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Bekannt aus den NDR-Sendungen "Visite" und "Dr. Wimmer – Wissen ist die beste Medizin" Niemand sitzt häufiger im Wartezimmer, schluckt mehr Medikamente und wird öfter operiert als wir Deutschen. Aber sind all die kostspieligen Behandlungen, Pillen und Operationen tatsächlich nötig? Bedeutet mehr Medizin wirklich mehr Gesundheit? Dr. Johannes Wimmer und Professor Dr. Robin Haring klären darüber auf, wie viel Medizin wirklich notwendig ist und worauf man getrost verzichten kann: Auch Gesundheitsmuffel können glücklich alt werden.
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Das Buch
Niemand sitzt häufiger im Wartezimmer, schluckt mehr Medikamente und wird öfter operiert als wir Deutschen. Aber sind all die kostspieligen Behandlungen, Pillen und Operationen tatsächlich nötig? Bedeutet mehr Medizin wirklich mehr Gesundheit?
Dr. Johannes Wimmer und Professor Dr. Robin Haring klären darüber auf, wie viel Medizin wirklich notwendig ist und worauf man getrost verzichten kann: Auch Gesundheitsmuffel können glücklich alt werden.
Die Autoren
Dr. Johannes Wimmer ist als Experte in Print und TV gefragt. Im NDR gibt er in der Sendung »Visite« Tipps zum Thema Gesundheit und moderiert seit 2016 mit »Dr. Wimmer – Wissen ist die beste Medizin« sein eigenes Format. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.www.doktor-johannes.de
Professor Dr. Robin Haring ist habilitierter Demograph und Epidemiologe. Er lehrt und forscht aktiv zu den Themen »Gesundes Altern« und »Digitalisierung im Gesundheitswesen« an der EUFH Rostock und der Monash University Melbourne.www.robinharing.com
Dr. med. Johannes WimmerProf. Dr. habil. Robin Haring
Warum weniger Medizinoft gesünder ist
Ullstein
Wichtiger HinweisDieses Buch kann Ihnen helfen, gezieltere Fragen zu Ihrer Erkrankung bzw. Behandlung zu stellen, aber es kann und darf den Arztbesuch nicht ersetzen. Die Ratschläge in diesem Buch sind von den Autoren und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Jeder Leser ist für sein eigenes Handeln selbst verantwortlich. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlages oder der Autoren. Eine Haftung der Autoren bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Zum Schutz von Personen wurden Namen verändert und Handlungen, Ereignisse und Situationen abgewandelt. Suchen Sie deshalb bei konkreten gesundheitlichen Beschwerden immer Ihren Hausarzt oder einen Facharzt auf, und bereiten Sie den Arztbesuch gut vor.
SprachregelungZur Vereinfachung beim Schreiben und Lesen wird immer die männliche Form verwendet: der Patient, der Arzt usw. Dieser Artikel gilt als allgemeiner Gattungsbegriff und schließt weibliche Personen automatisch mit ein.
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ISBN 978-3-8437-1622-2
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Dr. Johannes WimmerIllustrationen im Innenteil: Melanie Hauke
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und die Autoren
Titelseite
Impressum
Endlich Weltmeister
Früher war alles einfacher – sogar krank sein
Dreimal leben Sie hoch
Jeder altert anders
Ohne Ende gesund
Was heißt schon gesund?
Wann ist zu viel Medizin zu viel?
Vollnarkose ohne Übernachtung
Tod im Krankenhaus
Ein Screening rettet keine Leben
Achtung IGeL – bitte nicht füttern!
Eingebildete Kranke
Diagnose ohne Bedeutung
Risiko bedeutet nicht Krankheit
Dick, aber gesund
VIP-Syndrom & Schläfer – die richtige Medizin für den falschen Patienten
Bittere Pillen
Nahrungsergänzungsmittel – wirkungslos, aber teuer
Medizinisch möglich, aber nutzlos und teuer
Auf diese zehn Behandlungen können Sie verzichten
Krank ist das neue Gesund
Zeig mir, wo du wohnst, und ich sage dir, wie gesund du bist
Weniger ist oft mehr – wirksame Medizin gegen die zehn häufigsten Erkrankungen
Keine Sorge um Ihre Gene
Das Beste kommt zum Schluss
Wissen – der beste Schutz vor unnötiger Medizin
Vom »Durchbruch« in der Medizin
Technik heilt alle Wunden
Deutschland – Gesundheitsland?
