Kräuterrosi und ihr Bumshüttensepp - Doris Fürk-Hochradl - E-Book

Kräuterrosi und ihr Bumshüttensepp E-Book

Doris Fürk-Hochradl

4,9

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Als im Wallfahrtsort Maria Schmolln eine junge Frau ermordet wird, ist wieder einmal Kräuterrosis Spürsinn gefragt. Die detektivische Kräuterhexe legt Pflanzenbüschel und Schmalzsalbe zur Seite und macht sich mit Klosterschwester Klara auf die Suche nach der Wahrheit. Als fanatische Konservative rund um Pater Boris in den Fokus der Ermittlungen rücken, ahnt Rosi nicht, dass ihr eigenes Leben in Gefahr ist.

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Seitenzahl: 390

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Doris Fürk-Hochradl wurde 1981 in Braunau am Inn geboren. Sie lebt mit ihrer Familie in Eggelsberg, arbeitet als Lehrerin an einer Grundschule und schreibt seit gut fünf Jahren Regionalkrimis und Jugendbücher. Sie malt, musiziert und kocht mit Leidenschaft, und auch die Kräuterheilkunde ist ihr nicht fremd. Mit »Kräuterrosi, ledig, sucht

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Grethe Ulgjell/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-096-6 Originalausgabe

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Für meine wunderbaren Kinder Paul, Larissa und Luki. Ohne euch wäre dieses Buch schon ein Jahr früher fertig geworden, aber jeder Augenblick mit euch ist tausend Schreibmomente wert. Hab euch lieb.

Neue Liebe– neues Leben

Abhilfe bei Verstopfung

Milchzucker regt die Darmtätigkeit an. Naturtrüber, nicht pasteurisierter Apfelsaft löst so manchen Klumpen. Viel trinken hilft auch. Außerdem empfehlenswert: ein Esslöffel Leinsamen oder ersatzweise Flohsamen am Vorabend eingeweicht und am Morgen eingenommen.

Manche Dinge ändern sich und andere eben nie. Diese Weisheit ist genauso wahr wie die Tatsache, dass Ferkelbauer Hias erneut mit einem Minischwein in meiner Stube steht und um Hilfe bittet. Nur dass er diesmal nicht allein, sondern mit Zenzi als Verstärkung angerückt ist. Die beiden haben sich nach all den Turbulenzen der vergangenen Monate gefunden wie ich den Sepp, mein Sohn Raphael seine Kalina und meine Tochter Daniela ihren Kurt. Es war ein mörderischer Sommer, aber auch einer der Liebe.

Ich schmunzle in mich hinein und hole mein Mittel gegen Verstopfung aus der Kommode. Das Ferkelchen kann nicht, obwohl es dringend einmal müsste. Ganz gequält guckt es mich mit seinen Schweinsäuglein an.

»Wie jetzt? A Milli-Pulver?«

Ich lächle und nicke. »Ja, richte dem Ferkel ein Babyfläschchen her, aber gib noch extra Milchzucker hinein, dann erledigt sich das Problem ganz schnell. Das hat noch jedem Baby geholfen, also wirkt es bei deinem Ferkel allemal.« Ich reiche ihm noch die Packung Milchzucker.

Hias zieht die Augenbrauen hoch und presst die Lippen aufeinander.

»Die Rosi hat bestimmt recht, Hias. Komm, wir lassen sie jetzt allein. Sie will bestimmt den letzten Abend mit ihrem Liebsten in Ruhe verbringen, bevor dieser ins Rampenlicht muss. Wir sind ja alle schon so gespannt. Du und der Sepp, ihr werdet richtige Fernsehstars! Ich bin ehrlich stolz, dich zu kennen, Rosi«, sagt Zenzi und strahlt mich an wie eine Hundert-Watt-Glühbirne kurz vor dem Durchbrennen.

»Ja, ja«, seufze ich. Mir ist die ganze Angelegenheit mehr peinlich, als dass ich mich darüber freuen könnte. Glücklicherweise konnte ich den Fernsehsender davon überzeugen, dass ich die absolut Falsche für ihre Sendung bin. Sepp kann sich bestimmt viel besser vor der Kamera präsentieren als ich. Außerdem ist er der Profi in diesem Gewerbe, ich bleibe da viel lieber bei meinen Kräutern.

»Stimmt es, dass der Sepp in ganz Österreich Bordelle–«

Ich winke ab, bevor Zenzi weiterfragt. »Vorerst will der Sender einfach drei Probesendungen drehen und dann schauen, wie das Format bei den Zuschauern ankommt.«

Zenzi schüttelt ungläubig den Kopf. »Und das alles habt ihr der Gitti zu verdanken. Wie sie nur immer an diese Kontakte kommt? Gitti ist eine Wucht.«

»Mmh. Die liebe Gitti. Sie ist schon etwas ganz Besonderes«, sage ich und dränge Hias und Zenzi leicht in Richtung Ausgang.

Langsam beschleicht mich der Verdacht, dass die beiden gar kein Problem mit dem Ferkel haben, sondern vielmehr selbst mit einer Krankheit namens Neugierde geschlagen sind.

»Erzählst du uns, wie es war?«, fragt Zenzi beim Hinausgehen.

»Da müsst ihr den Sepp fragen. Ich habe mich geweigert, ins Fernsehen zu gehen. Mir reicht meine Stube«, sage ich und schließe die Tür hinter den beiden, bevor sie mich weiter mit Fragen durchlöchern können.

Endlich Ruhe. Gemächlich gehe ich zur nagelneuen Kaffeemaschine. Raphael und Kalina haben zur Hochzeit zwei dieser Kapselmaschinen geschenkt bekommen, und nun steht eine davon neben meiner alten Filtermaschine. Wenn ich allein bin und gerade kein besonderes Bedürfnis nach einem Kopi Luwak oder einer Meinl-Spezialröstung habe, dann drücke ich schon mal auf die Taste und lasse mir eine Kapsel in die Tasse. Es ist beeindruckend, welch intensiven Duft die kleinen bunten Aluminiumdinger verbreiten. Den Preis pro Kaffee darf ich mir freilich nicht ausrechnen, sonst lasse ich mich lieber von Sepp nach Salzburg kutschieren und genieße im Sacher an der Salzach einen Espresso mit einem ordentlichen Stück Torte als Draufgabe.

Ich höre, wie sich die Tür öffnet, und schon am Drücken der Klinke erkenne ich, dass es Sepp ist. Sein Geruch begleitet ihn und vermischt sich mit dem Kaffeeduft in der Stube. Mir wird warm, und mein Puls rattert schneller als sonst.

Schon seltsam, wie rasch ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt habe. Der Gedanke, dass er jetzt zwei Wochen in Wien sein wird, um für das österreichische Privatfernsehen Bordelle auf Vordermann zu bringen, versetzt mir einen Stich ins Herz.

Ich drehe mich um.

Sepp lächelt schief. »Und, viele Hilfesuchende gehabt?«, fragt er leise und streckt seine Hand aus, um mich sanft an der Wange zu streicheln.

»Nein, nur der Hias mit der Zenzi. Ich glaube aber, sie wollten eigentlich zu dir, du Fernsehstar.«

Sepp lacht und atmet tief ein. »Dass ich einmal bei einem Format wie ›Pimp my Puff‹ mitmache, habe ich mir auch nie träumen lassen. Und du willst mich wirklich nicht begleiten? Du müsstest auch gar nicht vor die Kamera…«, sagt er und legt den Kopf schief.

