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Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als «Nebenherschreiber» erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod. Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben «eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie»? Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
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Seitenzahl: 295
Martin Walser
Ein sterbender Mann
Roman
Ihr Verlagsname
Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als «Nebenherschreiber» erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben «eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie»?
Martin Walsers neuer Roman über das Altsein, die Liebe und den Verrat ist beeindruckend gegenwärtig, funkelnd von sprachlicher Schönheit und überwältigend durch seine beispiellose emotionale Kraft.
Martin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, erhielt für sein literarisches Werk zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.
Der Autor ist Thekla Chabbi für ihre Mitarbeit an diesem Roman zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre schöpferische Mitwirkung wäre der Roman nicht, was er ist.
Martin Walser
Sehr geehrter Herr Schriftsteller!
Mehr als schön ist nichts. Diesen Satz sollen Sie gesagt oder geschrieben oder gesagt und geschrieben haben. Es ist der unmenschlichste Satz, den ich je zu lesen bekam. Ich weiß nicht, wer Sie sind, habe nichts von Ihnen gelesen, aber weil Sie so und so zitiert werden, muss ich annehmen, Sie seien jemand. Also jemand, auf den auch gehört wird. Nur deshalb schreibe ich Ihnen. In der verwegenen Hoffnung, es interessiere Sie, wie, was Sie von sich geben, bei Menschen ankommt.
Ich habe nicht den geringsten Grund, mich schön zu finden, noch nie hat ein Mann oder eine Frau gesagt, ich sei schön, aber noch nie hat jemand gesagt, ich sei hässlich. Wahrscheinlich bin ich unscheinbar. Also ein Weder-noch-Mensch. Also gewöhnlich. Aber: Mehr als schön ist nichts. Also ist schön zu sein das Höchstebeste. Sie haben damit ja nur hingeplaudert, was in jeder Illustrierten und in jeder Fernsehsendung ununterbrochen demonstriert wird: Sie haben eine Allerweltsformel nachgeplaudert.
Mein Gesicht läuft auf ein spitziges Kinn zu. Der Schulkamerad, der deutlich dümmer war als ich, gab mir den Namen Spitzmaus. Deshalb nannten mich Buben und Mädchen dann Spitzmaus. Mein Gebiss ist, wenn Sie das verstehen, prognath. Schauen Sie halt nach, was das heißt. Meine zwei Schneidezähne beherrschen meinen Gesichtsausdruck. Immer schon. Sobald ich lache oder auch nur lächle, weiß ich, dass meine Schneidezähne eine Rolle spielen, die ihnen nicht bekommt. Sie machen mich noch mehr zur Spitzmaus als das auf mein Kinn zulaufende Gesicht. Ich bin also nicht schön. Und: Mehr als schön ist nichts. Diese nicht ganz simple Formulierung hat sich bei mir gleich vergewöhnlicht zu: Wer oder was nicht schön ist, ist nichts. Ich bin also nichts.
Ich wäre nichts gewesen, wenn ich mir das hätte gefallen lassen können. Ich habe mich wehren müssen. Ich habe mich gewehrt. Mit Erfolg. Gleich dazugesagt: Das war einmal. Ich bin jetzt 72. Und am Ende. Aber nicht weil ich 72, sondern weil ich am Ende bin.
Ich war erfolgreich. Ich konnte mir viel leisten. Dass ich jetzt am Ende bin … Ach, ich glaube nicht, dass ich Ihnen das mitteilen kann.
Ich werde die Geschichte meines Sturzes noch darzustellen versuchen. Es ist ein überdeutlicher gesellschaftlicher Vorgang und als solcher nicht fähig, sich selber zu erklären. Das, was gesellschaftlich geschieht, hat es nicht nötig, jedem verständlich zu sein. Die Gründe, warum so ein Sturz geschieht, sind Wiederholungen von Klischees, und ich will nicht sagen, dass diese Klischees nichts wert seien, aber es ist nicht ihre Funktion, das zu erklären, was sie angeblich erklären. Klischees sind Masken der Wirklichkeit. Masken, die die Wirklichkeit braucht, damit es so weitergehen kann, wie es weitergeht. Sogar Ihr Satz Mehr als schön ist nichts ist nur eine Maske. Allerdings eine, in der das wahre Gesicht, das sie verbirgt, schon fast spürbar wird. Ihr Satz tut ja schön. Tut so, als sei alles wunderbar. Schönheit gilt. Und jeder denkt sofort: Das ist doch besser, als wenn Hässlichkeit gälte. Mehr als hässlich ist nichts, in einer solchen Welt möchte niemand leben.
Ich schließe für heute. Ich habe reagiert. Nur reagiert. Nicht nachgedacht. Aber das wiederum rechtfertige ich durch eine Erfahrung: Ich reagiere lieber, als dass ich nachdenke. Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenklichkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfen werden kann, ist mir klar. Damit, dass mir etwas vorgeworfen werden kann, muss ich leben. Habe ich immer gelebt.
