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Nicole Phillips könnte nicht überraschter sein, als die Haushälterin, die sie einstellen wollte, sich als äußerst attraktiver Mann erweist. Jake Colson kann jedoch nicht nur sündhaft gut kochen, er ist außerdem ein Vampir. In Wahrheit wurde er nämlich von Marguerite Argeneau damit beauftragt, Nicole als Bodyguard zu beschützen. Denn irgendjemand scheint es auf das Leben der jungen Frau abgesehen zu haben.
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Seitenzahl: 502
Titel
Zu diesem Buch
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Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Ralph Sander
Zu diesem Buch
Nach einer gescheiterten Ehe liegt der Porträtmalerin Nicole Phillips nichts ferner als der Gedanke an einen neuen Mann. Stattdessen stürzt sie sich Hals über Kopf in die Arbeit und akzeptiert nur widerwillig den Ratschlag ihrer Patentante, eine Haushaltshilfe zu engagieren. Doch statt einer reinlichen älteren Dame steht plötzlich ein umwerfend attraktiver Mann in ihrer Küche. Jake Colson, der sich nicht bloß am Herd als wahres Talent erweist – sondern auch auf allen anderen Gebieten. Doch Jake verbirgt weit mehr als Nicole ahnen könnte: Er ist sowohl gelangweilter Vampir wie auch ihr Bodyguard undercover. Und sein neuester Auftrag gestaltet sich gar nicht so leicht wie erwartet, denn das Zielobjekt beharrt trotz einer gefährlichen Anschlagsserie stur darauf, alles im Griff zu haben, und ist dabei auch noch hinreißend sexy. Ehe Jake es sich versieht, wirbelt die tollpatschige Nicole sein Leben gehörig durcheinander. Doch er muss erst einmal denjenigen stoppen, der es auf das Leben seiner Gefährtin abgesehen hat, bevor er sie davon überzeugen kann, dass ihr Band für die Ewigkeit ist …
»Letzter Tag.«
Jake nickte stumm, sah aber nicht zu Dan Shephard, dem blonden Mann gleich neben ihm, der bei diesem Auftrag als sein Partner fungierte. Vielmehr blieb Jakes Blick auf die Menge gerichtet, die sich vor dem Hoteleingang eingefunden hatte, wo ihr Klient stand und geduldig Fragen beantwortete. Es sollte so aussehen, als würde ihr Klient ganz spontan auf einige der zahllosen Fragen antworten, die die unablässig an seine Fersen gehefteten Medien ihm stellten. Diese Aktion sollte ihn umgänglich erscheinen lassen und weniger als der gefährliche Diktator, der er in Wirklichkeit war. Aber nichts an der ganzen Aktion war spontan. Jake, Dan und der Rest der Security waren angewiesen worden, nicht auf ihn zuzulaufen und ihn in den Wagen zu drängen, um dann mit Vollgas davonzurasen, was für sie der Normalfall war. Stattdessen sollten sie ihn ›sein Ding machen lassen‹ und nur die Augen offen halten, ob von irgendeiner Seite Gefahr drohte. Genau das machte Jake gerade. Er hielt die Augen offen und achtete auf potenzielle Bedrohungen.
»Schon verdammt gut, dass es bald vorbei ist«, fuhr Dan mürrisch fort. »Wenn wir diesen arroganten Sack auch nur noch einen Tag länger bewachen müssten, könnte es sein, dass ich ihn höchstpersönlich um die Ecke bringe.«
Diese Bemerkung entlockte Jake ein amüsiertes Grinsen. Ihr Klient war zweifellos arrogant, er war mit nichts zufrieden und brachte jeden zur Raserei. Aber was wollte man von einem Diktator aus einem fernen Land auch anderes erwarten? Außerdem brachte es die Arbeit als professioneller Personenschützer in Ottawa nun mal mit sich, dass etliche Leute, auf die sie aufpassen mussten, arrogant und mit nichts zufrieden waren und jeden zur Raserei brachten. Zumindest wenn es nach dem äußeren Eindruck ging. Manche von ihnen waren in Wahrheit ganz anders und verhielten sich nur so – entweder aus Angst oder weil sie mit dem Stress nicht zurechtkamen. Aber das galt eben nicht für alle, und dieser Klient gab sich nach außen hin genau so, wie er in Wirklichkeit war. Allerdings wurden sie dafür bezahlt, dass sie ihre Arbeit ordentlich machten, und man konnte einfach nicht ausnahmslos jeden Klienten sympathisch finden.
»Sein Flieger geht heute Abend um acht, richtig? Dann sind wir ihn los?«, fragte Dan.
Wieder nickte Jake, doch sein Blick war inzwischen auf einen bestimmten Mann in der Menge konzentriert. Der Kerl trug eine Baseballkappe, und er ließ ihren Klienten nicht aus den Augen. Natürlich unterschied ihn das in keinster Weise von allen anderen Umstehenden, dennoch hatte er irgendetwas an sich, das in Jakes Kopf einen schrillen Alarm auslöste.
»Nur noch vier Stunden«, murmelte Dan und sah auf seine Armbanduhr. »Vier Stunden und keine Minute länger. Sollen wir anschließend was trinken gehen? Also ich brauche auf jeden Fall einen Drink nach einer Woche mit diesem Mistk… Hey, wo willst du hin?«
Jake hatte die Frage vernommen, aber er nahm sich nicht mehr die Zeit, sie zu beantworten. Stattdessen bahnte er sich einen Weg durch die Menge, um zu dem Mann mit der Baseballkappe zu gelangen. Er verlangte seinen Muskeln das Äußerste ab, um noch einschreiten zu können, während der Mann nach hinten griff und eine Pistole aus dem Hosenbund zog, die er auf ihren Klienten richtete.
»Das war ja vielleicht eine Aktion«, meinte Dan und klatschte Jake die Hand auf den Rücken, während sie das schicke Büro von Protection One verließen und zu den Aufzügen gingen. Aus den eigentlich noch verbleibenden vier Arbeitsstunden waren sechs geworden, was sie der Tatsache verdankten, dass Jake den Attentäter von seinem Plan abgehalten und überwältigt hatte. Zuerst hatten sie viel Zeit verloren, weil die Polizei den gesamten Ablauf des Geschehens aufnehmen musste, und bei der Rückkehr ins Büro war es ihnen nicht erspart geblieben, auch noch ihrem Boss Hank Latham von dem Beinaheattentat zu berichten.
Jetzt – zwei Stunden später als geplant – waren sie endlich auf dem Weg in den Feierabend.
»Ich weiß noch immer nicht, wie du das hingekriegt hast«, redete Dan kopfschüttelnd weiter. Die Lifttüren glitten zur Seite, und sie betraten die Kabine. »Teufel auch! Ich hab den Kerl gar nicht als Problem erkannt, aber selbst wenn, hätte ich nicht so schnell rennen können wie du. Du bist ja regelrecht durch die Menge geflogen.«
»Adrenalin«, gab Jake leise zurück und schaute auf seine Uhr.
»Tja, es geht halt nichts über das gute, alte Adrenalin«, meinte Dan lachend und klopfte Jake auf die Schulter, gerade als der die Taste fürs Erdgeschoss drückte. »Na ja, wenigstens haben wir jetzt vor dem nächsten Auftrag ein paar Tage frei. Willst du zur Feier des Tages irgendwo was trinken gehen?«
»Geht nicht. Ich bin zum Abendessen verabredet und eigentlich schon spät dran«, sagte Jake, lehnte sich gegen die Kabinenwand und verschränkte die Arme vor der Brust. Es tat ihm nicht wirklich leid, das Angebot auszuschlagen. Er mochte Dan, weil der wirklich ein netter Kerl war. Aber er selbst hatte es nicht so mit dem Trinken, denn Alkohol war nichts für ihn.
»Mit wem denn? Mit einer Lady?«, fragte Dan grinsend.
»Nein, mit Verwandtschaft. Sozusagen«, wich Jake aus.
»Sozusagen Verwandtschaft?«, hakte Dan nach.
Nach kurzem Zögern sagte Jake: »Ja, du weißt schon. So eine alte Dame, mit der du eigentlich gar nicht verwandt bist, die du aber trotzdem mit ›Tante‹ anredest, weil deine Eltern immer darauf bestanden haben.«
»Aha.« Dan verzog den Mund. »Ja, das kenn ich. So was hab ich auch. Seit ewigen Zeiten die beste Freundin meiner Mom. Sie und ihr Mann hängen ständig bei meinen Eltern rum, und sie war immer nur ›Tante Betty‹ für mich. Mittlerweile ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber ganz lieb.«
»Ja, so ist das bei mir auch«, erwiderte Jake und ignorierte das schlechte Gewissen, das sich bei jedem Wort etwas stärker regte. Die besagte alte Lady war steinalt, allerdings war sie alles andere als wacklig auf den Beinen.