Er sieht mich bittend an. Viele Stunden haben wir darüber gesprochen, und er hat nichts unversucht gelassen, mich umzustimmen, aber ich bin meiner Entscheidung treu geblieben.

»Nein, mein Lieber. Du machst das schön allein. Immerhin hättest auch du Nein sagen können.«

»Bei deiner Freundin Gitti?«

Ich kichere und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Dann dränge ich mich vorbei und setze mich mit meiner wohlverdienten Tasse Kaffee an den Tisch.

»Stimmt, Gitti etwas abzuschlagen ist schwierig. Ich hab es auch nie geschafft. Aber dass sie ausgerechnet in der Türkei den Chef des Fernsehsenders kennenlernt und dann auch noch frei von der Leber weg von dir und mir erzählt, ist selbst für sie ein starkes Stück.«

Sepp macht sich auch eine Tasse Kaffee und setzt sich zu mir.

»Ja, vielleicht hätten doch wir beide den Urlaub antreten sollen. Uns wäre das nicht passiert. Aber du musstest ja Alfons dazu überreden, mit Gitti zu fliegen.«

»Ihrer Ehe hat es gutgetan. Seit der Türkei ist Gitti viel zufriedener, und auch Alfons lässt sich hin und wieder im Dorf blicken. Der alte Griesgram war die letzten Jahre nur noch auf der Couch zu finden. Die Rente bekommt eben nicht jedem.« Ich grinse Sepp an.

Auch er tut sich schwer damit, seine Finger von den Geschäften zu lassen. Vielleicht ist die Sendung genau das, was er braucht, um endgültig mit dem Herzkasterl abzuschließen und die Zukunft des Bordells ganz in Raphaels Hände zu legen.

»Du, mein Lieber, wirst wohl oder übel zu deinem Wort stehen und diese Bordelle ordentlich pimpen, oder wie sagt man das auf Neudeutsch?«, frage ich halbernst.

»Ich hab ja Lust auf etwas ganz anderes«, flüstert Sepp mit rauchiger Stimme.

Er küsst mich am Hals. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinab, und ich halte mit Müh und Not das Kichern zurück. »Lass das, mein Schatz. Ich muss auch noch Koffer packen. Immerhin erwartet mich meine Freundin Klara morgen pünktlich zur Andacht.«

Sepp schüttelt den Kopf und sagt: »Wenn das die Leute wüssten: Ich geh nach Wien und bringe schmutzige Geschäfte medienwirksam auf Vordermann, und du gehst derweil ins Kloster.«

Ich zucke die Schultern und meine gelassen: »Das passt doch gut: Der Bumshüttensepp kommt ins Bordell-Fernsehen und Kräuterrosi in den Klostergarten.«

Ich suche gedankenversunken meine Sachen zusammen. Einerseits freue ich mich auf meine alte Schulfreundin und ein paar ruhige Tage in der klösterlichen Stille, aber andererseits tut mir der Abschied weh. Ich liebe meinen kleinen Hof, meine Hühner, meine Kräuterküche und die Arbeit mit den Menschen. Seit Sepp und ich ein Paar sind, hat meine Stube einen unerwarteten Patientenzuwachs erlebt. Jeder will zumindest ein Mal die Kräuterhexe mit dem Puffvater im wirklichen Leben gesehen haben.

Wer hätte gedacht, dass ich und Sepp in unseren alten Tagen noch zu richtigen Lokalberühmtheiten werden? Von der Bezirkszeitung angefangen bis hin zum Radio, alle wollten mich interviewen. Dabei liegt mir die Öffentlichkeit weit weniger als dem Sepp.

Du warst schon immer etwas kamerascheu, obwohl eine kluge Frau wie du im rechten Licht noch mehr erstrahlt.

Horst. Ich blicke zum Ohrensessel, wo er früher immer gesessen und Zeitung gelesen hat. Seit ich Sepp habe und mich vor Arbeit kaum retten kann, höre ich seine Stimme viel seltener in mir als vorher. Ich atme schwer. Obwohl ich nun, Jahre nach seinem Tod, wieder die Liebe gefunden habe, vermisse ich ihn. Er war meine erste Liebe, Sepp ist nun meine zweite. Früher glaubte ich, man könnte nur ein Mal im Leben wahrlich lieben, aber das war ein Irrtum. Es gibt kein Höchstmaß an Liebe, das irgendwann ausgeschöpft und leer ist, nein. Die Liebe vermehrt sich wie ein See, der bei Regen anschwillt, tiefer und breiter wird und schlussendlich eine Größe erreicht, die wir Menschen nie für möglich gehalten haben.

Meine Freundin Klara hat das schon immer gesagt. Ihre Liebe ist so groß, dass sie nicht bei Menschen haltmacht. Sie liebt die ganze Welt, und das mit einer Leichtigkeit, die man einer Nonne nie zutrauen würde. Es gibt wohl keinen Menschen auf Gottes Erde, der fröhlicher ist als sie. Ich lächle in mich hinein. Es wird mir guttun, einige Zeit in ihrem Leuchten zu verbringen, auf jeden Fall besser als das grelle Licht der Fernsehleute.

Ich halte den Abschied so kurz wie möglich. Sepp umarmt und küsst mich, dann steigt er ins Auto und fährt los. Ein Kloß steckt in meinem Hals, und ich versuche, ihn hinunterzuschlucken, aber es drückt noch stärker, und ich schnappe nach Luft.

Frostkristalle glitzern auf den kurzen Grashalmen, und dichte Nebelschwaden ziehen über die Sumpflandschaft. Der Spätherbst ist ins Land gezogen und verwehrt der Sonne jedes Durchdringen. Bald schon wird der erste Schnee fallen, und das Moor, die Hügel und Wälder werden wie mit weißem Zuckerguss überzogen vor mir liegen. Ich schlinge die Arme um mich. Mein Atem steigt als Wolke auf. Sepps Wagen ist außer Sichtweite. Ich drehe mich um und gehe hinein. In einer guten Stunde wird es auch für mich Zeit, ins Auto zu steigen und nach Maria Schmolln zu fahren, sonst verpasse ich womöglich noch die Vormittagsandacht.

Wie bestellt kommen ein paar Minuten später Raphael und Kalina mit Mariella. Sie nehmen den Haustürschlüssel an sich und versprechen, sich gut um Haus und Hof zu kümmern.

Ich wiege Mariella sanft in meinen Armen, während Raphael meine Koffer in den alten Citroën lädt. Donald, wie ich das Auto nenne, wird sich freuen, endlich einmal wieder eine längere Strecke auf der Straße zu verbringen, anstatt in der Garage zu warten. Doch warum sollte ich auch großartige Reisen unternehmen, wenn alles, was mir lieb und teuer ist, hier zu finden ist?

Ich lächle Mariella an. Nichts lässt mein Herz so aufblühen wie der Anblick meiner kleinen Enkeltochter. Sie hat Horsts hohe Stirn geerbt und Raphaels Kunst, die Lippen zu verziehen, wenn ihr etwas nicht gefällt. Das restliche Gesichtchen kommt nach ihrer wunderschönen Mutter. Wenn mich die Kleine mit ihren haselnussbraunen Augen ansieht und mir ein Lächeln schenkt, glaube ich, das Glück mit Händen fassen zu können. Auch Kalina sieht nach den Strapazen des Sommers und der Geburt endlich frisch und ausgeschlafen aus.

