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Mordserie statt Honeymoon: Die Rosi ist zurück! Rosi und ihr Sepp haben gerade noch rauschend Hochzeit gefeiert, als am nächsten Tag eine Leiche im Inn treibt. Ausgerechnet einer ihrer Gäste, genauer gesagt: einer von Sepps Gästen – aus seiner Vergangenheit im Rotlichtmilieu. Doch warum trägt der Tote eine Ritterrüstung? Rosis Ermittlerinstinkt ist gefragt, und der führt sie geradewegs in eine nervenaufreibende Verfolgungsjagd …
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Seitenzahl: 441
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Doris Fürk-Hochradl wurde 1981 in Braunau am Inn geboren. Bis heute ist sie dem Innviertel treu geblieben und lebt mit ihrer Familie im beschaulichen Feldkirchen bei Mattighofen. Hauptberuflich unterrichtet sie an einer Volksschule.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Martine Wolf/photocase.de
Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-047-1
Originalausgabe
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Für dich! Es freut mich, dass du zu diesem Buch greifst,
Hochzeitswirbel
Rosis Tee-Tipp bei übermäßigem Schwitzen
1Teelöffel Salbei mit 250 ml heißem Wasser übergießen, abkühlen lassen und während der heißen Sommerzeit täglich trinken.
Huberts Gelächter schallt durch die brütend heiße Luft. Meine Ohren dröhnen. Eine betagte Frau ist eben nicht für jeden Wirbel geschaffen, auch wenn es sich diesmal um meinen selbst gemachten Radau handelt. Ich spähe zu meinem Freund und Nachbarn hinüber und muss schmunzeln. Es ist lustig, dass den meisten Spaß an einer Hochzeit nur selten die Brautleute selbst haben, sondern die Gäste. Auch bei Sepp und mir scheint sich das zu bewahrheiten. Wir sind seit gerade einmal drei Stunden verheiratet und erst vor Kurzem im Wirtshaus angekommen, schon stiehlt uns der pensionierte Direktor der Dorfschule die Show. Dass sich der alte Haudegen nicht schämt, auf Danielas und meiner Doppelhochzeit so einen Radau zu schlagen? Ich suche meine ebenfalls frisch vermählte Tochter Dani in der Menschenmenge, kann sie aber nicht entdecken. Schon brüllt Wimmer abermals und zieht meine Aufmerksamkeit erneut auf sich. Ich schüttle den Kopf und beobachte weiter, wie der Wimmer, stockbetrunken wie ein angesoffener Badeschwamm, seine Frau Herta zur Seite schiebt und auf die anscheinend ebenso gut beschwipste Tierärztin Maria Schreiner zuwankt. Mit einem beherzten Griff an ihren prallen Hintern fordert er sie lallend auf, die Tanzfläche zu eröffnen. »Wenn die jungen Brautleit und die Rosi mitn SSSSepp net tonzn, donn pockn mia zwoa Hübschn dessss! Spüüttts auf, Musssikantn!«, schreit er. Die Tierärztin gluckst und kichert vergnügt. Dann macht sie doch tatsächlich Anstalten, der ungeschickten Aufforderung Folge zu leisten. Anscheinend hat es die gute Frau Doktor aus der Stadt nicht zufällig aufs feuchtfröhliche Land verschlagen. Sie zeigt sich weder dem Alkohol noch dem Wimmer gegenüber abgeneigt. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb ein aufgedunsener, bierbäuchiger, in die Jahre gekommener Kerl wie Hubert eine derartige Wirkung auf Frauen hat. Ja, als junger Mann war er einmal ganz ansehnlich gewesen, aber heute? Vor einem halben Jahrhundert hatte er mir einen heimlichen Kuss abgeluchst, und seither ist weder sein Aussehen noch sein Ruf besser geworden. Als er gut dreißig Jahre später meiner Tochter Daniela das Herz gebrochen hat, waren wir sogar einige Zeit nicht gut aufeinander zu sprechen. Aber das hat sich gelegt. Hubert hat auch seine guten Seiten. Er meint es nie böse und kann sein Verhalten in etwa so gut einschätzen wie ein speckiges Kleinkind. Jetzt knutscht er gerade die Tierärztin ab. Herta, seine Frau, steht seelenruhig daneben und lächelt selig. Die beiden Wimmersleut haben schon eine eigenartige Beziehung. Vorigen Winter, während eines Tantraseminars, haben der Hubert und die Herta sogar die Trainerin unter sich zum Stöhnen gebracht. Bis heute will mir das nicht einleuchten. Am erstaunlichsten aber finde ich die Tatsache, dass Hubert doch glatt in unserem beschaulichen Ort einen Swingerclub eröffnet hat. Und das Lokal verzeichnet regen Zulauf aus der Dorfbevölkerung und dem näheren Umkreis unseres Örtchens. Es stört mich nicht, dass er in seiner Rente gemeinsam mit seiner Gattin Herta die freie Liebe samt lukrativer Geschäftsidee für sich entdeckt hat … Immerhin war bis vor zwei Jahren mein frisch angetrauter Ehemann Sepp der Bordellbetreiber der Gegend, und mein Sohn Raphael hat das Herzkasterl von ihm übernommen … Aber dass der Wimmer nun Daniela, ihrem frischgebackenen Ehemann Kurt, Sepp und mir den Brautwalzer stehlen will, geht gar nicht. Immerhin haben meine Tochter und ich heute Hochzeit. Niemand außer den Brautpaaren eröffnet in unserer Gegend die Tanzfläche. Als Nächstes macht er sich aufgrund einer Fressattacke noch über unsere Torte her und schneidet das erste Stück ab. Ehe ich einschreiten kann, steht die Schreiner in Tanzstellung bereit, und Hubert legt seine Wurstfinger deutlich zu tief um ihre Mitte.
Heiliger Zorn steigt wie Kohlensäurebläschen in einer Cola in mir hoch. Ich will mit meinen siebenundsechzig Jahren einer Amazone gleich auf die Tanzfläche stürmen, um dem schrecklichen Treiben ein Ende zu setzen, als ich sanft eine Hand auf der Schulter spüre.
»Rosi, ich glaub, unser zügiges Einschreiten ist gefragt!«, meint Sepp hinter mir und lächelt dabei so zärtlich, dass meine Wut so schnell verraucht, wie sie entstanden ist. Einen Meter hinter ihm sind auch Daniela und Kurt. Meine wunderschöne Tochter strahlt in ihrem cremeweißen Brautkleid wie eine frisch aus dem Meer heraufgetauchte Perle, und auch Kurt steht stramm, stolz und geschniegelt neben seiner Frau. Er ist Polizist und seit dem letzten Fall, den wir gemeinsam gelöst haben, sogar zum Leiter der Mordabteilung aufgestiegen. Mit jeder Faser seines bulligen, aber muskulösen Körpers strahlt er Autorität, aber auch Geborgenheit und Sicherheit aus. Unbeschreiblich liebevoll blickt er meine Tochter an. Mir wird warm ums Herz. Viel zu lange hat es gedauert, meine Dani glücklich zu sehen. Nach der fürchterlichen Totgeburt ihrer Zwillinge, bei der sie selbst fast gestorben wäre, hat sie dank einer Leihmutter nicht nur das Liebesglück mit Kurt, sondern auch die Freude der Mutterschaft für sich errungen. Und ausgerechnet der Wimmer ist es damals gewesen, der die Idee mit der Leihmutter hatte. Er war Daniela eine echte Stütze, als selbst ich ratlos war. Wahrscheinlich hat der alte Schwerenöter tatsächlich ebenso viele gute wie schlechte Seiten in seinem liebestrunkenen Herzen. Leise Dankbarkeit durchströmt mich, und ich wende mich wieder der Tanzfläche zu. »Spüüüts schon!«, plärrt in diesem Moment Hubert erneut den schockerstarrten Musikern zu. Ich revidiere meine eben gefasste gnädige Meinung über den Wimmer und seufze. Schnell nicke ich dann meinen Lieben auffordernd zu, um Daniela und Kurt den Vortritt zu lassen. Mit ausladend bestimmtem Schritt zieht Kurt Daniela auf die Tanzfläche und drängt den verdutzten Wimmer zur Seite. Dieser blinzelt einen Augenblick verwirrt, lacht dann aber gleich wieder und dreht sich seiner um gut zwanzig Jahre jüngeren Auserwählten zu, um sie mit einem weiteren feuchten Kuss ein paar Meter zurückzuschieben. Auch Herta hat sich, mit drei Sektflöten bewaffnet, wieder zu ihrem Mann gesellt und reicht ihm wie auch Maria ein Glas. Sepp und ich betreten die Mitte der großen gepflasterten Terrasse. Schon drängen sich die anderen Gäste um uns und schließen den Kreis. Sepp gibt den Musikern ein Zeichen, und langsame Walzerklänge schallen durch die Luft. Ich beginne mich zu wiegen und Sepps Druck gegen meine Taille Folge zu leisten. Ich drehe mich im Takt der Musik, in den Armen meines Mannes, und die alte Burg Frauenstein dreht sich um mich. Ich spüre, wie Freude und Dankbarkeit in mir aufwallen und all die schlimmen Zeiten der Vergangenheit beiseitewischen. Auch eine alte Burgjungfer kann hier ihr Glück finden. Ich, die Kräuterrosi, seit Langem verwitwet, habe endlich das Gefühl, wieder vollständig zu sein. Viel zu lange habe ich Liebe und Fürsorge all jenen geschenkt, die meine Hilfe brauchten, aber selbst zu wenig davon bekommen.