Ist schlechte Medizin besser als keine Medizin?
Behandlung nutzlos – Patient zufrieden
Gesundheit – jetzt lebenslänglich
Medizin – Hilfe oder Hindernis auf der Suche nach dem guten Leben?
Gesund altern – wer trägt die Verantwortung?
Generation »Weniger«
Glossar
Für Ihre Notizen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Wir Deutsche sind Arzt-Weltmeister. Niemand sitzt häufiger im Wartezimmer, schluckt mehr Medikamente, wird öfters geröntgt oder operiert. Aber leben wir deshalb gesünder, oder sogar länger? Finden wir es heraus …
Immer mehr Menschen zweifeln, ob all die Vorsorgeuntersuchungen, Gesundheitschecks, Screenings, Medikamente und Operationen tatsächlich notwendig sind. Hüftersatz mit 92 Jahren? Wirbelsäulen-OP mit 38? Dreifacher Bypass und Magenverkleinerung für adipöse Kettenraucher? Es gibt viele Beispiele für unnötige, teure und riskante medizinische Behandlungen. Aber brauchen wir wirklich so viel Medizin, oder geht es nicht auch anders?
Klar ist es toll, dass Deutschland eines der weltweit leistungsfähigsten Gesundheitssysteme bereitstellt. Täglich fließt fast eine Milliarde Euro in das deutsche Gesundheitswesen – noch einmal ganz langsam zum Verdauen: Jeden Tag geben wir fast 1.000.000.000 Euro für Medizin aus – für Medikamente, Operationen, Therapien, Krankenhäuser und Ärzte – eine Milliarde Euro – jeden Tag! Nur leider bedeutet mehr Medizin nicht automatisch mehr Gesundheit. Denn die größte Sorge im deutschen Gesundheitssystem ist in den letzten Jahren der deutliche Anstieg von Diagnosen, Therapien und Operationen, die nicht medizinisch begründet, falsch oder überflüssig sind. Es sind also nicht primär medizinische Gründe, die die Steigerung der Fallzahlen erklären. In der Fachsprache des Sachverständigenrats, dem höchsten Gremium im Gesundheitssystem, ist zwar von »nicht indikations- und situationsbezogenen medizinischen Leistungen« die Rede, gemeint ist aber letztlich genau das: zu viel unnötige Medizin.
Die meisten Rückenoperationen sind überflüssig? Knieoperationen bringen überhaupt nichts? Und wir sind gar nicht gesünder am Herz, obwohl Deutschland europaweit die meisten Patienten mit Herzkathetern behandelt? Unnötige Medizin scheint aber nicht nur weit verbreitet und teuer, sondern auch gefährlich zu sein. Denn mehr Medizin bedeutet, dass auch mehr schiefgehen kann. So gehören medizinische Behandlungsfehler in den USA inzwischen zur dritthäufigsten Todesursache. Vor diesem Hintergrund werden die Themen »Überversorgung« und »Fehlversorgung« auch hierzulande immer stärker diskutiert. Dennoch kennt jeder von uns in der Familie, im Freundeskreis oder unter Kollegen einen Menschen, der dank moderner medizinischer Behandlung entweder überhaupt noch am Leben ist oder viele weitere wundervolle Jahre erleben durfte, weil das richtige Medikament, die korrekte Diagnose oder die notwendige Operation zum richtigen Zeitpunkt kamen.
