scheinbar gehört sie zu den Menschen, denen die gute Laune nie vergeht. Schon im nächsten Moment kichert sie: »Kreuzverhör, Sebastian! Wie köstlich! Ich nehme doch niemanden ins Kreuzverhör.« Ihr ausgestreckter Zeigefinger wackelt in meine Richtung. »Auf Dauer werden Sie mir aber nicht entkommen, Kindchen! Ich will alles über Sie erfahren.«
Ohne dass er mich aufgefordert hätte, folge ich Lord Witham vorbei an dem ersten Sessel, aus dem mich eine junge Frau freundlich anlächelt, und weiter bis zu dem Sessel, in dem seine Großmutter thront wie eine Sphinx. Mit einer Handbewegung bedeutet er mir zu warten, bevor er neben ihr in die Hocke geht. Liebevoll nimmt er die linke Hand der alten Dame in seine und flüstert mit einer Herzlichkeit, die ich diesem unterkühlt hochmütigen Menschen nie im Leben zugetraut hätte: »Grannie? Ich bin es, Sebastian.«