Seit mein Horst damals so plötzlich aus dem Leben gerissen wurde, hat mir ein Teil gefehlt. Als Sepp dann hilfesuchend bei mir im Bauernhaus aufgetaucht und geblieben ist, wurde dieser fehlende Teil etwas kleiner. Noch immer stiehlt sich bei der Erinnerung an damals ein Lächeln auf meine Lippen. Es war herzzerreißend mitanzuhören, wie Sepp mir sein Leid über den nicht mehr seinen Mann stehenden kleinen Seppel geklagt hat. Wie durch ein Wunder war die Heilung des Problems keines meiner Kräuterchen, sondern ich in Person. Ganz warm wird mir bei den Gedanken vor Liebe, und ich schmiege mich enger an Sepp. Erst jetzt, da ich in der Kirche Gottes Segen für diese zweite Partnerschaft meines Lebens erhalten habe und auch meine Tochter unter der Haube ist, bin ich wieder ganz. Der fehlende Teil ist auf die Größe einer Nähnadelspitze zusammengeschrumpft und sticht mich nur noch, wenn ich direkt an meinen verstorbenen Mann denke.
Ich schließe die Augen und lege meine Wange auf Sepps Schulter. Wie aus weiter Ferne höre ich die laute Stimme des Keyboardspielers rufen: »Die Tanzfläche ist eröffnet!«
Die Wärme fremder Körper schließt sich um Sepp und mich, doch wir tanzen weiter. Ich schwebe beinahe, so leicht ist mir ums Herz. Ich schwitze vor Anstrengung. Der Schweiß rinnt mir in dünnen Sturzbächen den Nacken und die Schultern hinab, bis er im Mieder meines Hochzeitsdirndls versickert. Ich bin froh, dass ich mich für ein naturfarbenes Trachtenkleid entschieden habe, bei dem sich nicht jeder Fleck abzeichnet. Daniela würde in ihrem Hochzeitskleid bei so einer Hitzewallung, wie sie mich gerade überfällt, bereits aussehen wie eine Braut in einer Batik-Tunika aus den wilden siebziger Jahren.
Keuchend wische ich mir über die Stirn und versuche erneut mein Glück mit dem vermaledeiten Geschenk vor mir. Sepp lacht laut. Wer gedacht hat, eine Hochzeit im fortgeschrittenen Alter auf dem idyllischen Lande wäre eine beschauliche und ruhige Angelegenheit, der war noch nie auf einer richtigen Dorfhochzeit. Ein Programmpunkt jagt den nächsten. Kaum dass der Braten im Magen gelandet ist, muss man schon zum Brautwalzer antreten, dann die Torte anschneiden und schließlich die Geschenke entgegennehmen, bevor man als frisch getraute Ehefrau entführt wird. Schlussendlich landet man nach dem Brautdiebstahl-Besäufnis wieder am anfänglichen Programmpunkt und nimmt die nächsten kulinarischen Schmankerln zu sich. Wenn man Glück hat, ist man im Morgengrauen dann fertig mit der Feierlichkeit und fällt hundemüde ins Bett. An eine echte Hochzeitsnacht ist meist nicht zu denken. Darum ist es nur gut, dass Sepp und ich diesen Punkt der Vermählung bereits vorab heute Früh erledigt haben. Da war noch Zeit und Muße für die Liebe. Jetzt aber befinde ich mich gerade bei Programmpunkt vier und quäle mich weiter mit dem Verschluss eines ominösen Metallkoffers ab, den mir Kurts Kollegin Andrea in Vertretung für die gesamte Polizeibelegschaft als Geschenk überreicht hat. Sie grinst über beide Ohren. Hilfesuchend werfe ich einen Blick in Richtung meiner Tochter, die selig lächelnd ein Kuvert nach dem anderen entgegennimmt. Nicht ein Tropfen glänzt trotz sommerlicher Hitze auf ihrer Stirn.
Nun bereue ich meinen Entschluss, auf den Hinweis verzichtet zu haben, dass am liebsten Geldgeschenke angenommen werden. Anstandshalber wollte ich den Menschen in meinem Bekannten- und Familienkreis die Möglichkeit geben, einfach einen Blumenstrauß, etwas zum Naschen oder Handtücher zu verschenken. Mit dem Auswuchs derartiger Kreativität bei den Geschenken hatte ich jedoch nicht gerechnet. Die Dorfbäuerinnen haben Sepp und mir zwei riesige, mit Dessous und Liebesspielzeug bestückte Germ-Männchen gebacken, die Sepp und mich darstellen sollen. Von den Mitarbeiterinnen des Herzkasterls gab es eine große Kiste voller Aphrodisiaka und Spielsachen, die kein Kind in die Finger bekommen sollte. Selbst der Bürgermeister und die Gemeindebediensteten haben es sich nicht nehmen lassen, mir ein mit Bildern aus dem Kamasutra verziertes Regal voller indischer Heilkräuter zu schenken. Die Kräuter kann ich gut gebrauchen, aber das Regal dient im besten Falle meinem Kachelofen daheim als Futter. Und während mein Sepp seelenruhig ein zur Fortpflanzung nicht unwesentliches Stück des Sepp-Germ-Männchens abbricht und neben mir verzehrt, mühe ich mich mit angstvollem Blick auf die noch kommenden Schenkenden mit dem verzwickten Verschluss des Koffers ab.
Wenn die bisherigen, mir gut bekannten Gratulanten schon mit so eindeutigen Geschenken aufwarten, was werden dann erst Sepps ehemalige Milieukollegen oder sein Ziehbruder Ferdl schenken? Warum nur musste mein Mann auch jahrzehntelang der Puffvater der Provinz sein? Und weshalb zum Kuckuck musste ich mich ausgerechnet in ihn verlieben? Ein normaler gestandener Bauer aus der Umgebung war wohl keine ausreichende Herausforderung für mein verhärtetes Herz gewesen. Ein Fluch liegt mir auf den Lippen, aber ich behalte ihn mühsam für mich.
»Probiere doch mal den Schlüssel aus«, meint da Andrea und deutet verschmitzt auf die Seite des Koffers. Mit Tesafilm angeklebt und unter dem Henkel verborgen, entdecke ich einen winzigen, flachen Schlüssel.
»Na, Rosi, knackst du den Koffer heute noch, oder muss ich dir helfen?«, meint Sepp überflüssigerweise. Ich bombardiere ihn mit einem messerscharfen Blick, worauf er schnell entschuldigend die Hände nach oben reißt.
»Lass uns mit dem ersten Ehestreit bis zur Bettgehzeit warten. Ja, mein Röschen?«, meint er versöhnlich.
Ich zische leise und nehme dann wieder konzentriert die Aktion »Knack den Koffer« in Angriff. Nun, da der winzige Schlüssel mit im Spiel ist, lässt sich die Schnalle auch ganz einfach öffnen. Ich klappe den Deckel hoch und luge gemeinsam mit Sepp ins Innere des Koffers. Sepp lacht und fischt mit zwei Fingern ein hautfarbenes Unterhemd hervor. Es plumpst schwer klatschend zurück in den Koffer. Erstaunt verzieht Sepp den Mund und greift erneut, aber diesmal mit ganzer Hand nach dem Wäschestück. »Ihr hättet euch besser mit den Bauersfrauen absprechen sollen. Dessous haben wir schon. Und zwar welche, die nicht so schwer in der Hand liegen wie das Teil hier! Da brech ich mir ja die Finger, wenn ich Rosi auspacken will!«, scherzt er und hält das Hemd demonstrativ keuchend in die Luft.