Vor diesem Hintergrund ist viel Verwirrung entstanden, welche Medizin wirklich notwendig ist und worauf Sie ohne Sorge verzichten können. Gesundheit gilt ja schließlich als unser höchstes Gut. Aber sind wir mal ganz ehrlich: Oft erkennen wir das erst in dem Moment, in dem wir eben nicht gesund sind, mit Durchfall auf dem Häusl sitzen, fiebrig im Bett liegen oder der Herzinfarkt nach vielen Jahren des ungesunden Lebens dann doch zuschlägt. Trotzdem wird in Umfragen kein anderer Lebensaspekt als wichtiger eingestuft – ohne Gesundheit ist alles nichts. Unsere Suche nach Gesundheit ist jedoch geprägt von falschen Hoffnungen, folgenreichen Entscheidungen und herben Enttäuschungen. Denn leider hat sich die Versorgungssituation inzwischen verdreht – wer sich nicht wehrt, bekommt mehr Medizin als nötig. Aber auf wie viel Medizin kann ich verzichten und lebe trotzdem genauso lange wie alle anderen?
In diesem Buch möchten wir Ihnen aus unserer ärztlichen und wissenschaftlichen Erfahrung heraus Hinweise geben, welche Medizin unnötig ist und wie hoch Ihre Chance ist, auch als Gesundheitsmuffel glücklich und alt zu werden. Damit möchten wir Sie vor unnötiger und gefährlicher Medizin schützen. Kurz gesagt: Sie halten das gesündeste Buch der Welt in Ihren Händen!
Wir werden immer älter. Das ist schön. Weniger schön sind jedoch die Erkrankungen, die mit dem Älterwerden einhergehen. Diabetes, Herzschwäche, Bluthochdruck, Osteoporose … Weil uns diese Erkrankungen oftmals lebenslang begleiten, werden sie als chronisch bezeichnet. Bei mehreren chronischen Erkrankungen sprechen Mediziner von Multimorbidität. Hinter diesem Fachbegriff steckt die größte Revolution der jüngeren Medizingeschichte, der Wandel der Krankheitsursachen von »akut« zu »chronisch«. Wer erinnert sich heute schon noch daran, dass man früher zum Arzt ging und sich danach gesünder fühlte als vorher? Heute geht man als Chroniker aus der Praxis und fühlt sich höchstens besser untersucht. Waren nämlich akute Erkrankungen wie Cholera oder Tuberkulose bis vor wenigen Jahrzehnten die Ursache der meisten Krankheits- und Todesfälle, gehören diese dank steigendem gesellschaftlichen Wohlstand und dramatisch verbesserten Lebensbedingungen inzwischen eher zur Ausnahme. Heute wird das Krankheitsgeschehen hingegen durch chronische Erkrankungen dominiert. In Europa sind sie bereits für zwei Drittel aller Krankheits- und Todesfälle verantwortlich – Tendenz steigend.
Dank verbesserter Lebensbedingungen leben wir heute länger, obwohl chronische Erkrankungen zunehmen.
»Chronisch« bedeutet, dass die Erkrankung dauerhaft ist. Zu den häufigsten chronischen Erkrankungen gehören Diabetes, Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, des Bewegungsapparates und natürlich Krebs, der inzwischen in vielen Ländern Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Todesursache Nummer eins verdrängt hat. Diese chronischen Erkrankungen können ganze Lebensphasen beeinflussen, weil Verlaufsdauern von mehreren Jahrzehnten heute keine Ausnahme mehr sind. Damit bleiben weder der Alltag noch das soziale Umfeld oder die Persönlichkeit des Patienten von der Erkrankung unberührt.