Theo Schadt
PS: Bitte, ich bin glücklich über jeden schönen Menschen, den ich sehe. Ich halte jeden Schönen und jede Schöne für gelungen. Grad, als wäre das die Pflicht der Fortpflanzung, dass etwas Schönes dabei herauskomme. Ich habe natürlich auch, wie jeder, einen eigenen Geschmack und brauche in meiner Empfindung häufiger das Wort gelungen statt schön. Einen Nichtschönen und eine Nichtschöne finde ich nicht misslungen. Das Gegenteil von schön ist auch nicht hässlich, sondern unschön, unscheinbar. Jeder Gelungene und jede Gelungene tut mir gut. Auch wenn ich im Vergleich dazu schlecht abschneide. Ich finde mich unschön. Unschön ist auch schon zu viel gesagt. Unscheinbar. Das ist das richtige Wort für mich.
PS 2: Da ich weiß, wie auf einen Jammerbrief, geschrieben von einem Nobody, reagiert wird, gestatte ich mir, noch einen Lebenssteckbrief folgen zu lassen. Mein mich immer noch überwachendes Selbstwertgefühl, mit dem ich im erklärten Dauerkonflikt lebe, zwingt mich dazu.
Also: Ich hatte zuletzt einundvierzig Mitarbeiter. Die musste ich, als ich gestürzt wurde, von heute auf morgen entlassen, um die Firma, wenigstens ihren Namen, vor der Insolvenz zu bewahren. PATENTE & MEHR, so hieß meine Firma, von der es nur noch den Namen gibt. Ich entwickelte Patente, das heißt, wenn mir ein Patent angeboten wurde, dem ich Erfolg zutraute, gründete ich eine Firma zur Realisierung dieses Patents. Neigung und Ausbildung verwiesen mich zuerst auf Technikprojekte. Ich verdiente gut durch die Entwicklung berührungsloser Messtechniken, durch die Miniaturisierung von Sensoren, die Vervielfältigung der Sensorik zur Verminderung des Schadstoff-Ausstoßes, die Thermofühler-Verfeinerung, die Reduzierung der Emissionen durch Drucksensorglühkerzen, die Verdoppelung der Reifenlebensdauer durch ein elektronisches Reifendruckkontrollsystem und so weiter.
Und wie falsch etwas gesagt wird, nur weil man das Richtige meidet, meiden muss! Neigung und Ausbildung verwiesen mich auf Technikprojekte … Nein, nein, nein! Einem Schriftsteller gegenüber fühle ich mich verpflichtet, genauer zu sein beziehungsweise ehrlicher. Also: Ich bin, ich war der Sohn eines Erfinders. Barthel Schadt, mein Vater, hat, solange er atmen konnte, darauf gewartet, dass ich ein Erfinder werde, wie er einer war. Ich habe auch tapfer angefangen. Meine erste Erfindung war der elektrische Papierkorb. Dann die selbst auslösende Kinderwagenbremse. Den abklappbaren Brausekopf für die Gießkanne hatte Adenauer schon erfunden. Mein Vater hat mich noch dem Bankier Warburg vorgestellt, der seine Erfindungen finanzierte. Herr Warburg war der Hohepriester einer Religion, die Finanzierung hieß. Bei ihm alles in Echtleder und Edelholz! Da wusste ich: Ich will finanzieren, entwickeln, nicht erfinden. Und das Haus Warburg nahm mich als Lehrling. Der Rest war Fleiß und Glück und Glück und Fleiß.
Dann lernte ich vor neunzehn Jahren ein Genie namens Carlos Kroll kennen. Der brachte mich von der Technik weg und hin zu allem, was Natur heißt. Also Medizin bis Kosmetik. Der Erfolg gab ihm recht. Die Firma wurde bekannt als Adresse für medizinische und kosmetische Patente.
Carlos Kroll, mehr als zwanzig Jahre jünger als ich, war mir von einer Schweizer Verlegerin empfohlen worden. Ich könnte auch sagen: von meiner Schweizer Verlegerin Melanie Sugg. Ich bin übrigens, wenn auch pleite, so doch nicht elend arm. Denn, ach könnte ich das doch verschweigen, ich habe auch Bücher geschrieben. Und veröffentlicht. Natürlich unter einem anderen Namen. Dass andauernd Bücher geschrieben und gedruckt werden, reizte mich. Ich konnte diesem Reiz nicht widerstehen, und so fing ich an mit Solamen miseris. Die Anleitung zum Lustigsein. Mit dem lateinischen Halbzitat wollte ich mich ein bisschen erhöhen. Dann Freistil. Anleitung zum Bewusstseinstraining. Dann Wolkenbruch. Anleitung zur Selbstbefriedigung. Dann Schimpfwörter. Anleitung zum richtigen Gebrauch. Dann Schwindelfrei. Anleitung zum Selberdenken. Dann Rumpelstilzchen. Anleitung zur Selbstfindung. Und so weiter. Ich hätte vielleicht nach dem Solamen-Buch nicht weitergemacht, wenn nicht 770000 Exemplare verkauft worden wären. Vom zweiten 830000, vom dritten 920000. Das vierte ein Flop. Aber nach dem fünften nur noch gute Zahlen.
Irgendwann hatte ich keine Lust mehr. Carlos las diese Bücher natürlich nicht. Er machte sich über jeden neuen Titel lustig. Ich hatte mir angewöhnt, mich über dieses Bücherschreiben auch selbst lustig zu machen. Das war ja keine Literatur. Und ernst zu nehmen war nur, was Literatur war. Carlos sagte manchmal: Zum Glück kann man sich über deine Bücher lustig machen. Er sagte sogar, er finde es beeindruckend, dass ich selber sagte, ich schriebe meine Bücher nur zum Zeitvertreib. Das ist Haltung, rief er. Beispielhaft! Das Schönste bei deinen Büchern, sagte er, ist, dass es genügt, den Titel zu lesen, dann weiß man Bescheid.
