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Winter 1963. An einem frostigen Dezembertag verschwindet ein dreizehnjähriges Mädchen spurlos aus dem abgeschiedenen Dorf Scardale in Derbyshire: Ahson Carter, die Stieftochter des Gutsherrn. Der junge Inspector George Bennett erhofft sich den ersten spektakulären Ermittlungserfolg seiner Laufbahn. Doch im Dorf Scardale, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, herrscht Mißtrauen - und tiefes Schweigen. Von Stunde zu Stunde, von Woche zu Woche mehren sich die Zeichen, daß Alison brutal ermordet wurde. Doch erst nach Monaten hartnäckigen Suchens und einem aufwühlenden Prozeß wird George Bennett den Fall zu den Akten legen - mit mehr offenen Fragen auf der Seele, als ihm lieb ist. Jahrzehnte später, im Jahre 1998, entschließt sich die junge Journalistin Catherine Heathcote, die Geschichte des berühmten "Mordfalls ohne Leiche" in einem Buch aufzuzeichnen. Kaum aber hat sie ihr Manuskript abgeschlossen, geschieht etwas völlig Unerwartetes: George Bennett verbietet die Veröffentlichung. Catherine wird von jetzt an selbst ermitteln und auf eine Wahrheit stoßen, die zerstörerisch ist - eine Wahrheit, die Leben vernichten oder aber retten kann. Die Entscheidung hegt bei ihr... Val McDermid, die zu den erfolgreichsten britischen Autorinnen von Spannungsliteratur zählt, stellt in ihrem atemberaubenden Roman die Gesetze des Kriminalgenres auf den Kopf. In zwei Akten erzählt sie die Geschichte einer tragischen Täuschung - und treibt dabei das raffinierteste Spiel mit der Leichtgläubigkeit der Leser.
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Val McDermid
Ein Ort für die Ewigkeit
Aus dem Englischen von Doris Styron
Knaur e-books
To my evil twin;
laissez les bons temps rouler, cher.
Und man wird dich zu dem Ort bringen, von dem du gekommen bist, und von dort zu dem rechtmäßigen Ort der Hinrichtung. Dort sollst du am Hals gehängt werden, bis der Tod eintritt, und danach soll dein Körper in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Gelände des Gefängnisses begraben werden, wo du zuletzt vor der Hinrichtung festgehalten wurdest; und möge Gott sich deiner Seele erbarmen.
Das offizielle Todesurteil nach dem englischen Gesetz.
LE PENDU: DER GEHÄNGTE
Bedeutung für die Weissagung: Die Karte bedeutet Leben in der Schwebe. Umkehrung des Geistes und der Lebensweise. Übergang. Aufgeben. Verzicht. Die Veränderung der Lebenskräfte. Neuerliche Anpassung. Regeneration. Wiedergeburt. Verbesserung. Anstrengungen und Opfer mögen nötig sein, um sich einem Ziel zu nähern, das vielleicht nicht erreicht wird.
Die Weisheit der Tarotkarten –zum Vergnügen und zur Voraussagung der Zukunft.S. R. Kaplan
Wie Alison Carter wurde ich im Jahr 1950 in Derbyshire geboren. Wie sie wuchs ich in einem Tal in der Gegend um den White Peak auf und kannte die schroffen Kalksteintäler und die winterlichen Schneestürme gut, durch die wir oft vom übrigen Land abgeschnitten waren. Nur in Buxton war es möglich, daß im Monat Juni ein Kricketspiel gegen eine andere Grafschaft wegen Schneefalls abgebrochen werden mußte.
Als Alison Carter im Dezember 1963 verschwand, bedeutete das für mich und meine Klassenkameradinnen mehr als für die meisten anderen Leute. Wir kannten Dörfer wie das, in dem sie aufgewachsen war. Wir kannten die Dinge, mit denen sie sich jeden Tag beschäftigt hatte. Wir durchlitten ähnliche Schulstunden, und wenn wir danach unsere Mäntel holten, führten wir ähnliche Diskussionen darüber, welcher der glorreichen Vier für uns der tollste Beatle war. Wir glaubten, wir hätten die gleichen Hoffnungen, Träume und Ängste wie sie. Deswegen waren wir alle von Anfang an sicher, daß Alison Carter etwas Schreckliches passiert war, denn wir wußten auch, daß Mädchen wie sie und wie wir nicht wegliefen. Jedenfalls nicht in Derbyshire mitten im Dezember.
Nicht nur die dreizehnjährigen Mädchen dachten so. Mein Vater war einer aus der Schar der Hunderte von Freiwilligen, die die Hochmoore und die waldigen Täler um Scardale absuchten, und sein grimmiger Gesichtsausdruck nach einem ergebnislosen Tag ist mir noch lebhaft im Gedächtnis.
Wir verfolgten die Suche nach Alison Carter in den Zeitungen, und noch wochenlang setzte täglich irgend jemand in der Schule neue Vermutungen in Gang. Und nach all den Jahren hatte ich immer noch mehr Fragen an den pensionierten Polizeibeamten George Bennett, als er beantworten konnte.
Ich habe mich beim Schreiben meines Buches nicht ausschließlich auf die damaligen Notizen George Bennetts und seine heutigen Erinnerungen gestützt. Während der Recherchen zu der Geschichte besuchte ich Scardale und die Umgebung mehrmals und sprach mit vielen Personen, die in dem Geschehen um Alison Carter eine Rolle gespielt hatten, sammelte ihre Eindrücke, verglich ihre Aussagen über die Ereignisse, wie sie sie erlebt hatten. Ohne die Hilfe von Janet Carter, Tommy Clough, Peter Grundy, Charles Lomas, Kathy Lomas und Don Smart hätte ich das Buch nicht schreiben können. Bei den Gedanken, Gefühlen und Aussagen der Personen habe ich einige Freiheit walten lassen, aber die Grundlage dieser Textpassagen sind meine Gespräche mit den noch lebenden Hauptpersonen, die bereit waren, mich in meiner Bemühung um ein wahrheitsgetreues Bild sowohl von einer Gemeinde als auch ihrer einzelnen Mitglieder zu unterstützen.
Über einige der Dinge, die an jenem schrecklichen Dezemberabend im Jahr 1963 geschahen, werden wir natürlich nie etwas erfahren. Aber für jeden, der auch nur von ferne mit Alison Carters Leben und Tod in Berührung gekommen ist, gibt George Bennetts Bericht einen faszinierenden Einblick in eines der grausamsten Verbrechen der sechziger Jahre.
Allzulang lag ihre Geschichte im Schatten der verständlicherweise weit bekannter gewordenen Moor-Morde. Aber Alison Carters Schicksal ist nicht weniger schrecklich, nur weil sie das einzige Opfer ihres Mörders war. Und ihr Tod hat uns auch heute noch etwas zu sagen. Wenn Alison Carters Geschichte eine Botschaft vermittelt, dann ist es die, daß sich die größten Gefahren hinter einem freundlichen Gesicht verbergen können.
Nichts kann Alison Carter ins Leben zurückbringen. Aber die Erinnerung an das, was ihr geschah, kann vielleicht andere davor bewahren, zu Schaden zu kommen. Wenn mein Buch dieses Ziel erreicht, wird das sowohl für George Bennett als auch für mich eine gewisse Genugtuung bedeuten.
Catherine HeathcoteLongnor, 1998
Das Mädchen nahm Abschied von seinem Leben. Und es war kein leichter Abschied.
Wie alle Teenager hatte sie sich immer über jede Menge Dinge zu beklagen gehabt. Aber jetzt, wo sie im Begriff war, dieses Leben zu verlieren, schien es plötzlich sehr wertvoll. Endlich begann sie zu verstehen, warum ihre älteren Verwandten so zäh an jedem kostbaren Augenblick hingen, selbst wenn er von Schmerzen erfüllt war. So schlimm dieses Leben auch war, die Alternative war unendlich viel schlimmer.
Sie hatte sogar angefangen, gewisse Dinge zu bereuen. Zum Beispiel, daß sie ihrer Mutter oft den Tod gewünscht und gewollt hatte, ihr Traum, ein Wechselbalg zu sein, möge in Erfüllung gehen; wenn sie ihre Mitschüler, die sie beschimpften, weil sie nicht zu ihnen gehörte, voller Haß betrachtet hatte; wenn sie sich heftig danach gesehnt hatte, erwachsen zu sein und all diese Qualen hinter sich zu haben. All das schien nun nicht mehr wichtig. Das einzige, was eine Rolle spielte, war ihr unersetzlich kostbares Leben, das sie nun verlieren sollte.
Sie muß große Angst gehabt haben. Angst vor dem, was jetzt unmittelbar auf sie zukam, und vor dem Danach. Sie war im Glauben an den Himmel erzogen worden und auch an sein notwendiges Gegenstück, die Hölle, die gleich große und entgegengesetzte Kraft, die die Welt im Gleichgewicht hielt. Sie hatte ihre eigenen, sehr klaren Vorstellungen davon, wie dieser Himmel aussehen würde. Inbrünstiger, als sie sich je etwas in ihrem kurzen Leben erhofft hatte, wollte sie glauben, daß dies jetzt vor ihr lag, erschreckend nah.