»Tja …« Dan betrachtete ihn einen Moment lang, grinste dann und sagte: »Irgendwie bin ich froh, dass du mir von dieser Tante erzählst, die keine Tante ist. Du redest nie von deiner Familie, und ich hab mich manchmal schon gefragt, ob du vielleicht aus einem Ei geschlüpft bist oder so.«
»Na ja, es gibt halt nicht viel zu erzählen«, entgegnete Jake gelassen. »Der größte Teil meiner Familie lebt an der Westküste oder im Ausland. In den letzten Jahren haben wir uns so gut wie gar nicht gesehen.«
»Ah«, machte Dan und nickte verstehend. »Und? Leben deine Eltern noch? Hast du Geschwister? Irgendwelche Cousins oder Cousinen?«
Zu Jakes großer Erleichterung konnte er sich vor Antworten auf diese allzu interessierten Fragen drücken, da sie mittlerweile im Erdgeschoss angekommen waren und die Türen aufgingen. Er verließ die Kabine und sagte über die Schulter: »Bis in ein paar Tagen dann.«
»Okay«, sagte Dan, der ihm aus dem Aufzug folgte.
Jake beeilte sich, zum Ausgang zu kommen. Er schaute mürrisch drein, weil er nur zu gut wusste, dass die Fragen damit kein Ende hatten. Dan würde sie ihm bei passender Gelegenheit noch einmal stellen und dann gleich noch ein Dutzend Mal mehr.
Er verdrängte diese Sorge fürs Erste, drückte die Tür auf und bog nach rechts ab. Er hätte schon vor zehn Minuten im Restaurant erscheinen sollen, aber zum Glück befand sich das Büro von Protection One in Downtown und damit lag sein Ziel fast um die Ecke. Wenn er sehr zügig ging, würde er nur drei oder vier Minuten benötigen.
Es konnte aber auch gut sein, dass er sich völlig umsonst abhetzte, denn seine ›Tante‹ konnte längst schon wieder aufgebrochen sein. Besonders leidtun würde ihm das jedoch nicht, denn er freute sich keineswegs auf dieses Treffen. Zweifellos versuchte diese ›Tante‹, ein Familientreffen zu organisieren. Auch wenn es inzwischen sechs oder sieben Jahre her war, seit er sich von seiner Familie abgenabelt hatte, war er für eine Rückkehr in deren Schoß nicht bereit. Noch nicht jedenfalls.
Angestrengt überlegte er, wie er ihr das so höflich wie möglich begreiflich machen konnte. Dann war er auch schon an seinem Ziel angelangt. Er betrat das Lokal und sah von Tisch zu Tisch.
»Hallo, möchten Sie einen Tisch, oder werden Sie von jemandem erwartet?«
Jake sah die junge, blonde Frau an, die ihn angesprochen hatte. Sie war komplett in Schwarz gekleidet und hatte etwas verdammt Forsches an sich. Mit großen Augen sah sie ihn an, während sie auf seine Antwort wartete.
»Ich werde erwartet«, antwortete er und ließ seinen Blick weiterschweifen, um im nächsten Moment die kastanienbraune Schönheit zu entdecken, die an einem Tisch ganz hinten saß und ihm zuwinkte. Sie war also noch nicht gegangen. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf, als er sich ihrem Tisch näherte. Als er bei ihr ankam, war sie bereits aufgestanden und umarmte ihn.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, entschuldigte er sich, während er etwas ungelenk die Umarmung erwiderte. »Aber ich habe bis gerade eben gearbeitet.«
»Du musst dich nicht entschuldigen, Stephano. Ich freue mich einfach nur, dass du einverstanden warst, dich mit mir zu treffen.« Marguerite Argeneau lehnte sich nach hinten und lächelte ihn an. »Schön, dich zu sehen.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte er etwas verlegen und löste seine Arme von ihr. Etwas sanfter fügte er hinzu: »Ich nenne mich übrigens nicht mehr Stephano.«
»Oh, stimmt ja. Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sofort. »Du benutzt ja inzwischen deinen zweiten Vornamen, Jacob.«
»Sag einfach Jake zu mir«, schlug er vor und dirigierte sie zu ihrem Platz zurück. Er setzte sich ihr gegenüber, als auch schon eine ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Frau mit den Speisekarten zu ihnen kam. Sie war brünett, aber ihr Lächeln war genauso forsch wie das der Blonden am Eingang.
»Guten Abend!«, sagte sie gut gelaunt und legte jedem von ihnen eine Speisekarte hin. »Möchten Sie etwas trinken, während Sie die Karte lesen?«
»Ja, ein Wasser«, sagte Jake.
Die junge Frau nickte und wandte sich Marguerite zu. »Und Sie? Möchten Sie noch einen Tee oder lieber etwas anderes zu trinken?«
»Noch einen Tee, bitte, und ein Glas Wasser«, erwiderte sie und lächelte genauso breit wie die Frau, die die Bestellung notierte und sich dann zurückzog.
Als Marguerite sich dann wieder zu Jake umdrehte, wirkte ihr Lächeln natürlicher. »Jake. Ja, der Name passt zu dir. Und wie ich gehört habe, hast du auch den Nachnamen deines Vaters angenommen, also Colson statt Notte.«
Er rutschte vor Unbehagen auf seinem Platz hin und her und machte sich darauf gefasst, sich Vorhaltungen anhören zu müssen, dass er ein undankbarer Junge sei, der sich von dem Namen des Mannes getrennt habe, der seit seinem fünften Lebensjahr wie ein Vater zu ihm gewesen war.
Stattdessen nickte Marguerite verständnisvoll. »Ein neuer Name für ein neues Leben.«
Ihm musste sein Erstaunen anzusehen gewesen sein, da Marguerite amüsiert mit den Schultern zuckte.
»Ich weiß, du wolltest nicht unsterblich sein, Steph… Jake.« Sie verzog entschuldigend das Gesicht, weil ihr versehentlich der alte Name herausgerutscht war.
Es stimmte, dass er nie unsterblich hatte sein wollen. Seine Mutter hatte ihm alles erklärt und ihm angeboten, ihn an seinem achtzehnten Geburtstag zu wandeln, doch dem hatte er sich verweigert. Er war als Sterblicher zur Welt gekommen, und so hätte es seinem Willen entsprechend auch bleiben sollen. Aber dann hatte ihm eine verdammte Unsterbliche eine Klinge in den Leib gejagt, weil sie gegen seinen Boss Vincent Argeneau, der gleichzeitig ihr Neffe war, eine Vendetta geführt hatte. Vincent war in seinem Büro auf den am Boden liegenden, schon so gut wie toten Jake gestoßen und hatte die eine ihm zustehende Wandlung genutzt, um aus ihm einen Unsterblichen zu machen. Anders hätte Vincent ihm nicht das Leben retten können, und das wusste Jake auch. Er wusste auch, dass er dem Mann für diese Rettung dankbar sein sollte, doch er war es nun mal nicht. Oder vielleicht war er es und er wusste es bloß selbst nicht. Seitdem versuchte er die meiste Zeit über, diesen Zwischenfall zu ignorieren, so als wäre das alles nie passiert und als wäre er ein ganz normaler Mensch und nicht ein Freak, der sich von Blut ernähren musste, wenn er überleben wollte.
»Ich weiß, du hast mit dieser Wandlung zu kämpfen«, redete Marguerite weiter. »Das respektiere ich auch. Ich bin nicht hergekommen, um ein Urteil über dich zu fällen oder um dich zu einem Treffen mit deiner Mutter zu überreden. Ich will auch kein Wort darüber verlieren, wie sehr sie dich liebt und welche Sorgen sie sich um dich macht, denn ich möchte dir kein schlechtes Gewissen einreden.«
Ihre Äußerungen entlockten ihm ein ironisches Zucken der Mundwinkel, denn das, was sie sagte, genügte bereits, um sein schlechtes Gewissen auf den Plan zu rufen. Das wusste Marguerite nur zu genau, aber vermutlich konnte sie einfach nicht anders. Immerhin war sie selbst auch Mutter. Er ließ ihr die Bemerkung unkommentiert durchgehen und fragte: »Und wie lange wissen schon alle, wo ich bin und was ich mache?«
Auf die Erkenntnis, dass er ein Vampir war, hatte er wie ein verwundetes Tier reagiert, das sich in eine stille Ecke zurückzieht, um seine Wunden zu lecken. Nur dass es sich bei seiner Ecke um Ottawa gehandelt hatte, also verdammt weit von Kalifornien entfernt, wo er zu der Zeit gelebt hatte. Und anstatt seine Wunden zu lecken, hatte er sich alle Mühe gegeben, so zu tun, als sei alles noch so wie früher. Abgesehen von Geburtstagsgrüßen, die er mit ein paar begleitenden Worten per E-Mail an seine Mutter und seinen Bruder schickte, hatte er jeglichen Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, während er diese Sache zu verarbeiten versuchte. Da er sie in Wahrheit aber überhaupt nicht verarbeitete, ging das Ganze nun schon sieben Jahre so. Nur … wen kümmerte das jetzt noch? Die Zeit besaß eh keine Bedeutung mehr, er konnte also so lange brauchen, wie er wollte, um mit dieser Situation klarzukommen.