»Die Kleine liebt dein Polster. Zahnschmerzen sind viel besser«, sagt meine hübsche Schwiegertochter und legt das kleine Lavendelkissen zu Mariella in meinen Arm.

»Ja, Lavendelduft verschafft süße Träume, und die kleine Prinzessin hat die süßesten auf Gottes Erden verdient.«

»Ich freu mich, dass wir ein paar Tage hier wohnen«, sagt Kalina ernst.

Ich horche auf. »Hast du endlich mit meinem Sohn gesprochen? Ein Bordell ist kein Ort für ein Kind, und Raphaels muffige Zwei-Zimmer-Wohnung auch nicht. Ihr könnt wirklich gern neben dem Hühnerstall bauen. Ich würde mich freuen, öfter auf Mariella aufpassen zu können.«

Kalina seufzt und sieht nachdenklich das Baby an. »Ich halte es für gute Idee. Neues Leben, neues Haus. Aber Raphael zweifelt. Er mag es, wenn Arbeit vor der Tür liegt, und Arbeiten macht ihm Spaß. Er ist ein guter Chef. Sepp sagt das auch.«

»Ich weiß, mein Kind. Es spricht aber auch viel dafür, wenn die Arbeit nicht bei einem wohnt. Sepp ist in Wahrheit längst bei mir eingezogen und seitdem viel fröhlicher. Ihm tut der Abstand zum Bordell gut.«

»Sein Glücklichsein liegt an dir. Aber ich werde Raphael schon noch überzeugen, dass deine Nähe für alle gut ist, auch für uns«, sagt Kalina bestimmt.

Ihr Akzent ist nicht zu leugnen. Ich betrachte sie und fühle plötzlich unendliche Dankbarkeit in meinem Herzen. Ja, mein Sohn hat die richtige Frau bekommen. Es ist kaum zu glauben, dass Kalina voriges Jahr noch wie eine Sklavin unter einem brutalen Zuhälter arbeiten musste. Im Nachhinein gesehen war es ein Glücksfall, dass Raphael mit seiner Versicherungsanstalt am bulgarischen Ballermann Urlaub gemacht und sich in die Prostituierte verliebt hat. Mir sind durch seine Verstrickungen in den Versicherungsskandal zwar etliche graue Haare gewachsen, aber bei meinem Silberton im Schopf ist das einerlei. Kalina breitet die Arme aus, um Mariella wieder an sich zu nehmen. Eine mütterliche Milde umspielt ihr Lächeln. Sie war eigentlich immer viel zu feinfühlig für die Arbeit als Prostituierte, und nun, da sie als Mutter und Ehefrau endlich Frieden gefunden hat, blüht sie richtig auf.

»Du wirst das machen, davon bin ich überzeugt. Nächsten Sommer werdet ihr bauen«, sage ich zwinkernd und gebe ihr vorsichtig das schlafende Kind. Mariella grummelt zuerst leise und schläft dann ruhig weiter.

»Was tuschelt ihr da?«, fragt Raphael, der gerade zur Tür hereinkommt.

Kalina und ich sehen ihn mit Unschuldsmiene an.

»Donald ist abfahrbereit. Willst du nicht doch lieber, dass ich dich bringe? Du magst Autofahren doch nicht besonders.«

»Ich schaff das. Sorgt ihr mal lieber gut für mein Häuschen und heizt regelmäßig den Kachelofen ein«, sage ich verschwörerisch in Kalinas Richtung.

Die wohlige Wärme des Kachelofens hat schon so manche harte Überzeugung dahinschmelzen lassen, vielleicht tut sie auch in Raphaels Fall das Ihrige zum Erfolg. In Gedanken sehe ich schon das neue Haus neben meinem, ich höre das helle Kinderlachen und rieche den köstlichen Duft, wenn ich für die ganze Familie groß aufkoche. Warum sollte die Zukunft nicht ein wenig so sein wie die Vergangenheit? Früher wohnten die Menschen auch näher beisammen. Und ich hege keine Zweifel, dass ich mich gegebenenfalls auch in Zurückhaltung üben kann. Die Jungen haben andere Ansichten, und ich werde sie respektieren.

Ich stehe auf und nehme den Autoschlüssel an mich.

»Bis in einer Woche, Mama. Wenn du etwas brauchst, dann ruf an. Dein Handy hast du eingepackt, oder?«, fragt Raphael.

Ich nicke und verschränke die Arme vor der Brust. »Hab ich. Aber auch nur, weil du und Sepp so darauf besteht. Du weißt, dass ich nichts von den Strahlenungetümen halte.«

»Ja, Mama. Ist auch nur für den Notfall. Zu Hause brauchst du es nicht einschalten.«

»So weit kommt’s noch, dass ich daheim mit diesem Ding hantieren würde.«

Raphael lacht. »Eine schöne Zeit, und grüß mir Klara.«

Ich entspanne mich und lächle. »Mach ich, mein Junge. Bis dann«, sage ich und gehe hinaus, wo mein altes Auto auf mich wartet.

Donalds Motor rattert, als ich ihn anlasse. Doch er springt wie jedes Mal zuverlässig beim ersten Mal an. So ist das mit den alten Dingen. Handy hin oder her. Die neue Technik muss erst beweisen, dass sie nach Jahrzehnten oder gar nach einem halben Jahrhundert noch immer so einwandfrei funktioniert wie mein treuer Wagen.

Ich fahre los und lasse das Moor hinter mir. Es ist kaum zu glauben, aber die paar Kilometer nach Maria Schmolln tragen dazu bei, dass ich mich wie in der Ferne fühle.

Der kleine Wallfahrtsort liegt mitten im Kobernaußerwald. Nur durch eine unsäglich kurvenreiche Straße ist er erreichbar. Donald schlängelt sich gekonnt über die Serpentinenfahrbahn. Ich lenke angestrengt und bin ganz aufs Fahren konzentriert. Links und rechts Bäume und Wald, nur einmal taucht auf der linken Seite eine Schottergrube auf, wo der gelbe Sand und die großen Schottersteine abgebaut werden. Ich lege den zweiten Gang ein und krieche weiter. Obwohl die Straße breit ausgebaut ist, strengt mich die Fahrt an.

Ich bin so vertieft, dass mich die Ortseinfahrt überrascht. Nur mit Mühe schaffe ich die Linkskurve und fahre in den Ort. Ein schmaler Torbogen, durch den ich lenken muss, und dann die gewaltige Kirche, der Dorfplatz und dahinter das Kloster mit dem Altenheim und dem Kräutergarten. Ich bin angekommen.

Erleichtert parke ich Donald bei der Kirche. Kaum zu glauben, dass hier einst nur eine kleine Holzkapelle stand, in dem das bekannte Marienbild verehrt wurde. Irgendwann Anfang des 17.Jahrhunderts hatte ein einfacher Bauer dieses Bild an einen Baum gehängt, um seinem verschollenen Sohn zu gedenken. Die Menschen, die damals vorbeikamen, beteten für den Jungen, und innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die erste Kapelle gebaut. Jetzt aber, mehr als dreihundert Jahre später, ragt ein richtiger Kirchturm in die Höhe.