Zwar heißt es bei Horst Schlämmer (alias Hape Kerkeling) gewollt launig: »Schätzelein, isch hab Rücken«, aber im Kern trifft es den Anpassungsprozess chronisch Erkrankter sehr gut. Denn anders als bei den früher verbreiteten akuten Infektionserkrankungen, mit ihrer klaren zeitlichen Abgrenzung zwischen »gesund« und »krank«, ist die Rolle als chronisch Erkrankter heute zeitlich unbefristet, also quasi eine Dauerkarte. Es gilt: Einmal Patient – immer Patient. Diese dauerhafte Krankenrolle ist aber leider auch sehr viel anspruchsvoller geworden. Sie verlangt dem Erkrankten mehr ab, als nur zum Arzt zu gehen, ärztliche Anweisungen zu befolgen und mit der Genesung schließlich wieder aus der Patientenrolle entlassen zu werden. Als Dauerpatient besteht die Aufgabe chronisch Erkrankter darin, oftmals über Jahrzehnte hinweg, einen unumkehrbaren und wechselhaften Prozess von krisenhaften, stabilen und instabilen Phasen zu beobachten, zu steuern und zu managen. Leider übersteigen diese dauerhaften Anforderungen an die Selbstbeobachtung, die Selbststeuerung und das Selbstmanagement häufig die vorhandenen Kompetenzen um ein Vielfaches. Obendrein verändern sich die Anforderungen im Verlauf der Erkrankung immer wieder. Deshalb müssen ständig neue Bewältigungsstrategien entwickelt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass zweifelsfreie Ursachen chronischer Erkrankungen medizinisch sehr schwer feststellbar sind. Zwar handelt es sich vom Namen her »nur« um eine Erkrankung (z. B. Herzinsuffizienz oder Diabetes), aber dahinter verbergen sich unendlich viele mögliche Ursachen. Umwelteinflüsse, soziales Umfeld, psychische Belastungen, Ernährung, familiäre Vorbelastungen, Lebensstil – alles Mögliche oder von allem ein bisschen kann als mögliche Ursache in Frage kommen. Deshalb ist es für den Arzt oft schwierig und unbefriedigend, eine behandelbare Ursache chronischer Erkrankungen festzustellen.
Allein mit medizinischen Mitteln ist chronischen Erkrankungen aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit und Komplexität aber sowieso nicht beizukommen – trotz beachtlicher Erfolge in speziellen Teilgebieten. Chronische Erkrankungen erfordern eine langfristige, aufeinander abgestimmte, multiprofessionelle Versorgung durch Ärzte, Therapeuten und Angehörige. Doch häufig fehlt es an Wissen und Kompetenz, um Irrwege, Ärztehopping oder Verwirrung zu vermeiden. Die daraus resultierenden »Patientenkarrieren« sind für viele chronisch Erkrankte überaus belastend. Besonders dem sozialen Umfeld von chronisch Erkrankten, also dem Partner, der Familie oder den pflegenden Angehörigen, wird oft eine enorme Anpassungsleistung abverlangt. Denn schließlich werden die jahrzehntelangen chronischen Verläufe größtenteils außerhalb des Gesundheitssystems bewältigt, nämlich zu Hause, in der »Pflegeagentur Familie«.
Wir sind nicht nur Arzt-Weltmeister. Wir sind auch Europameister! Nein, dieses Mal nicht beim Fußball, sondern beim Altern. Deutschland ist das Land mit den meisten alten Einwohnern in Europa. Auch weltweit sind wir nach Japan die Zweitältesten. Doch wir sind in guter Gesellschaft. Neun der zehn ältesten Länder der Welt sind europäisch. Ein ganzer Kontinent ergraut! Dabei ist immer wieder vom »demographischen Wandel« die Rede. Nur den einen demographischen Wandel gibt es gar nicht. Zwar leben seit dem Jahr 2000 mehr über 60-Jährige als unter 20-Jährige in Deutschland, aber abgesehen davon handelt es sich eher um sehr langfristige und mehrschichtige Verschiebungen der Altersstruktur. In Deutschland bedeutet demographischer Wandel nämlich ein dreifaches Altern der Bevölkerung. Das heißt:
Die Zahl über 60-Jähriger steigt,
der Anteil Hochaltriger (über 80-Jähriger) nimmt stark zu, und
durch die geringe Geburtenzahl wird die Bevölkerung insgesamt deutlich älter. Was das praktisch bedeutet, können Sie anhand einer einzigen Zahl ermessen:
Zahl der Glückwunschschreiben zu einem 100. Geburtstag, die der deutsche Bundespräsident im Jahr 1965 verschickte: 158
Zahl der Glückwunschschreiben zu einem 100. Geburtstag, die der deutsche Bundespräsident im Jahr 2014 verschickte: 6.611
Hinter dieser einen Zahl verbirgt sich die größte Errungenschaft der jüngeren Menschheitsgeschichte. In den letzten 100 Jahren hat sich die Lebenserwartung in Deutschland und anderen entwickelten Ländern nahezu verdoppelt. Wer im Jahr 1910 in Deutschland zur Welt kam, durfte als Junge mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 47 Jahren rechnen und als Mädchen mit 51 Jahren. Für heute Geborene sind es hingegen 77 bzw. 82 Jahre. Auch die »ferne Lebenserwartung«, ab dem Alter von 65 Jahren, hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt. So kann heute ein 65-jähriger Mann im Durchschnitt damit rechnen, 17 weitere Jahre zu erleben, und eine 65-jährige Frau mit 20 weiteren Lebensjahren.