Andrea schüttelt den Kopf. »Banause, das ist keine Reizwäsche, sondern Arbeitsbekleidung für unsre Rosi und für dich. Schuss- und stichsichere Unterwäsche und eine kleine professionelle Grundausstattung für Privatdetektive. Außerdem ein Gutschein für einen Ausbildungskurs in der Detektivakademie. Ihr zwei sollt uns noch länger bei der Polizeiarbeit stützend unter die Arme greifen, und da braucht man schon eine bestimmte Ausrüstung.«
Interessiert beuge ich mich über den Koffer. Tatsächlich, neben der besagten Schutzbekleidung finde ich auch Pfefferspray, Fingerabdruckpulver, ein ledernes Notizbuch und zwei ordentliche Schweizer Taschenmesser im Inneren. Das erste Mal empfinde ich so etwas wie Freude über ein Geschenk. Ganz unten im Koffer liegt der Kursgutschein. Dass ich in meinem Alter noch einmal die Schulbank drücken soll, erscheint mir nicht einleuchtend. Ist Erfahrung nicht besser als jede Schule? Immerhin habe ich Kurt und seine Kollegen bereits bei vier Fällen tatkräftig unterstützt. Andrea bemerkt meine Skepsis. »Wenn ihr eine Ausbildung habt, könnt ihr uns auch eine Rechnung schreiben«, erklärt sie schulterzuckend. »Es ist nur ein Angebot.«
»Danke, meine Lieben«, sage ich herzlich, während Sepp nur stirnrunzelnd den Kopf zum Dankeschön neigt. Offenbar sind ihm essbare Anziehpuppen lieber. Andrea dreht sich, zufriedengestellt durch meine späte Begeisterung über das Geschenk, um.
Nun stehen mein Sohn Raphael samt seiner Frau Kalina und seiner kleinen Tochter vor mir. Kalina trägt Danis schlafenden kleinen Sohn Joachim am Arm. Sie hat sich bereit erklärt, auf das Baby zu achten, während Daniela und Kurt in aller Pracht Hochzeit feiern. Ich streiche dem Winzling sacht über den flaumbedeckten Schädel. Bald schon wird er die letzten flauschigen Haare verloren haben, ebenso wie seinen Säuglingsduft. Am liebsten würde ich Joachim an mich drücken und abbusseln. Doch heute muss ich meine Omagefühle im Zaum halten und würdig die Geschenke entgegennehmen. Genau solch eines in Form eines blau-rosa gestreiften Kuverts schwebt plötzlich nur knapp über der Tischplatte vor mir. Mariella streckt sich, so gut sie kann, und hält den Umschlag mit ihren kleinen Speckfingern verkrampft fest.
»Für dich, Mama, und natürlich für Sepp. Vielleicht macht ihr euch ein paar schöne Tage. Ihr habt es euch verdient«, sagt mein Sohn. Ich ziehe das Kuvert aus Mariellas Faust.
»Eise … scheine«, brabbelt Mariella vergnügt und breitet die Arme aus, um wie ein Flugzeug einmal um uns herumzusausen.
»Danke«, sag ich nur und frag mich verwundert, wie mein Sohn auf die Idee kommt, dass es mich in die Ferne ziehen könnte.
Die drei machen kehrt, und als Nächstes gratulieren uns zwei unheimliche Gestalten, die Sepp von früher kennt. Ich schaue in die Reihe. Die Dorfbewohner und Familienmitglieder waren alle schon bei uns am Tisch. Nun ist Sepps Bekanntenkreis dran. Ich schlucke die leise Beklommenheit, die sich als golfballgroßer Knödel in meiner Kehle geformt hat, hinunter. Die großteils männliche Schar an Glückwünschenden wirkt wie frisch aus dem Fernsehen. Alle scheinen Darsteller vom Tatort zu sein und dort nicht auf der Seite der Guten zu stehen. Vorhin, als sie sich noch unters Volk der Feier gemischt haben, ist mir gar nicht aufgefallen, wie bedrohlich einige wirken. Nicht jeder Bordellbetreiber sieht aus wie mein harmloser, stets makellos gekleideter Sepp. Doch der Kasten von einem Mann vor mir schlägt alle Rekorde der Feier. Fast zwei Meter groß, mit Schultern wie ein ausgewachsener Stier und dem Gesichtsausdruck einer hungrigen Bulldogge, baut sich der Großbordellbetreiber Maximilian Kovanic vor uns auf. Er lächelt verkniffen. Doch auch diese Mimik würde sogar einem gestandenen Mannsbild wie meinem Schwiegersohn Kurt Angst einjagen. Mich jedenfalls überkommt ein Schauer.
»Max, mein Freund!«, sagt Sepp nur, und die beiden Männer fallen in eine schulterklopfende Umarmung. Nun zeigt Maximilian seine goldbeschlagenen Vorderzähne.
»Sepp, du alter Haudegen! Du hast recht. Aufgehört mit Arbeit zu richtiges Zeit. Ruhestand und wahre Liebe, mit viel Herz!«, sagt Kovanic im tiefen Bariton und mit unverkennbarem Akzent. Er hört sich freundlicher an, als er aussieht, und ich schnappe erstaunt nach Luft, als er plötzlich auch mich packt und mit verblüffend sanfter Bestimmtheit an seine russische Brust drückt.
»Es freut mich sehr, dass Sepp dich gefunden. Was wünscht Mann sich mehr als gute Frau und wahre Liebe!«, sagt er und gibt mir ein Kuvert in die Hand.
Ich nehme es verdutzt entgegen und stammle unverständliche Dankesworte. Nun klopft mir noch der zweite Mann, dessen Aussehen an einen Dobermann erinnert, freundschaftlich auf die Schulter.
Schon ist der Russe mit seinem Begleiter wieder in der Menge verschwunden.
Sepp dreht sich mir zu. »Keine Sorge, mein Herz. Das sind alles anständige Puffväter. Sie wissen, wie sie sich bei einer Hochzeit zu benehmen haben. Ich hab nur diejenigen eingeladen, mit denen ich jahrzehntelang bestes Einvernehmen hatte. Hier sind keine schwarzen Schafe auf der Feier.«
»In Ordnung«, sage ich tonlos und wende mich dem nächsten Gratulanten zu.
Feiern wie die Rittersleut
Rosis Zwiebelsaft gegen Reizhusten
Zwei Zwiebeln und eine hauchdünne Scheibe Ingwer schälen und sehr fein hacken, in eine Tasse geben. 3 Löffel Honig darübergeben und zugedeckt mehrere Stunden stehen lassen. Es entsteht ein natürlicher Hustensaft. 3 x tgl. 1 TL.
Es ist Ferdinand, der nun vor mir steht und mich schief angrinst. Der magere, fast zur Gänze glatzköpfige Endfünfziger ist mir beinahe ebenso neu wie Sepps andere Ex-Kollegen. Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied. Ferdinand ist der einzige Mensch auf dieser Welt, den Sepp noch als Familie bezeichnet. Der schlaksige Mann arbeitet nicht nur in derselben Branche, in der Sepp tätig war, er ist auch mit ihm aufgewachsen. Sepp war der einzige leibliche Sohn seiner verstorbenen Eltern. Doch er hatte insgesamt vier Ziehgeschwister, von denen nur noch Ferdl übrig geblieben ist. Aus diesem Grund stehe ich dem Mann vor mir anders gegenüber als dem Rest der anwesenden Puffbetreiber. Wenn Sepp Ferdl ansieht, dann leuchten seine Augen, und wenn die beiden miteinander reden, dann keimen freudige Erinnerungen an eine zwar nicht unbeschwerte, aber dennoch vergnügte Kindheit auf.
Die zwei haben als Jungs alles miteinander geteilt. Die Kleidung, die wenigen Spielsachen, das Essen, die schlechten Noten in der Schule und schließlich den Beruf. Doch während Sepp auf dem Land geblieben ist und in relativ einfachen Lebensumständen seinen Betrieb geführt hat, ist Ferdl in die Stadt gezogen und hat dort mit »Ferdis Haus der Freuden« groß Geld verdient. Sepp und ich wohnen in einem beschaulichen Bauernhaus im Ibmer Moor. Ferdl aber residiert in einer Villa direkt im Nobelviertel Aigen in Salzburg. Auch meine alte Citroën-Ente oder Sepps nicht mehr taufrischer Audi sehen neben Ferdls nagelneuem Tesla arm aus. Und dennoch würde ich nicht mit Ferdl tauschen wollen.