Ich blicke nach oben. Es läuten schon die Glocken. Der Ort ist wie ausgestorben. Kein Mensch befindet sich auf dem Dorfplatz. Ja, es ist erst Vormittag, aber dass solche Totenstille herrscht, ist irgendwie seltsam. Die Glocke ermahnt mich mit lautem Bimbam zur Eile. Jetzt aber fix. Ich möchte mich nicht Klaras liebevoll heiterem Spott und Hohn ausliefern, wenn ich wie damals in der Schule fünf Minuten zu spät zur Tür hereinstürme. Auch wenn ich mich um Pünktlichkeit bemühe, spielt mir die Zeit ab und an einen Streich, und ich komme ins Hetzen.

Ich steige aus. Es ist viel kälter hier als zu Hause. Die paar Höhenmeter Unterschied bewirken, dass ich den Schnee schon so deutlich riechen kann, als würde ihn Frau Holle die nächsten Stunden auf die Reise zur Erde schicken. Sogar die Wolken scheinen hier ganz andere zu sein als zu Hause. Höher, bauschiger und voller hängen sie am Himmel. Ich schlinge den Mantel enger um meinen Körper. Schnellen Schrittes marschiere ich zur Kirche.

Im ersten Moment ist es dunkel im Inneren. Weihrauchduft vertreibt den Schneegeruch. Ich atme tief ein und fühle mich auf einmal nur noch halb so fremd. Hell und freundlich ist es im Bauch des Gebäudes. Ich sehe mich um.

Blutbrunnen

Das Wundermittel Weihrauch

Weihrauch wirkt stark entzündungshemmend, zum Beispiel bei Gelenkentzündungen, chronischen Darmentzündungen und Rheuma. Gute Weihrauchpräparate(Kapseln) sind hochdosiert und müssen nur einmal täglich eingenommen werden. Man sollte diese aber nur in Absprache mit einem Arzt verwenden.

Die Kirchenbänke sind bis auf die vordersten Reihen alle leer. Es ist so still wie eben auf dem Dorfplatz. Bei der Andacht sind die Menschen jedenfalls nicht. Mehrere Nonnen und einige alte Frauen sitzen ruhig vor dem Altar. Ich erkenne Klara schon von Weitem. Ihre Körperhaltung hat sich seit der Schulzeit nicht geändert. Rank und schlank wie eine Fünfzehnjährige sitzt sie in der Bank. Die Schultern entspannt, den Kopf hocherhoben. Irgendwie schafft sie es, dass man den Eindruck gewinnt, sie könnte jederzeit aufspringen und einen Schabernack beginnen.

Als würde sie merken, dass ich da bin, dreht sie sich um. Ihre Augen leuchten vergnügt, und sie bedeutet mir, neben ihr Platz zu nehmen.

»Pünktlich auf die Minute«, flüstert sie und drückt meine Hand. »Schön, dass du da bist.«

»Ich freu mich auch. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen«, antworte ich.

»Heute wirst du gleich die Andacht des Jahres erleben. Die Jungen führen die Regie«, tuschelt Klara geheimnisvoll.

»Pssst. Schwester Klara. Ruhe«, zischt die rundliche Nonne vor uns.

»Ja, Mutter Oberin«, sagt Klara, macht aber zeitgleich Anstalten, aufzustehen. Mit einem Nicken zeigt sie mir, dass wir ein paar Reihen nach hinten wandern sollen.

Ich willige ein, und wir ziehen drei Sitzbänke zurück. Die Oberin schüttelt griesgrämig den Kopf.

»Crescentia ist die Oberschwester und gehört leider zur strengen Sorte. Aber ihre Einstellung passt zum derzeitigen Wandel in der Gemeinde.«

Ich sehe Klara fragend an, aber sie verzieht nur bedauernd die Lippen.

Die Andacht beginnt. Zuerst kommt ein bestimmt achtzigjähriger Priester aus der Sakristei. Ihn kenne ich noch von meinem letzten Besuch bei Klara. Pater Sebastian ist so trocken wie Reisig, und nur in den seltenen Momenten, in denen er zu tief ins Bierglas hineinschaut, kommt ein winziger Spritzer ebenso trockener Humor zum Vorschein. Meistens aber blickt er mit einer Ernsthaftigkeit ins Leben, die ich überhaupt nicht mit Klara in Verbindung bringen kann. Dennoch schätzt meine Freundin den Priester als gerechten und sachlichen Menschen, der es bei Problemen in der Gemeinde versteht, mit Scharfsinn durchzugreifen.

Nach Pater Sebastian tritt ein junger, gut aussehender Priester heraus. Ihm folgen etwa zwanzig weiß gekleidete Jungen und Mädchen, alle im Alter zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig.

»Das ist unser neuer Priester, Pater Boris. Er hat das Charisma eines Heiligen, aber seine Zunge ist manchmal mehr die des Teufels«, wispert Klara.

Ich sehe nach vorn.

Pater Sebastian spricht die Begrüßungsworte und sagt mit bitterem Zug um den Mund: »Heute gestalten Pater Boris und seine Jünger und Jüngerinnen wahren Blutes diese Andacht. Der Herr sei mit euch.«

»Und mit deinem Geiste«, antworte ich automatisch mit all den anderen.

Der mürrische Pater Sebastian geht zur Seite und übergibt Pater Boris das Mikrofon. Der öffnet den Mund und beginnt zu singen. Die Stimmung verändert sich schlagartig. Ein Knistern erfüllt die Luft, die Weißgekleideten stimmen in den Gesang mit ein, sodass die ganze Kirche binnen Sekunden von der breiten Melodie des Kanons erfüllt ist. Das Licht wird gedimmt, bis nur noch der Altarraum im zarten Halbdunkel liegt. Zwei der Jüngerinnen schwenken einen Weihrauchkessel. Der intensive Geruch des Baumharzes schwebt in Rauchschwaden über die Bänke.

Ich weiß nicht, wieso, aber ich bekomme erst mit, dass nun vom Eingang her Leute mit Kerzen in den Händen in die Kirche strömen, als bereits die ersten vor dem Altar ihre Lichter abstellen. Es sind wieder vorwiegend junge Besucher. Erstaunt sehe ich Klara an.

Diese nickt. »Boris hat eine beachtliche Fangemeinde. Und er versteht es, seine Feiern in Szene zu setzen«, flüstert sie. Doch auch in ihren Augen schimmert der gleiche Glanz wie in denen der Jünger.

Wahrscheinlich ist es bei mir nicht anders. Die Musik, die Stimmung, das Kerzenlicht… All das berührt mich. Bald schon ist die Kirche gut gefüllt. Der Gesang schwillt noch einmal an, bevor er verstummt. Dann beginnt Pater Boris mit dem Gebet. Seine Stimme ist so klar und durchdringend, dass sie mich in ihren Bann schlägt. Die Zeit vergeht, und der Priester spricht mit voller Begeisterung.

Klara stupst mich an. »Hörst du?«, fragt sie.

Zuerst verstehe ich nicht ganz, was sie meint, aber dann.

Verwundert schüttle ich den Kopf. Ich habe den Punkt in Boris’ Ansprache wohl überhört, wo er von der allgemeinen Liebe Jesu abgekommen ist und angefangen hat, über die heutige Zeit zu schimpfen.