»Niemand sonst weiß es«, versicherte ihm Marguerite, und als er zweifelnd die Augenbrauen hochzog, fügte sie an: »Außer mir und Bastien natürlich.«
Jake presste die Lippen zusammen. Er hatte Bastien mitteilen müssen, wo er zu finden war. Er brauchte Blut, um zu überleben, weil er ein verdammter Vampir war, aber er würde ganz sicher nicht so dumm sein und Sterbliche beißen, nur um zu überleben. Also war er gezwungen gewesen, sich Blut liefern zu lassen, und das kam von der Blutbank von Argeneau Enterprises, dem Unternehmen, dem Bastien als Präsident vorstand. Jake war sich sicher, dass es auch noch andere Lieferanten gab, aber er kannte nur Argeneau, und schließlich war es nicht gerade so, dass Blutbanken für Vampire in den Gelben Seiten zu finden waren. Also hatte man vereinbart, dass er regelmäßig beliefert wurde, nachdem er mit Bastien persönlich gesprochen und ihn gebeten hatte, sich über seinen neuen Namen und seinen Aufenthaltsort auszuschweigen. Wie es schien, hatte er in dem Punkt wohl dem Falschen vertraut.
»Bastien hat es mir nicht gesagt«, versicherte Marguerite ihm ernst. »Er hat sein Versprechen nicht gebrochen.«
»Und wie …?«
»Ich bin seine Mutter«, erklärte sie. »Ich kann jedes meiner Kinder so lesen wie ein offenes Buch. Er kann nichts vor mir verheimlichen, auch wenn er es versucht«, fügte sie augenzwinkernd an.
Jake lächelte flüchtig und ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken. Er hätte es zumindest ahnen müssen. Bei seiner Mutter verhielt es sich genauso, seit sie Roberto Conti Notte begegnet und wenig später gewandelt worden war, als Jake noch ein kleiner Junge gewesen war. Es war ihm nie möglich gewesen, ein Geheimnis für sich zu bewahren, was für einen von seinen Hormonen gesteuerten Teenager nicht gerade angenehm gewesen war. Auf jeden Fall stellte es ein gewaltiges Hemmnis in Sachen Sex dar, wenn man wusste, dass der eigenen Mutter nichts verborgen blieb.
»Ich wusste von Anfang an, wo du bist, aber ich habe deine Privatsphäre respektiert, weil du dich an die neuen Umstände gewöhnen musstest.«
»Bis jetzt«, stellte er mit leiser Stimme fest.
»Bis jetzt«, stimmte Marguerite ihm ernst zu. »Weil ich dich brauche.«
Abrupt setzte er sich kerzengerade hin und sah sie verdutzt an. »Du brauchst mich?«
»Ja.« Sie nickte bedächtig, lehnte sich nach hinten und sah an ihm vorbei.
Als Jake sich umdrehte, wurde ihm klar, dass sie in Richtung der Kellnerin schaute, die mit den Getränken an ihren Tisch kam.
»Möchten Sie jetzt bestellen, oder benötigen Sie noch ein paar Minuten?«, fragte die junge Frau, während sie die Getränke verteilte.
Jake sah zu Marguerite, die ihre Speisekarte betrachtete. Die lag zwar aufgeschlagen vor ihr, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie bislang Gelegenheit gehabt hatte, sie genauer zu studieren. Er selbst hatte seine Karte nicht einmal geöffnet, allerdings wusste er auch so, was er wollte. Er kam oft zum Essen her, denn auch wenn die Kellnerinnen für sein Empfinden übertrieben kess waren, schmeckte es ihm hier ausgesprochen gut. Deshalb hatte er Marguerite auch vorgeschlagen, dass sie sich hier treffen sollten.
»Ich weiß schon, was ich nehme«, sagte er zu der Bedienung. »Aber Marguerite benötigt wohl …«
»Oh, die Wachteln klingen verlockend«, unterbrach Marguerite ihn.
Die Kellnerin lachte leise und notierte die Bestellung, dann sah sie Jake fragend an. »Und für Sie das gegrillte Hanger-Steak?«
Er stutzte. »Ich … ähm … ja«, antwortete er zögerlich. Dass sie das wusste, irritierte ihn ein wenig.
»Das haben Sie bei Ihren letzten drei Besuchen auch bestellt«, antwortete sie und sammelte die Speisekarten ein. »Zumindest bei den letzten drei Besuchen, bei denen Sie meine Schicht erwischt haben.«
»Oh. Ja, stimmt«, erwiderte Jake, dem es etwas peinlich war, dass er die Frau nicht wiedererkannt hatte. Vor seiner Wandlung war es ihm immer wichtig gewesen, sich solche Dinge zu merken, um wie in diesem Fall zu zeigen, dass er gute Bedienung zu schätzen wusste. Doch seit der Wandlung war das alles anders geworden. Seine Gedanken drehten sich meistens nur noch um ihn selbst, und von seiner Umgebung nahm er so wenig wahr wie von den Leuten, mit denen er zu tun hatte. Die einzige Ausnahme betraf seine Arbeit, weil Aufmerksamkeit eine Grundvoraussetzung war, um diesen Job überhaupt erledigen zu können.
Er räusperte sich und lächelte ein wenig betreten. »Vielen Dank … Melanie«, fügte er noch hinzu, nachdem er schnell einen Blick auf ihr Namensschild geworfen hatte. Er würde darauf achten, dass er sie zukünftig wiedererkannte.
»Ist mir ein Vergnügen«, beteuerte sie und lächelte wieder strahlend.
»Sie mag dich und findet, dass du attraktiv bist«, sagte Marguerite amüsiert, kaum dass die junge Frau außer Hörweite war.
»Ja, seit der Wandlung passiert mir das immer wieder«, gab er zurück. »Ich schätze, dieses Unsterblichenzeugs macht einen für Frauen unwiderstehlich.«
»Genau genommen nicht. Auch wenn die Forscher bei Argeneau Enterprises festgestellt haben, dass wir bestimmte Hormone und Pheromone in einer Konzentration abgeben, die sich auf Sterbliche auswirken könnte – männliche ebenso wie weibliche.«
»Ja, klar«, sagte er mürrisch. »Das macht uns zu besseren Jägern.«
Marguerite trank einen Schluck Tee. Als sie die Tasse wieder hinstellte, äußerte sie sich zurückhaltend: »Du hast zweifellos viele Fragen dazu, inwieweit du jetzt anders bist.«
»Nein«, gab er schroff zurück. »Mutter und Roberto haben zwar dafür gesorgt, dass ich als Kind im Düstern tappte, trotzdem weiß ich seit meinem achtzehnten Geburtstag über die Unsterblichen Bescheid. In den letzten dreißig Jahren, bevor ich aus Kalifornien weggegangen bin, habe ich eine ganze Menge gelernt. Das meiste dürfte ich also wissen. Mir war nur nie bewusst, dass die Frauen meinem Bruder Neil bloß deshalb so hinterhergerannt sind, weil er ein Unsterblicher ist, und nicht, weil er von Natur aus so charmant und witzig wäre.«
»Na, dann hat das Ganze ja zumindest ein Gutes«, sagte Marguerite gut gelaunt. »Dir rennen die Frauen jetzt auch hinterher.«
Dem konnte Jake nicht widersprechen, dennoch erwiderte er nur: »Du hast gesagt, du brauchst meine Hilfe.«
Es schien, als wollte sie noch mehr zu den Vorteilen sagen, die mit seiner Wandlung verbunden waren, doch dann seufzte sie nur und fragte: »Habe ich das richtig verstanden, dass du jetzt als Leibwächter arbeitest?«
Er nickte. Vor seiner Wandlung war er Vizepräsident bei V.A. Inc. in Kalifornien gewesen, einem Unternehmen mit einem breit gefächerten Betätigungsfeld. Vincent Argeneau hatte dort den Posten des Präsidenten innegehabt, aber er war kaum mehr als ein Aushängeschild gewesen, denn die eigentliche Leitung des Unternehmens war von Jake und seinem jüngeren Bruder Neil erledigt worden. Jake war tagsüber der Ansprechpartner gewesen, Neil hatte die Nachtschicht übernommen. Nach seiner Wandlung jedoch … na ja, Neil war bereits für die Nacht eingeteilt, damit war der Posten besetzt, und normale Firmen benötigten nun mal keinen Vizepräsidenten für die Nachtschicht. Lediglich bei von Unsterblichen geführten Unternehmen kam das vor, da die am Tag mit Sterblichen zu tun hatten, während die unsterbliche Kundschaft nur nachts bedient werden wollte. Doch zu der Zeit hatte Jake ohnehin nichts von Unsterblichen wissen wollen, vielmehr wollte er auf möglichst großen Abstand zu ihnen gehen. Allerdings war ein derartiger Job in einem von Sterblichen geführten Unternehmen für ihn nicht möglich, denn Vampire arbeiteten tagsüber nicht.
Passend zu seinem neuen Namen hatte Jake auch eine neue Karriere gebraucht: Etwas, das er nachts erledigen konnte und das nur ein Minimum an Ausbildung verlangte. Er hatte sich schon immer für Kampfsport interessiert und seit seinem siebten Lebensjahr verschiedene Disziplinen trainiert. Leibwächter zu werden war ihm als eine geeignete Lösung erschienen, und es klang interessant und sogar ein wenig aufregend. Oh Mann, er hätte sich nicht gründlicher irren können als in diesem Punkt. Seine Arbeit verlangte von ihm, dass er fast nur herumstand und stundenlang eine Menschenmenge im Auge behielt. Aber zumindest war es ein guter Grund für ihn, jeden Morgen aufzustehen.