Aber sie hatte schreckliche Angst, in die Hölle zu kommen. Sie wußte nicht genau, worin diese bestand. Sie wußte nur, daß sie im Vergleich zu allem, was sie im Leben haßte, noch viel schlimmer sein würde. Und da dies nicht wenig war, hieß das, es würde wirklich sehr schlimm sein.
Trotzdem hatte sie keine andere Wahl. Das Mädchen mußte von seinem Leben Abschied nehmen.
Für immer.
Der Anfang
Manchester Evening News,Dienstag, 10. Dezember 1963, Seite 3
Junge vermißt100 Pfund Belohnung
Die Polizei setzte heute die Suche nach einem zwölfjährigen Jungen, John Kilbride, fort. Man hofft, daß die Aussetzung einer Belohnung eine neue Spur zutage bringen wird.
Ein ortsansässiger Betriebsleiter hat jedem 100 Pfund geboten, der Hinweise zur Auffindung von John geben kann, der seit 18 Tagen aus seinem Elternhaus in der Smallshaw Lane in Ashton-under-Lyne verschwunden ist.
Helfen Sie mir. Sie müssen mir helfen.« Die Stimme der Frau zitterte, sie drohte in Tränen auszubrechen. Der Polizeibeamte vom Dienst hatte den Hörer abgenommen und hörte etwas wie einen Schluckauf, als hätte die Frau am Apparat Schwierigkeiten, zu sprechen.
»Dafür sind wir ja da, Madam«, sagte Constable Ron Swindells apathisch. Er hatte fast fünfzehn Jahre lang in Buxton Dienst geschoben, und während der letzten fünf Jahre hatte er oft das Gefühl, er erlebe die ersten zehn noch einmal. Er fand, es gab nichts Neues auf der Welt. Diese Sicht der Dinge sollte von den kommenden Ereignissen bald erschüttert werden. Aber fürs erste begnügte er sich noch mit der Phrase, die sich bis heute immer bewährt hatte: »Was ist passiert?« fragte er mit seiner tiefen, sanften, aber unpersönlichen Baßstimme.
»Alison«, sagte die Frau schwer atmend. »Meine Alison ist nicht heimgekommen.«
»Alison ist Ihre Kleine, oder?« fragte Constable Swindells demonstrativ gelassen und versuchte dadurch, beruhigend auf die Frau einzuwirken.
»Sie ist gleich mit dem Hund rausgegangen, als sie aus der Schule kam. Und bis jetzt ist sie nicht heimgekommen.« Hysterische Erregung ließ die Stimme der Frau höher klingen. Swindells warf automatisch einen Blick auf die Uhr. Sieben Minuten vor acht. Die Frau machte sich zu Recht Sorgen. Das Mädchen mußte schon fast vier Stunden von zu Haus weg sein, und zu dieser Jahreszeit war das nicht lustig. »Könnte sie vielleicht zu Freunden gegangen sein, spontan, weil es ihr gerade in den Sinn kam?« fragte er und wußte bereits, daß sie das schon überlegt hatte, lange bevor sie ihn überhaupt anrief.
»Ich hab an alle Türen im Dorf geklopft. Sie ist weg, sag ich Ihnen. Meiner Alison ist etwas zugestoßen.« Jetzt fing die Frau zu weinen an, sie stieß die halb erstickten Worte in den Pausen zwischen den Schluchzern hervor. Swindells glaubte, eine andere Stimme im Hintergrund murmeln zu hören.
Dorf, hatte die Frau gesagt. »Von wo rufen Sie eigentlich an, Madam?« fragte er.
Nach einem gedämpft klingenden Wortwechsel war eine klare männliche Stimme zu hören, ein unverkennbar aus dem Süden stammender Akzent, aus dem energische Autorität sprach. »Philip Hawkin hier, vom Manor House in Scardale«, sagte er.
»Ich verstehe, Sir«, sagte Swindells argwöhnisch. Obwohl diese Auskunft eigentlich nichts an der Situation änderte, ließ sie den Polizeibeamten vorsichtiger werden, da er sich bewußt war, daß Scardale in mehr als einer Hinsicht außerhalb seiner gewohnten Einflußsphäre lag. Scardale war nicht nur eine ganz andere Welt als das geschäftige Marktstädtchen, wo Swindells wohnte und arbeitete; es hatte den Ruf, nach seinem eigenen Gesetz zu leben. Daß ein solcher Anruf aus Scardale kam, bedeutete, daß etwas recht Außergewöhnliches geschehen sein mußte.
Die Stimme des Anrufers rutschte ein Intervall tiefer und vermittelte jetzt den Eindruck, er wolle mit Swindells von Mann zu Mann reden. »Sie müssen das meiner Frau nachsehen. Sie ist ziemlich aufgeregt. So emotional, die Frauen, finden Sie nicht auch? Also, ich bin sicher, daß Alison nichts Schlimmes zugestoßen ist, aber meine Frau bestand darauf, Sie anzurufen. Ich bin sicher, sie wird jede Minute hier auftauchen, und ich möchte schließlich auf keinen Fall Ihre Zeit unnötig in Anspruch nehmen.«
»Wenn Sie mich über die Einzelheiten aufklären könnten, Sir«, sagte Swindells gleichgültig und zog seinen Notizblock näher zu sich heran.
Inspector George Bennett hätte schon längst zu Haus sein sollen. Es war fast zwanzig Uhr, weit über die Zeit hinaus, zu der man leitende Kriminalbeamte noch an ihrem Schreibtisch erwartete. Eigentlich hätte er schon in seinem Sessel sitzen sollen, die langen Beine vor dem lodernden Kohlenfeuer ausgestreckt, ein gutes Essen im Bauch und Coronation Street auf dem Fernsehschirm vor ihm. Während Anne das Geschirr wegräumte und abwusch, ging er dann oft auf ein Bier und einen Schwatz in den Duke of York oder das Baker’s Arms. Durch nichts konnte man so schnell ein Gefühl für eine Gegend bekommen wie durch Gespräche an der Bar. Und er brauchte diesen Vorsprung mehr als irgendein anderer seiner Kollegen, da er erst vor sechs Monaten neu zugezogen war. Er wußte, daß die Stammgäste ihm nicht genug trauten, um viel von ihrem Tratsch an ihn weiterzugeben, aber nach und nach fingen sie an, ihn wie das Mobiliar zu behandeln und zu vergeben und zu vergessen, daß sein Vater und sein Großvater in einer anderen Ecke der Grafschaft beim Abendessen zu sitzen pflegten.
Er schaute auf seine Uhr. Nur wenn er Glück hatte, würde er es heute abend überhaupt noch zum Pub schaffen. Nicht daß er das als großen Verlust empfunden hätte. George saß eigentlich nicht gern herum und trank. Wenn er nicht durch seinen Beruf verpflichtet gewesen wäre, den Geschehnissen in der Stadt auf der Spur zu bleiben, hätte er wohl die ganze Woche kein Pub betreten. Er wäre viel lieber mit Anne zu einer der neuen Beatgruppen, die regelmäßig in den Pavilion Gardens spielten, tanzen oder mit ihr ins Kino gegangen. Oder einfach zu Hause geblieben. Sie waren seit drei Monaten verheiratet, und George konnte es immer noch kaum glauben, daß Anne ihr ganzes Leben mit ihm verbringen wollte. Es war ein Wunder, das ihm in den schlimmsten Zeiten seiner Arbeit Kraft gab. Bisher hatte diese eher Einförmigkeit als abscheuliche Verbrechen mit sich gebracht. Die Ereignisse der nächsten sieben Monate sollten dieses Wunder allerdings einer härteren Prüfung unterziehen.
An diesem Abend war der Gedanke an Anne, die strickend vor dem Fernseher saß und auf seine Rückkehr wartete, jedoch eine viel größere Versuchung als jedes Glas Bier. George riß einen Zettel von seinem Notizblock ab und legte ihn, um die Stelle zu markieren, in die Unterlagen, die er durchgesehen hatte, klappte die Akte zu und legte sie in seine Schreibtischschublade. Er drückte seine Gold-Leaf-Zigarette aus, leerte den Aschenbecher in den Papierkorb beim Schreibtisch, was er immer als letztes tat, bevor er seinen Trenchcoat und, etwas befangen, den breitkrempigen Filzhut nahm, mit dem er sich immer ein wenig lächerlich vorkam. Anne war davon begeistert; sie sagte immer, er sehe damit wie James Stewart aus. Er selbst fand das nicht. Nur daß er ein längliches Gesicht und welliges blondes Haar hatte, machte ihn noch nicht zum Filmstar. Er schlüpfte in den Mantel und bemerkte, daß er jetzt fast zu eng war wegen des wattierten Futters, das zu kaufen Anne von ihm verlangt hatte. Obwohl der Mantel über seinen breiten Kricketspieler-Schultern jetzt ein bißchen spannte, wußte er doch, daß er froh darum sein würde, sobald er den Hof des Reviers betrat mit dem beißenden Wind, der vom Moorland herunter immer durch die Straßen Buxtons zu fegen schien.