Wenn wir, Carlos und ich, wieder über einen neuen Titel gelacht hatten, merkte ich, dass mich dieses Gelächter über meine Titel – und es ging ja, da Carlos solche Bücher niemals las, immer um die Titel, nur um die Titel –, dass mich das traf. Ja, verletzte. Aber zugeben konnte ich das nicht. Carlos war der Dichter, der Wortmensch, das Genie. Ich war ein auf Massenerfolg spekulierender Nebenherschreiber. Inzwischen bin ich nicht mehr sicher, ob der bare Verkaufserfolg nicht doch auch eine Rolle gespielt haben könnte bei Carlos’ Verrat. Ich werde kein solches Buch mehr schreiben, aber in meinem Kopf entstand der Titel: Verrat als schöne Kunst. Anleitung zum Freundesmord.
Dass ich glaube, Carlos könnte mich auch aus Neid gestürzt haben, das zeigt nur, dass ich zu billig denke von seinen Innenwelten! Er verkaufte nie mehr als 500 bis 900 Exemplare seiner Gedichtbände. Das scheint ihn nur darin zu bestärken, dass seine Gedichte Sprachereignisse seien, für die die Welt momentan noch nicht reif ist. Seine letzten Titel heißen: Lichtdicht, Leichtlos, Lufthaft, Kettenscheu und Kopftau. Er sagte jeden neuen Titel an wie die Entdeckung eines neuen Planeten.
Gruß,
Th. Sch.
PS 3: Melanie Sugg ist bekannt geworden durch eine Art Porno-Poesie. Jene dunkelrote Wörterwelt, die früher aus Frankreich kam, jetzt aus Amerika. Melanie Sugg ist immer noch stolz auf ihr erstes Buch. Da befriedigt sich ein US-Dichter vor dem Spiegel und sagt, was er erlebt, auf 101 Seiten auf. Aber inzwischen ist Melanie älter geworden und verlegt Carlos Kroll und mich und andere.
Vielleicht wechsle ich das Metier: Mehr als schön ist nämlich nichts.
PS 4: Zu allerallerletzt: Ich mache seit langem Erfahrungen mit der Schwere und mit der Schwerkraft, halte mich deshalb für einen Gravitationsspezialisten und wusste deshalb, ohne es von Einstein erfahren zu haben, dass ein Gravitationsfeld die Frequenz elektromagnetischer Strahlung beeinflussen muss. Was ich nicht kann, und da fängt meine Bewunderung an: die Messung. Also Mößbauer. Der Mößbauereffekt. Die Messung des Einflusses der Schwerkraft. Ich weiß sicher, in hundert Jahren wird sie messbar sein. Mößbauer nennt es: die rückstoßfreie Kernresonanzabsorption. Wenn ich noch mal eine Firma gründe, dann zur Produktion der Anti-Gravitations-Technik. Ich finanziere eine Forschung zum Nachweis, dass ein Gravitationsfeld durch die Frequenz elektromagnetischer Strahlen beeinflusst werden kann. Gravitation ist bis jetzt formuliert als auf der Erde nicht aufhebbar. Gelänge es, in einer winzigen, taschenkompatiblen Technik die Anti-Gravitation unterzubringen, schwebten wir alle beziehungsweise je nach Bedarf. Die Erdenschwere wäre dahin. Das wird dann mein letztes Produkt.
Freundlich,
Th. Sch.
PS 5: Carlos Kroll habe ich durch Melanie Sugg auf der Burg Wildenstein kennengelernt. Ihr von ihr entdeckter Autor Carlos Kroll werde dort lesen. Im Rittersaal. Sie bringe ihn hin. Er sei ein Genie. Vielleicht sogar zwei. Und von München zu dieser Burg sei es nicht weiter als von Zürich. Und wie lange haben wir uns jetzt schon nicht gesehen? Und ich warte immer auf ein Buch von dir! Also komm, du wirst es nicht bereuen. Und ich kam und bereute es nicht. Ein Sommersamstag. Der Wildensteiner Singkreis singt vor der Lesung und nachher. Da erwachte das Gemäuer zu seiner Bestimmung. Was der junge Dichter las, kam mir vor wie eine Fremdsprache, deren Wörter ich kannte, ohne dass ich, was gesagt wurde, verstand. Aber das Publikum applaudierte. Ich auch. Iris (meine Frau) auch. Iris mehr als ich. Ich applaudierte, weil ich sah, dass Melanie darauf wartete.
Ich bin für Historisches anfällig. Wildenstein, eine Fluchtburg der Grafen von Zimmern. Immer uneinnehmbar, auch von der Pest. Man konnte also ein Volk dazu bringen, so ein Steinnest auf diese Felsklippen hinaufzuwuchten. Die Burgmauer geht absatzlos in die Felswände über. Wir schauten hinab. 200 Meter hinab auf das zarte Donau-Flüsschen. Die Zimmern-Herrschaft habe, als draußen die Pest herrschte, einfach keinen mehr hereingelassen. So überlebten sie. Sie sind dann, erfährt man, doch ausgestorben. Also an sich selbst.