Jeden Abend, korrigierte er sich sofort. Es war ein guter Grund, um Abend für Abend aufzustehen. Auch nach sieben Jahren bereiteten ihm viele Veränderungen in seinem Leben große Probleme. So war er zum Beispiel nie ein Nachtmensch gewesen, aber zu einem solchen war er jetzt geworden, ob es ihm gefiel oder nicht.
»Es ist so, dass ich da jemanden habe, der bewacht werden muss.«
Diese Worte holten Jake aus seinen Gedanken. Überrascht sah er Marguerite an. »Lucian wird doch sicher ein paar Vollstrecker abstellen können, damit sie einen Unsterblichen bewachen, der …«
»Nein«, unterbrach Marguerite ihn. »Diese Situation hat mit Unsterblichen nichts zu tun. Sie ist eine Sterbliche, und das gilt auch für die Person, von der die Gefahr ausgeht.«
Jake ließ sich wieder gegen die Rückenlehne sinken und zog eine Augenbraue hoch als stumme Aufforderung an Marguerite, weiterzureden. Sie war eine Unsterbliche, und dazu noch eine von den alten. Sie musste über siebenhundert Jahre alt sein, aber ganz genau wusste er das nicht. Auf jeden Fall war er sich ziemlich sicher, dass sie irgendwann im Mittelalter zur Welt gekommen war. Soweit er wusste, waren alle ihre Bekannten ausschließlich Unsterbliche. Er konnte sich aber auch nicht vorstellen, was sie mit einem Sterblichen hätte anfangen sollen.
»Ihr Name ist Nicole Phillips. Ihre Mutter Zaira ist die Schwester meiner Haushälterin Maria«, erklärte Marguerite schließlich. »Kurz bevor Maria für mich zu arbeiten begann, heiratete Zaira und zog mit ihrem Ehemann nach Norden. Als Nicole fünfzehn war, erlitt der Vater einen Herzinfarkt, und sie zogen hierher zurück, um näher bei dem Rest der Familie zu sein. Vom fünfzehnten Lebensjahr an bis zum Abschluss der Universität halfen Nicole und Marias Tochter Pierina beim Frühjahrsputz bei mir zu Hause mit. Außerdem unterstützten sie mich bei den Vorbereitungen für meine seltenen, wirklich großen Partys.« Sie lächelte versonnen. »Beide waren anständige Mädchen, sehr höflich und sehr engagiert.«
Jake hörte aus ihrer Stimme heraus, dass ihr die zwei sehr am Herzen lagen. Als sie eine Pause machte, nickte er flüchtig, um sie zum Weiterreden zu ermuntern.
»Die beiden Mädchen standen sich sehr nahe, mehr Schwestern als Cousinen. Pierina kochte leidenschaftlich gern, und sie konnte exzellent organisieren. Es gefiel ihr zu bestimmen, welche Dinge wohin gehörten und wer was tun sollte.« Wieder zeigte Marguerite dieses versonnene Lächeln. »Nicole dagegen hatte eine eher künstlerische Ader. Sie schlug beruflich dann auch diese Richtung ein und arbeitet heute als erfolgreiche Porträtmalerin. Ihre Arbeiten werden hoch gehandelt und sind sehr gefragt.«
Jake entging nicht der Stolz und die Freude, die in jedem Wort mitschwangen. Es war eindeutig, dass Marguerite beide Mädchen in ihr Herz geschlossen hatte. Unwillkürlich begann auch er zu lächeln.
»Vor ein paar Jahren lernte Nicole bei einem Urlaub in Europa einen charmanten Italiener kennen. Er schien sie förmlich anzubeten. Das Ganze war sehr romantisch. Er war reizend, er versprach, ihr die ganze Welt zu zeigen, machte ihr die romantischsten Liebeserklärungen, die man sich nur vorstellen kann … und sie war völlig hingerissen von ihm. Und dann wurde geheiratet.«
Ihm entging nicht der finstere Tonfall, in dem sie den letzten Satz aussprach. »Ich darf wohl annehmen, dass sich von dem Moment an einiges änderte.«
»Oh ja«, seufzte sie. »Nicole versuchte, es zu verheimlichen, aber …«
»Dir kann man nichts verheimlichen«, fuhr er an ihrer Stelle fort.
»Ich war nicht diejenige, die als Erste darauf aufmerksam wurde, dass da etwas nicht stimmte«, korrigierte sie ihn. »Wie ich schon sagte, standen Nicole und Pierina sich sehr nah. Aber dann zog sie für eine kurze Zeit nach Italien, um bei Rodolfo zu sein …«
»Ist das der charmante Italiener?«
»Ja. Rodolfo Rossi. Sie lebte eine Weile in Italien mit ihm zusammen, dann heirateten sie und sie kam mit ihm nach Kanada. Allerdings zogen sie nach Ottawa und nicht nach Toronto, wo ihre ganze Familie war. Er bestand darauf«, fügte sie mürrisch an. »Er behauptete, in Ottawa könne er auf seinem Gebiet leichter eine neue Stelle finden. Aber inzwischen ist mir klar geworden, dass er sie nur so weit wie möglich von ihrer Familie isolieren wollte.«
Jake nickte und schwieg. Es war die übliche Vorgehensweise eines Mannes, der seine Frau misshandelte. Erst wurde sie umgarnt, und dann brachte er sie weit weg von der Familie und allen Freunden, die ihr Rückhalt hätten geben oder hätten einschreiten können.
»Zum Glück machte sich Pierina auf den Weg nach Ottawa, um Nicole zu besuchen«, redete Marguerite weiter. »Was sie dort vorfand, gefiel ihr gar nicht. Zuerst dachte Pierina, Nicole würde zu viel arbeiten, und zwar so viel, dass sie damit ihr eigenes Grab schaufelte. Sie bestand darauf, dass Nicole für ein Frauenwochenende nach Toronto kam, um mal ein bisschen auszuspannen. Ich lud die beiden und ihre Mütter zum Abendessen ein, weil ich Nicole bitten wollte, für mich ein Porträt von meinem Sohn Christian und seiner Verlobten Carolyn zu malen.«
»Und dabei hast du ihre Gedanken gelesen und festgestellt, dass die Arbeit gar nicht das Problem war?«, hakte Jake nach.
»Nein, ich musste feststellen, dass die Arbeit nicht das einzige Problem war«, berichtigte Marguerite. »Sie nahm zu viele Aufträge an und arbeitete tatsächlich bis zur Erschöpfung … weil Rodolfo darauf bestand. Ihre Arbeiten sind sehr gefragt, und sie erhält Anfragen aus aller Welt. Normalerweise muss sie einem Großteil der Interessenten sofort absagen, weil ihr Terminplan aus allen Nähten platzt. Aber Rodolfo bestand darauf, dass sie mehr leisten könne und dass sie jeden Auftrag annehmen solle. Sie solle ›das Eisen schmieden, solange es heiß ist‹. Irgendwann würden die Aufträge vielleicht zurückgehen, deshalb sollte sie jetzt so viel Geld wie möglich damit verdienen, ehe die Nachfrage nachließ. Er ließ sie praktisch rund um die Uhr arbeiten, und er selbst rührte keinen Finger.«
»Sympathischer Mensch«, murmelte Jake.
»Oh ja. Aber während das ›nur‹ bewirkte, dass ihre Kräfte allmählich schwanden, gab es noch ein anderes Problem, das sie zu verheimlichen versuchte. Tatsache war nämlich auch, dass er nahezu alles in ihrem Leben zu kontrollieren versuchte und dabei auch noch hyperkritisch war. Auf der einen Seite bestand er darauf, dass sie alle Aufträge annahm, beklagte sich aber andererseits darüber, dass sie nie Zeit für ihn hatte. Damit unterhöhlte er auch ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstständigkeit, sodass sie sich die meiste Zeit über elend fühlte. Als sie nach Toronto kam, hatte er sie bereits dermaßen demoralisiert, dass sie es meiner Meinung nach aus eigener Kraft gar nicht mehr geschafft hätte, sich von ihm zu trennen. Also …« Sie unterbrach sich und wich Jakes Blick aus, aber schließlich gestand sie ihm: »Ich gab ihr einen geistigen Schubser, damit sie ihn verließ.«
»Ah«, machte Jake. Mehr wollte er dazu nicht sagen. Er hatte noch nie sonderlich viel von der Fähigkeit der Unsterblichen gehalten, den Geist von Sterblichen zu kontrollieren, damit sie Dinge taten, zu denen sie normalerweise keine Veranlassung hatten. Tatsache war, dass er diese Art von Einmischung so gar nicht mochte. Aber zumindest hatte Marguerite in diesem Fall nur die besten Absichten im Sinn gehabt.
»So, da wären wir.«
Jake sah zur Seite und lehnte sich nach hinten, damit die Bedienung, die mit den Bestellungen an den Tisch kam, genug Platz hatte.
»Danke«, sagte er leise, als sie ihm seinen Teller servierte.
»Bitte sehr«, antwortete die Frau und schenkte ihm wieder ein strahlendes Lächeln, bevor sie sich entfernte.
Beide schwiegen sie eine Weile, da jeder von ihnen mit seinem Essen beschäftigt war. Das Steak war wie erwartet erstklassig, so wie immer. Bei seinem ersten Besuch hatte Jake ein solches Steak probiert, und dabei war er dann geblieben. Es gehörte zu seinen Angewohnheiten, den Dingen treu zu bleiben, die ihm gefielen. Allerdings kam ihm beim Anblick von Marguerites Wachteln der Gedanke, ob er nicht doch von Zeit zu Zeit mal etwas anderes bestellen sollte. Was auf ihrem Teller lag, sah jedenfalls köstlich aus.