Er ließ den Blick ein letztes Mal in seinem Zimmer umherschweifen, um sicher zu sein, daß er nichts hatte liegenlassen, was die Augen der Putzfrau nicht sehen sollten, und schloß die Tür hinter sich. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß niemand mehr im Büro der Kriminalpolizei war, und so ging er noch einmal zurück, um sich einen kurzen Augenblick der Eitelkeit zu gönnen. DETECTIVE INSPECTOR G. D. BENNETT stand in weißen Lettern auf einem kleinen schwarzen Plastikschild. Es war etwas, auf das man stolz sein konnte, meinte er. Noch nicht dreißig und schon Detective Inspector. Jede öde Minute der drei Jahre endlosen Büffelns für sein Juraexamen hatte sich gelohnt, da es ihm den Weg zum schnellen Aufstieg geebnet hatte. Er war einer der ersten, dem sich nach abgeschlossenem Studium der neue, beschleunigte Beförderungsweg bei der Polizei in Derbyshire eröffnet hatte. Jetzt, sieben Jahre nach seinem Amtseid, war er der jüngste Kriminaloberkommissar, den die Grafschaft je gesehen hatte.
Da niemand da war, der den Mangel würdiger Haltung bei ihm hätte bemerken können, rannte er schnell die Treppe hinunter. Mit Schwung kam er durch die Pendeltüren in die Polizeiwache. Drei Köpfe wandten sich abrupt nach ihm um, als er eintrat. Einen Augenblick wußte George nicht, warum es so still war. Dann erinnerte er sich. Die halbe Stadt war beim Gedenkgottesdienst für den kürzlich ermordeten Präsidenten Kennedy, einer für alle Konfessionen offenen Messe. Man hatte den ermordeten Staatsmann als Sohn der Stadt adoptiert. Schließlich war JFK nur Monate vor seinem Tod hier gewesen, um das Grab seiner Schwester zu besuchen, das nur ein paar Meilen entfernt in Edensor auf dem Gelände von Chatsworth House lag. Daß eine der Krankenschwestern, die den Chirurgen bei ihrem erfolglosen Kampf um das Präsidentenleben in einer Klinik in Dallas beigestanden hatte, aus Buxton war, hatte in den Augen der Einwohner die Verbundenheit nur noch verstärkt.
»Nichts weiter los hier, Sergeant?« fragte er.
Bob Lucas, der Polizeibeamte vom Dienst, runzelte die Stirn und zuckte eine Schulter. Er sah auf ein Stück Papier in seiner Hand. »Bis vor fünf Minuten nicht, Sir.« Er richtete sich auf.
»Wahrscheinlich ist es gar nichts«, sagte er. »Eins zu hundert, bis wir hinkommen, hat es sich schon erledigt.«
»Irgendwas Interessantes?« fragte George beiläufig. Er wollte nicht, daß Bob Lucas dachte, er sei einer dieser Kriminalkommissare, die ihre Kollegen in Uniform behandelten, als wären sie die Affen und er der Drehorgelmann.
»’n Mädchen wird vermißt«, sagte Lucas und streckte ihm den Zettel hin. »Constable Swindells hat gerade den Anruf angenommen. Er kam direkt, nicht über die Notrufnummer.«
George versuchte sich vorzustellen, wo Scardale wohl auf einer Karte der Umgegend lag. »Haben wir einen Mann dort, Sergeant?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.
»Das ist nicht nötig. Es ist nur ein Weiler. Höchstens zehn Häuser. Nein, für Scardale ist Peter Grundy in Longnor zuständig. Es ist nur zwei Meilen von dort. Aber die Mutter dachte offensichtlich, es sei zu wichtig für Peter.«
»Und was denken Sie?« George war vorsichtig.
»Ich glaube, ich sollte den Streifenwagen nehmen, nach Scardale rausfahren und mit Mrs. Hawkin reden, Sir. Ich hole Peter ab und nehme ihn mit.« Während er sprach, griff Lucas nach seiner Mütze und setzte sie sich gerade aufs Haar, das fast ebenso schwarz und glänzend war wie seine Stiefel. Seine roten Wangen sahen aus, als hätte er Pingpongbälle im Mund. Zusammen mit den glitzernden dunklen Augen und den geraden schwarzen Augenbrauen gaben sie ihm Ähnlichkeit mit der bunten Puppe eines Bauchredners. Aber George hatte schon gemerkt, daß Bob Lucas sich keineswegs von irgend jemandem Worte in den Mund legen ließ. Er wußte, daß er eine ehrliche Antwort bekommen würde, wenn er Lucas eine Frage stellte.
»Würde es Sie stören, wenn ich mitkäme?« fragte George.
Peter Grundy legte sachte den Hörer auf die Gabel. Er kratzte sich mit dem Daumen am Kinn, das von den seit dem Morgen nachgewachsenen Stoppeln rauh wie Schmirgelpapier war. Er war an jenem Abend im Dezember 1963 zweiunddreißig Jahre alt. Fotos zeigen einen Mann mit frischem Gesicht, einer kurzen, spitzen Nase und einem schmalen Kinn, das von einem fast militärisch kurzen Haarschnitt betont wird. Sogar wenn er lächelte wie auf den Urlaubsschnappschüssen mit seinen Kindern, schienen seine Augen wachsam.
Nachdem die Kinder gebadet und zu Bett gebracht waren, hatten zwei Anrufe innerhalb von zehn Minuten den üblichen Abendfrieden mit seiner Frau Meg vor dem Fernseher unterbrochen. Es war ja nicht so, daß er den ersten Anruf nicht ernst genommen hätte. Aber als die alte Ma Lomas, Auge und Ohr von Scardale, sich der Mühe unterzog, mit ihren arthritischen Gliedern die Behaglichkeit ihres Häuschens zu verlassen, um in der beißenden Kälte zur Telefonzelle auf der Dorfwiese zu gehen, da mußte er reagieren. Zwar hatte er gedacht, er könnte bis zum Ende der Sendung um acht Uhr warten, bevor er etwas unternahm. Schließlich mochte Ma zwar als Grund ihres Anrufs die Sorge über ein verschwundenes Schulmädchen angeben, aber Grundy war sich nicht sicher, ob das nicht nur ein Vorwand war, um die Mutter des Mädchens ein wenig in Aufregung zu versetzen. Er hatte gehört und wußte, daß es einige Leute in Scardale gab, die meinten, Ruth Carter habe sich ein bißchen schnell mit Philip Hawkin eingelassen, auch wenn er seit dem Tod ihres Roy der erste Mann war, der es geschafft hatte, ihre Wangen wieder rosig glühen zu lassen.
Dann hatte wieder das Telefon geklingelt, was dazu führte, daß seine Frau das Gesicht verzog und ihn aus seinem gemütlichen Sessel in den kalten Flur hinausrief. Diesmal konnte er die Aufforderung nicht unbeachtet lassen. Sergeant Lucas in Buxton wußte über das vermißte Mädchen Bescheid, und so machte er sich auf. Als wäre es nicht schon schlimm genug, daß die Kerle von Buxton dort herumtrampelten; sie wollten auch noch den Professor mitbringen. Es war das erste Mal, daß Grundy oder irgendeiner seiner Kollegen mit jemandem zusammenarbeiten mußte, der studiert hatte, und er wußte durch die Tratschgeschichten, die er bei seinen gelegentlichen Besuchen der Unterabteilung in Buxton gehört hatte, daß niemand sich bei dem Gedanken daran wohl fühlte. Er hatte sich gleich dem unzufriedenen Murren angeschlossen, das da behauptete, schließlich sei das Leben der beste Lehrer und das beste Studium für einen Polizisten. Diese Akademiker – man konnte sie Samstag abends nicht auf den Marktplatz in Buxton schicken. Sie hatten im Leben nie eine Schlägerei in einem Pub gesehen, und noch viel weniger wußten sie, wie man damit umging. Soweit Grundy wußte, war das einzig Gute, was sich über Kommissar Bennett sagen ließ, daß er eine geschickte Hand beim Kricket hatte. Und das war kein hinreichender Grund für Grundy, sich über sein Eintreffen in seinem Bezirk zu freuen, wo er die sorgsam gepflegten Kontakte durcheinanderbringen würde.
Mit einem Seufzer knöpfte er den Hemdkragen zu. Er zog sich die Uniformjacke über, setzte die Mütze auf dem Kopf zurecht und nahm seinen Mantel. Mit einem beschwichtigenden Lächeln auf dem nervösen Gesicht steckte er den Kopf ins Wohnzimmer. »Ich muß nach Scardale«, sagte er.
»Scht«, ermahnte seine Frau ihn ärgerlich. »Jetzt wird es gerade spannend.«
»Alison Carter ist verschwunden«, fügte er hinzu, schloß boshaft die Wohnzimmertür hinter sich und eilte den Flur entlang, bevor sie reagieren konnte. Und reagieren würde sie, das wußte er nur zu gut. Ein Kind in Scardale verschwunden, das ging einem in Longnor viel zu nah, als daß man nicht einen kalten Schauer im Nacken gespürt hätte.