Ein hohes Alter ist also eine recht junge Erscheinung unserer modernen Zeit und das erfreuliche Ergebnis dramatisch verbesserter Lebensbedingungen. Im Zusammenspiel mit einer leistungsfähigen medizinischen Versorgung verschiebt sich dadurch die Sterblichkeit systematisch bis ins hohe Alter. Unsere Lebensverlängerung kam nämlich dadurch zustande, dass zunächst die Säuglings- und Kindersterblichkeit sank, dann Todesfälle im jungen und mittleren Alter auf ein Minimum reduziert wurden und nun die Vermeidung von Sterbefällen bei älteren und hochaltrigen Menschen im Vordergrund steht. Im Ergebnis ereignet sich daher heute die Hälfte aller Sterbefälle im Alter von über 82 Jahren.
Aber wie entwickeln sich Gesundheit und Krankheit in einer alternden Bevölkerung? Unverändert bewertet rund die Hälfte der Deutschen ihren Gesundheitszustand seit Jahrzehnten als »gut«. Zusätzlich bezeichnen aber auch immer mehr ältere Menschen ihren persönlichen Gesundheitszustand als »gut«. So stieg der Anteil über 60-Jähriger, die sich in guter Gesundheit fühlen, in den letzten 20 Jahren von 23 Prozent auf 30 Prozent. Das könnte dafür sprechen, dass ein längeres Leben für die meisten Menschen mehr gesunde Lebensjahre bedeutet. Tatsächlich ist diese Frage wissenschaftlich aber immer noch nicht geklärt und wird entsprechend stark diskutiert. Die einen behaupten, Älterwerden bedeutet, länger krank zu sein. Die anderen meinen, wir sind länger gesund, weil Krankheiten ins höhere Alter verschoben werden.
Gestorben wird später: Sterbefälle verschieben sich in immer höhere Altersstufen.*
Inzwischen hat man sich auf ein »mittleres« Szenario geeinigt und erkannt, dass beide Thesen irgendwie richtig sind und Altern einen unglaublich vielgestaltigen und individuellen Prozess darstellt. Grundlage dieser Einsicht ist die Erkenntnis, dass die allgemeine Lebenserwartung zwar dramatisch gestiegen ist, die dabei gewonnenen Lebensjahre aber ungleich verteilt sind.
Die Wahrscheinlichkeit, gesund zu altern, wird im Laufe des Lebens nämlich durch drei Faktoren beeinflusst: Verhalten, Verhältnis und Versorgung. Diese drei »V« bedeuten, dass Ernährung, Alkohol, Rauchen und Bewegung (Verhalten) ebenso wichtig sind wie Einkommen, Bildung und Beruf (Verhältnisse), als auch der Zugang zu medizinischer Versorgung. Abhängig von den entsprechenden Lebenslagen gibt es folglich Bevölkerungsgruppen, die ein längeres Leben in Gesundheit erreichen, und solche, deren Altern mit vermehrten chronischen Erkrankungen und gesundheitlichen Einschränkungen verbunden ist.
Dieses Wissen zur Entwicklung von Gesundheit und Krankheit alternder Bevölkerungen stammt aus Studien wie dem Deutschen Alterssurvey, der einen deutlichen Anstieg chronischer Erkrankungen mit steigendem Alter belegt.