»Es schmeckt auch köstlich«, versicherte sie ihm, woraufhin Jake den Mund verzog, da ihm klar wurde, dass Marguerite seine Gedanken gelesen hatte. Auch wenn er jetzt selbst zu den Unsterblichen zählte, war das für ihn alles immer noch ungewohnt und fremd. Zumindest aber wusste er, dass ältere Unsterbliche ihn so mühelos lesen konnten, als wäre er ein Sterblicher.
»Tut mir leid«, murmelte sie betreten.
Er reagierte mit einem ironischen Lächeln, schluckte das Stück Steak hinunter und fragte: »Also hast du dieser Nicole den Anstoß gegeben, sich von Rodolfo zu trennen?«
Marguerite nickte und trank einen Schluck Wasser. »Anfangs schien das auch alles problemlos zu laufen. Sie verließ ihn und reichte die Scheidung ein. Außerdem suchte sie einen Therapeuten auf, damit der die Schäden wiedergutmachte, die Rodolfo angerichtet hatte.« Marguerite lächelte zuversichtlich. »Da macht sie bereits erste Fortschritte. Nicole ist auf dem besten Weg, wieder die glückliche und starke Frau zu werden, die sie vor ihrer Ehe war.«
»Aber?«, fragte Jake. Wenn alles genau nach Plan laufen würde, müsste Marguerite ihn nicht um Hilfe bitten.
»Aber es gab einige Zwischenfälle«, seufzte Marguerite und schnitt energisch in ihre Wachteln.
»Zwischenfälle?«
»Drei Gasexplosionen, denen sie nur knapp entkommen ist.«
Er zog die Brauen hoch. »Du glaubst also, Rodolfo will sie umbringen?«
Marguerite kniff die Lippen zusammen und entgegnete: »Er hat es auf ihr Geld abgesehen. Er behauptet, dass er seine Heimat, seine Freunde, seine Familie und weiß Gott wen sonst noch alles zurückgelassen habe, um sie zu heiraten und zu ihr nach Kanada zu ziehen, und nun lasse sie ihn einfach im Stich. Natürlich kauft ihm das kein Mensch ab. In Wahrheit ist er schon vor seiner Hochzeit entlassen worden, und der Umzug nach Kanada war allein seine Idee. Außerdem hat Nicole noch von Italien aus für ihn eine Reihe von Bewerbungsgesprächen vereinbart, damit er auf seinem Gebiet schnell eine neue Anstellung finden würde. Aber er ging gar nicht erst zu den Vorstellungsgesprächen hin und behauptete, er wolle sich beruflich verändern. Doch in Kanada angekommen hat er nicht einmal Anstalten gemacht, nach einer Stelle zu suchen, sondern hat sich von Nicole aushalten lassen.«
Entrüstet schüttelte Marguerite den Kopf. »Ihr Anwalt glaubt, dass er kaum einen Anspruch hat. Wenn Nicole allerdings stirbt, bevor die Scheidung rechtskräftig wird …«
»… dann kassiert er ihr gesamtes Vermögen«, führte Jake den Satz für sie zu Ende. »Und du denkst, dass er darauf hinarbeitet?«
»Ja«, bekräftigte sie leise.
Jake nickte, fragte dann aber: »Und warum ändert sie nicht ihr Testament, damit er das Geld garantiert nicht bekommt?«
»Weil sie ihm das nicht zutraut«, ließ Marguerite ihn betrübt wissen.
Er schwieg einen Moment, dann hakte er nach: »Und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen, dass du sie dazu gebracht hast, ihn zu verlassen, richtig?«
Sie nickte bedächtig. »Ich bedaure allerdings nicht, dass ich das gemacht habe, denn, wie gesagt, sie findet gerade wieder zu sich selbst und somit zu der fröhlichen, eigenständigen Frau zurück, die sie vor ihrer Ehe war. Sie wirkt einfach viel glücklicher. Aber …«
»Aber ihr droht jetzt auch Gefahr, der sie ohne dein Eingreifen nicht ausgesetzt wäre«, schloss er folgerichtig und entlockte ihr damit einen erneuten Seufzer.
Jake musterte sie eine Weile, während sie weiteraß. »Mich wundert, dass du dich nicht selbst um den Ehemann kümmerst. Du kannst doch einfach seine Erinnerung löschen und ihn nach Europa zurückschicken.«
Sie biss sich auf die Lippe, verzog den Mund und gestand ihm dann: »Darum bin ich ja in Ottawa. Julius glaubt, ich bin hier, um Fotos von Christian und Carolyn auszusuchen, die Nicole für das Porträt der beiden gebrauchen könnte. Sie glaubt das ebenfalls. Aber eigentlich hatte ich vor, Rodolfo einen Besuch abzustatten und ihn auf die Heimreise zu schicken. Dummerweise kann ich ihn nicht ausfindig machen. Als Nicole aus dem Haus auszog, hat sie ihn weiter dort wohnen lassen. Sie wollte alle Rechnungen bezahlen, während er eine Art Hausmeister spielte, bis das Haus verkauft ist. Den Erlös wollten sie dann teilen. Aber ihm schien es zu gefallen, mietfrei dort zu wohnen, also unternahm er alles, damit es nur ja niemand kaufte. Schließlich musste Nicole ihm seine Hälfte ausbezahlen, um ihn loszuwerden. Wohin er von dort gezogen ist, weiß sie nicht.«
Marguerite zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich dachte noch, dass das kein Problem sei, weil ich mir Rodolfos Adresse bei seinem Scheidungsanwalt holen kann. Ich ließ mir dessen Namen von Nicole geben und suchte ihn auf, aber nicht mal er hat Rodolfos tatsächliche Adresse. Der Kontakt läuft nur über ein Postfach und über die Handynummer, aber das Gerät wird nach wie vor unter der alten gemeinsamen Adresse geführt.« Sie schnaubte leise. »Man könnte meinen, dass er untergetaucht ist. Nicole hat ihn beim Auszug nach seiner Adresse gefragt, aber er wollte ihr keine Auskunft geben und hat im Scherz geantwortet, sie könnte ihm ja einen Killer auf den Hals hetzen wollen.«
Jake zog die Brauen zusammen. Dass dieser Rodolfo auf einen derartigen Gedanken verfiel, legte den Verdacht nahe, dass er selbst genau das bei ihr vorhatte. Es bestand jedenfalls kein Zweifel daran, dass eine Erbschaft ihm mehr einbringen würde als eine Scheidung. Trotzdem irritierte ihn etwas. »Wieso ich?«
Marguerite führte eben die volle Gabel zum Mund, als sie seine Frage hörte. Etwas ratlos sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, wieso ich?«, wiederholte er. »Warum heuert Nicole nicht selbst einen Sicherheitsdienst an? Und wieso wendest du dich an mich? Ich arbeite nur für einen Überwachungsservice, der mir nicht einmal gehört, Marguerite.«
»Ach so, deswegen. Ja, ich verstehe.«
Sie schob die Portion Steckrüben in den Mund und kaute, während sie nachdenklich dreinschaute. Da Jake davon ausging, dass sie erst einmal ihre Gedanken ordnen wollte, konzentrierte er sich wieder auf sein Essen, wobei er überrascht feststellte, dass er sein Steak während der Unterhaltung bereits zur Hälfte aufgegessen hatte. Das war eine Schande, denn dieses Steak war so gut, dass man es genießen musste und nicht nebenbei vertilgen sollte, ohne etwas von dem köstlichen Geschmack wahrzunehmen. Jetzt schnitt er ein weiteres Stück ab, das er dann genüsslich zu kauen begann.
»Na ja«, sagte Marguerite nach einer Weile. »Das Problem dabei ist, dass Nicole das Ganze komplett ignoriert und darauf beharrt, dass sie nicht in Gefahr ist.«
Nachdem Jake den Bissen heruntergeschluckt hatte, entgegnete er: »Das klingt aber nicht nach etwas, das man einfach so ignorieren kann. Du hast von drei Explosionen gesprochen, denen sie nur knapp entkommen ist.«
»Richtig.« Sie legte die Gabel zur Seite, was eine ausführliche Schilderung der Ereignisse erwarten ließ. »Nicole hat Rodolfo letzten Monat ausbezahlt, damit er aus dem Haus auszieht, woraufhin sie wieder dort eingezogen ist. Pierina ist zu ihr gefahren, um ihr beim Auspacken zu helfen. Sie sagt, sie saßen zusammen und unterhielten sich, nachdem der Umzug hinter ihnen lag. Sie waren erschöpft, ihnen tat jeder Knochen weh, und schließlich schlug Pierina vor, sie sollten doch ein Glas Wein trinken und im Whirlpool auf der Terrasse ein heißes Bad nehmen. Als sie die Glastüren öffnen wollten, um sich zu vergewissern, dass mit der Wanne alles in Ordnung war, stellten sie fest, dass sie die Türen nicht aufschieben konnten. Jemand hatte ein Stück Holz in die Schiene gesteckt, weshalb sich die beiden Türen nicht öffnen ließen.«
»Das machen viele Leute, um Einbrecher aufzuhalten«, meinte Jake beiläufig.