Wir, Iris und ich, wurden angezogen vom höchsten Bauwerk der Burg, dem Kommandoturm. Da geschah es dann. Die Treppen zogen uns förmlich hinauf. Der Abendsonne gelang immer wieder ein Lichtblick durch eine Schießscharte. Zuletzt war, was uns weiterzog, das, was wir hörten. Im Dachboden, in den die Abendsonne voll hineinscheinen durfte, saß jemand, der das spielte, was uns hinaufgezogen hatte. Wir hörten zu, bis der Cellospieler von selber aufhörte. Als er aufhörte, sagte er zu uns herüber: Bach. Er hatte uns also, sobald wir die Tür aufmachten, bemerkt und stellte sich vor: Carlos Kroll. Oh, sagte ich, Sie sind das! Und Sie sind Theo Schadt, sagte er. Jetzt fehlt uns nur noch Melanie, sagte ich. Um die musst du dich nicht kümmern, sagte Iris. Dann sagte sie etwas über das Cellospiel, das heißt, sie zeigte, dass sie sich, wenn es sich um Bach und Cello handelte, ausdrücken konnte. Das war mir recht. Aber ich musste doch noch, weil mir danach war, sagen, dass mich dieses Miteinander von Abendsonne, Burg-Dachboden und Cellospiel bewegt habe. Musik über Musik, sagte Carlos Kroll. Obwohl ich mir durch seinen Ton und die Kürze ein bisschen zurechtgewiesen vorkam, stimmte ich zu. Ein bisschen zu heftig vielleicht. Der Kerl imponierte mir total. Wie er da, von den letzten Sonnenstrahlen erreicht, sitzt und diese Musik spielt, die sich, wie ich empfand, mit sich selber beschäftigt! Als ich ihm das später einmal sagte, sagte er im Ton des Fachmanns, der zum Laien spricht: Du liegst da nicht ganz falsch.
Iris und ich nahmen in kaum nobel zu nennender Kleidung im Rittersaal auf den reservierten Stühlen Platz. Carlos Kroll erschien in Jeans, die dagegen waren, dass sie noch getragen wurden. Und Melanie Sugg trat auf, dass auch der Ignorant sofort sah, wer das war, wer das nur sein konnte: die Burgherrin! Eine von Zimmern! So fein, so adelig, so gar nicht grell, so edel rustikal, so geglückt hiesig! Ich musste applaudieren, als sie neben uns Platz nahm. Sie wusste schon, dass wir ihren Schützling kennengelernt hatten. Ich flüsterte ihr zu: Der spielt ja wie ein junger Gott. Sie: Wenn der junge Gott so spielen könnte.
Carlos und ich wurden ein Freundespaar. Ich finanzierte die Veröffentlichung seiner Gedichte in Prachtausgaben. Ich ließ eine Schrift entwickeln nur für seine Gedichte. Ihm schwebte vor ein Lyrik-Imperium à la Stefan George. Den verehrte er, ohne dass er ihn je imitiert hätte. Ich wusste nicht, wer das ist, Stefan George, Carlos weihte mich ein. Er wollte keine elitäre Kunstkirche, sondern eine radikale Banalisierung. Seine Gedichtbände sehen aus wie aus dem Müll, aber diese Wirkung ist auf das Feinste berechnet. Wir sind, wir waren ein Freundespaar, wie es, glaube ich immer noch, kein zweites gab in unserer Zeit. Wir waren politisch uneins. Er ist so links wie ich rechts. Ich habe immer darauf gewartet, dass sich im Lauf der Jahre seine doch eher pubertären Politiktöne allmählich mäßigen würden. Diese Hoffnung trog. Aber wir stritten kaum, wir lachten einander aus. Ich, der Erzkapitalist, er, der Erzrevoluzzer. Dass er mich gestürzt hat – das weiß ich sicher –, mit unserer politischen Uneinigkeit hat das nichts zu tun. Letzten Endes war uns alles Politische egal. Ich war praktisch so wenig «rechts» wie er «links». Wir konnten bis zur Erbitterung gegen einander diskutieren, aber keiner von uns handelte je «rechts» oder «links». Vielleicht kann man sagen, sein und mein Politisches sei virtuell.
Ja, ja, jaaa, als ich so grün wie unreif war, ein Weltveränderungsnarr, unfähig, die normale Scheußlichkeit des Alltäglichen hinzunehmen, mein Gott, an den Außenminister habe ich geschrieben, der hieß Kinkel, auf jeden Fall meine Fraktion, liberal, und von dem grob verlangt, Taslima Nasrin zu schützen! Vor dem religiösen Terror, der ihr mit dem Tod gedroht hat. Diese Politikmasturbation habe ich später nicht mehr geschafft.
Vielleicht sehe ich alles falsch. Vielleicht musste mich Carlos doch auch aus politischen Gründen stürzen. Glauben kann ich es nicht.
PS 6: Und so habe ich versucht, mich meinem einzigen Freund politisch verständlich zu machen:
Bismarck hat in bürgerlicher Zeit auf feudale Weise drei Kriege produziert, um seine Ideen von einem Deutschen Reich zu realisieren. Normal wäre gewesen die Entwicklung der Vereinigten Deutschen Staaten inklusive Österreich, etwas Föderatives. Wilhelm II. hat den Ersten Weltkrieg angeregt wie Bismarck seine Kriege. Aber weil er zu naiv war, um mit dem Kriegsinstrument politische Chirurgie à la Bismarck betreiben zu können, war das Ergebnis Versailles. Die deutsche Nation hatte sich von ihrem Feudalaffen bis ins Innerste verführen lassen. Der Versailler Friedensvertrag war die groteske Antwort auf eine groteske Provokation. Die Nation hat 1918 eine Revolution nachgeholt, die spätestens 1848 fällig gewesen wäre. 1918 war Deutschland in die Klasse des noch weiter zurückgebliebenen Russland versetzt, schwankte zwischen einer russischen und einer deutschen Revolution hin und her und hatte am Ende wieder keine. Keine Befreiung.