Glücklicher und gesünder strahlen sowohl mein Sepp als auch ich. Nun steht Ferdl in einem maßgeschneiderten Anzug, mit teuren Schuhen und mit Goldschmuck behangen vor uns und hält uns ein Kuvert entgegen. Der Umschlag sieht denen von Maximilian und Raphael verdächtig ähnlich, und eine böse Vorahnung beschleicht mich. Hat Sepp etwa unsere Abmachung gebrochen und all seine Bekannten darauf eingeschworen, uns Reisegutscheine zu schenken? Seit meinem ersten Flug, den ich nur Daniela zuliebe unternommen habe, um die Leihmutter mitzuorganisieren, liegt mir Sepp dauernd mit seiner Reiselust in den Ohren. Und ja, er hat meine heimliche Sehnsucht erkannt. Natürlich zieht es mich an die mir aus Bildbänden und Dokumentationen bekannten fernen Ziele, aber meine Flugangst und die Zweifel, ob ich mich so weit weg von zu Hause überhaupt wohlfühlen kann, überwiegen. Zu Kurztrips in die nahe gelegenen Thermen, Städte und Naturparks lasse ich mich aber gern überreden. Ich strecke meine Hand aus, um Ferdls Geschenk anzunehmen, als dieser einen gewaltigen Hustenanfall bekommt und das Kuvert einfach auf den Tisch fallen lässt, um sich die Hand vorzuhalten. Er ringt nach Luft und keucht wie ein Walross. Eindeutig die Folgen jahrzehntelanger Glimmstängelsucht, denke ich mir. Auch seine gelbliche Gesichtsfarbe und die rot unterlaufenen Augen zeugen von einem ungesunden Lebensstil. Mit einem letzten dröhnenden Huster fängt Ferdl sich schließlich wieder und rafft die Schultern.
»Geht es?«, fragt Sepp besorgt. Ferdl nickt. »Alles nur erdenklich Gute euch beiden«, krächzt er heiser. Ich möchte ihm gerade noch gesundheitliche Tipps geben, wie er sich das Rauchen leichter abgewöhnen und die Reizlunge in den Griff bekommen könnte, als aus seiner Hosentasche ein vibrierendes Summen ertönt. Ohne sich weiter um uns zu kümmern, fischt er sein Handy hervor, öffnet die Nachricht und erstarrt einen Moment lang. Dann macht er wortlos kehrt und stapft schnellen Schrittes davon.
»Seltsam«, meine ich zu Sepp, doch dieser zuckt nur die Schultern und beginnt schon das nächste Gespräch.
Ein Gesicht nach dem anderen erscheint, und Briefumschlag um Briefumschlag landet auf dem Haufen. Ich verliere den Überblick, wer schon da war und wie die Person heißt. Müdigkeit macht sich in meinem Kopf breit, und ich lasse gedanklich die Hochzeit in der wunderschönen, am Hügel gelegenen Kirche von Eggelsberg Revue passieren. Ich liebe die Gotteshäuser in unserer Gegend. Viele sind auf Anhöhen gebaut, aber die Kirche in Eggelsberg ist eine der ersten, die am Morgen von den Sonnenstrahlen geküsst und in goldenes Licht getaucht wird. Manchmal im Herbst ist es rundherum nebelig, doch wie ein goldener Monolith strahlt im Glücksfall die Kirchturmspitze von Weitem und weist einem den Weg. Eine tiefe, aber ungewöhnlich resche Stimme lässt mich aus meinen Gedanken hochfahren. Schnell blicke ich mich um. Daniela und Kurt sind nicht mehr neben uns. Nur der mit Briefumschlägen prall gefüllte Korb auf Danielas Sessel zeugt davon, dass sie bis eben noch hier gewesen sind.
Ich drehe mich nach vorne. Diesmal ist es eine Frau, die uns die Hand zur Gratulation reicht. Ich erkenne sie auf Anhieb und reiße erstaunt die Augenbrauen hoch. Während der Messe war sie gewiss noch nicht anwesend. Als eine der wenigen weiblichen Luxusbordellbesitzerinnen ist La Donna Ludmilla eine wahre Ikone im Rotlichtgewerbe. Sie fällt auf, wo sie auch auf die Bühne tritt. Ihre amazonenhafte Gestalt und die extravagante Kleidung der gut vierzigjährigen ehemaligen Darstellerin eindeutiger Filmchen machen sie zum Liebling der Presse. Immer wieder ist sie der funkelnde Star auf dem roten Teppich, und ich bin mir sicher, dass sie das Einkommen aus ihrem Lustschloss schon lange nicht mehr nötig hat. Sepp schwatzt angeregt mit ihr. Es wundert mich immer wieder, welche Menschen er zu seinem Bekanntenkreis zählt. Anscheinend kann eine Bumshütte noch so klein und unbedeutend sein, dennoch kennt man sich in dieser Gesellschaft untereinander.
Mein Blick sucht die Menge nach Raphael ab. Als ich ihn endlich entdecke, steht er zusammen mit seiner Familie schwatzend unten auf dem Platz der Naturbühne und plaudert mit den Wimmersleuten. Auch Dani und Kurt quatschen vergnügt mit. Der kleine Joachim hat seinen rechtmäßigen Platz in Danielas Armen wiederergattert, und ich sehe die Sabberflecken auf der cremefarbenen Seide schon vor mir. Es zieht mich magisch nach unten zu meinen Kindern und Enkeln, und ich vergewissere mich, dass außer Ludmilla niemand mehr ansteht. Mit einem Deut in Richtung meiner Liebsten gebe ich Sepp Bescheid, dass ich mich von dannen mache. Beherzt greife ich nach dem Brautstrauß, der nicht gestohlen werden darf, und mache mich auf den Weg nach unten.
Mit jedem Schritt, den ich mich von der Terrasse entferne, wird es etwas kühler. Die feuchte Luft des Inns weht mir entgegen, und ich atme auf. Noch ist der Abend nicht vorüber, und wenn es die Feiernden ernst meinen, dann wird mich wohl demnächst jemand aus den Reihen der Gäste stehlen und in ein nahe gelegenes Wirtshaus verschleppen. Dort muss Sepp dann allerlei halbdämliche Aufgaben erfüllen, um sich meiner würdig zu erweisen und mich bei meinen Entführern auszulösen. Erinnerungen an meine erste Hochzeit schieben sich wie durchsichtiges Seidenpapier über meine Sinneseindrücke. Ich höre Horsts Stimme aus der Ferne schallen, sein warmes Lachen, spüre seinen Kuss auf meiner Wange, als er mich nur durch das Abtasten der Wade inmitten der anderen Mädchen wiedererkannt hat. Ob Sepp meine Beine genauso gut kennt, wie es mein erster Mann getan hat? Schritt für Schritt nähere ich mich meinen Kindern. Sie sind mir von meiner ersten Liebe auf dieser Erde geblieben. In Raphaels gurgelndem Gelächter, in seinem Kinngrübchen, in Danielas weichen Augen, ihren für eine Frau etwas zu kantigen Wangenknochen und ihren wilden Haaren lebt er weiter. Ja sogar in den weichen Zügen meiner Enkelkinder entdecke ich zarte Anzeichen seiner Präsenz. Er ist noch immer hier. Und ich spüre, dass er es gutheißt, mich wieder glücklich und vollständig zu sehen. Ich will gerade etwas zu Raphael sagen, als plötzlich von links vom alten Burgtor her ohrenbetäubendes Gebrüll erschallt.
Es zieht mir eine Gänsehaut auf, und Angst kribbelt in meinem Bauch wie eine böse Vorahnung. Kurt, ganz und gar Polizist, strafft seine Schultern und meint: »Also, dass es einfach keine Heirat hier ohne Schlägerei gibt! Dabei steht der Hubert doch vor mir.« Hubert lacht laut und hebt den Bierkrug wie zum Beweis, dass er lieber säuft, als sich zu prügeln. Wieder dröhnt ein Schrei. Kurt schüttelt den Kopf. Schwungvoll eilt er davon. Ich folge ihm.
»Hört auf!«, brüllt Kurt schon zwei Meter, bevor wir die beiden Prügelknaben wirklich erreicht haben. Ich hechte einen Schritt zur Seite, um besser sehen zu können, welche beiden Kerle so lauthals herumschreien. Verdutzt halte ich inne, und vor Schreck fällt mir sogar der Brautstrauß aus der Hand und landet mit einem unwirklich lauten, in meinen Ohren schmatzenden Platsch auf dem Boden. In überfordernden Situationen filtert das Gehirn die Eindrücke anders. Während die Geräusche um mich herum viel zu laut wirken, kann ich die Bilder kaum verarbeiten. Ich blinzle. Dann erkenne ich die beiden Männer endlich. Maximilian drückt Ferdl gerade gegen die alten Steine des Torturms.