George Bennett folgte Sergeant Lucas hinaus in den Hof, wo die Autos standen. Er wäre viel lieber in seinem eigenen Wagen gefahren, einem schicken Ford Corsair, der so neu war wie seine Beförderung, aber die Vorschriften verlangten, daß er sich auf den Beifahrersitz des als Polizeiauto gekennzeichneten Dienstwagens, eines Rovers, setzte und Lucas ans Steuer ließ. Als sie auf der Hauptstraße in südlicher Richtung über den Marktplatz fuhren, versuchte George, die prickelnde Erregung zu unterdrücken, die er empfunden hatte, als er die Worte »Mädchen vermißt« hörte. Es konnte sein, wie Lucas schon richtig bemerkt hatte, daß nichts hinter alledem steckte. Mehr als fünfundneunzig Prozent der Fälle vermißt gemeldeter Kinder endeten mit der Versöhnung vor dem Zubettgehen oder im schlimmsten Fall vor dem Frühstück.
Aber manchmal war es anders. Manchmal blieb ein vermißtes Kind lang genug verschwunden, daß die Gewißheit wuchs, er oder sie werde nie mehr nach Hause kommen. Gelegentlich war dies deren eigene Entscheidung. Öfter war der Grund, daß das Kind tot war, und die Frage für die Polizei war dann, wie lang es dauern würde, bis sie die Leiche fanden.
Und manchmal schienen sie so absolut verschwunden, als habe sich die Erde aufgetan und sie verschluckt.
In den letzten zwei Monaten hatte es zwei solche Fälle gegeben, beide weniger als dreißig Meilen von Scardale entfernt. George machte sich immer sorgfältig Notizen zu allen Meldungen von außerhalb der Grafschaft sowie von anderen Dienststellen in Derbyshire, und er hatte diese beiden Vermißtenfälle besonders genau beobachtet, weil sie nah genug waren, daß die Kinder in seiner Gegend auftauchen konnten. Tot oder lebendig.
Pauline Catherine Reade war der erste Fall gewesen. Dunkelhaarig, mit haselnußbraunen Augen, sechzehn Jahre alt, ein Lehrmädchen bei einem Süßwarenverkäufer aus Gorton, Manchester. Schlank, etwa 1,52 Meter groß, mit einem rosa und goldfarbenen Kleid und einem hellblauen Mantel angetan. Kurz vor zwanzig Uhr am Freitag, dem 12. Juli, war sie aus dem Reihenhaus getreten, wo sie mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder wohnte, um zum Twisttanzen zu gehen. Sie wurde nie wieder gesehen. Es hatte zu Hause oder bei der Arbeit keine Probleme gegeben. Sie hatte keinen Freund, mit dem sie sich verkracht haben könnte. Sie hatte kein Geld, mit dem sie hätte weglaufen können, sogar wenn sie das hätte tun wollen. Die Gegend war weiträumig abgesucht worden, drei Staubecken wurden geleert, alles, ohne eine Spur von Pauline zu entdecken. Die Polizei von Manchester war jedem Hinweis nachgegangen, aber keiner davon hatte zu dem verschwundenen Mädchen geführt.
Das zweite Kind, das vermißt wurde, schien mit Pauline Reade nichts gemeinsam zu haben, außer der unerklärlichen, fast magischen Art seines Verschwindens. John Kilbride, zwölf Jahre alt, 1,32 Meter groß, schlank, dunkelbraunes Haar, blaue Augen und mit frischer Gesichtsfarbe. Er trug eine graukarierte Sportjacke, eine lange graue Flanellhose, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe mit stumpfen, viereckigen Vorderkappen. George hatte von einem der Kriminalpolizisten aus Lancashire beim Kricket erfahren, daß er kein besonders intelligenter Junge war, aber nett und zuvorkommend. John war mit Freunden Samstag nachmittags ins Kino gegangen, am Tag nachdem Kennedy in Dallas starb. Danach verließ er die Freunde und sagte, er wolle zum Marktplatz in Ashton-under-Lyne gehen, wo er sich oft ein paar Pennies verdiente, indem er Tee für die Marktfrauen und Verkäufer machte. Er wurde zum letzten Mal ungefähr um halb sechs gesehen, an eine Mülltonne gelehnt.
Die darauffolgende Suche hatte gerade am Tag zuvor einen letzten verzweifelten Auftrieb bekommen, als ein Geschäftsmann der Stadt eine Belohnung von hundert Pfund ausgesetzt hatte. Aber offenbar hatte sie nichts genützt. Derselbe Kollege hatte erst letzten Samstag bei einem Tanzfest der Polizei zu George gesagt, John Kilbride und Pauline Reade hätten wohl mehr Spuren hinterlassen, wenn sie von grünen Männchen in einem UFO entführt worden wären.
Und jetzt wurde ein Mädchen in seinem Revier vermißt. Er starrte aus dem Fenster auf die im Mondlicht liegenden Felder an der Straße nach Ashbourne, auf die stoppeligen, von Rauhreif überkrusteten Wiesen und die Trockenmauern, die sie voneinander trennten und im silbernen Licht zu leuchten schienen. Eine dünne Wolke schob sich vor den Mond, und George fröstelte trotz seines warmen Mantels bei dem Gedanken, in einer solchen Nacht und einer so unwirtlichen Gegend ohne Unterschlupf zu sein.
Über sich selbst entrüstet, da er vor Begeisterung über einen wichtigen Fall die Sorge um das Mädchen und ihre Familie verdrängt hatte, wandte sich George an Bob Lucas und sagte: »Erzählen Sie mir von Scardale.« Er nahm seine Zigaretten heraus und bot dem Sergeant eine an, der aber den Kopf schüttelte.
»Danke, Sir, ich nehme keine. Ich versuche, weniger zu rauchen. Scardale könnte man das Land nennen, das von der Zeit vergessen wurde«, sagte er. Im kurzen Leuchten von Georges Streichholz sah Lucas’ Gesicht grimmig aus.
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist noch wie im Mittelalter da unten. Nur eine Straße führt rein und raus, und an der Telefonzelle auf der Dorfwiese hört sie auf. Es gibt ein großes Haus, das Gutshaus, zu dem wir jetzt unterwegs sind. Dann sind da noch ungefähr ein Dutzend andere kleine Häuser und die landwirtschaftlichen Gebäude. Kein Pub, kein Laden, keine Post. Mr. Hawkin ist das, was man den Gutsherrn nennen könnte. Ihm gehören alle Häuser in Scardale sowie das Gut und das ganze Land im Umkreis von einer Meile. Alle, die dort wohnen, sind seine Pächter und arbeiten für ihn. Es ist, als seien sie alle sein Eigentum.« Der Sergeant bremste, um von der großen Straße rechts auf einen schmalen Weg abzubiegen, der am Steinbruch vorbeiführte. »Es gibt nur drei Familiennamen am Ort, glaube ich. Man ist entweder ein Lomas, ein Crowther oder ein Carter.«
Kein Hawkin, fiel George auf. Er verschob die nähere Betrachtung dieser Ungereimtheit auf später. »Aber die Leute müssen doch weggehen, um zu heiraten oder Arbeit zu bekommen?«
»O ja, die Leute gehen weg«, sagte Lucas. »Aber sie bleiben durch und durch Leute aus Scardale. Das legen sie nie ab. Und in jeder Generation heiraten ein oder zwei von ihnen jemand von außerhalb. Es ist die einzige Möglichkeit, zu vermeiden, daß man seine Cousins heiratet. Aber ziemlich oft wollen die, die nach Scardale eingeheiratet haben, ein paar Jahre später die Scheidung. Das Komische ist, daß sie die Kinder immer zurücklassen.« Er warf George einen schnellen Blick zu, fast so, als wolle er sehen, wie er dies aufnahm.
George zog an seiner Zigarette und dachte einen Moment darüber nach. Er hatte von solchen Orten gehört, nur noch nie einen besucht. Er konnte sich das Leben in einem so abgelegenen, eingegrenzten Winkel der Welt kaum vorstellen, wo alles über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschen ein Wissen sein mußte, das der ganzen Gemeinde bekannt war. »Es ist kaum zu glauben, daß es einen solchen Ort so nah bei der Stadt geben kann. Wie weit ist es? Sieben Meilen?«
»Acht«, sagte Lucas. »Es ist historisch bedingt. Sehen Sie sich mal an, wie steil diese Straßen sind.« Er deutete auf die scharfe Linkskurve, die in das Dorf Earl Sterndale hineinführte, wo sich die von der Steinbruchfirma für ihre Arbeiter gebauten Häuser wie ein zusammengedrängtes Rugbyteam an den Berghang kauerten.
»Bevor es Autos mit brauchbaren Motoren und geteerte Straßen gab, brauchte man im Winter fast einen ganzen Tag von Scardale nach Buxton. Wenn der Weg nicht überhaupt von Schneeverwehungen blockiert war. Die Leute waren auf sich selbst angewiesen. Und in manchen Orten dieser Gegend haben sie sich das nie abgewöhnt.