Im Alter häufen sich chronische Erkrankungen.
Zum Beispiel berichten 50 Prozent der unter 65-Jährigen, keine bzw. nur eine chronische Erkrankung zu haben, während dies nur noch für 25 Prozent der über 65-Jährigen gilt. Die Lebensphase »Alter« bedeutet also offensichtlich, anfälliger für körperliche und geistige Einschränkungen zu werden. Aber deshalb ist Altern noch längst nicht gleichbedeutend mit Krankheit, Verfall und Tod. Wissenschaftler beobachten eine Verjüngung des Alters in dem Sinne, dass ältere Menschen heute körperlich und geistig fitter sind als vorherige Generationen desselben Alters.1
Gesundheit in Deutschland2 – wussten Sie schon, dass
• wir für Gesundheit pro Kopf jährlich über 4.000 Euro ausgeben?
• drei Viertel der Bevölkerung Nichtraucher sind?
• jeder zweite Deutsche übergewichtig ist?
• die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus immer kürzer wird?
• der zweithäufigste Grund für einen stationären Krankenhausaufenthalt alkoholbedingte psychische Störungen und Verhaltensstörungen sind?
• Krebspatienten im Durchschnitt mit 73 Jahren versterben?
• 7 von 10 Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden?
Anmerkungen zum Kapitel
1 Christensen K, et al. Physical and cognitive functioning of people older than 90 years: a comparison of two Danish cohorts born 10 years apart. Lancet. 2013; 382: 1507 – 1513.
2 Statistisches Bundesamt. Statistisches Jahrbuch. Kapitel 4 Gesundheit. 2015.
* Datenbasis: Statistisches Bundesamt 2015; Human Mortality Database (HMD) 2016.
Wenn wir »alt« hören, denken wir an Hörgeräte, Kukident-3-Phasen-Reiniger, Hackenporsche und Hornbrille. Typische Merkmale des Alterns eben. Tatsächlich wird Altern gesellschaftlich selten positiv dargestellt, sondern eher als passiv, hinfällig und abhängig beschrieben. Begriffe wie »Rentnerschwemme«, »Pflegewelle« oder »sozialverträgliches Frühableben« (Unwort des Jahres 1998) prägen die öffentliche Diskussion. Nur selten ist von aktiven, gesunden und engagierten Senioren die Rede. Aber wann ist man eigentlich alt? Was bedeutet »Altern« überhaupt?
Wir beschreiben Altern als einen Prozess. Er beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Dabei werden vielfältigste körperliche, psychische und soziale Veränderungen erlebt und durchlebt. Hochwasserhosen, Dreitagebart, Falten im Gesicht und Gehhilfen sind dabei aber nur die äußeren Anzeichen von Körperwachstum, Fortpflanzungsreife und Seniorität. Die inneren, biologischen Vorgänge des Alterns sind hingegen nicht sichtbar und laufen auch weniger vorhersehbar ab. Rückenschmerz, Depression oder Diabetes treten mit zunehmendem Alter rein statistisch zwar gehäuft auf, sind in ihrer Entstehung aber nur lose an das Lebensalter gebunden. Diese Unterschiedlichkeit im Erleben des eigenen Alterns, auch als Variabilität bezeichnet, ist aber kein Zufall, sondern wird ganz wesentlich durch den persönlichen Lebensstil beeinflusst. Während des gesamten Lebensverlaufs sammeln wir unterschiedlichste Einflüsse aus dem sozialen Umfeld, der Arbeitswelt, der natürlichen Umwelt und dem individuellen Gesundheitsverhalten. Diese prägen spätere Krankheitsrisiken und begründen gesundheitliche Unterschiede im Alter. Damit kommt die Rechnung auch beim Thema »gesundes Altern« zum Schluss, und gelebtes Leben spiegelt sich in Unterschieden der Lebenserwartung oder der Anzahl chronischer Erkrankungen wider.