»Das lass ich mir von dir nicht sagen! Du räudige Köter, du!«, brüllt er auf Ferdl ein und verpasst ihm einen Faustschlag mitten auf die Stirn.
Ferdls Augenbraue platzt auf. Blut tropft ihm über die Wange. Doch der magere Kerl macht keine Anstalten, sich zu entwinden. Stattdessen rotzt er einen grünen Schleimpfropfen hoch und spuckt ihn dem viermal so bulligen Kovanic ins Gesicht.
»Du wirst tun, was wir wollen. Sonst machen wir eingelegten Russen im Glas aus dir!«, droht er heiser. Maximilian holt gerade zu einem neuerlichen Schlag aus, als Ferdl sich blitzschnell unter Kovanic wegduckt, sich befreit und ein Messer aus der Hosentasche zieht. Mit einer flinken Bewegung steht der schmächtige Kerl plötzlich hinter dem Riesen und legt diesem das Messer an die Kehle. »Wenn du mich noch einmal schlägst, wirst du es bereuen«, zischt er böse.
»Aufhören! Hier wimmelt es von meinen Kollegen, und ich scheue nicht davor zurück, auf meiner eigenen Trauungsfeier Leute festzunehmen«, schreit Kurt.
»Ferdl, bitte. Es ist auch meine Hochzeit! Bruder, lass es!«, höre ich Sepp hinter mir.
Ich fühle mich von der ganzen Situation so überrumpelt, dass ich bisher zur Salzsäule erstarrt dagestanden bin und nur dem unrealistischen Treiben zugesehen habe.
Doch auch Ferdl und Maximilian wird offenbar jetzt erst bewusst, dass sie nicht länger nur unter sich sind. Ferdl nimmt vorsichtig das Messer von Kovanics Kehle und macht einen Schritt zurück. Maximilian aber dreht sich schwungvoll um und erhebt drohend die Faust. »Nur dass eines klar ist: Man schüchtert einen Maximilian Kovanic nicht ein. Man spuckt nicht an! Und erst recht nicht so Blasphemie auf Heirat von sein eigene Bruders. Du weniger als Köter! Du toter Mann! Ferdinand! Toter Mann! Kapiert?«
Ferdinand steckt unbeeindruckt sein Klappmesser zurück in die Tasche. Dann zuckt sein Kopf hoch, und er fixiert Maximilian, einem zum Angriff bereiten Raubtier gleich. »Wer als Erster von uns beiden stirbt, wird die nächste Zukunft zeigen. Deine Stunden sind gezählt, Rystar Maksim. Ich meine es nur gut mit dir, wenn ich dir rate, umzukehren und das Richtige zu tun. Noch atmest du!«, sagt er kalt, wischt mit seinem Zeigefinger über seine blutige Augenbraue und malt im Vorübergehen ein kleines rotes Kreuz auf Kovanics Hemd. Dann schreitet er durchs Tor hinaus in Richtung des Parkplatzes.
»Halt!«, rufe ich. »Jetzt kommt doch gleich das Brautstehlen dran!«
Noch während ich es sage, merke ich, wie idiotisch meine Bemerkung ist. Als würde es Ferdinand irgendetwas bedeuten, dass sich die Leute bei lustigen Spielen einen Schnaps nach dem anderen in die Kehle kippen. Er hat offensichtlich andere Probleme, die ihn beschäftigen. Probleme, von denen ich gar nichts wissen will.
Doch auch Sepp kann es nicht wesentlich besser als ich. »Ferdl, warte! Bleib hier! Wo willst du denn jetzt noch hin?«, ruft er ihm nach und macht dann Anstalten, seinem Bruder zu folgen.
Ich halte ihn zurück. »Sepp, nein. Bitte, nicht heute. Die Feier soll doch ohne weitere Vorkommnisse ablaufen, oder?«
Sepp sieht mich hilfesuchend an. Dann stößt er einen lautlosen Fluch aus und richtet sein Wort an Maximilian. »Was ist denn los zwischen euch beiden? Die Stadt müsste doch groß genug sein, um zwei große Betriebe gut am Laufen zu halten. Und außerdem, müsst ihr wirklich eure Arbeitsangelegenheiten auf meiner Hochzeit regeln?«
Sepp klingt so wütend und gekränkt, wie ich ihn nur selten gehört habe.
Doch Kovanic zuckt nur die Achseln. »Das verstehst du nicht. Du nie einer von uns. Du nie unsere Sorgen. Ich brauch einen Wodka, und dann fahre ich. Ferdinand hat nur gewartet, dass mein Freund Milan weggefahren ist. Ferdl ist ein feiger Schweinehund.«
»Aber«, wirft Sepp ein, verstummt jedoch, als Maximilian entschuldigend die Hände hebt.
»Hätte ich nicht kommen sollen? Wollte dir eine Freude machen. Aber war Fehler. Hier ich falsch am Platz. Zeit zu gehen!«, meint Maximilian und stapft in Richtung Terrasse.
Daniela und Kurt marschieren ebenfalls zurück zum Fest. Ich aber kann mich noch nicht wieder ins Getümmel stürzen. Auch Sepp bleibt im Schatten des alten Turms stehen und schüttelt stumm den Kopf.
Erschöpft lasse ich mich mit dem Rücken gegen die Turmmauer sinken und balle die Hände. Was hab ich nur an mir, dass sich um mich herum stets Unwetter zusammenbrauen? Zornig klopfe ich mit den Fäusten gegen die Steine hinter mir.
Es kracht. Mein Herz macht vor Schreck einen Extraschlag, und ich verschlucke mich. Schon hält Sepp mich fest und zieht mich einen Schritt aus dem Torbogen hervor. Eine heftige Windböe erfasst mich und drückt mich an ihn. Ich blicke nach oben. Wo eben noch weiße Wolken am blauen Sommerhimmel harmlos ihre Bahnen zogen, türmt sich nun ein schwarzes Ungetüm zusammen. Schon flattern zusammengeknüllte Papierservietten durch die Luft. Verdattert atme ich tief ein.
»Jetzt kommt das befürchtete Unwetter wohl doch in unsere Gegend«, bemerkt Sepp.
»So schnell?«, rufe ich gegen den Wind an.
»Deine Entführung muss wohl warten«, sagt Sepp und deutet mit dem Kinn in Richtung der umhertaumelnden Gäste. Lautes, hektisches Rufen kommt in abgehackten Tönen durch die Luft geflogen.
»Alle rein!«, vernehme ich zwischen dem Gekreische Kurt. Ich raffe meinen Rock und drücke mich noch fester gegen Sepp. Schon peitscht der Regen auf uns herab. Wir können uns kaum halten. Mein Brautstrauß liegt zerdrückt auf dem Boden, und ich schaffe es nicht einmal, mich zu bücken und ihn vor dem Unwetter zu retten, so zerrt Sepp mich in Richtung der Burgschänke. Als wir die Tür erreichen, sind alle Gäste, die noch nicht abgereist sind, bereits drinnen. Die Sirenen heulen los. Schnell schließt Sepp die Tür hinter uns. Wir sind im Trockenen. In Sicherheit. Draußen bricht gerade die Hölle los.
So heiß der Spätnachmittag auch war, so kalt und gewaltig donnern nun Wassermassen vom Himmel und kühlen die Luft innerhalb von Minuten ab. Selbst im Inneren des gemütlichen Wirtshauses meine ich zu spüren, wie die Kälte in meine Knochen vordringt. Am schlimmsten aber ist die plötzlich einsetzende Finsternis, die das Land verschlingt. Orkanartige Böen fegen über die Terrasse. Die Wirtsleute und Angestellten haben keine Zeit gehabt, die Stühle, Hussen und Tische in Sicherheit zu bringen. Nun wirbeln Stoffbahnen in der Luft, Tische kippen um, und Stühle poltern durcheinander.
»Der Weltuntergang kann nicht schlimmer aussehen«, meint Daniela neben mir. Auch sie starrt gebannt nach draußen. Ich schüttle fassungslos den Kopf. Sirenengeheul zerschneidet die Luft und übertönt zeitweise das Toben des Unwetters. »Jetzt fällt gleich der Strom aus«, prophezeit Sepp auf meiner anderen Seite. Schon flackert das Deckenlicht.