Nehmen Sie zum Beispiel das Mädchen, Alison. Sogar mit dem Schulbus braucht sie wahrscheinlich fast eine Stunde, um jeden Tag zur Schule und wieder zurück zu kommen. Die Verwaltung der Grafschaft versucht schon lange, die Eltern dazu zu kriegen, daß sie die Kinder als Internatsschüler von Montag bis Freitag in der Schule lassen, um ihnen die lange Fahrt zu ersparen. Aber von Orten wie Scardale wird das einfach kategorisch abgelehnt. Sie sehen es nicht als Hilfsangebot der Grafschaft an. Sie meinen, die Behörden wollen ihnen die Kinder wegnehmen. Die lassen nicht mit sich reden.«
Sie brachten mehrere scharfe Kurven hinter sich und fingen an, mit angestrengt brummendem Motor einen steilen Bergrücken zu erklimmen, wobei Lucas durch die Gänge schaltete. George öffnete das Dreieckfenster und warf den Rest seiner Zigarette auf den Seitenstreifen. Ein Schwall eisiger Luft, die leicht nach Kohlenfeuer roch, reizte seinen Rachen, und er machte hastig das Fenster wieder zu. »Und trotzdem hat Mrs. Hawkin uns sofort gerufen.«
»PC Swindells hat gesagt, sie hätte vorher an jede Tür in Scardale geklopft«, sagte Lucas trocken. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie haben nichts gegen die Polizei. Sie sind nur … nicht sehr mitteilsam, das ist alles. Sie wollen, daß wir Alison finden. Und deshalb geben sie sich mit uns ab.«
Der Wagen quälte sich den Hang hinauf und fuhr auf dem langen, abfallenden Stück Straße in das Dorf Longnor hinein. Die Kalksteinhäuser lagen geduckt und schmutzigweiß wie schlafende Schafe im Mondlicht, und Rauchwolken stiegen aus allen Kaminen ringsum. An der Kreuzung in der Dorfmitte sah George die unverkennbaren Umrisse einer Gestalt in Polizeiuniform, die mit den Füßen aufstampfte, um sich warm zu halten.
»Das ist Peter Grundy«, sagte Lucas. »Er hätte drinnen warten können.«
»Vielleicht ist er gespannt zu erfahren, was passiert ist. Es ist schließlich sein Revier.«
Lucas brummelte: »Eher nörgelt seine bessere Hälfte, daß er abends noch weg muß.«
Er bremste ein bißchen zu scharf, und der Wagen stieß an den Randstein. PC Peter Grundy beugte sich herunter, um zu sehen, wer auf dem Beifahrersitz saß, dann stieg er hinten ein.
»’n Abend, Sergeant«, sagte er und neigte dann den Kopf ein wenig zu George hinüber. »Gefällt mir gar nicht, die Geschichte.«
Bevor Sergeant Lucas losfahren konnte, hielt George Bennett ihn mit erhobenem Finger zurück. »Nach Scardale sind es nur noch zwei Meilen, oder?« Lucas nickte. »Bevor wir hinkommen, will ich soviel wie möglich darüber erfahren, was hier auf uns zukommt. Können wir PC Grundy kurz Zeit lassen, um uns noch ein bißchen was zu erzählen?«
»Eine Minute oder zwei wird nicht schaden«, sagte Lucas und schaltete in den Leerlauf zurück.
Bennett rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her, damit er wenigstens ungefähr die Gesichtskonturen des Mannes vor Ort erkennen konnte. »Also, PC Grundy, Sie glauben wohl nicht, daß wir Alison Hawkin vor dem Kaminfeuer vorfinden werden, wo sie von ihrer Mutter ausgeschimpft wird?«
»Der Name ist Carter, Sir, Alison Carter. Sie ist nicht die Tochter des Gutsherrn.« Grundy sagte dies mit der leichten Ungeduld eines Mannes, der eine lange Nacht voller Erklärungen vor sich hat.
»Danke«, sagte George freundlich. »Sie haben es mir jedenfalls erspart, ins Fettnäpfchen zu treten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich kurz über die Familie informieren könnten. Nur damit ich weiß, womit wir es zu tun haben.« Er bot seine Zigaretten an, um bei Grundy jeden Gedanken zu zerstreuen, er werde herablassend behandelt.
Mit einem kurzen Blick zu Bob Lucas, der nickte, nahm sich Grundy eine Zigarette aus der Packung und suchte in seinem Mantel nach Streichhölzern.
»Ich hab dem Oberkommissar über die Situation in Scardale berichtet«, sagte Lucas, während sich Grundy die Zigarette ansteckte. »Daß dem Squire das ganze Dorf und der Grund und Boden gehören.«
»Richtig«, sagte Grundy und stieß den Zigarettenqualm aus. »Also, bis vor etwa einem Jahr gehörte Scardale Hawkins Onkel. Dem alten Mr. Castleton. Die Castletons sitzen schon so lange im Gutshaus, wie die Dorfchroniken zurückreichen. Jedenfalls ist der einzige Sohn des alten William Castleton im Krieg umgekommen. War Bomberpilot und hatte eines Nachts über Deutschland Pech, und als letztes hat man nur noch gehört, daß er vermißt wurde, vermutlich ist er gefallen. Seine Eltern waren schon in fortgeschrittenem Alter, als der kleine William geboren wurde, und bekamen dann keine weiteren Kinder. Als Mr. Castleton starb, fiel Scardale an den Sohn seiner Schwester, diesen Philip Hawkin. Ein Mann, den niemand dort je gesehen hatte, seit er ein Junge in kurzen Hosen war.«
»Was wissen Sie über ihn?« fragte Lucas.
»Seine Mutter, die Schwester des Squire, ist hier aufgewachsen, aber sie hat den Falschen erwischt, als sie Stan Hawkin geheiratet hat. Er war damals bei der Luftwaffe, aber das dauerte nicht lange. Er behauptete immer, daß ihm die Schuld für etwas zugeschoben wurde, das einer seiner vorgesetzten Offiziere getan hatte, kurz und gut, sie haben ihn rausgeschmissen, weil er angeblich unter der Hand Kriegsgerät verkauft hatte. Jedenfalls, der Squire hat Hawkin aus der Patsche geholfen und dafür gesorgt, daß er einen Job bei einem alten Freund unten im Süden bekam, bei dem er dann Autos verkauft hat. Nach dem, was man hört, ist er nie wieder bei krummen Dingern erwischt worden, aber ich glaube, die Katze läßt das Mausen nicht, und deshalb ist die Familie nicht mehr zu Besuchen heraufgekommen.«
»Und was ist mit dem Sohn, Philip?« fragte George im Versuch, die Sache etwas voranzubringen.
Grundy zuckte die Schultern, sein schwerer Körper ließ das Auto leicht schwanken. »Er ist ein gutaussehender Kerl, das muß ich sagen. Jede Menge Charme und so. Er ist bei Frauen beliebt. Mir gegenüber hat er sich immer korrekt benommen, aber ich würd ihm trotzdem nicht für fünf Pennies über den Weg trauen.«
»Und er hat Alison Carters Mutter geheiratet?«
»Dazu wollt ich gerade kommen«, sagte Grundy mit behäbiger Würde. »Ruth Carter war seit fast sechs Jahren Witwe, als Hawkin vom Süden heraufkam, um sein Erbe anzutreten. Nach dem, was ich gehört habe, war er gleich von Anfang an für Ruth eingenommen. Sie ist eine schöne Frau, das stimmt schon, aber nicht jeder wäre bereit, das Kind eines anderen Mannes anzunehmen. Allerdings, nach dem, was ich so weiß, ist das für ihn nie ein Problem gewesen. Er hat Ruth einfach nicht in Ruhe gelassen. Und sie war ja nicht dagegen. Er hat ihre Augen wieder zum Funkeln gebracht, das muß man ihm lassen. Drei Monate nachdem er zum ersten Mal in Scardale aufgetaucht war, haben sie geheiratet. Sie waren ein schönes Paar.«
»Eine stürmische Romanze also?« fragte George. »Ich wette, das hat einiges böses Blut gemacht, sogar an einem so verschworenen Ort wie Scardale.«
Grundy zuckte die Achseln. »Ich hab nichts in der Richtung gehört«, sagte er. George war in der Lage zu beurteilen, wenn einer mauerte. Er würde sich also Grundys Vertrauen erst verdienen müssen, bevor der Dorfpolizist ihm seine mühsam gesammelten Kenntnisse der hiesigen Verhältnisse offenbaren würde. Daß er diese Kenntnisse hatte, stand für George fest.
»Also gut, dann laßt uns nach Scardale fahren und sehen, was los ist«, sagte er. Lucas legte den Gang ein und fuhr durch das Dorf. Als sie zu einem Sperrschild kamen, bog er von der Hauptstraße scharf links ab. »Gute Beschilderung«, war Georges trockener Kommentar.
»Alle, die nach Scardale müssen, kennen die Straße, nehme ich an«, sagte Bob Lucas und konzentrierte sich auf die schmale Fahrspur, die nach einer Reihe kurz aufeinanderfolgender Schleifen anstieg und wieder abfiel und wie bei einer Achterbahn in die Richtung zurückzuführen schien, aus der sie kamen. Die beiden Lichtkegel der Scheinwerfer erhellten kaum die Dunkelheit auf der Straße, die von hohen Böschungen und unregelmäßigen Trockenmauern gesäumt war. Die Mauern wölbten sich und hoben sich in unwahrscheinlichen Winkeln gegen den Himmel ab.