Da die Welt kein aufgeklärtes Sanatorium ist, wurde Deutschland von 1918–1933 wie ein krimineller Psychopath behandelt und suchte deshalb sein Heil in Hitler. Nach 1945 wollte sich die Welt vor diesem Deutschland durch einen gewaltigen chirurgischen Eingriff retten: Man schnitt weg, was irgend wegzuschneiden war, den Rest teilte man in zwei Teile, jetzt hatte die Welt endlich Ruhe vor Deutschland.
Mein gewesener Freund ist unter anderem Anarchist. Ich nannte ihn immer Amateur-Anarchist. Vielleicht hätte ich seine oft schrillen Sätze früher lahmlegen müssen. Unser Cheruskerfürst Hermann ein Intrigant! Weil er irgendwo etwas über das Hermannsdenkmal aufgeschnappt hatte. Und dass es in den USA, in Missouri, eine Stadt gibt, die Hermann heißt. Dergleichen reizte ihn zu nichts als Hohn. Der Cherusker hat dafür gesorgt, dass die Germanen nicht zu Römern dressiert wurden, und eben das bedauerte er schärfstens. Was Wunder, dass er die deutsche Einheit für ein Unglück hält. Er gehörte zu den Linken, die das gespaltene Deutschland Kulturnation nannten. Ein Drittel eingesperrt, zwei Drittel flanierend, aber zusammen eine Kulturnation und so weiter. Dass das dann zum Glück wieder ein Deutschland wurde, fand er wortwörtlich zum Kotzen. Vielleicht musste er mich doch deswegen stürzen. Ich versuche jetzt, ihn zu verstehen und zu verachten. Dazu muss ich ihn verächtlich machen. Das darf kein Akt des Willens sein. Ich muss ihn verachten können. Von ganzem Herzen. Es muss sich herausstellen, dass er verächtlich ist. Was er durch seinen Verrat bewirkt hat, darf dabei keine Rolle spielen. Die Fakten auf den Tisch. Ja, ja, jaaaa!
Als die Nachricht mich erreichte – es war ein Mittwoch –, blieb ich sitzen, wie ich gesessen hatte, als die Nachricht eintraf. Ein Schreiben per Fax von der US-Anwaltsfirma. Kauderwelsch. Ergebnis: Sie ziehen Schumm vor. Oliver Schumm! Gelegentlich dachte ich daran, mich Oliver Theodor Schadt zu nennen. Ich fand es unfair, im Geschäftsleben mit so einem Vornamen zu punkten! Oliver! Warum dann nicht gleich Salomo! Zum Glück sei, hieß es im Kauderwelsch, in unserem Vertrag das und das noch nicht erfüllt. Ich saß, glaube ich, vierzehn Stunden. Ließ mich nicht stören. Dann musste Frau Baumhauer erledigen, was zu erledigen war. Auflösung der Firma und so weiter. Ich fuhr vor in die Herterichstraße und verabschiedete mich von allen Mitarbeitern. Von jedem und jeder persönlich. Informiert waren sie schon. Keine Gespräche. Händedruck. Gestreichelt. Geweint.
Th. Sch.
PS 7: Dann Katja. Sie hat sich das Leben genommen. Vor einem Jahr. Vorher noch mich angerufen. Ihre Gründe reichten aus für das, was sie dann tat. Aber jetzt kam ein Wort zurück aus diesem Gespräch. Suizidforum. Ich folgte. Loggte mich ein. Katja hatte gesagt: Wie sie es machen könne, habe sie im Suizidforum gelernt. Mir war klar: nicht unter den Zug. Einmal in Bad Oldesloe die Sauerei auf den Gleisen, nachdem sich einer vor den Zug geworfen hat. Im Forum lauter Menschen, die sich für suizidal (das Wort lernte ich da) halten oder es sind. Sie bringen vor, was sie bewegt. Ich passte scharf auf, wenn sie erörterten, wie es der und die gerade gemacht hatten. Er hat am Montagabend den Grill angeschmissen. Oder der hat die Chloroquin- und die Holzkohle-Methode kombiniert. Aber auch das Wiegen und Wägen der Motive fesselte mich. Eine Frau, die dort Aster heißt, nannte ihren Todeswunsch irreversibel. Dieses Wort eroberte mich sofort. Wie schwach dagegen unwiderruflich. Ein Ungetüm. Eine Missgeburt. Ich weiß nicht, wie irreversibel zu seiner Bedeutung kommt. Ich bin kein Philologe. Das sind doch die, die wissen, warum ein Wort heißt, wie es heißt. Irreversibel hat einen Zauber, dem ich nicht widerstehen kann. Der Todeswunsch ist irreversibel.