Ich schaue Sepp böse an. »Musst du immer den Teufel an die Wand malen?«, frage ich.
Er zuckt die Schultern. Das Licht erlischt. Nun stehen wir im Dunkeln.
»Na bravo«, höre ich den Wimmer jammern. »Jetzt sitzen wir hier fest, und weder der Sepp noch der Kurt müssen Scheitlknien!«
»Dafür ist es kuschelig«, antwortet Herta ihrem Mann und fügt lachend »Genau, komm und schenk mir ein Busserl« hinzu.
Ich drehe mich um, weil ich die Stimme zuerst nicht zuordnen kann. Es ist so schrecklich dunkel. Ich verenge angestrengt die Augen zu Schlitzen. Endlich kommt wie ein rettender Engel der Wirt mit ein paar brennenden Kerzen in die Stube. Hinter ihm gehen seine Frau und die Kellnerin. Sie haben Wein und Krüge mitgebracht. Weit kommen die drei aber nicht. Hubert hält sie auf. »Das Flascherl nehm ich gleich mal an mich«, meint er erstaunlich nüchtern, »meine beiden Herzensdamen brauchen etwas zur Beruhigung in diesen stürmischen Zeiten.«
Bereitwillig überlässt die Wirtin ihm das Geforderte und marschiert weiter in unsere Richtung. Der Gastwirt stellt Kerzen auf jeden Tisch. Nun erkenne ich auch die zweite Frau an Wimmers Seite. Es ist die Tierärztin. Eng aneinandergekuschelt sitzen sie da und schauen nicht halb so unglücklich aus, wie ich mich gerade fühle.
»Schlimm ist es dieses Jahr mit den Gewittern«, sagt die Wirtin und überreicht Sepp die Flasche. »Mei, es tut mir so leid, dass eure Hochzeit in dem Sturm untergeht. Aber ich bring dann gleich mal die Gulaschsuppe und das Brot in die Stubn. Des is eh alles schon schön heiß. Verhungern und verdursten muss mir hier keina! Und fürs Brautstehlen könnts a gern ins Nebenzimmer gehen. Zwoa Holzscheitln find ma hier gwiss für die Mannsbüder zum Niedaknian«, sagt sie fröhlich zwinkernd.
»Danke. Vielleicht beruhigt sich das Wetter ja schnell wieder«, erwidere ich hoffnungsvoll.
Sie zuckt lapidar die Schultern. »Beim letzten Mal hots drei Tog dauert, bis alles zusammengeräumt war und des Kraftwerk wieder in Normalbetrieb gegangen is. Aber hoffn kann man ja«, meint sie und geht zum nächsten Tisch.
Sepp öffnet die Weinflasche und schenkt uns allen ein. »Setzen wir uns doch. Vom Herumstehen wird die Sonne auch nicht schneller wiederkehren«, schlägt er vor.
Ein letztes Mal gucke ich nach draußen. Ein Ast, dick und lang wie ein kleiner Obstbaum, fegt gerade über die Terrasse und reißt einen Mistkübel mit sich. Papier und Unrat flattern durch die Luft. Es scheint sogar noch dunkler zu werden, so dicht türmen sich die pechschwarzen Gewitterwolken am Himmel. Ich gebe mich geschlagen und setze mich mit meinen Lieben an einen Tisch.
Wenn es nicht derart abscheulich donnern und blitzen würde, dann wäre es im Kerzenschein mit Rotwein, Schusterlaibchen und Gulaschsuppe beinahe romantisch. Aber immer wenn ich gerade beginne, mich etwas zu entspannen, und in die Unterhaltung mit Kurt und Dani eintauche, tut es vor dem Haus wieder einen gewaltigen Knall.
Dieses Mal zuckt sogar Sepp zusammen. »Hoffentlich ist Ferdl nicht in das Unwetter hineingefahren. Hat es nicht vor drei Wochen eine Frau aus der Gegend im Auto eingeklemmt, als ein Ast runterfiel?«, fragt er bang.
Ich nicke. So schlimm wie diesen Sommer habe ich keinen meiner bisher erlebten in Erinnerung. Auch in meiner Kindheit gab es Sommergewitter, und wir haben uns in der Stube rund um eine schwarze Gewitterkerze aus Altötting versammelt und das Vaterunser gebetet … Doch dieses Jahr bricht alle Rekorde. Selbst die gestandenen Feuerwehrmänner unserer Ortschaft kämpfen seit dem letzten Sturm mit der Verzweiflung, weil weder genug Pumpen für die überfluteten Keller noch genügend Sandsäcke für das Bauen von Wasserbarrieren oder Planen für die zerhagelten und abgedeckten Dächer zur Verfügung stehen. Es fehlt an Mann und Material.
Sanft berühre ich Sepp am Arm. »Ruf ihn doch noch mal an. Es ist nun schon egal, ob er vier oder fünf verpasste Anrufe auf der Mobilbox hat«, schlag ich vor.
In der letzten Stunde hat er es einige Male probiert, und zuletzt hatte die Verbindung aufgegeben.
Sepp brummt zustimmend und fischt sein Handy hervor. Zum Glück hat er wieder ein funktionierendes Netz, und es läutet diesmal in der Leitung. Hoffnungsvoll springt er auf und lässt sich dann wieder deprimiert auf den Stuhl sinken. »Ferdl, es wettert wirklich schlimm draußen. Melde dich bitte. Ich bin in Sorge«, sagt er ins Handy und legt dann auf.
»Er ruft zurück«, tröste ich ihn.
Sepp presst die Lippen zu einem schiefen Strich und atmet schwer durch die Nase aus. »Ferdl war immer schon ein Hitzkopf und Sturschädel. Wahrscheinlich muss er seinen Zorn erst irgendwo abreagieren und gibt dann Bescheid, dass es ihm gut geht«, sagt er schließlich und nimmt einen großen Schluck Wein aus dem Glas.
»Ist das jetzt a Hochzeit oder a Beerdigung?«, ruft Wimmer durch den Raum, gerade in dem Moment, in dem ich Sepp antworten möchte.
»Eine Hochzeit!«, schreit Daniela zurück und hebt ihr Glas.
Schon beginnen alle Gäste sich zuzuprosten, und Hubert stimmt ein eindeutig zweideutiges Gstanzl an, worauf alle mitjohlen. Stimmung machen kann er, der Hubert, denke ich mir und falle in das allgemeine Geschrei mit ein.
Zwei Strophen später zupft Herta mich am Ärmel. »Kommt mit. Zeit, deinen Sepp und den Kurt zu prüfen, ob sie eurer auch wert sind«, sagt Huberts Frau.
Daniela nickt begeistert, und auch in mir steigt eine leise Freude auf. Bei dem Gedanken, Sepp auf dem Holzscheit knien und diverse Aufgaben lösen zu sehen, muss ich grinsen. Es wird bestimmt lustig. Ich lasse mich von Herta mitziehen. Still und heimlich stehlen wir uns davon. Ich weiß, was mich erwartet. Schon einmal war ich die entführte Braut. Schon einmal hat ein verkleideter und bis über beide Ohren verliebter Mann mich zurückerobert. Doch eines weiß ich mit Bestimmtheit. Sepp wird jeden Spaß mitmachen, und ich werde es diesmal in vollen Zügen genießen. Bei meiner ersten Heirat war ich zu nervös und zu jung. Dieses Mal werde ich es krachen lassen. Genauso laut wie der Donner vor dem Haus.
Die Nacht verlief anders als geplant. Nachdem weit nach Mitternacht der Sturm endlich abgezogen war, konnte kein Gast mehr vom Gelände weg. Die Straße war gesperrt. Und so verbrachten alle verbliebenen Gäste die Nacht auf der Burg. Glücklicherweise gab es für Dani, Kurt und den kleinen Joachim ein eigenes Zimmer. Auch Sepp und ich sind zusammen untergekommen. Doch die Feiernden, die kein Zimmer ergattern konnten, zechten zum Teil die Nacht lautstark durch, zum Teil schliefen sie die Stunden bis zum Morgengrauen in ihren Autos.
Müde und verkatert richte ich mich im Bett auf und blicke nach draußen. Blau und friedlich spannt sich der Himmel über uns.
»Schon wach?«, fragt Sepp heiser neben mir.
Ich wende mich ihm zu und drücke meine Lippen auf seine. Der Geschmack von altem Wein und Zigarren hängt auf seinem Mund. Er stöhnt leise und greift sich an den Kopf. Anscheinend war das gestrige Brautstehlen etwas zu viel für seinen Körper. »Es ist sonnig und ruhig draußen. Die Leute werden sich bald auf den Weg nach Hause machen, und dann sind wir alleine auf der Burg«, sag ich und deute mit dem Kinn zum Fenster.