»Als Sie eingestiegen sind, sagten Sie, die Geschichte gefiele Ihnen nicht, Grundy«, sagte George. »Warum denn?«
»Sie scheint so ein vernünftiges Mädchen zu sein, diese Alison. Ich kenne sie – sie ist in Longnor zur Grundschule gegangen. Ich habe eine Nichte, die in derselben Klasse war, und sie sind auch zusammen ins Gymnasium gegangen. Als ich auf Sie gewartet habe, bin ich schnell vorbeigegangen und habe mit unserer Margaret geredet. Sie meint, Alison sei heute genauso gewesen wie immer. Sie fuhren zusammen im Bus heim, genau wie sonst. Alison hat davon gesprochen, daß sie diese Woche einmal nach der Schule in Buxton bleiben wollte, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Außerdem, sagt sie, ist Alison keine, die vor etwas weglaufen würde. Wenn etwas schiefläuft, dann geht sie es direkt an. Sieht also so aus, daß, was immer Alison passiert ist, nicht ihr eigener Entschluß war.«
Grundys schwerwiegende Worte lagen George wie Steine im Magen. Als spiegele sich draußen ihre unheilvolle Bedeutung, traten die Seitenwände an der Straße zurück und wurden von steilen Kalksteinklippen abgelöst, zwischen denen sich die Straße, völlig von den Bodenverhältnissen diktiert, durch einen schmalen Hohlweg wand. Mein Gott, dachte George, das ist ja wie ein Canyon in einem Western. Wir sollten Stetsons auf den Köpfen tragen und Maultiere reiten, statt in einem Auto zu sitzen.
»Gleich hier um die nächste Kurve, Sergeant«, sagte Grundy von hinten, sein Atem roch nach bitterem Tabak.
Lucas fuhr jetzt sehr langsam und folgte einer Kurve um eine Felsspitze herum. Fast unmittelbar danach versperrte ein schweres Gittertor die Straße. George hielt kurz die Luft an. Wenn er gefahren wäre und das Hindernis nicht erwartet hätte, wäre er sicher dagegengeprallt. Als Grundy schnell ausstieg und vorging, um das Tor zu öffnen, bemerkte George mehrere Farbspuren in verschiedenen Tönen an den Felswänden zu beiden Seiten der Straße. »Mit offenen Armen empfängt man hier Fremde wohl nicht gerade?«
Lucas lächelte grimmig. »Das brauchen sie nicht. Hinter dem Tor ist genaugenommen nur noch eine Privatstraße. Sie wurde erst in den letzten zehn Jahren asphaltiert. Davor kam nichts außer Landrovern und Traktoren durch Scardale durch.« Er fuhr auf der anderen Seite des Tors langsam weiter, damit Grundy es schließen und wieder zu ihnen einsteigen konnte.
Sie setzten ihre Fahrt fort. Hundert Meter hinter dem Tor fielen die Kalkfelsen zu beiden Seiten ab und öffneten sich in Richtung auf einen fernen Horizont. Plötzlich kamen sie aus der Finsternis wieder ins volle Mondlicht. Gegen den sternenbedeckten Himmel schien es George, als seien sie aus einem engen Gang, wie ihn Sportler vor einem Spiel passieren müssen, in ein weiträumiges Stadion gekommen, mindestens eine Meile breit, umgeben von einem fast geschlossenen Rund steiler Berge statt der Sitzreihen. Diese Arena war aber kein Sportplatz. Im fahlen Mondlicht sah George Felder mit struppigem Weideland, das sanft von der Straße aus anstieg, durch die die Talsohle in zwei Seiten geteilt wurde. Schafe drückten sich gegen die Felswände, ihr Atem bildete kleine Dampfwolken in der eiskalten Luft. Dunklere Flecken erwiesen sich als kleine Waldstücke, als sie daran vorbeifuhren. George hatte so etwas noch nie gesehen. Es war eine geheimnisvolle, verborgene und abgeschiedene Welt.
Jetzt sah er Lichter, nur schwach im Silberglanz des Mondes, aber stark genug, um die Umrisse der verstreut liegenden Gebäude gegen die hellen Kalksteinklippen am hinteren Ende des Tals hervortreten zu lassen. »Das ist Scardale«, sagte Grundy unnötigerweise vom Rücksitz aus.
Aus der Anhäufung von Steingebäuden wurden bald deutlich voneinander abgesetzte Häuser, die geduckt um eine struppige, kreisförmige Grasfläche herum standen. Ein einzelner, schief stehender Stein erhob sich mitten auf der Wiese, und eine Telefonzelle leuchtete rot an der einen Seite, der einzige lebhafte Farbtupfer in dem mondbeschienenen Ort. Es waren etwa ein Dutzend kleine Häuser, alle voneinander verschieden und jedes nur ein paar Meter vom Nachbarn entfernt. Bei den meisten war hinter den Vorhängen Licht zu sehen. Mehr als einmal erhaschte George einen Blick auf Hände, die den Vorhang etwas zurückzogen, damit Gesichter hinausspähen konnten, aber er ließ sich nicht zu Seitenblicken verlocken.
Ganz hinten am Ende der Grasfläche stand weit auseinandergezogen ein Gebilde durcheinandergewürfelter Giebel und Fenster: Scardale Manor, vermutete George. Er war nicht sicher, was er erwartet hatte, aber jedenfalls nicht dieses bessere Bauernhaus, das aussah, als wäre es im Lauf mehrerer Jahrhunderte von Leuten zusammengeschustert worden, die sich mehr von der Notwendigkeit als vom Geschmack hatten leiten lassen. Bevor er etwas sagen konnte, ging die Haustür auf, und ein länglicher Lichtschein fiel auf den Hof. Gegen das Licht sah man die Gestalt einer Frau.
Als der Wagen anhielt, machte die Frau ein paar hastige Schritte auf sie zu. Dann erschien ein Mann neben ihr und legte einen Arm um sie. Zusammen warteten sie, während die Polizisten näher kamen – George blieb etwas zurück, damit Bob Lucas vorausgehen konnte. Die Zeit, die Lucas für die Vorstellung brauchte, konnte er nutzen, um seine ersten Eindrücke von Alison Carters Mutter und ihrem Stiefvater zu sammeln.
Ruth Hawkin sah mindestens zehn Jahre älter aus als seine Anne, das heißt, sie mußte gegen Ende Dreißig sein. Er schätzte sie etwa einen Meter sechzig groß, und sie hatte den kräftigen Körperbau einer Frau, die an schwere Arbeit gewöhnt ist. Ihr mittelbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, was den abgespannten Ausdruck ihrer graublauen, vom Weinen geröteten Augen noch betonte. Ihre Haut war wettergegerbt, aber in den Rissen der vorgeschobenen Lippen waren schwache Spuren von Lippenstift zu erkennen. Sie trug ein offensichtlich selbstgestricktes Twinset aus blau-rosa gesprenkelter Wolle über einem grauen Tweedfaltenrock. Ihre Beine steckten in gerippten Wollstrümpfen, ihre Füße in praktischen, knöchelhohen Stiefeln mit einem Reißverschluß vorn in der Mitte. Was er sah, war schwer mit Peter Grundys Beschreibung von Ruth als einer gutaussehenden Frau in Einklang zu bringen. George hätte sich an der Bushaltestelle nicht nach ihr umgedreht, außer vielleicht wegen ihres offensichtlichen Kummers, der in der angespannten Körperhaltung und den abwehrend vor der Brust verschränkten Armen zum Ausdruck kam. Er nahm an, daß dieser Kummer ihr auch ihre Attraktivität genommen hatte.
Der hinter ihr stehende Mann schien viel ungezwungener. Eine Hand berührte leicht die Schulter seiner Frau, die andere steckte lässig in der Tasche seiner dunkelbraunen Strickjacke mit Wildlederbesatz. Er trug eine graue Flanellhose, deren Aufschläge über abgenutzte Lederpantoffeln fielen. Philip Hawkin hatte also seine Frau nicht begleitet, als sie an die Türen im Dorf klopfte, stellte George fest.
Hawkin war so gutaussehend wie seine Frau durchschnittlich. Etwas kleiner als einen Meter achtzig, mit glattem dunklem Haar, das er von einem spitzen Haaransatz zurückgekämmt trug und mit Pomade in Form hielt. Sein Gesicht mit der breiten, fast viereckigen Stirn und dem spitz zulaufenden Kinn erinnerte George an einen Schutzschild. Die geraden Brauen über dunkelbraunen Augen wirkten wie heraldische Wappenzeichen; eine schmale Nase schien auf den Mund zu weisen, der so geformt war, daß es immer aussah, als wolle er lächeln. George sah und merkte sich all diese Details. Bob Lucas sagte gerade: »Wenn wir also reinkommen und die Fakten festhalten könnten, dann bekämen wir ein besseres Bild von dem, was passiert ist.« Er wartete gespannt.