Ich meldete mich bei den Suizidalen auch zu Wort. Sie waren gerade dabei, ihre Todeswünsche auf so genannte Traumata zurückzuführen. Diese Aster schrieb: Ich hätte nicht geboren werden dürfen. Das war eine, deren Todeswunsch solide begründet wirkte. Oder einer: Ich bin das Resultat eines groben Egoismus. Dann bezweifelte einer den authentischen Todeswunsch eines anderen. Alles, was sie einander sagten, faszinierte mich. Auch die Methoden. Offenbar gab es immer eine Zeit lang einen Thread, also ein Thema. Mein Fall, das heißt meine Erfahrung, kam überhaupt nicht vor. Ich musste meinen Todeswunsch diesen Schicksalsgenossen verständlich machen. Also auch mir selbst. Warum irreversibel!
Was ich zum Besten gab, habe ich wieder herauskopiert. Unheimlich attraktiv ist, dass im Forum keiner unter seinem bürgerlichen Namen auftritt. Die Suizidalen drücken schon im Namen aus, wer sie sind, wie es ihnen geht. Oft weiß man nicht, ist das jetzt ein Mann oder eine Frau. Die zwei, auf die ich reagierte, waren zweifellos Frauen.
Also:
Liebe und sehr geehrte Schicksalsgenossen!
Ich halte mich im Gegensatz zu Tristesse nicht für einen Totalversager, kann aber nicht weiterleben. In dieses Forum komme ich nicht, weil ich angejahrt suizidal bin, sondern weil mir etwas passiert ist, was offenbar keinem von euch passiert ist. Ich wurde verraten von dem einzigen Menschen, der mich nicht hätte verraten dürfen. Neunzehn Jahre innigste Beziehung. Eine Freundschaft, die nicht ihresgleichen hat. Er hat von mir äußerlich total profitiert; ich habe von ihm innerlich unendlich viel bekommen. Dann der Verrat. Erklärungslos. Nur als Handlung. Als Tatsache. Dass das möglich ist, sprengt alles, was ich bisher für menschenmöglich hielt, in die Luft. Stalin und Hitler hatten vermutlich Gründe, an die sie glaubten. Jeder Mörder weiß, warum er mordet. In meinem Fall gibt es nur die nackten Tatsachen. Verrat, und zwar so, dass meine Firma sofort liquidiert werden musste. Alle Angestellten entlassen. Der schärfste Konkurrent der Nutznießer meines Ruins. Das hat der Freund hingekriegt. Ich will sagen: Dass das möglich war, heißt, das ist menschenmöglich! Wenn das menschenmöglich ist, dann will ich, kann ich kein Mensch mehr sein – unter Tigern oder Ameisen jederzeit. Nicht mehr unter Menschen. Der Vertrauensverlust ist absolut. Die Notwendigkeit ist irreversibel. Für dieses Wort danke ich euch. Danke ich dir, Aster. Du bist offenbar auch so weit, dass in dir nichts mehr grünen kann. So weit bin ich auch. Jetzt fehlt noch die Technik. Ich bin, fürchte ich, technisch nicht begabt. Darum nehme ich jeden Rat gerne an. Obwohl ich die Notwendigkeit für irreversibel halte, liegt mir an baldiger Erledigung. Ach, und weil mein notwendiges Ende auch ein lyrisches Motiv anklingen lässt, kann ich es mir nicht versagen, eine Poesie herzubitten, die von dem und jenem kaltschnäuzig verlacht wird. Von mir aber nicht. Und hoffe, das sei mitten im suizidalen Chor nicht ganz unwillkommen.
So ständ’ ich denn im letzten Glühn des Lebens,
Die nächste Stunde bringt mir Nacht und Tod.
So ständ’ ich denn am Ziele meines Strebens,
Stolz auf die Blüten, die das Glück mir bot!
Ich fühl’ es klar, ich kämpfte nicht vergebens,
Durch Todesnacht bricht ew’ges Morgenrot.
Und muss ich hier mit meinem Blute zahlen,
Ein Gott vergilt mit seines Lichtes Strahlen!
Theodor Körner
Mitgeteilt von Franz von M.
Jetzt aber meine Macht, Herr Schriftsteller. Ich muss Ihnen, was ich hier, durch Sie provoziert, hingeschrieben und zusammengefügt habe, überhaupt nicht schicken. Ich beute Ihre Provokation aus. Ich brauche Sie nicht als wirklichen Zeugen. Sie können mir gestohlen bleiben. Ich mache mit Ihnen, was ich will. Was gut für mich ist. Ob ich Ihnen das je zustelle, will ich nicht wissen. Sie sind der Spiegel, den ich mir vorhalte, in den ich schaue. Mir muss daran liegen, mich genauer zu sehen, als ich mich bis jetzt gesehen habe. Was heißt es, dass ich mich eingeloggt habe in ein Suizidforum?
Carlos zuliebe habe ich die Firma DER VERSCHÖNERER gegründet. Er wollte, dass ich mein Talent, Waren zu verkaufen, auch in der Werbung praktiziere. Das habe ich gemacht. Ich hatte einmal im Spaß gesagt: Ich mache jedes Produkt verkäuflich! Er: Beweis es! Ich gründete die Firma. Ich ließ sie durch ihn leiten. In meiner Nachbarschaft, in der Melchiorstraße. Ich allerdings tauchte dort nie auf. Er lieferte mir die Aufgaben, ich lieferte die Texte. Die Sprüche des Verschönerers wurden begehrt. Mein Beitrag zu Mehr als schön ist nichts. Ich habe übrigens die Produkte, die ich verkäuflich machte, immer sorgfältig geprüft. Schund habe ich nie verschönert. Weil ich mich keinem Auftraggeber je zeigte und weil Carlos mich zu einer geheimen Figur stilisierte und weil er dafür sorgte, dass der Verschönerer unerreichbar blieb, wurde DER VERSCHÖNERER ein Branchenhit. Ich habe, als Carlos mich gestürzt hatte, diese Firma in der Melchiorstraße sofort aufgelöst. Er konnte nicht im Feuilleton der SZ verkünden: Der Verschönerer heißt übrigens so und so und wohnt in Solln in der Sowieso-Straße. Er selber hat natürlich zu diesen Sprüchen nicht eine einzige Silbe gespendet. Das wäre ihm vorgekommen wie ein Sakrileg.