»Das Haus ist ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, und es sind noch die ersten Türen. Die sind umgekehrt angeordnet, das heißt die Fliegengittertür ist innen, und die Tür befindet sich an der Außenseite. Die Schiene ist damit auch außen, und deshalb steckte das Stück Holz an der Außenseite.« Nach einer kurzen Pause fügte Marguerite hinzu: »Ein Dieb hätte das Stück herausziehen und die Türen öffnen können.«
»Oh«, gab er nur von sich.
Sie nickte. »Ganz genau. Also sind die beiden zu ihrem Atelier gegangen, um die Tür dort zu benutzen, aber da fanden sie dasselbe vor. Sie haben sich weiter umgesehen und herausgefunden, dass alle Wege nach draußen auf die gleiche Weise versperrt waren.«
»Interessant«, merkte Jake an.
»Pierina hat mir erzählt, dass sie da noch lauthals über Rodolfo gelacht hätten, weil sie ihn für einen Idioten hielten, der nicht mal weiß, von welcher Seite die Einbrecher kommen.«
»Aber irgendetwas hat sie umdenken lassen«, sagte Jake. »Was war das?«
»Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war die Heizung ausgefallen. Im Haus wurde es schnell richtig kalt. Nicole ließ einen Heizungsmonteur kommen, der feststellte, dass irgendein Teil der Heizungsanlage fehlte. Pierina hat es mir erklärt, aber …« Marguerite hob kurz die Schultern. »Ich habe vergessen, was es war. Auf jeden Fall konnte deswegen die Flamme nicht mehr angehen, um das Gas zu entzünden. Pierina fiel ein, dass alle Türen von außen versperrt worden waren, und sie wurde misstrauisch. Sie fragte den Monteur, ob wegen des fehlenden Teils Gas hätte austreten können, das sich dann entzündet hätte oder durch das jemand im Haus hätte ersticken können. Der Mann versicherte, dass diese neue Heizungsanlage sich automatisch abschaltet und kein Gas mehr entweichen kann, wodurch es zu keiner Explosion kommen könnte. Dennoch wunderte ihn das Fehlen dieses Teils, weil das abmontiert werden musste. Es konnte nicht einfach abfallen, und selbst wenn das passiert wäre, musste es doch jemand mitgenommen haben, da es nirgendwo herumlag.«
Jake sah sie sekundenlang schweigend an, dann sagte er: »Ich verstehe nicht so ganz …«
»Jemand hat dieses Teil entfernt«, wiederholte Marguerite. »Offenbar kennt Rodolfo von zu Hause die ältere Version dieser Heizungsanlage, und er weiß nichts von der automatischen Abschaltung, die inzwischen vorhanden ist. Bei der alten Anlage wäre es zu einer Gasexplosion gekommen, und Pierina vermutet, dass er das gleiche Ergebnis bei der neuen Anlage erwartet hat. Außerdem waren alle Türen zugesperrt«, betonte sie. »Wenn durch eine Explosion ein Feuer ausgebrochen wäre, hätte Nicole nicht mehr ins Freie gelangen können. Oder aber sie wäre an der hohen Gaskonzentration in der Luft gestorben.«
»Aber es gibt doch sicher noch andere Türen, die aus dem Haus führen«, wandte Jake ein. »Es werden ja nicht alles nur Glastüren sein. Die Haustür beispielsweise …«
»Es gibt im Haus drei normale Türen, die alle mit einem Schloss versehen sind. Das macht es unmöglich, das Haus ohne Schlüssel zu betreten oder zu verlassen. Wenn mitten in der Nacht ein Feuer ausbräche, dann würde Nicole nicht mit dem Schlüsselbund in der Hand aus dem Bett springen, um aus dem Haus zu laufen. Sie würde durch den Rauch die Treppe runter ins Erdgeschoss wanken, feststellen, dass sie durch die Haustür nicht nach draußen kommt, und es dann mit den Schiebetüren versuchen. Sie müsste erkennen, dass die sich nicht bewegen lassen, und dann müsste sie zusehen, dass sie irgendwie zurück nach oben kommt, um nach ihren Schlüsseln zu suchen, mit denen sie sich dann erneut ins Erdgeschoss begeben würde, um eine der Türen aufzuschließen.«
»Verstehe«, murmelte Jake. In dem heraufbeschworenen Szenario hätte Nicole längst so viel Rauch eingeatmet, dass sie irgendwo bewusstlos zusammengebrochen wäre. »Und die beiden anderen Explosionen?«
»In der Küche steht ein Grill, der mit Gas betrieben wird. Nicole wollte am zweiten Tag, an dem Pierina bei ihr zu Besuch war, Steaks grillen, aber als sie den Grill anmachte, kam ihr eine Stichflamme entgegen, die ihr glücklicherweise nur die Augenbrauen versengte, weil sie schnell genug zurückwich. Sie riefen einen Monteur, der sich den Grill ansah und herausfand, dass dort, wo die Flammen unter dem Grill austraten, Alufolie ausgelegt worden war. Der Monteur wollte wissen, wofür das gut sein sollte. Nicole konnte nichts dazu sagen, sie wusste nur, dass sie das nicht gemacht hatte. Als der Monteur ihr das zeigte, war die einzige Erklärung, die sie dafür hatte, dass das ihr Ex gemacht haben könnte, um zu verhindern, dass Fett unter die eigentliche Grillfläche geriet, was er sonst hätte sauber machen müssen.«
»Aber wenn die Folie unter dem Grill liegt, kommen die Flammen doch gar nicht mit dem Grillgut in Berührung«, wunderte sich Jake.
»Ganz genau«, bestätigte Marguerite mit ernster Miene. »Das wurde ihr erst klar, als der Monteur sie darauf hinwies. Anscheinend hatte Rodolfo das schon immer so gemacht, und ihr war gar nicht aufgefallen, dass die Folie den Flammen im Weg war.«
Jake nickte. Er vermutete, dass sie nicht darauf geachtet hatte, wenn sie zum Beispiel in eine Unterhaltung vertieft war.
Marguerite trank einen Schluck Tee und fuhr fort: »Der Monteur nahm die Folie weg und stieß sofort auf das eigentliche Problem. Der Gasschlauch war abgezogen worden, sodass das Gas aus der Leitung strömte und sich einen Weg nach vorn zu den Drehschaltern suchte. Der Mann sagte, Nicole habe noch Glück gehabt, denn es hätte auch deutlich schlimmer ausgehen können als nur mit angesengten Augenbrauen. Als der Mann von Nicole wissen wollte, ob sie Feinde habe, und als Pierina dann einwarf, Nicole befinde sich gerade mitten in der Scheidung, nickte er versonnen. Er reparierte den Grill innerhalb von zwei Minuten, da lediglich der Schlauch wieder aufgesteckt werden musste, aber dann sagte er zu Nicole, er würde sich lieber noch alle übrigen Geräte im Haus ansehen, die mit Gas betrieben werden.«
»Und er wurde fündig«, folgerte Jake, der Marguerite mittlerweile zustimmen musste, dass Rodolfo den Tod seiner Frau zu planen schien. Er wusste nicht, ob der Kerl zu dumm war oder ob Nicole einfach nur unverschämt viel Glück hatte, auf jeden Fall hätten beide ›Unfälle‹ für sie tödlich enden können.
»Der Kamin im Schlafzimmer«, redete Marguerite leise seufzend weiter. »Pierina konnte mir nicht sagen, welches Problem es da gab, aber dem Monteur genügte ein einziger Blick, dem ein hingeraunter Fluch folgte, und dann empfahl er Nicole, eine Alarmanlage mit Videoüberwachung einbauen zu lassen. Er sagte, manche Leute würden bei einer Scheidung schon einmal durchdrehen, weshalb sie alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen treffen solle, vielleicht sogar noch ein paar Wachhunde dazu. Während er Nicole seine Ratschläge erteilte, nahm er den Kamin auseinander und baute ihn Stück für Stück wieder zusammen. Da war für Pierina klar, dass da auch irgendwas manipuliert worden sein musste.«
»Nicole hat ihn nicht gefragt, was mit dem Kamin nicht stimmte?«
Marguerite schüttelte den Kopf. »Pierina war misstrauisch geworden, aber vor Schreck dachte sie nicht daran zu fragen. Nicole stand nur da und sah leicht besorgt drein. Außerdem redete der Monteur die ganze Zeit über wie ein Wasserfall. Aber dass irgendetwas wirklich nicht in Ordnung war, wurde ihr klar, als der Monteur keine Rechnung schreiben wollte, obwohl er den ganzen Tag mit Reparaturen beschäftigt gewesen war. Ich meine, wer macht so was schon?«, fragte sie Jake. »Und sie sagt auch, dass er Nicole immer wieder besorgte und mitleidige Blicke zuwarf, während er ein paarmal wiederholte, dass sie sich sofort um Sicherheitsmaßnahmen bemühen müsste. Auf dem Weg nach draußen drückte er dann Nicole kurz an sich. Pierina ist das vorgekommen, als sei der Mann der festen Überzeugung, Nicole zum letzten Mal lebend zu sehen.«
»Dann war der Kamin also wohl auch manipuliert worden, und das wäre dann das dritte Mal, dass sie mit dem Leben davongekommen ist, richtig?«, hakte Jake nach.