Zum ersten Mal sprach Hawkin, und man hörte sofort, daß ihm der Dialekt der Gegend um die Peaks in Derbyshire völlig fremd war. »Natürlich, natürlich. Kommen Sie herein, meine Herren. Ich bin sicher, sie wird gesund und munter wieder auftauchen, aber es kann kein Schaden sein, sich an die korrekte Verfahrensweise zu halten, nicht wahr?« Er legte eine Hand auf Ruths Rücken und schob sie zurück ins Haus. Sie schien benommen, jedenfalls nicht in der Lage, die Initiative zu ergreifen. »Es tut mir leid, daß Sie an so einem kalten Abend gerufen wurden«, fügte Hawkin gewandt hinzu und ging durch den Raum.
George folgte Lucas und Grundy über die Schwelle in die Küche des Hauses. Der Boden war mit Steinplatten belegt, die Wände aus rauhem Stein waren mit weißer Temperafarbe gestrichen, die ungleichmäßig nachgedunkelt war, je nach Nähe zum holzbefeuerten Ofen und dem Elektroherd. Eine Anrichte und mehrere Schränke in verschiedener Höhe, alle grün gestrichen wie Möbel in einem Krankenhaus, standen an den Wänden, und zwei tiefe Steinspülbecken waren unter den Fenstern mit Ausblick auf das Ende des Tals befestigt. Durch zwei weitere Fenster sah man die Dorfwiese und die Telefonzelle, die sich leuchtend von der Dunkelheit abhob. Verschiedene Pfannen und Küchenutensilien hingen von den schwarzen Balken, die im Abstand von etwas mehr als einem Meter durch den Raum liefen. Es roch nach Rauch, Kraut und Schmalz.
Ohne auf die anderen zu warten, setzte sich Hawkin sofort auf einen geschnitzten Stuhl am Kopfende eines geschrubbten Holztischs. »Mach den Männern einen Tee, Ruth«, sagte er.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Sir«, warf George ein, als die Frau den Kessel vom Herd hob. »Aber es wäre mir lieber, wir würden zur Sache kommen. Wenn ein Kind vermißt wird, wollen wir keine Zeit verlieren. Mrs. Hawkin, wenn Sie sich setzen und uns sagen würden, was Sie wissen.«
Ruth sah zu Hawkin hinüber, als bitte sie ihn um Erlaubnis. Seine Augenbrauen zuckten nach oben, aber er nickte zustimmend. Sie zog einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder und verschränkte die Arme vor sich auf dem Tisch. George setzte sich ihr gegenüber und Lucas daneben. Grundy knöpfte seinen Mantel auf und nahm auf dem anderen geschnitzten Stuhl Hawkin gegenüber Platz. Er zog sein Notizbuch aus der Uniformjacke, schlug es auf, leckte am Bleistift und sah erwartungsvoll auf.
»Wie alt ist Alison, Mrs. Hawkin?« fragte George behutsam.
Die Frau räusperte sich. »Dreizehn. Sie hat im März Geburtstag.« Ihre Stimme klang brüchig, als zerberste etwas in ihr.
»Und hatte es Streit zwischen Ihnen gegeben?«
»Sachte, sachte, Kommissar«, protestierte Hawkin. »Was meinen Sie damit – Streit? Was soll das heißen?«
»Das soll gar nichts heißen, Sir«, erwiderte George. »Aber Alison ist in einem schwierigen Alter, und manchmal erscheinen jungen Mädchen die Dinge viel schlimmer, als sie sind. Ein ganz normaler Rüffel kann ihnen wie das Ende der Welt vorkommen. Ich versuche nur festzustellen, ob es Gründe gibt anzunehmen, daß Alison weggelaufen ist.«
Hawkin lehnte sich stirnrunzelnd zurück, griff hinter sich und balancierte seinen Stuhl auf zwei Beinen. Er nahm ein Päckchen Embassy und ein kleines Chromfeuerzeug von der Anrichte und zündete sich eine Zigarette an, ohne sonst jemandem eine anzubieten. »Natürlich ist sie weggelaufen«, sagte er, und ein Lächeln ließ seine Augenbrauen weniger streng erscheinen. »Teenager tun das eben. Sie tun es, damit man sich sorgt oder um sich für irgendeine eingebildete Kränkung zu rächen. Sie wissen doch, was ich meine«, fuhr er fort und schloß mit der Miene eines erfahrenen Mannes mit gesundem Menschenverstand die Polizeibeamten in seine Überlegungen ein. »Weihnachten steht vor der Tür. Ich erinnere mich noch, einmal war ich stundenlang verschwunden. Ich dachte, meine Mum würde so froh sein, wenn ich wohlbehalten wieder zu Haus wäre, daß sie sich überreden lassen würde, mir zu Weihnachten ein Fahrrad zu kaufen.« Er lächelte reuig. »Alles, was ich gekriegt habe, war ein versohlter Hintern. Sie werden sehen, Kommissar, sie wird vor morgen früh dasein und einen Willkommensschmaus erwarten.«
»So ist sie nicht, Phil«, sagte Ruth klagend. »Ich sage dir, etwas ist ihr zugestoßen. Sie würde uns doch nicht solche Sorgen machen.«
»Was ist heute nachmittag geschehen, Mrs. Hawkin?« fragte George, nahm seine eigenen Zigaretten heraus und bot sie ihr an. Sie dankte mit einem angespannten Nicken und nahm eine mit ihren von der Arbeit geröteten, zitternden Fingern. Bevor er die Streichhölzer herausnehmen konnte, hatte sich Hawkin hinübergebeugt, um sie anzuzünden. George steckte seine eigene Zigarette an und wartete, bis sie sich soweit beruhigt hatte, um zu antworten.
»Der Schulbus setzt Alison und ihre Cousine und einen Cousin am Ende der Straße gegen Viertel nach vier ab. Jemand vom Dorf geht immer hinauf und holt sie ab, sie kommt ungefähr um halb fünf bei uns an. Sie war zur normalen Zeit hier. Ich war in der Küche und habe Gemüse fürs Abendessen geputzt. Sie gab mir einen Kuß und sagte, sie ginge mit dem Hund weg. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht vorher eine Tasse Tee wollte, aber sie antwortete, sie sei den ganzen Tag eingesperrt gewesen und sie wolle mit dem Hund laufen. Sie hat das oft getan. Sie war sehr ungern den ganzen Tag drin.« Von der Erinnerung überwältigt, stockte Ruth und hörte dann auf zu sprechen.
»Haben Sie sie gesehen, Mr. Hawkin?« fragte George, mehr um Ruth eine Pause zu gönnen als aus Interesse an der Antwort.
»Nein, ich war in meiner Dunkelkammer. Ich verliere das Gefühl für Zeit, wenn ich da drin bin.«
»Ich wußte nicht, daß Sie Fotograf sind«, sagte George und bemerkte, daß Grundy auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
»Das Fotografieren ist meine größte Liebe, Kommissar. Als ich ein bescheidener Beamter war, bevor ich dieses Haus von meinem Onkel erbte, war es nie mehr als ein Hobby. Jetzt habe ich selbst eine Dunkelkammer und bin im letzten Jahr halbwegs zum Profi geworden. Porträts natürlich, aber hauptsächlich Landschaften. Manche meiner Postkarten werden in Buxton verkauft. Das Licht in Derbyshire hat eine bemerkenswerte Klarheit.« Diesmal war Hawkins Lächeln strahlend.
»Aha«, sagte George und wunderte sich, daß ein Mann an die Qualität des Lichts denken konnte, wenn seine Stieftochter an einem eiskalten Dezemberabend vermißt wurde. »Sie hatten also keine Ahnung, daß Alison heimgekommen und wieder weggegangen war?«
»Nein, ich habe nichts gehört.«
»Mrs. Hawkin, hat Alison oft jemanden besucht, wenn sie mit dem Hund spazierenging? Nachbarn? Sie erwähnten Cousinen, mit denen sie zur Schule geht.«
Ruth schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ging immer nur durch die Felder zum Wäldchen und dann zurück. Im Sommer ging sie weiter, durch den Wald hinauf, wo der Scarlaston entspringt. Zwischen den Hügeln gibt es eine Mulde, man kann sie fast nicht sehen, erst wenn man dort ist, aber man kann durch sie am Flußufer entlang bis nach Denderdale gehen. So weit würde sie allerdings an einem Winterabend nie gehen.« Sie seufzte. »Außerdem bin ich im Dorf herumgelaufen. Niemand hat sie gesehen, seit sie über die Felder gegangen ist.«
»Was ist mit dem Hund?« fragte Grundy. »Ist der Hund zurückgekommen?«
Es war die Frage eines Mannes vom Land, dachte George. Er wäre schließlich auch zu dieser Frage gekommen, aber nicht so schnell wie Grundy.
Ruth schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht zurückgekommen. Aber wenn Alison einen Unfall gehabt hätte, würde Shep nicht von ihr weggehen. Sie hätte gebellt, aber sie hätte sie nicht verlassen. An einem Abend wie heute würde man Shep überall im Tal hören. Sie sind draußen gewesen. Haben Sie sie gehört?«
»Deswegen hab ich gefragt«, sagte Grundy. »Die Stille.«
»Können Sie uns beschreiben, was Alison getragen hat?« fragte der praktisch denkende Lucas.
»Sie hatte einen dunkelblauen Dufflecoat über ihrer Schuluniform an.«
»Peak Girls’ High School?« fragte Lucas.