Es gibt keinen Verschönerer mehr. Wie er mich gestürzt hat? Durch plumpen Verrat. Genau in dem Augenblick, in dem ich mich durch ein alles Bisherige übersteigendes Engagement verwundbar gemacht hatte wie nie zuvor. Ein Amerikaner hatte mir ein aus Schlangengift zu gewinnendes Mittel gegen Herzinfarkt angeboten. Gutachten honorigster US-Institute und -Professoren lagen vor. 98 Millionen Dollar musste ich investieren. Dann würde die Fabrik in North Carolina das Mittel produzieren. Es sollte Sancordin heißen. Weil ich möglichst sofort produzieren wollte, war die Fabrik fertig, bevor die Rechte ganz verhandelt waren. Manchmal denke ich, dass Carlos das so hingekriegt hat, damit er mich, als ich schon investiert hatte, verraten konnte. Bis jetzt wehre ich mich noch gegen paranoide Phantasien. Verraten hat er mich an meinen Hauptkonkurrenten Oliver Schumm. Der hat mich sofort gefickt (entschuldigen Sie, bitte), wie ich noch nie gefickt worden bin. Nicht einmal meine Option, immerhin auch 2 Millionen, konnte ich retten. Ich habe immer riskant investiert, aber noch nie so riskant wie bei diesem Projekt. Carlos Kroll wusste Bescheid. Er wusste eben, warum. Mein Vater, der große Erfinder Barthel Schadt hat seine größten Erfolge in Sanford in North Carolina eingefahren.
Hier darf vielleicht doch ein Einschub sein über Barthel Schadt. Geboren 1914 in Isny, studiert in München, schon sein Vater war bei der Agfa, aber dann der Krieg, als Allgäuer mit einer Jäger-Division im Kaukasus, nach dem Fall Stalingrads noch mit einem Schiff nach Feodosia, von dort in den Endwirren zu Fuß Richtung Reich, bis Olmütz, von den Amerikanern gefangen, ausgeliefert an die Russen, weil in Jalta vereinbart war: Wer gegen die Russen gekämpft hat, gehört ihnen. Zuerst im Lager Pensa. Dann in ein Lager an der Wolga. Da landen Flöße mit Holz. Er also beim Schiffsbau. Gibt an, er sei Elektroschweißer. Dann nach Moskau. Er wird mit seinem Vater, dem Kamerabauer bei der Agfa, verwechselt. Dort unter sechshundert Spezialisten. Das Angebot: zehn Jahre in der UdSSR frei zu arbeiten. Nur zwölf nehmen das Angebot an. Die anderen wollen lieber zurück ins Lager. Er auch. Später einmal in Tokio ein Japaner, der war im selben Lager und erzählt: Als sie Jahre später heimtransportiert wurden, flogen fünfzehn über Bord. Das waren die, die mit den Russen zusammengearbeitet hatten. Am 6. Januar 1950 kommt Barthel Schadt heim. Sein Vater versorgt ihn mit Material. Er fängt an, auch eine Kamera zu bauen, schickt sie zu Bell & Howell, wird eingeladen, könnte dort, in North Carolina, bleiben. Wird dem governor vorgestellt. Der sagt: Bei uns ist es keine Schande, wenn jemand versucht, Profit zu machen. Er überlegte. Noch wirkte das Russland-Syndrom nach: Möglichst weit weg von denen! Aber dann doch heim. War zehn Jahre lang fort, das reichte ihm. Die Stereokamera wird sein Feld. Er entwickelt den Kinetheodoliten. Er gründet von hier aus in Sanford einen Betrieb. Die bauen, was er erfindet. Er hat einhundertzwanzig Patente in fünfzig Ländern. Minolta hat einmal bei ihm fünfzig Maschinen bestellt und die zwei Jahre später nachgebaut. Er schreibt denen, dass er sich geehrt fühle.
Und jetzt die Versuchung: Fünfzig Leute hat der Vater in North Carolina beschäftigt. Gründe du etwas für sechshundert. Von den Professoren-Gutachtern formulierte einer über Sancordin: «Die Amerikaner werden das essen wie Brot.»
Also, dem Freund habe ich gestanden, dass mich die Aussicht, in North Carolina aufzutreten, über die übliche Vorsicht hinaustrieb. Was Carlos Kroll für seinen Verrat bekommen hat, ob er überhaupt etwas dafür verlangte und bekam – ich weiß es nicht. Schumm, der sozusagen darauf gewartet hat, triumphierte jetzt und produziert inzwischen das Mittel in Oberbayern, es heißt Corsantin. Bei mir sollte es Sancordin heißen. Ach, Carlos, Carlos, Carlos! Es sei, höre ich, ein Millionengeschäft, das ins Milliardengenre tendiere.