Er grinst schief. »Soll das heißen, du forderst mich dazu heraus, mein Eheversprechen einzulösen?«
»Eher nicht. Die Hochzeitsnacht hab ich mir zwar anders vorgestellt, aber jetzt knurrt mir vor allem der Magen, und ich wollte dich dazu anstiften, mir schnell etwas zum Essen zu besorgen. Ich möchte zumindest ein paar meiner Gäste persönlich verabschieden, und wenn ich groß frühstücken gehe, dann sind die meisten schon weggefahren.«
Sepp brummt und schwingt seine Beine vors Bett. Wieder entfleucht ihm ein leises Seufzen, und er verzieht das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. »Gute Idee«, sagt er leise, »vielleicht finde ich auch einen guten Burggeist, der eine Aspirin für mich hat.«
Sepp greift sich seine Hose und das Jackett. Mit fahrigen Bewegungen zieht er sich an. Ich muss kichern. Fragend dreht er sich um. »Tut mir leid. Ich dachte, ich würde schon alle Seiten von dir kennen. Doch verkatert hab ich dich noch nie erlebt«, entschuldige ich mich.
Er ruckt nur das Kinn hoch. »Wenn du alles von mir wüsstest, würde das eine sehr langweilige Ehe werden, mein Röschen. Bis gleich. Ich bring dir dein Frühstück.«
Ich winke ihm zu, und er eilt nach draußen. Schnell stehe nun auch ich auf und zwänge mich wieder in mein Dirndl. Dann öffne ich das Fenster und lehne mich nach draußen. Schon jetzt schlägt mir warme Luft entgegen. Das wird wieder ein heißer Sommertag. Hoffentlich braut sich nicht erneut ein Unwetter zusammen. Die Verwüstung der letzten Nacht ist unverkennbar. Überall liegen Äste, Blätter und Unrat herum.
»Guten Morgen, Frau Rosi«, schreit mir die Wirtin von unten entgegen. Sie schultert bereits einen gut gefüllten schwarzen Müllsack.
»Guten Morgen. Viel aufzuräumen!«, rufe ich zurück.
»Macht nichts. Solang die Schindeln am Dach bleiben und uns kein Baum trifft, ist alles halb so schlimm. Das Kraftwerk ist auch heil geblieben! Es ist sogar viel harmloser als beim vorigen Unwetter. Wir sind alle heil davongekommen«, plärrt sie fröhlich.
Ich nicke. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch nach so einer Nacht derart froh gestimmt und ausgeruht aussehen kann. Die gute Frau muss einen Jungbrunnen besitzen. Schwungvoll befördert sie eine zerfetzte Zeitung in ihren Sack und stellt im nächsten Moment einen umgefallenen Blumentopf auf. Ich schnüre mir angestrengt das Mieder, als Sepp zur Tür hereinschneit. Auf einem Tablett balanciert er eine Kanne Kaffee, etwas Hochzeitstorte, Schwarzbrot und Butter. Auch ein Stückchen Hartwurst und Bergkäse kann ich erkennen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Es ist eine Eigenart von mir, dass ich nach alkoholgetränkten Abenden am nächsten Morgen einen Bärenhunger habe.
»Hier, mein Schatz«, sagt Sepp und stellt die Köstlichkeiten auf den kleinen Tisch. »Ich hab unten Donna Ludmilla getroffen. Sie und meine ehemaligen Kollegen haben es eilig und können nicht auf dich warten. Sie brechen bereits auf. Aber die Wimmers hab ich dazu überredet, mit uns noch einen Spaziergang zum Staudamm zu unternehmen. Man hört das Tosen des Wassers bis zur Haustür rein!« Sepp beißt beim Schwarzbrotscherzl ab.
»Das ist gut. Vielleicht wollen uns Dani und Kurt begleiten?« Ich nehme mir auch ein Brot.
Die Sonnenstrahlen fallen warm durchs Fenster. Ich seufze zufrieden. Wenigstens der Morgen verspricht mir eine sonnige Ehe mit Sepp.
Wir stehen unten auf dem Parkplatz und winken dem Bauern Hias in seinem verrosteten BMW hinterher. Die Straße nach oben ins Dorf ist wieder freigeräumt, und die Leute haben sich allesamt zügig auf den Weg nach Hause gemacht.
»Bibim, bibim«, schallt es aus Sepps Hosentasche. »Geschafft. Fast alle sind weg«, sagt er und zieht sein Handy heraus. Mit einem Wisch öffnet er WhatsApp und stößt sogleich einen erleichterten Seufzer aus. »Ferdl geht es gut. Er ist in Salzburg und entschuldigt sich für sein Benehmen.«
Ich brumme misslaunig. »Hauptsache, ihm ist nichts geschehen. Aber nimm es mir nicht übel. Ich will ihn am nächsten Sonntag nicht bei mir am Mittagstisch sitzen und Bratl essen sehen. So ein Verhalten, wie er es an den Tag gelegt hat, gehört sich einfach nicht.«
Sepp nickt. »Apropos Verhalten. Schau mal, wer da wieder in ehelicher Zweisamkeit unschuldig herumspaziert.«
Er deutet in Richtung des Flusses. Tatsächlich. Händchenhaltend schlendern Hubert und Herta zum Kraftwerk hinunter. Von Dr. Schreiner fehlt jede Spur. »Ich will auch nachschauen, wie der Inn wütet«, sage ich und ziehe Sepp mit mir. Dieser wehrt sich nicht und ergreift willig meine Hand.
Etliche umgeknickte Bäume säumen unseren Weg hinüber zur Staudammbrücke. Ich schlucke, als ich die Wassermassen nach oben preschen sehe. Es sieht beängstigend aus. Obwohl die Feuerwehr die Straße durch das Wäldchen gesperrt hat, stehen hier keine Warnschilder. Herta und Hubert haben ein paar Schritte vor der Mauer, die gleichzeitig eine Brücke hinüber nach Deutschland ist, haltgemacht.
»Ziemlich grausig.« Ich zeige auf die meterhohen Wellen, die aus den Turbinen rauschen. Das Wasser schnalzt mit unglaublicher Wucht gegen die Mauer.
»Lasst uns rübergehen, bevor die Feuerwehr oder die Kraftwerkbetreiber die Brücke sperren«, meint der Wimmer und greift damit meinen Gedanken von vorhin auf.
Herta schüttelt den Kopf. Sie ist ganz grün im Gesicht, und auch mir schnürt es die Kehle zu. Hubert aber schnappt einfach seine Frau am Ellenbogen und schleppt sie mit sich. Herta trottet mit.
»Willst du auch?«, fragt Sepp mich.
Ich zucke mit den Schultern. Es ist reizvoll, über den Damm zu wandern. Es fühlt sich an wie Gefahr, obwohl es eigentlich keine ist. Das Unwetter ist längst vorbei und der Höchststand erreicht. Die Flut kann nur mehr zurückgehen, und wenn die Brücke unsicher wäre, dann hätte man sie abgeriegelt. Andererseits hat man die Zufahrt zur Burg und zum Kraftwerk weiter oben gesperrt. Nur wir, die wir bereits am Fluss waren, sind noch hier.
Da dreht Herta sich um und winkt uns, nachzukommen.
»Was soll schon geschehen?«, sag ich und setze den Fuß auf die Mauer.
Das Donnern und Dröhnen ist so laut, dass ich außer den Wassermassen nichts mehr hören kann. Doch mit jedem Meter, den wir uns weiter nach vorne wagen, schrumpft auch meine Angst. Das Kribbeln im Magen lässt nach, und ich greife fest Sepps Hand. Dankbar schaue ich ihn an. Alle Liebe lege ich in meinen Händedruck, und ich hoffe, er spürt, wie froh ich bin, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben. Mit Sepp kann ich mich jeder Gefahr stellen und jeden noch so Furcht einflößenden Pfad bewandern. Doch statt meinen warmen Druck zu erwidern, zieht er plötzlich an meinem Arm. »Spinnt der total?«, glaube ich ihn rufen zu hören. Ich sehe zu den anderen und verstehe sofort, warum Sepp es auf einmal so eilig hat. Am Ende der Brücke lehnt sich der Wimmer bedenklich weit nach vorne und gestikuliert wild herum. Herta wirft zwei Schritte hinter ihrem Mann die Arme in die Luft und krümmt sich plötzlich. Dann fällt sie auf die Knie und beginnt zu würgen. Sepp lässt mich los und rennt. Ich haste ihm nach. Sepp greift nach Wimmer und reißt ihn zurück. Ich komme vor Herta zu stehen und weiche mit einem kleinen Schritt gerade noch rechtzeitig zur Seite. Sie erbricht einen gewaltigen Schwall gelb-roter Schleimbrühe vor meine Füße. Als sie ihren Mageninhalt los ist, blickt sie verzweifelt zu mir hoch. Was ist passiert?, probiere ich mit Gesten zu sagen. Herta deutet zum Wasser.