Marguerite nickte betrübt. »Aber Nicole hat darüber nur gelacht. Sie ist davon überzeugt, dass es nur Zufälle oder Unfälle sind. Dass Rodolfo ihr tatsächlich nach dem Leben trachten könnte, um ihr Erbe zu kassieren, hat sie lediglich mit der Bemerkung abgetan, dass er dann aber schon ziemlich unfähig sein müsse. Auf jeden Fall sieht sie keinen Grund zur Sorge.«
»Sie leugnet also alles«, stellte Jake fest.
»Ich schätze, es ist schon nicht leicht zuzugeben, dass die eigene Ehe ein großer Fehler war«, gab Marguerite zu bedenken. »Überleg mal, wie peinlich es erst für eine Frau sein muss, sich einzugestehen, dass der Ehemann nicht der Mann ihrer Träume ist, sondern auch noch ein geldgieriger Mistkerl, der keinerlei Skrupel hat, seine Frau ins Jenseits zu befördern. Nur um an das Geld zu kommen, das ihn von Anfang an als Einziges interessiert hat.«
Nach einer kurzen Pause fügte sie niedergeschlagen hinzu: »Aber diese Gedanken sind natürlich unterschwellig vorhanden – dass er sie eigentlich nie geliebt hat; dass sie ohne ihr Geld völlig wertlos ist; dass er bereit ist zu töten, um das Geld an sich zu reißen. Bewusst wird sie sich so was nicht eingestehen. Ihr Selbstbewusstsein hat schon während ihrer Ehe genug gelitten, und wenn sie sich jetzt diese Dinge eingestehen würde, dann wäre die gesamte Therapie hinfällig und sie selbst wäre am Boden zerstört.«
»Und wenn sie einen Sicherheitsdienst beauftragt, der sie bewachen soll, dann müsste sie sich genau das eingestehen, was sie sich nicht eingestehen kann.«
»Richtig.« Marguerite nickte nachdrücklich. »Also kann ich keine Firma beauftragen, sie zu bewachen. Nicole würde die Leute gleich wieder wegschicken und darauf beharren, dass sie nichts und niemanden braucht.«
Jake musterte sie skeptisch. »Und was soll ich tun? Mich wird sie doch genauso wegschicken.«
»Nicht, wenn du kein Wort darüber verlierst, dass du ihr Leibwächter bist.«
Er ließ sich auf seinem Platz nach hinten sinken. »Wenn ihr Ehemann versucht, sie zu töten, und ich kann dir nur zustimmen, dass es ganz danach aussieht …«
»Ich bin fest davon überzeugt«, fiel sie ihm ins Wort. »Und nachdem die ersten drei Versuche fehlgeschlagen sind, wird er sich jetzt etwas Neues ausdenken müssen.«
»Dann muss sie rund um die Uhr bewacht werden, bis die Scheidung durch ist. Danach sollte er eigentlich keinen Grund mehr haben, ihr nach dem Leben zu trachten«, überlegte Jake.
»Die Scheidung wird in zwei Wochen durch sein«, sagte Marguerite.
»In zwei Wochen?«, vergewisserte er sich und schüttelte hilflos den Kopf. »Aber wenn sie keinen Leibwächter um sich haben will, was soll ich dann tun, um sie beschützen zu können?«
»Einen Leibwächter wird sie gleich wieder wegschicken, das ist richtig. Aber sie kann einen Koch und Haushälter gebrauchen … und jemanden, der sich um den Garten kümmert, obwohl … zu dieser Jahreszeit braucht sie eher jemanden, der Schnee schaufelt.« Sie lächelte Jake an. »Ich habe ihr gesagt, dass ich jemanden kenne, der alle drei Jobs zum Preis von einem erledigt.«
Jake wollte seinen Ohren nicht trauen. »Koch … und Haushälter?«, wiederholte er ungläubig.
»Deine Mutter prahlt immer mit deinen Fähigkeiten, Steph… Jake. Ich weiß, du bist ein hervorragender Koch.«
»Ich bin ihr Sohn, meine Mutter ist voreingenommen«, konterte er. »Ich kann Spaghetti zubereiten, aber dazu muss man nicht mehr machen als Nudeln in kochendes Wasser zu geben, Gehacktes anzubraten und ein Glas Soße aufzuwärmen. Meine Mutter mag das für sensationell halten, aber mit Kochen hat das sehr wenig zu tun.«
»Du bist intelligent, du kannst ein Rezept lesen und was zu essen auf den Tisch zaubern«, beharrte Marguerite. »Für zwei Wochen würde das auf jeden Fall reichen. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn meine Einmischung zur Folge hätte, dass Rodolfo sie umbringt, Jake. Sie ist ein so netter und liebenswerter Mensch. Von der Sorte gibt es nur wenige, und es ist ja nur für zwei Wochen.«
Jake legte den Kopf in den Nacken, da er längst wusste, dass er verloren hatte. Schließlich seufzte er leise. »Okay, ich werde mir wohl zwei Wochen nehmen können. Es sind ja schon fünf Wochen Urlaub aufgelaufen, und ich werde immer wieder gedrängt, endlich mal wenigstens ein paar Tage am Stück zu nehmen.«
»Ich werde dir dafür das bezahlen, was ein Unternehmen für deine Dienste berechnen würde«, machte sie ihm klar, dann fügte sie aufmunternd hinzu: »Es wird so was wie ein Arbeitsurlaub werden. Du kannst in der Küche rumfuhrwerken, neue Rezepte ausprobieren …«
»… Schnee schaufeln, das Haus putzen und nebenbei nach möglichen Attentätern Ausschau halten«, ergänzte er wenig begeistert.
»Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen«, sagte Marguerite aufrichtig, während sie in ihrer Handtasche wühlte und schließlich ein Scheckheft herausholte.
Jake verdrehte die Augen und legte eine Hand auf ihre, um sie zu bremsen. »Du musst mich nicht bezahlen, Marguerite. Als ich gegangen bin, habe ich von Vincent eine saftige Abfindung erhalten, und dazu kommt noch all das Geld, das ich über die Jahre hinweg erfolgreich investiert hatte. Ich brauche kein Geld. Ich könnte auch ganz aufhören zu arbeiten, aber das macht mir mehr Spaß als zu Hause zu sitzen und Daumen zu drehen.«
»Nein, ich bestehe darauf, dich für deine Bemühungen zu bezahlen«, widersprach Marguerite, zog ihre Hand frei und legte das Scheckheft an anderer Stelle auf den Tisch. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht und ausgerechnet, was ein Unternehmen dafür verlangt, jemanden zwei Wochen lang rund um die Uhr zu bewachen. Genau diesen Service möchte ich in Anspruch nehmen.«
Jake zuckte mit den Schultern und ließ Marguerite gewähren. Sie konnte so viele Schecks ausstellen, wie sie wollte, aber niemand konnte ihn zwingen, auch nur einen einzigen davon einzulösen. Er nahm den Scheck an sich, steckte ihn in die Tasche und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also gut, dann erzähl mir mal alles, was du über Nicole und Rodolfo weißt.«
Das Telefon begann zu klingeln, gerade als Nicole mit einem Arm voll schmutziger Wäsche, benutztem Geschirr und noch ein paar anderen Dingen auf dem Weg nach oben war. Leise fluchend lief sie die letzten Stufen hoch bis ins Loft und eilte dann zum Telefon, das auf einem marmornen Tresen am Ende des großzügig bemessenen Wohnzimmers stand. Dort angekommen verdrehte sie den Hals, damit sie um ihre sperrige Fracht herum auf das Display sehen konnte. Als sie die Nummer und den dazugehörigen Namen las, stöhnte sie frustriert auf. Sie hatte auf einen Werbeanruf gehofft, den sie hätte ignorieren können, doch der Anruf kam von Pierina, und die konnte sie nicht ignorieren.
Indem sie den Berg Wäsche und das Geschirr gegen die Wand drückte, bekam sie eine Hand frei. Sie griff nach dem Hörer und drückte ihn ans Ohr. »Hi, Pierina?«
»Nicole?«, fragte Pierina zweifelnd.
»Ja, ich bin’s«, sagte sie unbekümmert, während sie den Hörer so zwischen Ohr und Schulter klemmte, dass sie den Wäscheberg wieder richtig festhalten konnte, der bereits ein wenig ins Rutschen geraten war. Sie stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus, dass nichts auf dem Boden gelandet war. »Wie läuft’s denn so bei dir?«
»Na ja, ganz … sag mal, ist mit dir alles in Ordnung? Du hörst dich irgendwie seltsam an.«
»Nein, nein, alles bestens«, versicherte Nicole ihr. »Es ist nur … na ja, ich habe gerade alle Hände voll, und das Telefon klemmt an meinem Ohr. Vielleicht klingt meine Stimme deshalb etwas seltsam.«
»Um Himmels willen, dann leg das doch erst mal beiseite. Ich kann warten«, sagte Pierina mit gespielter Verzweiflung.