Und jetzt eine Antwort, zum ersten Mal von Aster, mitten aus den Formulierungswäldern der Suizidalen, an mich, den Franz von M., meine Schluss-Identität.
Lieber Franz von M.,
ohne dein Leid schmälern zu wollen – du kannst sicher sein, dass Verrat viele Gesichter hat und die meisten hier im Forum sich entweder in einem hoffnungslosen körperlichen Zustand befinden oder eben verraten wurden, viele schon in ihrer Kindheit ohne die leiseste Ahnung, etwas wie Verrat könnte je existieren. Es kann.
Und abermals ohne dein Leid schmälern zu wollen – ich ging stets davon aus, ein solides Fundament lasse ein Gemäuer manch einen Sturm überstehen und im schlimmsten Fall mit kaum sichtbaren Rissen weiterhin bewohnbar bleiben. Deines scheint trotz des von dir angedeuteten soliden Fundaments eingestürzt oder aus irgendeinem Grund, den wir hier nicht kennen, von dir zum Einsturz gebracht worden zu sein.
Deine Geschichte klingt wie ein Krimi, ein Wirtschaftskrimi. Warst du darin Lenker oder Gelenkter? Wie konnte der Freund die neunzehnjährige stabile Wechselseitigkeit sprengen, ohne ins Straucheln zu geraten? Oder nahm er gefährliches Straucheln gar in Kauf?
Verzeih, du wirkst auf mich wie ein Romantiker. Das rührt einerseits, weil du die Welt mit dessen Augen zu sehen scheinst. Andererseits musst du wohl, es sei denn, du wärst ein Lottomillionär, Interessen auch unromantisch vertreten haben, so jedenfalls in meiner Vorstellung durch den Eindruck deiner biografischen Fragmente. Ohne Recht und Unrecht beurteilen zu können und schon gar nicht zu wollen, stelle ich mir deinen Einfluss größer vor, als du uns offenbar ahnen lassen willst und unromantisch wahrhaben möchtest.
Ich breche beileibe keine Lanze für den Wert der Menschen – davon wie von den Menschen selbst fühle ich mich Lichtjahre entfernt. Ich weiß auch, dass all das von dir Beschriebene möglich bis selbstverständlich ist.
Einzig deine augenscheinliche Verwunderung verwundert mich.
Aster
PS: Versteh mich bitte nicht falsch. Ich nehme dein Leiden ernst. Nur glaube ich, du hast mehr Macht, als du glaubst.
Iris sagt: Du musst Carlos verletzt haben, weil du nie etwas über seine Gedichte gesagt hast. Das kann er dir nicht verzeihen.
Dieses Mankos war ich mir bewusst. Ich kann doch zu Gedichten und gar zu Gedichten solcher Art nichts sagen. Natürlich habe ich versucht zu reagieren. Einmal sagte ich, wie ich es empfand: Dass ich seine Gedichte erlebte wie unbeabsichtigte Streicheleinheiten. Er schmierte mir eine. Das heißt, er gab mir eine Ohrfeige. Aber er umarmte mich sofort, weinend. Dazugesagt, er weinte leicht. Er weinte oft. Ihm fiel das Weinen leichter als das Lachen. Da mir seine schwierigen Gedichte manchmal trocken vorkamen, war für mich diese Weinbereitschaft ein Geständnis. Als er sich vom Weinen erholt hatte, sagte er: So hast du mich noch nie beleidigt. Ich umarmte ihn, er entzog sich und murmelte: Lass doch. Und verfiel in den – ich nenne das mal so – Verkündigungston, in dem er immer über seine Gedichte sprach. Seine Gedichte seien Sprachereignisse, die in dieser Zeit, in der nur das Mittelmäßige triumphiere, gar nicht erkannt werden könnten. Seine Gedichte seien – und das sagte er nicht zum ersten Mal – hermetisch. Ich hatte das Wort längst nachgeschlagen, ohne dass es mir dadurch verständlicher wurde.
Was Iris sagte, habe ich in die Liste der Gründe aufgenommen, die zu meinem Sturz geführt haben könnten.
Denkwürdige Szenen gab es genug. Als Melanie Sugg einmal auf ein Manuskript nicht so reagierte, wie sie sollte, kam er schnurstracks zu mir in die Herterichstraße, ich musste eine Sitzung unterbrechen, er brauche jetzt meine Meinung wie noch nie. Und stellte sich an die Wand, als kreuzige er sich. Und sagte, er werde den Kontakt zu Melanie Sugg endgültig abbrechen, sie sei nichts als eine Boulevard-Schickse! Ich sei der Erste, dem er das sage.
Ich heuchelte Wiegen und Wägen. Sagte schließlich: Geduld passt nicht zu Genies, aber es zeichnet sie aus, geduldig zu sein.
Und er: Noch was?
Und ich: Ich bitte, eingeweiht zu werden.
Er, sich dabei an die Wand pressend: Auf mein letztes Manuskript, das Manuskript zu meinem neuen Gedichtband SeinsRiss, kommt von ihr der Satz: Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, ich gratuliere. Und das ist es! Und es fällt ihr nicht ein, dass sie diesen Satz nicht zum ersten Mal bringt, sondern dass das schon die Routineformel ist für alles, was ich schicke. SeinsRiss, verstehst du, verstehst du, SeinsRiss