»Und die Unkeuschheit ist inmitten unter uns. Männer, die bei Männern liegen, und Frauen unseres Ortes, die sich Männern hingeben, ohne den Bund der Ehe geschlossen zu haben. Solch ein Volk ist nicht länger Gottes Volk. Jene, die Gräueltaten tun, wollüstig und unkeusch leben, sind verdammt. Doch noch ist es nicht zu spät. Wir sind hier, um euch zu warnen. Das Ende naht. Kehrt um. Werdet wahre Jünger! Werdet wahre Jüngerinnen! Dann ist Gottes Segen mit euch.«

Achtsam verfolge ich den Rest der Andacht. Das ganze Drumherum hat mich geblendet. Ich habe mich verzaubern lassen, aber jetzt erkenne ich, dass da vorn ein gefährlicher Mann steht. Oder ein Mann voller Komplexe, der sich durch seine alten Anschauungen selbst rechtfertigen will.

Was würde Pater Boris wohl sagen, wenn er wüsste, wer ich bin? Eine in wilder Ehe lebende Kräuterhexe, die mit einem Puffvater liiert ist. Mein Leben ist ein schwereres Geschütz als die Geschichte seiner leichten Mädchen. Wahrscheinlich würde er in Ohnmacht fallen oder nach dem Gespräch gleich ein Bad in Weihwasser nehmen müssen.

Während die Gemeinde wieder in den mystischen Gesang abtaucht, versinke ich in der Phantasie, wie es wäre, den Pater ein klein wenig zu schockieren. Ich bin eine gottesfürchtige Frau, aber ich glaube auch daran, dass unser Herrgott weit gnädiger ist als manche Mitglieder seines Bodenpersonals.

Klara lächelt mich von der Seite an. Meine Schulfreundin ist viel zu klug, um sich von der Predigt des Priesters einlullen zu lassen. Außerdem kenne ich Klara. Sie hat ihr Amt nicht aus Liebe zu alten Traditionen, sondern aus Liebe zu den Menschen und zu Gott gewählt. Klara ist ehrlich berufen. Ihr ist es ein Anliegen, den Menschen gut zuzureden und sie nicht in Angst und Schrecken vor einem unbarmherzigen Gott zu versetzen.

In diesem Belang sind Klara und ich uns sehr ähnlich. Herz und Hirn braucht die Welt.

Die Andacht ist zu Ende. Sie hat weit länger gedauert, als ich es angenommen hatte. Ein Blick auf die Armbanduhr verrät mir, dass fast zwei Stunden vergangen sind. Pater Boris macht Pater Sebastian Platz, der sich formlos bedankt und gelangweilt die Gottesdienstordnung der nächsten Woche herunterleiert. Pater Boris und seine Jüngerinnen und Jünger schweben in die Sakristei.

Ich setze mich wieder hin und warte mit Klara, bis sich die Kirche langsam leert. Crescentia, die Mutter Oberin, stampft schwerfällig an uns vorbei. Bei jedem Schritt keucht sie. Sie schaut zu Klara.

»Ich hoffe, dass dich dein Gast nicht von deinen Pflichten ablenken wird«, sagt sie.

»Keineswegs. Meine Freundin ist selbst kräuterkundig und wird mir sowohl im Garten als auch im Heim eine große Hilfe sein. Außerdem hätte ich zur Not noch etwa vierzehn Wochen Resturlaub.«

Crescentias Augenbrauen schnalzen erschrocken hoch. »Bitte nicht, Schwester. Die derzeitige Grippewelle hat so viele Altenpflegerinnen erwischt. Wenn du auch noch ausfällst, dann… Wir sind doch nur noch so wenige.«

»Keine Sorge, Mutter. Ich wollte nur eine Möglichkeit aufzeigen.«

Crescentia nickt und kämpft sich weiter in Richtung Ausgang.

»Sie hat es nicht leicht. Seitdem der Orden offiziell abgezogen wurde und nur noch vier von uns Franziskanern hiergeblieben sind, um die Stellung zu halten, das Heim zu führen und die Gebäude zu bewirtschaften, hat Crescentia dreißig Kilo zugelegt. Jeder kämpft auf seine Weise mit den Veränderungen«, erklärt Klara geduldig.

Doch meine Aufmerksamkeit ist auf etwas anderes gerichtet. »Was ist das für ein Tumult draußen?«

Klara zuckt die Schultern. »Da hilft nur nachsehen«, sagt sie und steht mit einer Geschwindigkeit auf, die meine alten Knochen nicht mehr hergeben. Das Klosterleben tut ihr gut und hält sie fit, während es Crescentia schwer auf den Rippen lastet.

So flink ich kann, erhebe ich mich und folge meiner Freundin. Kälte schlägt mir entgegen. Es hat tatsächlich etwas geschneit, und der weiße Staub bedeckt zart die Straßen und Dächer. Die Menschen stehen wie erstarrt umher. Einige schreien. Meine Augen brennen durch den eisigen Wind.

»Oh nein, oh nein…«

Eine der Jüngerinnen stürzt mir direkt in die Arme. Ich fange sie auf. Sie dreht sich zur Seite und erbricht sich in den sauberen Neuschnee.

»Was ist, Kindchen?«, frage ich besorgt. Aber sie reißt sich nur los und stürzt davon.

»Hast du gesehen, was passiert ist?«, frage ich Klara, die neben mir steht. Sie schüttelt den Kopf. Ich nehme ihre Hand und dränge mich durch die Menschenmenge. Das Durchkommen wird immer schwieriger. Der Schnee ist zwischen den Leuten schon geschmolzen, und die Pflastersteine liegen rutschig unter meinen Füßen. Doch ich gebe nicht auf. Plötzlich stehe ich in vorderster Reihe. Der Würgereiz schnürt mir die Kehle zu. Schweißtropfen verdichten sich zu einem Rinnsal in meinem Nacken. Weg hier! Der Fluchtinstinkt ist so stark, dass ich ihm kaum widerstehen kann.

Ich blinzle. Vor mir stehen ein stämmiger Mann und Pater Boris. Sie bemühen sich, die Leute zurückzudrängen. Sie breiten die Arme aus und versuchen, das Grauen zu verdecken. Doch es reicht ein Blick darauf, und dieses Bild brennt sich einem ins Gehirn, für alle Zeit. Ich umklammere Klaras eiskalte Hand. Sie zittert. Ich ebenfalls.

»Die Polizei ist gleich da! Jetzt kommts schon, Leut! Hörts auf euren Bürgermeister und gehts zurück!«, schreit der Stämmige und tritt einen weiteren Schritt nach vorn.

Ich sehe Weiß, Rot, Schwarz und viel Haut.

Wie eine Puppe liegt sie da. Eingeklemmt zwischen Wasserhahn und Steinbecken. Ihre schwarzen langen Haare glänzen, die Augen sind weit aufgerissen, als könnte sie es selbst nicht glauben, was mit ihr geschehen ist. An ihre nackte Brust gedrückt trägt sie ein Kind– eine Babypuppe.

Ihr Bauch ist rot. Rot vom Blut. Rot von der Raserei, die auf ihrer bleichen Haut getobt und ihr das Innerste nach außen gekehrt hat.

Galle kommt mir hoch. Ich schaue weg. Dieser Anblick ist selbst mir zu viel. Und doch… ich muss wieder hinsehen.

