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75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fragt Historiker Michael Brenner – selbst Sohn zweier Shoa-Überlebender – ob Juden, die in Deutschland zu Hause sind hier auch eine Heimat gefunden haben? Anhand außergewöhnlicher Personen zeichnet er in seinem Essay in Kursbuch 198 nach, wie komplex die Gefühle zu einem Ort sein können und wie – trotz aller Verletzung – dennoch positive Gestaltungskraft entsteht.
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Seitenzahl: 23
Inhalt
Michael BrennerEin Zuhause, aber keine HeimatEine kleine Geschichte jüdischer Zugehörigkeitsgefühle
Der Autor
Impressum
Michael BrennerEin Zuhause, aber keine HeimatEine kleine Geschichte jüdischer Zugehörigkeitsgefühle
Neue Heimat Deutschland? Hätte man dies den 250 000 osteuropäischen Holocaust-Überlebenden gesagt, die als sogenannte »Displaced Persons« (DPs) zwischen 1945 und 1948 in die amerikanische Zone kamen, so hätten sie dies entweder als schlechten Witz oder als bösartige Unterstellung zurückgewiesen. Die Deutschen hatten ihre Familien ermordet, ihre alte Heimat zerstört und sie selbst gefoltert, in Verstecke getrieben oder ins Exil fortgejagt. Nun kamen sie ausgerechnet ins Land der Täter, geflüchtet vor den Pogromen in Osteuropa nach dem Krieg, vor den neuen kommunistischen Regimen oder einfach »hängen geblieben« auf dem Weg ins gelobte Land. Eine Viertelmillion zumeist polnischer, aber auch ungarischer, rumänischer und tschechischer Juden, die die Konzentrationslager überlebt hatten, in Erdlöchern versteckt waren, sich unter falschen Papieren bewegt hatten oder im sowjetischen Exil ausgeharrt hatten, drangen über die polnische und tschechoslowakische Grenze in den Westen.
Nach Deutschland wollten sie nicht, Deutschland gab es ja eigentlich auch gar nicht mehr, zumindest nicht als politischen Begriff. Es gab die verschiedenen Besatzungszonen. In der amerikanischen Zone fühlten sie sich zunächst sicher. Hier lebten sie zumeist wiederum in Lagern, den DP-Lagern, in Orten, von denen sie vorher niemals gehört hatten: Feldafing und Föhrenwald, Eschwege und Pocking. Sie erkannten die Symbolik mancher Orte sehr gut. In Landsberg befanden sie sich in unmittelbarer Nähe der Festung, in der einst Hitler einsaß; ausgerechnet auf Streichers ehemaligem Landgut in Franken errichteten sie einen Kibbuz, der der Vorbereitung auf das Leben im künftigen jüdischen Staat dienen sollte. Eines war ihnen allen klar: Hier wollte niemand bleiben. Doch die Briten hielten die Tore Palästinas fest verschlossen und schickten diejenigen, die – wie auf dem Flüchtlingsschiff Exodus – die Überfahrt über das Mittelmeer geschafft hatten, sogar zurück in deutsche Internierungslager. In den Vereinigten Staaten waren noch die rigorosen Einwanderungsbestimmungen aus den 1920er-Jahren in Kraft. So betrachtete man die amerikanische Zone als vorübergehenden Rettungshafen, bis sich die eigentliche neue Heimat öffnen sollte.
In der Zwischenzeit bauten sie sich eine Ersatzheimat auf der »blutgetränkten Erde«. Sie gründeten jiddische Zeitungen, Theatergruppen, Talmudschulen und Fußballmannschaften. Viele von ihnen hatten nicht nur Eltern und Geschwister, sondern auch Ehepartner und Kinder in den Gaskammern von Auschwitz oder den Erschießungsgräben von Babi Jar verloren. Sie wollten ein neues Leben beginnen, heirateten, gründeten neue Familien.