Deshalb sind starre Altersgrenzen nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich ist das, was wir »alt« nennen, vielmehr das Produkt von sozialen bzw. kulturellen Bedingungen und daher veränderlich. Im Nachlass des berühmten Philosophen Immanuel Kant befindet sich zum Beispiel ein an ihn gerichteter Brief mit folgender Anrede: »Werter Greis«. Der Brief wurde im Jahr 1774 geschrieben. Da war Kant 50 Jahre alt.
Wir sehen, dass die Kategorie »alt« weniger festgelegt und starr definiert ist, als oft angenommen wird. Altern ist mehr als nur die Anzahl der Kerzen auf der Geburtstagstorte. Denn Altern ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der durch die gesellschaftlichen Umstände der jeweiligen Zeit geprägt ist. Aktuell erlebt unsere Langlebigkeitsgesellschaft die Entstehung einer ganz neuen Phase des Alterns, der vierten Altersphase der älteren Alten oder Hochbetagten mit einem Alter über 85 Jahren. Dieses vierte Lebensalter ist das erfreuliche Resultat der konstanten Lebenszeitverlängerung moderner Wohlfahrtsgesellschaften. Sie definiert völlig neu, was es bedeutet, »alt« zu sein. Während die weiblichen Figuren in Balzacs Romanen bereits mit 30 Jahren eine Alterskrise durchlebten, überrascht die Generation unserer Mütter, heute 60-jährige Frauen, durch ihre Jugendlichkeit.
Über einen Zeitraum von 200 Jahren betrachtet, befinden sich viele alternde Menschen zunehmend in einem beneidenswerten Gesundheitszustand. Tatsächlich standen die Chancen, bis ins hohe Alter körperlich und mental fit zu sein, niemals besser als heute. Im Schnitt fühlen sich die 65- bis 85-Jährigen rund zehn Jahre jünger, als das tatsächliche Alter vorgibt. Der parallel zu beobachtende sportlich aktive, mobile und engagierte Lebensstil innerhalb dieser neuen Altersphase führt dazu, dass wir tatsächlich immer älter werden, dabei aber leben und denken wie Jüngere. Es gibt 90-jährige Marathonläufer, 80-jährige Weltumsegler und 70-jährige Erstbesteiger des Mount Everest. Niemand ist mehr so alt, wie es im Ausweis steht.
Jünger fühlen, als es im Ausweis steht – machen Sie den Test
Während das biographische Alter dem Geburtsdatum in Ihrem Ausweis entspricht, spiegelt das biologische Alter den Zustand Ihres Körpers. Weil jeder nur so alt ist, wie er sich fühlt, passen biographisches und biologisches Alter nicht immer zusammen. Sie können im Alltag leicht beobachten, dass einige Menschen viel jünger aussehen, als sie tatsächlich sind, während andere mit 40 Jahren beim Treppensteigen schnaufen wie ein 55-Jähriger.
Vielleicht werden Sie ja auch regelmäßig jünger geschätzt oder fühlen sich jünger, als es Ihr Ausweis verrät? Machen Sie doch einfach online den Test beim AOK Gesundheitsmanager, und ermitteln Sie mit 16 schnellen Fragen, wie sich Ihr Lebensstil auf Ihr biologisches Alter auswirkt.
Wie alt sind Sie wirklich?
1. Wie alt sind Sie tatsächlich?
2. Sind Sie männlich oder weiblich?
3. Wie oft frühstücken Sie?
4. Wie oft essen Sie Obst und Gemüse?
5. Wie oft essen Sie Fleisch oder Wurst?
6. Wie hoch ist Ihr Body-Mass-Index?
7. Haben Sie seit dem Alter von 18 Jahren an Gewicht zugenommen?
8. Rauchen Sie?
9. Wie viel Alkohol trinken Sie?
10. Wie viele Stunden schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?
11. Wie oft treiben Sie Sport?
12. Wie leben Sie zurzeit?
13. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Sexleben?