Der Pilgerbrunnen. Erst vor wenigen Jahren hat man das neue Denkmal aufgestellt. Modern und schlicht, mit einer Glasscheibe als Hintergrund und der Madonnenfigur als Blickfang. Die Muttergottes mit dem Jesuskind. Die Tote mit dem Baby. Und anklagend in roten Lettern auf dem klaren Glas des Brunnens: »Hure– Kindsmörderin«.

Ich schwitze und friere gleichzeitig. Ich habe zwar die übel zugerichtete Leiche direkt vor Augen, und doch kommt es mir so unwirklich vor, als wäre es eine Fotomontage oder eine schlechte Malerei.

»D… d…« Klara krallt sich an mir fest. »Milena«, keucht sie.

Ich sehe meine Freundin an und spüre, dass sie die Tote gut gekannt hat. Klaras Gesicht verliert die Farbe. Ich greife ihr unter die Arme und stütze sie. »Ruhig atmen«, flüstere ich ihr zu. Sie schlägt die Lider nieder und atmet schwer. Jeder Muskel ist angespannt. Ich halte sie, bis sie es wieder selbst kann.

Dann richtet Klara sich wieder auf. »Das ist Milena. Sie hat bei mir gearbeitet«, sagt sie heiser. Tränen laufen ihr über die Wangen.

Endlich kommt die Polizei. Das zuckende Blaulicht zerschneidet die Luft. Klara und ich drängen uns aneinander.

Polizisten stürmen aus den Autos und drängen die Menschen von dem Blutbrunnen zurück. In Windeseile bauen sie einen Sichtschutz auf, um den Gaffern Herr zu werden. Zuerst murren die Menschen vor Unmut, aber dann beruhigt sich die Menge, und Stille kehrt ein.

»Kennt jemand die Identität der Toten?«, fragt ein Polizist und mustert die Menschen.

Einige heben sofort die Hände. Klara aber steht unter Schock. Sie zittert und starrt ausdruckslos nach vorn. Der Polizist geht durch die Reihe und nimmt die Daten der Neugierigen auf, bevor er sie wegschickt. Schließlich steht er vor uns. »Kannten Sie die Tote?«, will er wissen.

Ich schüttle den Kopf.

Klara erwacht aus ihrer Erstarrung. »Bitte… ich… Milena hat bei mir im Altenheim gearbeitet«, sagt sie heiser. Sie sieht den Polizisten so flehend an, als könnte er irgendetwas an der Situation ändern.

»Wir kommen später auf Sie zu, Schwester…?« Die Stimme des Polizisten hat sich verändert. Er hat erkannt, wie sehr meine Freundin leidet.

»Klara«, antwortet sie und senkt den Blick.

»Darf ich bitte Ihren vollen Namen erfahren und wie ich Sie erreichen kann? Wir haben bestimmt noch Fragen an Sie, wenn die erste Untersuchung vorüber ist.«

»Mein Name ist Klara Geist, ich bin die stellvertretende Leiterin des Altenheims und eine der wenigen Nonnen, die noch übrig sind«, sagt Klara und gibt monoton ihre Daten zu Protokoll. Der Polizist bedankt sich und wendet sich den Nächsten zu.

Ich ziehe an Klaras Hand. Sie ist kalt und fühlt sich so leblos an wie ein toter Fisch. »Komm, lass uns nach Hause gehen«, sage ich.

Klara fasst sich etwas und nickt. »Ja, daheim ist es besser«, antwortet sie.

Ich denke an mein kleines Haus, an Raphael, Kalina und Mariella. Wie gern wäre ich jetzt dort, oder besser noch in Sepps Armen. Doch Sepp ist in Wien, meine Kinder kommen allein zurecht, und hier werde ich gebraucht.

Beelzebub und Muttergottes

Gehirnnahrung gegen Demenz

Soja und Rotklee enthalten pflanzliche Östrogene, die gerade bei Frauen in und nach den Wechseljahren eine Rolle spielen und dem Körper bei der Hormonumstellung helfen. Sie beeinflussen die Merkfähigkeit positiv. Ginseng wird nachgesagt, die Geistesleistung zu erhöhen. Grüner Tee löst Ablagerungen. Ginkgo ist ein wunderbares Naturheilmittel gegen Vergesslichkeit.

Klara wohnt nicht mehr in dem ehemaligen Kloster, sondern direkt im neu errichteten Altenheim. Auf meine Frage, ob es sie nicht stört, dauernd für die Bewohner erreichbar zu sein, zuckt sie nur die Schultern.

»Es hat auch seine guten Seiten, für die Arbeit nicht aus dem Haus zu müssen. Außerdem mache ich es gern, und wenn ich meine Ruhe brauche, gehe ich in den Klostergarten«, erklärt sie mir monoton und führt mich durch die kleine Wohnung.

Klara steht noch immer neben sich. Ich kann es in ihren Augen sehen, dass sie mit den Gedanken bei der toten Frau ist. Schweigend zeigt sie mir ihre vielleicht fünfzig Quadratmeter, die sie ihr Zuhause nennt. Eine winzige, funktionale Küchenzeile, eine Sitzbank mit Esstisch und ein Sofasessel vor dem Fernseher, dann ein Bad mit Dusche und WC und die zwei wohl kleinsten Schlafzimmer der Welt.

Klara zeigt mir meines. Es riecht intensiv nach Ringelblume, Kamille und Lavendel. Ich schaue mich um, ob irgendwo ein getrocknetes Kräuterbüschel hängt, sehe aber nur eine Bettcouch und einen schmalen, hohen Schrank. Außerdem ist an der Wand ein hochgeklappter Tisch montiert, ein zusammengefalteter Stuhl lehnt daneben.

Wenn ich mich nicht täusche, dann hat Klara sämtliche Möbel von IKEA geholt. Auf jeden Fall ist ihr kleines Reich ganz anders eingerichtet als der Rest des Heims. Während sonst der gelbliche Farbton von Vollholzmöbeln im Haus dominiert, glänzen bei Klara glatte Fronten in Weiß und Grau. Selbst die paar Bilder an den Wänden sind modern. Kein Schnickschnack, keine unnötigen Dekorationsartikel. Es ist ganz anders als bei mir daheim, wo sich Altes und Neues, Kitsch und Kram zu einem gemütlichen Sammelsurium verbinden.

»Ich hoffe, du kannst hier schlafen. Es ist nicht besonders groß, und normalerweise verwende ich dieses Zimmer für meine Kräuter und Salben, aber es müsste reichen.«

»Wo hast du deine Heilmittel jetzt?«, frage ich und bin froh, dass Klara endlich wieder spricht.

»Im alten Kloster… Warum nur? Wer hat ein Interesse daran, Milena so etwas Grauenhaftes anzutun? Sie war so ein liebes Mädchen, immer freundlich und um unsere Bewohner ehrlich bemüht. Weißt du, es gibt viele, die einfach nur ihre Arbeit machen, aber Milena war mit dem Herzen dabei. Sie mochte die Menschen, ihre Geschichten und ihre Eigenheiten. Warum nur?« Klara beginnt zu weinen.

Ich schließe sie in die Arme und drücke sie an mich. Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Bei Mord hört jede Vernunft auf, und dass diese junge Frau ermordet wurde, ist offensichtlich.

Bilder aus dem Fernsehen tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ich höre ihre Schreie, rieche den metallischen Geruch des Blutes. Das war kein normaler Mord, wie er aus Eifersucht oder im Streit passiert, nein… Der Mörder hat eine Botschaft hinterlassen. Er wollte, dass Milena so gefunden wird. Von ihm zurechtgelegt und unter dem Bild der Gottesmutter mit dem Kind aufgebahrt.