Ich wende mich um und erblicke nun Sepp, der sich wie eben zuvor der Wimmer über die Brüstung beugt und ins Wasser starrt. Hubert hockt am Boden. Ich trete zu Sepp und berühre sacht seine Schulter, um ihn nicht zu erschrecken. Er dreht sich um, und ich lese in seinem gischtnassen Gesicht Verwunderung und Grauen. »Kurt«, formen seine Lippen. Ich schüttle ahnungslos den Kopf und beuge mich nun ebenfalls nach vorne. Sepp hält mich fest. Ich blinzle und brauche etliche Sekunden, um zu erfassen, welch abstruses Bild sich mir darbietet. Zum Glück weiß ich aus meiner Erinnerung, was ich eigentlich hier sehen sollte. Eine Fischtreppe. Sanftes, seichtes Wasser und Steinstufen, über die sich die Tiere vor dem todbringenden Kraftwerk retten können. Doch unter mir ist nur tosendes Wasser, und dort, wo eigentlich der Rettungsgang für die Forellen und Huchen sein sollte, blitzt etwas silbern auf. Zuerst halte ich es für eine Ansammlung von Blech, doch dann setzt sich das Puzzle zusammen. Eine Ritterrüstung. Eine fast vollständige Ritterrüstung. Ich lehne mich noch etwas weiter vor und presse die Lider gegen den Sprühregen zusammen. Wurde etwa die Ritterrüstung, die eigentlich an der Burgmauer lehnt, vom Wind weggeweht und in den Inn geschleudert? Verbissen versuche ich mich zu erinnern, ob die Rüstung noch an der Wand stand, als ich vorhin daran vorbeigegangen bin. Doch es fällt mir nicht ein. Ich habe schlicht nicht darauf geachtet.
Ein Schwall feiner Wassertropfen landet auf meinem Gesicht. Schnell wische ich mir die Augen trocken und blinzle gegen den Gischtnebel. Da! Ein Arm der Rüstung fehlt, und stattdessen meine ich, die zerfetzte Hand eines Menschen zu sehen. Eine Leiche? Sicher bin ich mir nicht. Viel zu schnell schwappt das Wasser, obwohl es hier am Rand weniger schlimm ist als mitten auf dem Damm. Meine Gedanken kreisen. Ich habe bereits Schlimmes gesehen und schrecklich zugerichtete Leichen vor Augen gehabt. Doch irgendwie bin ich mir sicher, dass die silberne Rüstung am Rand der Flut einen grausigen Inhalt birgt. Und offenbar sind die Wimmers derselben Meinung, sonst hätten sie nie so stark auf den Ritter im Inn reagiert. Ich lasse mich zurückfallen.
»Kurt«, sage nun auch ich, obwohl ich weiß, dass mich niemand hören kann. Sepp hat recht. Mein Schwiegersohn samt Bergungsmannschaft und Kollegenteam ist gefragt. Wir brauchen Kurt. Und das so kurz nach seiner Hochzeit. Ich wende mich Hubert und Herta zu und versuche, den beiden mit Armen und Beinen begreiflich zu machen, dass wir schnellstmöglich zurück zur anderen Seite müssen. Doch die beiden Wimmersleute hocken nur wie erstarrt am Boden und starren ins Leere. Ich schnappe mir Helga und Sepp sich den Hubert. Mit vereinten Kräften schleifen wir die zwei zurück.
A schene Leich
Rosis Entwässerungstee
1 Tasse mit jungen Brennnesseln, jungen Löwenzahnblättern und Petersilie füllen, mit 500 ml heißem Wasser übergießen und 4 Minuten ziehen lassen. Kräuter abseihen. Kann auch kalt mit Zitrone, Honig oder Kandiszucker getrunken werden.
Kurt ist nicht zu beneiden. Tropfnass von der Bergung und vom Schweiß steht er vor der aufgebrachten Gerichtsmedizinerin. »Ihr habt mit eurem rüpelhaften Vorgehen bestimmt alle Beweise ruiniert, die das Wasser noch übrig gelassen hat. Welcher Idiot ist nur auf die Idee gekommen, die Leiche mit Hilfe der Holzzange eines Baggers rauszuholen? Ihr habt ihn zerquetscht, verdammt noch mal!«, keift Frau Dr. Rötel und wird dabei so rot im Gesicht, wie ihr Name sagt.
»Wir sind froh, dass wir ihn überhaupt an Land haben, Frau Doktor. Sehen Sie sich mal um. Ich riskier sicher nicht das Leben meiner Mitarbeiter, um vielleicht nur eine Requisite aus dem Wasser zu ziehen. Keiner konnte bis vor der Bergung fix beschwören, dass es sich um eine Leiche handelt.«
»Aber euer Baggerfahrer war kein Profi. So wie er die Rüstung gepackt und zermalmt hat. Das könnte mein vierjähriger Neffe besser, der nur am Spielplatz mit dem Sandkastenbagger übt!«, blafft sie weiter.
»Jetzt ist es eh zu spät. Wir sind froh, dass unsere Kollegin Ute mit ihrem Bagger nicht mitgerissen wurde. Die verdammte Ritterrüstung war mit einer Kette am Untergrund befestigt. Wir vermuten, dass am Ende eine Kanonenkugel oder etwas Ähnliches hing, das sich in der Fischtreppe verkeilt hatte. Die Kette ist zum Glück abgerissen, und wir haben den Toten freibekommen. Ansonsten hätten die Wassermassen ihn total aufgearbeitet. Der Pegel könnte immerhin noch steigen, wenn das Wasser von den Gebirgen erst hier ankommt oder es erneut ein Unwetter gibt. Bei der derzeitigen Wetterlage weiß man nie …«
Die Rötel hebt die Hände wie zur Abwehr. Mehr als diese Geste der Versöhnung schafft die gute Frau nicht. »Gut, dann will ich mir die schöne Leiche mal ansehen. Aber nicht, dass es im Nachhinein dann heißt, ich hätte nicht sachgemäß gearbeitet. Das hier ist auf eurem Mist gewachsen«, meint sie und vollführt dabei eine ausladende Handbewegung. Endlich lässt sie von Kurt ab und geht zur ziemlich zerbeulten Rüstung.
Kurt verdreht die Augen.
»Mach dir nichts draus«, tröste ich ihn. »Es hätte keine andere Möglichkeit gegeben, den Toten aus dem Wasser zu bekommen.«
»Auf jeden Fall nicht in der Kürze der Zeit«, antwortet er und zuckt mit dem Kinn hinauf, wo Frau Rötel bereits damit begonnen hat, um die Leiche herumzustapfen. »Wie sehr ich unsere alte, marillenkrapfensüchtige Pathologin vermisse. Schade, dass man mir so einen Drachen wie die Rötel vorgesetzt hat. Jede Besprechung in der Rechtsmedizin ist ein wahrer Spießrutenlauf. Aber leider Gottes ist sie gut. Hören wir uns an, was sie zu sagen hat.«
»Außerdem will ich wissen, wer hinter dem Visier steckt. Im Weissagen aus der Hand bin ich nämlich ziemlich schlecht«, scherze ich halb. Kurt grinst schief. Er sieht mitgenommen aus. Letzte Nacht war er noch als tanzender und freudestrahlender Bräutigam auf dem Parkett gestanden, doch dieser Morgen hat ihm das frische Eheleben versaut. Als sich herauskristallisierte, dass es sich bei der im Wasser treibenden Rüstung tatsächlich um einen Toten handeln könnte, ist Kurt schnell entschlossen ans Werk gegangen. Er hat verschiedene Optionen durchdacht, wie die Leiche zu bergen wäre. Einzig der Bagger ist als realisierbar übrig geblieben. Dass die Baggerzange das Brustschild der Rüstung eingedrückt hat, war den widrigen Arbeitsbedingungen geschuldet. Alle im Team haben ihr Bestes gegeben. Und nun liegt oben am Weg hinter der Böschung eine Rüstung samt unappetitlichem Inhalt.