Ruth nickte. »Schwarzer Blazer, braune Strickjacke, weiße Bluse, schwarzbraune Krawatte und brauner Rock. Sie trägt schwarze wollene Strumpfhosen und schwarze halbhohe Schaffellstiefel. Man läuft nicht in seiner Schuluniform weg«, brach es heftig aus ihr heraus, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie wischte sie zornig mit dem Handrücken weg. »Warum sitzen wir hier wie zum Teetrinken am Sonntagnachmittag? Warum suchen Sie nicht da draußen nach ihr?«
George nickte. »Das werden wir gleich tun, Mrs. Hawkin. Aber wir müssen erst die Fakten klären, damit wir uns nicht unnötig verzetteln. Wie groß ist Alison?«
»Sie ist jetzt fast so groß wie ich, ungefähr ein Meter sechzig. Sie ist schlank, fängt gerade an, wie eine junge Frau auszusehen.«
»Haben Sie ein neueres Bild von Alison, das wir unseren Leuten zeigen können?« fragte George.
Hawkin rückte seinen Stuhl zurück, dessen Beine auf den Steinplatten quietschten. Er zog eine der Schubladen am Küchentisch heraus und nahm eine Handvoll Fotos im Format 9 × 13 heraus. »Die hier habe ich im Sommer aufgenommen. Vor ungefähr vier Monaten.« Er beugte sich hinüber und breitete sie vor George aus. Das Gesicht, das ihn aus den fünf Porträtaufnahmen in Farbe ansah, war nicht eines, das er leicht wieder vergessen würde.
Niemand hatte ihn vorgewarnt, daß sie so schön war. Er fühlte, wie ihm der Atem stockte, als er auf Alison hinuntersah. Schulterlanges Haar von der Farbe reifen Honigs rahmte das ovale Gesicht mit blassen Sommersprossen ein. Der Schnitt ihrer blauen Augen hatte fast etwas Slawisches, sie lagen weit auseinander über der hübschen, geraden Nase. Sie hatte volle Lippen, ihr Lächeln ließ ein einzelnes Grübchen auf der linken Wange erscheinen. Der einzige Makel war eine Narbe, die sich schräg durch ihre rechte Augenbraue zog, eine dünne weiße Linie zwischen den dunklen Härchen. Auf jedem Foto hatte sie eine leicht unterschiedliche Haltung, aber ihr offenes Lächeln war unverändert.
Er blickte zu Ruth auf, deren Gesichtszüge sich beim Anblick ihrer Tochter unmerklich entspannt hatten. Jetzt sah er, was Hawkins Aufmerksamkeit auf die Farmerswitwe gelenkt hatte. Ohne die Anspannung, die jede Weichheit aus Ruths Gesicht genommen hatte, war ihre Schönheit genauso klar zu sehen wie die ihrer Tochter. Jetzt, wo der Hauch eines Lächelns auf ihren Lippen lag, verstand er nicht mehr, wie er sie unattraktiv hatte finden können.
»Ein schönes Mädchen«, murmelte George. Er stand auf und nahm die Fotos. »Ich würde die Bilder gern für eine Weile an mich nehmen.« Hawkin nickte. »Sergeant, könnte ich kurz draußen mit Ihnen sprechen?«
Die zwei Männer traten aus der warmen Küche in die eiskalte Nachtluft. Als George die Tür hinter sich schloß, hörte er Ruth resigniert sagen: »Ich mache jetzt Tee.«
»Was sagen Sie dazu?« fragte George. Er brauchte Lucas’ Bestätigung nicht, um zu wissen, daß dies etwas Ernstes war, aber wenn er jetzt seine Autorität gegen den Uniformierten herauskehrte, sagte er damit, er glaube, das Mädchen sei ermordet worden oder Opfer eines schlimmen Überfalls geworden. Und obwohl sich bei ihm die Meinung festigte, daß dies geschehen war, regte sich doch die abergläubische Furcht, es könnte eintreffen, nur weil er so handelte, als sei es schon Wirklichkeit.
»Ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich den Diensthundeführer hierher holen, Sir. Sie könnte gefallen sein. Sie könnte verletzt irgendwo liegen. Wenn sie vom Steinschlag getroffen worden ist, könnte der Hund umgekommen sein.« Er schaute auf die Uhr. »Vier unserer Männer in Uniform haben zusätzlich beim Gedenkgottesdienst für Kennedy Dienst. Wenn wir uns beeilen, können wir sie noch erwischen, bevor ihr Einsatz zu Ende ist, und sie mit allen, die wir irgendwie entbehren können, hier rauskommen lassen.« Lucas griff an George vorbei nach der Tür. »Ich muß von hier aus telefonieren. Es hat keinen Sinn, das Funkgerät zu nehmen. Unten in der Markham-Main-Grube hätte man einen besseren Empfang als hier.«
»Okay, Sergeant. Organisieren Sie alles für eine Suchmannschaft. Ich rufe Detective Sergeant Clough und Detective Constable Cragg. Sie können mit der Befragung in den Häusern des Dorfs anfangen, so daß wir feststellen können, von wem und wo sie zuletzt gesehen wurde.« George spürte ein leichtes Flattern im Magen wie Premierenfieber. Und genau das war es natürlich auch. Wenn er mit seinen Befürchtungen recht hatte, stand er vor dem ersten großen Fall, für den er persönlich vollkommen verantwortlich sein würde. Und nach diesem Fall würde er während seiner ganzen Laufbahn beurteilt werden. Wenn er nicht aufdeckte, was mit Alison Carter geschehen war, so würde dies immer wie ein Joch auf seinen Schultern lasten.
Der Atemhauch des Hundes wirbelte in Wölkchen durch die Nachtluft, als hätte er ein eigenes Leben. Der Schäferhund saß ruhig auf seinen Hinterbeinen, die Ohren gespitzt, die Augen blickten wachsam über die Dorfwiese hin. Dusty Miller, der Hundeführer, stand bei seinem Schützling und kraulte zerstreut mit einer Hand die kurzen hellbraunen und schwarzen Haare zwischen den Ohren. »Prince wird Kleider und Schuhe von dem Mädchen brauchen«, sagte er zu Sergeant Lucas. »Je mehr sie getragen sind, desto besser. Es geht auch ohne, aber es würde dem Hund helfen.«
»Ich werde mit Mrs. Hawkin sprechen«, warf George ein, bevor Lucas irgend jemandem die Aufgabe zuteilen konnte. Er glaubte nicht, daß einer der Uniformierten taktlos sein könnte, aber er wollte einfach eine weitere Gelegenheit, Alison Carters Mutter und ihren Mann zu beobachten.
Er ging in den warmen Mief der Küche zurück, wo Hawkin immer noch rauchend am Tisch saß. Er hatte jetzt eine Tasse Tee vor sich, genauso wie die Polizistin am anderen Tischende. Sie sahen beide auf, als er eintrat. Hawkin hob fragend die Augenbrauen. George schüttelte den Kopf. Hawkin schob die Lippen vor und rieb sich mit einer Hand über die Augen. George war erleichtert, daß der Mann nun tatsächlich Anzeichen von Sorge um das Schicksal seiner Stieftochter zeigte. Die Tatsache, daß Alison vielleicht wirklich in Gefahr war, schien also endlich in seinem völlig mit sich selbst beschäftigten Kopf Einzug zu halten.
Ruth Hawkin stand am Spülbecken und hatte die Hände in der Schüssel mit Spülwasser. Aber sie spülte nicht. Sie stand bewegungslos da und starrte in die ungebrochene Dunkelheit der Nacht hinaus. Der Mond beleuchtete nur schwach das Areal hinter den Häusern; so weit unten im Tal waren die Kalksteinklippen nah genug, um den Großteil des Mondlichts abzuschirmen. Draußen vor den Fenstern war nichts zu sehen außer einem schwachen, dunklen Umriß gegen das Grauweiß der Felsen. Wohl irgendein Nebengebäude, dachte George. Er überlegte, ob es schon durchsucht worden war. Er räusperte sich. »Mrs. Hawkin …«
Sie drehte sich langsam um. Sogar in der kurzen Zeit, seit sie in Scardale waren, schien sie gealtert zu sein, die Haut über den Wangenknochen schien fester gespannt, und die Augen lagen tiefer. »Ja?«
»Wir brauchen Kleider von Alison. Für den Spürhund.«
Sie nickte. »Ich hole etwas.«
»Der Hundeführer hat gesagt, vielleicht Schuhe und etwas, das sie ein paarmal getragen hat. Ein Pullover oder ein Mantel, würde ich sagen.«
Ruth verließ mechanisch, mit schlafwandlerischen Schritten den Raum. »Könnte ich noch einmal telefonieren?« fragte George.
»Aber bitte«, sagte Hawkin und wies mit der Hand zum Flur hin.
George ging hinter Ruth durch die Tür und zu dem altmodischen schwarzen Telefon auf einem kleinen runden Tisch neben einem Hochzeitsfoto mit der strahlenden Ruth und ihrem Mann. Hätte Hawkin nicht so unverwechselbar gut ausgesehen, hätte George die Braut vielleicht gar nicht erkannt.