»Ich frage mich, warum der Mörder sie so präsentiert hat. Hast du es auch gelesen? Die Beschimpfungen?«

Klara antwortet mir nicht. Sie löst sich aus meiner Umarmung und geht wortlos hinaus in die Wohnküche.

»Bist du noch so eine Kaffeeliebhaberin wie früher?«, will sie wissen und holt nebenbei schon eine ähnliche Kapselmaschine aus dem Küchenschrank, wie ich sie habe.

»Seiner Liebe wird man nicht untreu. Jedenfalls ich nicht«, bekenne ich und setze mich auf die Bank.

Klara füllt Wasser in den Tank und spült die Maschine zuerst durch. Dann macht sie zwei Tassen und stellt sie gemeinsam mit Milch und Zucker auf den Tisch.

Ich trinke ihn schwarz. Klara kippt sich einen Schuss Milch hinein und löst sich den Schleier.

»Dich stört es nicht, wenn ich mich frei mache, oder?«

Ich schüttle den Kopf. Normalerweise trägt Klara immer die ganze Nonnentracht, aber im Augenblick ist selbst mir meine Kleidung zu eng.

Sie nimmt den Schleier ab und schüttelt den Kopf. Ihre Haare sind kurz und beinahe schneeweiß. Müde fährt sie sich mit den Fingern über den Kopf.

»Wir haben schon seit Jahren weltliche Pflegekräfte im Heim. Nonnen gibt es nicht mehr viele, und in der letzten Zeit wurde es sogar schwierig, überhaupt Pflegerinnen oder Krankenschwestern zu finden. Die Alten werden immer mehr, und die Jungen gehen lieber anderen Berufen nach. Auf jeden Fall war ich sehr froh, dass sich Milena vor einem Jahr beworben hat. Sie ist… ähm, war Tschechin und hatte die gesamte Ausbildung zur Krankenschwester bereits absolviert. Außerdem sprach sie fließend Deutsch. Sie war wirklich ein Segen.«

Ich höre das Aber so deutlich in Klaras Worten, dass ich nur warten muss. Vorsichtig nippe ich an dem heißen Kaffee und schlürfe ein paar Schlucke.

Klara trinkt auch und sieht dann nachdenklich aus dem Fenster. Der Schnee ist bereits wieder geschmolzen, und der Wald liegt dunkel und anklagend hinter den Glasscheiben.

»Es gab zuerst Bedenken. Bis Milena in unser Team kam, waren nur Einheimische und Leute aus der Umgebung angestellt. Im Nachhinein glaube ich, dass die ersten Wochen für sie nicht einfach waren. Aber schließlich hat sie mit ihrer freundlichen Wesensart fast alle für sich eingenommen.«

»Fast?«, hake ich nach.

»Na ja, es gibt immer welche, denen das Vergessen schwerfällt. Aber generell würde ich sagen, Milena wurde voll akzeptiert. Sie war ein Teil unseres Dorfes, und die Menschen mochten sie. Ich weiß nicht, wer ihr das angetan hat.«

Ich sitze schweigend da, aber es hilft nichts. Klara lässt kein Wort mehr über ihre Lippen. Stattdessen trinkt sie ihren Kaffee und denkt nach. Sepp hätte schon längst weitergeplaudert, allein um die Stille zu vertreiben, die jetzt dicht wie Nebel im Raum hängt. Aber Klara ist nicht Sepp. Sie ist eine Frau und steht mir in nichts nach. Wahrscheinlich ist sie sogar stärker als ich, und wenn sie nichts mehr erzählen will, dann wird sie das auch nicht tun.

»Ich verstehe, wenn du lieber nach Hause willst«, sagt sie schließlich, doch in ihrem Gesicht zeichnet sich die Hoffnung ab, dass ich bleibe.

»Nein, nein. Wir sind Freundinnen, und vielleicht brauchst selbst du einmal noch jemand anderen an deiner Seite als nur den Herrgott.«

Klara lächelt und nickt. »Dann wollen wir dein Gepäck holen, und du berichtest mir endlich Genaueres über deinen Sepp, deinen Sohn und deine neu erworbene Schwiegertochter. Ich habe ja so einige Gerüchte gehört, aber viel lieber erfahre ich es Aug in Aug von dir.«

Ich kichere. »Aber nicht dass du mir deine Unschuld verlierst. Mein Sepp und auch mein Raphael haben es nicht mit der Unschuld, und so eine Nonne wie du sollte sich von unkeuschen Geschichten fernhalten. Frag Pater Boris.«

»So eine Nonne, wie ich es bin, muss sich in der Welt auskennen, sonst ist sie nichts anderes als ein staubiges Requisit in der Kirche. Und davon gibt es schon genug.«

Ich klopfe mir auf die Oberschenkel und stehe auf. »Dann gehen wir und entladen Donald«, sage ich.

Klara legt sich den Schleier wieder an, und wir marschieren zurück zum Dorfplatz.

Die Polizei ist noch da und hat den größten Teil des Platzes abgesperrt und mit Sichtschutzplanen den Brunnen abgeschirmt. Zum Glück kommen wir aber zu meinem Auto. Ich habe nicht viel Gepäck dabei. Nur einen kleinen Rollkoffer und eine Reisetasche.

Klara schultert die Tasche, und ich ziehe den Koffer. Wir weichen den Leuten aus, die noch immer in kleinen Gruppen beisammenstehen und darauf warten, dass die nächste Katastrophe hereinbricht.

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Kein anderes Wesen empfindet solche Neugierde und eine derartig anormale Befriedigung, wenn sich etwas Schlimmes ereignet hat, wie der Mensch. Ich kann über dieses Verhalten nur den Kopf schütteln, und auch Klara meidet die Gaffer und marschiert besonders zielstrebig vom Dorfplatz weg.

»Wenn die Polizei mit ihrer Arbeit fertig ist, zeige ich dir den Klostergarten. Du wirst ihn lieben«, verspricht Klara und legt noch einen Schritt zu.

Es dauert nicht lange, schon schwirrt ein Fernsehhubschrauber über den Ort. Das Geratter der Rotorblätter ist nicht zu überhören, und auch im Altenheim hat sich die Nachricht von der toten Pflegerin herumgesprochen. Obwohl Klara eigentlich heute freihätte, entscheidet sie sich, mit den Bewohnern zu sprechen.

»Crescentia hat nicht das nötige Feingefühl, und die anderen Pflegerinnen sind viel zu leicht beeinflussbar. Kommst du mit?«, fragt sie mich.

»Kann ich vorher noch rasch telefonieren? Wenn Sepp aus den Nachrichten erfährt, was hier los ist, steht er im nächsten Moment besorgt vor der Haustür und holt mich ab. Dann ist seine Showkarriere so schnell vorbei, wie sie angefangen hat. Und meine Kinder möchte ich eigentlich auch kurz anrufen.«

»Aber sicher, dann genehmige ich mir noch einen zweiten Kaffee, bevor es Mittagessen gibt«, sagt Klara und beginnt, an der Maschine zu hantieren.

Ich gehe in mein kleines Zimmer, hole das Handy aus der Reisetasche und schalte es ein. Es surrt und vibriert. Das Display zeigt drei Anrufe in Abwesenheit. Einmal mein Haustelefon und zweimal die Gitti. Wahrscheinlich weiß sie schon wieder mehr als ich.