14. Wie viele einschneidende Erlebnisse (z. B. Todesfall, Scheidung, Umzug) hatten Sie im letzten Jahr?
15. Wie oft haben Sie Kontakt zu Ihren Freunden?
16. Wie alt sind / wurden Ihre Großeltern?
Sind wir besessen von Gesundheit? Werbung für Gesundheitsprodukte, Kochshows für gesundes Essen, Gesundheitssendungen im Fernsehen und Smartphone-Apps für ausreichend Bewegung, Entspannung und gesunden Schlaf sind allgegenwärtig. Das Top-Thema auf allen Kanälen unserer Wohlfühlkultur ist Gesundheit. Als Querschnittsthema durchzieht es alle Lebensbereiche: von Freizeit, Wohnen, Familie und Arbeit bis hin zur Ernährung, Kleidung und Kosmetika. Als Fachbegriff hat »Gesundheit« inzwischen den engen Rahmen der Medizin verlassen und als eine Art generalisierte Weltformel alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen.
Mit diesem allgemeinen Gesundheitsboom ist die Medizin in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Gesundheitsmarkt ist ein Massenmarkt. Ehemals exklusiv für kranke Menschen bestimmte Produkte, Prozeduren und Professionen stehen heute potentiell jedem Mann und jeder Frau zur Verfügung. Während sich die Medizin im 19. Jahrhundert wissenschaftlich vertiefte und im 20. Jahrhundert immer leistungsfähiger wurde, erleben wir nun im 21. Jahrhundert eine bunte Mischung aus Verwissenschaftlichung und Vermarktung der Medizin. Dieser Fortschritt hat jedoch einen Haken: Je mehr uns das Thema »Gesundheit« beherrscht, desto unbrauchbarer wird das ganze Konzept. Wenn nämlich im Namen der Gesundheit plötzlich alles ganz wichtig wird, ist am Ende nichts mehr wichtig. Wir verlieren die Orientierung. Um doch irgendwie den Überblick zu behalten, konsumieren wir schließlich ganz viele Gesundheitsinformationen. Neben den »Klassikern« Fernsehen (220 Minuten täglich) und Radio (187 Minuten täglich) rangiert daher als Neueinsteiger auf Platz 3 – das Internet. Zwischen den Jahren 2000 und 2014 stieg die durchschnittliche Internetnutzung rasend schnell von nur 13 Minuten täglich auf inzwischen satte 166 Minuten.3
Dieser deutliche Anstieg der Internetnutzung hängt auch mit unserem gestiegenen Interesse für Gesundheitsinformationen zusammen. Inzwischen nutzen fast drei Viertel der Deutschen das Internet als Quelle für Gesundheitsinformationen. Dabei hält sich das hartnäckige Vorurteil, wer besonders viele Gesundheitssendungen im Fernsehen anschaut oder Online-Einträge in Gesundheitsforen liest, würde automatisch gesünder leben. Stimmt leider nicht! Im Gegenteil, oft macht die Mediennutzung selbst krank. Schlafstörungen, Kurzsichtigkeit und der vielbeschriebene Handynacken häufen sich auffallend. Hinzu kommt, dass mehr Gesundheitsinformationen nicht automatisch zuversichtlicher, kompetenter und sicherer im Umgang mit der eigenen Gesundheit machen, sondern eher ängstlicher. Was in den Medien unter »Gesundheit« läuft, hat nämlich nur selten etwas mit Gesundheit zu tun. Durch die exzessive Berichterstattung über SARS, die Rinderseuche oder Ebola wird die Wahrnehmung von Krankheitsrisiken, trotz vergleichsweise wenigen Sterbefällen, stark verzerrt. Hingegen schaffen die »kleinen Sünden des Alltags«, wie zum Beispiel Bewegungsmangel, Rauchen oder Feinstaub, mit hohen Krankheits- und Sterberisiken selten den Sprung in die Abendnachrichten. Letztlich folgen Gesundheitsthemen damit derselben Medienlogik wie andere Gesellschaftsbereiche auch: Spannend ist, was überrascht, schockiert und betroffen macht. Das ist aber nicht der übergewichtige Diabetiker aus dem Nachbarhaus, sondern der an Ebola erkrankte Zentralafrika-Tourist auf der tropenmedizinischen Quarantänestation im Klinikum Duisburg-Essen.
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