»Ähm …« Nicole stutzte kurz, dann fasste sie den Stapel anders, damit sie mehr Halt hatte, und ging mit dem Hörer am Ohr ins Schlafzimmer. Ein Glück, dass irgendwer das schnurlose Telefon erfunden hat, dachte sie, als sie den begehbaren Kleiderschrank betrat, wo der Wäschekorb stand. Dort angekommen musste sie den Kopf schütteln, da ihr auffiel, dass sie wohl besser erst mal das benutzte Geschirr in die Küche gebracht hätte, das sich oben auf dem Wäscheberg stapelte.
»Nicole?«
»Ja, Moment noch«, antwortete sie und ging zur Waschmaschine, dann beugte sie sich leicht vor, damit das Geschirr vom Wäschestapel auf die glatte Oberfläche des Geräts rutschen konnte. Allerdings tat sie das mit so viel Schwung, dass eine Schüssel zu schnell auf die Abdeckplatte rutschte und beinahe ein Glas zerschlug, das Nicole kurz zuvor dort abgestellt hatte.
»Was ist los? Ist dir was kaputtgegangen?«, fragte Pierina sofort besorgt.
»Nein«, beruhigte Nicole sie. Nachdem alles Geschirr in Sicherheit war, legte sie die Wäsche und alles andere gleich daneben auf der Waschmaschine ab. »Okay, jetzt hab ich die Hände frei.«
»Was um alles in der Welt machst du denn da?«, fragte Pierina lachend. »Ich höre Geschirr und Gläser klirren, und du machst noch irgendwas anderes. Ist das ein Rascheln oder …«
»Ich habe gerade Wäsche zur Waschmaschine gebracht«, erklärte sie.
»Und das Klirren und Scheppern?«, hakte Pierina nach.
»Schmutziges Geschirr, meine Schminktasche, der Lockenstab und noch ein paar Sachen mehr, die ich aus dem Atelier mit raufgenommen habe«, sagte Nicole. »Marguerite hat eine Haushaltshilfe für mich gefunden, und ich will noch schnell ein bisschen aufräumen, bevor die beiden herkommen.«
»Du räumst auf, bevor deine neue Haushaltshilfe kommt?«, zog Pierina sie auf. »Dir ist doch wohl klar, dass das das Gleiche ist, als würdest du dir selbst einen Zahn ziehen, bevor du zum Zahnarzt gehst, oder?«
»Das ist nicht das Gleiche«, widersprach Nicole ihr amüsiert.
»Ist es wohl. Aber es ist auch typisch für dich.« Dann fuhr sie ruhiger fort: »Sweetie, lass den Kram da liegen, wo er ist. Du arbeitest sowieso schon fast rund um die Uhr, und genau deshalb brauchst du jemanden, der für dich kocht und der hinter dir aufräumt. Ich bin mir sicher, dass Marguerite das der Frau alles schon erklärt hat.«
»Dem Mann«, korrigierte Nicole, griff nach der Packung mit dem Waschpulver und gab ein paar Messlöffel voll in die Maschine.
»Mann? Was für ein Mann?«, fragte Pierina verwirrt.
»Die Haushälterin ist ein Haushälter«, stellte Nicole klar. »Marguerite bringt einen Mann her, keine Frau.«
»Ist nicht wahr!«, rief Pierina begeistert. »Oooh, dann bekommst du ja einen heißen jungen Kerl, der deine Höschen durchwühlt.«
Nicole erstarrte mitten in der Bewegung, dann stellte sie langsam die Waschmittelpackung weg und füllte die Maschine weiter mit Wäsche.
»Nicki?«
Seufzend erwiderte sie schließlich: »Ich glaube, sie bringt mir keinen heißen jungen Kerl mit, sondern einen alten.« Als sie den Satz ausgesprochen hatte, musste sie feststellen, dass diese Überlegung sie nicht aufmuntern konnte, denn dass ein alter Kerl ihre Höschen durchwühlte, behagte ihr ebenso wenig. Mürrisch ergänzte sie: »Um die Wäsche kann ich mich auch selbst kümmern.«
»Nicole«, sagte Pierina und zog ihren Namen dabei vorwurfsvoll in die Länge. »Das ist doch lächerlich. Man stellt nicht jemanden ein, damit der einem die Arbeit abnimmt, und dann erledigt man sie doch selbst. Außerdem habe ich dich nur ein bisschen auf den Arm nehmen wollen. Ich meine, er wird ganz bestimmt nicht in deinen Höschen wühlen. Wenn dieser alte Kerl sich schon immer um die Wäsche von anderen Leuten gekümmert hat, dann wird er schon hunderttausend Teile in der Hand gehabt haben. Da wird ihn deine Unterwäsche gar nicht interessieren.«
»Ja, richtig«, murmelte Nicole, dennoch nahm sie sich vor, zumindest die Unterwäsche selbst zu erledigen. Das meiste davon war aus schlichter weißer Baumwolle, was ziemlich langweilig wirken musste. Aber alle verführerischen Dessous waren sofort in der Tonne gelandet, kaum dass sie Rodolfo verlassen hatte. Sex war die Waffe gewesen, mit der er sie überhaupt erst rumgekriegt hatte – toller Sex, umgarnende Worte und leere Versprechungen, mit einem sexy Akzent in ihr Ohr geflüstert. Inzwischen war sie dagegen fast schon allergisch. Der nächste Mann, mit dem sie etwas anfing – sofern sie sich überhaupt je wieder die Mühe machte –, würde ein netter, normaler und bodenständiger Kanadier sein. Kein Akzent, keine romantischen Schauplätze, die schon genügten, um sie schwach werden zu lassen, keine sexy Dessous und kein völlig irrer Sex, bei dem sich ihr Gehirn abschaltete, wodurch sie für einen Mann zu einem leichten Opfer wurde.
Mit Schwung machte sie die Waschmaschine zu, allerdings mit so viel Karacho, dass sie dabei mit dem Ellbogen gegen das Geschirr stieß und ein Teil davon zu Boden fiel. Mit viel Getöse zerbrach alles in Tausend Scherben.
»Verdammt«, knurrte sie.
»Was war denn das?«, tönte Pierinas entsetzte Stimme aus dem Hörer. »Hast du dir was getan? Was ist los?«
»Alles in Ordnung«, beruhigte sie ihre Cousine seufzend und fügte dann ironisch an: »Was man von meinem Geschirr allerdings nicht behaupten kann. Zwei Schüsseln und drei Gläser sind zu Bruch gegangen.«
»Oh, Süße! Siehst du? Hättest du das deinem Haushälter überlassen, wär das nicht passiert.«
»Ja, stimmt«, gab sie zurück. Allerdings wäre es auch nicht passiert, wenn sie die Sachen erst mal in die Küche gebracht hätte. Und es wäre auch nicht passiert, wenn das Telefon nicht geklingelt hätte … oder wenn sie selbst etwas aufmerksamer gewesen wäre. Sie hätte eben ihren Kopf benutzen sollen … Dieser Gedanke ging ihr in einer tiefen Stimme mit einem deutlichen italienischen Akzent durch den Kopf, wie sie missmutig feststellen musste. Na, großartig!, dachte sie. Ein Jahr lang in Therapie, und trotzdem wollte eine der von Rodolfo am häufigsten geäußerten Kritiken nicht aus ihrem Gedächtnis verschwinden.
Zähneknirschend zog Nicole den Abfalleimer zu sich, der neben der Waschmaschine stand, und kniete sich hin. Das Telefon schaltete sie auf Lautsprecher und legte es auf den Boden, damit sie die Hände frei hatte, um die Bescherung einzusammeln.
»Und? Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?«, wollte Nicole wissen, während sie vorsichtig die größeren Scherben aufhob.
»Ich habe bloß gerade an dich gedacht … und Mom hat davon erzählt, dass Marguerite hochgefahren ist, um Fotos von Christian und Carolyn zu sichten, die sich für das Porträt am besten eignen. Weil sie gesagt hat, dass Marguerite über Nacht bleiben würde, dachte ich mir, ich frage mal nach, wie es so läuft.«
Nicole lächelte flüchtig. »Sehr gut. Wir haben ein Foto ausgesucht, und ich habe einen ersten Entwurf gezeichnet«, antwortete sie. »Marguerite versucht mich immer noch davon zu überzeugen, dass ich mich nicht an meinen Zeitplan halten soll, weil das Porträt noch Zeit hat. Aber ich will das lieber so bald wie möglich erledigen, damit ich es von meiner Liste streichen kann.«
»Sie weiß halt, wie viel du zu tun hast, Schätzchen. Sie will dich einfach nur ein bisschen entlasten«, sagte Pierina mit sanfter Stimme.
»Ja, ist mir schon klar. Aber momentan hält die Arbeit mich vom Nachdenken ab, und das ist mir auch ganz recht. Darum macht es mir nichts aus, dass mein Terminplan aus allen Nähten platzt. Allerdings«, fügte sie hastig an, da sie spüren konnte, dass Pierina im Begriff war, ihr wieder eine Predigt zu halten, sie arbeite zu viel und müsse sich ausruhen und schonen, »werde ich zukünftig einen großen Teil der Anfragen ablehnen, damit ich ab dem nächsten Jahr das Ganze auf ein erträgliches Maß reduzieren kann. Bis dahin ist die Scheidung durch, und ich dürfte das Schlimmste hinter mir haben. Und dann werde ich vermutlich auch wieder in der Lage sein, mich zumindest mit meinen Freundinnen zu treffen.«