Ich seufze und wähle zuerst Sepps Nummer. Es läutet nicht einmal richtig, schon ist er am Apparat.

»Stimmt es, dass ein Ritualmörder in der Schmolln sein Unwesen treibt? Gitti hat…«

»…bestimmt übertrieben. Keine Sorge, Sepp, es geht mir gut. Von einem Ritualmörder weiß ich nichts, sondern nur von einer Frauenleiche, die heute Vormittag entdeckt wurde.« Ich höre an seinem Atem, wie er mit sich hadert.

Dann säuselt er leise: »Es ist wirklich alles in Ordnung bei dir? Soll ich kommen und dich abholen? Die Dreharbeiten beginnen erst morgen. Du könntest mich noch immer begleiten…«

»Alles ist gut. Die Polizei ist im Ort und macht ihre Arbeit, und ich werde mir ein paar ruhige Tage bei meiner Freundin gönnen. Du kannst ganz unbesorgt sein. Sollte ich dich brauchen, gebe ich Bescheid. Das verspreche ich dir.«

Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis er antwortet: »Wie du meinst. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, egal, was du sagst. Ich hoffe wirklich, dass du dich meldest, wenn was ist.«

»Bestimmt. Wie ist es in Wien?«, lenke ich ab.

»Neblig, aber wärmer als daheim. Das Hotel ist schön, und in einer Stunde treffe ich mich mit den Fernsehleuten. Dann besprechen wir, wie und was genau gedreht wird. Ich bin ziemlich aufgeregt. Im Moment frage ich mich, ob es nicht klüger gewesen wäre, einfach Nein zu sagen. Gitti und ihr Fernsehfreund haben mich ganz schön bearbeitet…«

»Wahrscheinlich wird es eine lustige Erfahrung. Außerdem hast du nichts zu verlieren.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja. Immerhin hast du eine anständige Witwe so verdorben, dass sie in wilder Ehe lebt und auf das Gerede pfeift, und dann hast du auch noch den ehrbaren Sohn dieser besagten Witwe ins Rotlichtgeschäft hineingezogen. Da ist ein kleiner Fernsehauftritt nur noch ein i-Tüpfelchen.«

»Ach Rosi. Du weißt doch, wie es heißt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Pass auf dich auf. Ich vermisse dich jetzt schon schrecklich.«

»Ich dich auch.«

Dann lege ich auf und rufe als Nächstes bei mir zu Hause an.

Daniela geht ans Telefon. »Mama. Bin ich froh, von dir zu hören. Kurt ist auf dem Weg in die Schmolln.«

»Ja, ich habe schon vermutet, dass die Kripo eingeschaltet wird.«

Seit dem Sommer ist meine Tochter Daniela fix mit Kurt, unserem Dorfpolizisten, liiert. Und Kurt hat nach dem Moormord und der ganzen Angelegenheit mit Raphaels Ex-Chef einen richtigen Karrieresprung hingelegt. Er ist jetzt bei der Kripo und für Tötungsdelikte zuständig.

»Gitti hat uns erzählt, dass eine Frau von oben bis unten aufgeschlitzt auf dem Altar gefunden wurde. In einer Wallfahrtskirche, so ein Gräuel.«

»So ein Blödsinn. Woher hat Gitti den Unfug?«

»Es ist kein Unfug, gib mir den Hörer«, meckert Gitti, die anscheinend direkt neben dem Telefon mitgehört hat. Ich höre die leisen Geräusche des Gerangels um das Telefon, und dann ist Gitti am Apparat. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ihre blausilbernen Korkenzieherlocken auf und ab hüpfen und sie energisch mit dem Kopf nickt, als sie den Hörer endlich in ihrer Gewalt hat.

»Meine Informationen sind alle wahr. Die Krämer-Traudi hat mich angerufen. Du weißt doch, dass sie die Cousine von meinem Alfons ist. Auf jeden Fall wollte sie eine Kerze für die Verstorbenen in der Kirche anzünden und hat die Niedergemetzelte mit eigenen Augen gesehen.«

»Du glaubst aber auch alles, Gitti. Erstens hätte deine Traudi keine Kerze anzünden können, weil eine Andacht in der Kirche stattgefunden hat. Zweitens war ich bei dieser Andacht, und drittens habe ich die Tote tatsächlich gesehen, und zwar nicht auf dem Altar, sondern draußen vor der Kirche.«

Gitti hat es die Sprache verschlagen. Aber ihr Schweigen dauert nur Sekunden, dann ist sie wieder ganz die Alte. »Tz, tz, tz«, zischt sie ins Telefon. »Dann hat sich die Traudi aber ziemlich wichtiggemacht. Was ist wirklich geschehen? Erzähl.«

»Nicht jetzt. Ich will mit Klara zu den Heimbewohnern. Vielleicht schaffe ich es am Abend noch mal, mich zu melden. Eigentlich wollte ich nur kurz Bescheid geben, damit ihr euch keine Sorgen macht. Sagst du bitte allen, dass es mir gut geht, ja?«

»Mach ich. Und du meldest dich. Oh… jetzt sind gleich Nachrichten im Fernsehen. Bestimmt bringen sie einen Sonderbeitrag…«

Gitti hat so abrupt aufgelegt, dass ich gar keine Möglichkeit mehr habe, nach Kalina und Mariella zu fragen.

Die Kirchenglocken läuten die Mittagsstunde. Ich gehe hinaus zu Klara. Sie sitzt vor der unangetasteten Tasse Kaffee und starrt ins Leere. Als sie mich bemerkt, setzt sie schnell ein Lächeln auf.

»Wollen wir mit den Alten Mittag essen? Dann kann ich mit ihnen sprechen, und gleichzeitig sparen wir uns das Kochen«, schlägt Klara vor.

Ich habe nichts dagegen, und so gehen wir in den Speiseraum, wo sich schon einige Bewohner eingefunden haben.

Eine Frau kommt gleich auf Klara zu und nimmt ihre Hände. »Ist es wahr? Er greift wieder um sich? Bin ich die Nächste? Ich will nicht, dass mich der Beelzebub erwischt. Milena, arme Milena. Er hat sie. Er wird uns alle kriegen. Uns alle!«, schreit die Frau.

Mir läuft ein Schauer den Rücken hinab, und ich bewundere Klara, die ganz ruhig über die zerzausten Haare der Alten streicht. »Es wird nichts passieren. Der Beelzebub kann dir nichts tun, Ludmilla. Und auch die Milena hat er nicht. Sie wurde von einem ganz gewöhnlichen Menschen ermordet. Du brauchst keine Angst haben.«

»Siehst du, Milli, die Schwester sagt es auch. Hör jetzt auf mit deinen Schauermärchen. Den Beelzebub gibt es nicht. Er ist nur da bei dir drin«, sagt ein vielleicht Siebzigjähriger und deutet sich an die Stirn. Dann nimmt er die alte Frau bei der Hand und begleitet sie zum Tisch.

»Du! Du! Die Kinder? Und die ganzen unschuldigen Kinder? Der Beelzebub holt alle Engelmacherinnen!«, schreit die Alte und sieht sich hektisch um. Der Mann aber hält sie fester und redet auf sie ein. Wimmernd setzt sich die Frau.