Ein Zuhause in der Fremde - Norbert Kron - E-Book

Ein Zuhause in der Fremde E-Book

Norbert Kron

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Beschreibung

»Diese Schulen zeigen: Integration macht Spaß.«
(Norbert Kron)


Kann man Flüchtlingskinder hier beheimaten? Unter den schwierigen Bedingungen einer pluralen und vielfach gespaltenen Gesellschaft gelingt der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv Erstaunliches: Kinder mit unsagbaren Schickalen finden hier ein neues Zuhause und einen Weg in die Zukunft. Und Israel ist ganz nah: Die Unesco-Schule in Essen geht im Multi-Kulti-Ruhrgebiet denselben Weg wie ihre Partnerschule in Israel. Norbert Kron erzählt von beiden Schulen und ihrer Zusammenarbeit. Lustige, ergreifende, bestärkende und Hoffnung stiftende Geschichten darüber, was möglich ist, wenn Menschen einander annehmen.

  • Zwei Schulen, zwei Welten, eine einzigartige Idee
  • Zukunft durch Mut und Menschlichkeit
  • Wie Integration gelingen kann: 12 Thesen

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Seitenzahl: 266

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Norbert Kron

Ein Zuhause in der Fremde

Was wir in Deutschland von der besten Schule für Einwanderer lernen können

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Dieses Projekt wurde gefördert durch die Bertelsmann Stiftung.

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotive: Mädchen © Gagliardilmages/Shutterstock.com; Tafel © ivosar/Shutterstock.com; Globus © Chinnapong/Shutterstock.com

Alle Fotos im Inhalt stammen von Norbert Kron, © Norbert Kron.

Ausnahmen: Die Fotos »Das Leichtathletik-Team der Bialik-Rogozin-Schule in China« und »Die Schüler der Bialik-Rogozin-Schule in Auschwitz« wurden freundlicherweise von der Bialik-Rogozin-Schule, © Bialik-Rogozin-Schule, das Foto »Dr. Kurt Fleischer 1916 im Feldlazarett« freundlicherweise von Ram Orion, © Ram Orion, das Foto »Ruth Spiegel mit Familie Demçe am Tag der Ausreise« freundlicherweise von Ruth Spiegel, © Ruth Spiegel, zur Verfügung gestellt. Das Foto »Hella Felenbaum-Weiss« findet sich auf https://www.sobiborinterviews.nl/en/interviewees/2-profielen/16-hella-weiss, © Rechteinhaber.

ISBN 978-3-641-20868-4V001

www.gtvh.de

INHALT

EINLEITUNG –

Ein Leuchtturm der Integration

1. EINE GESCHICHTE VON FLUCHT UND HOFFNUNG –

Berhe Gonetse und seine Lehrerin Devora Schlesinger

2. SCHULE DER MENSCHLICHKEIT –

Eli Nechama und die fünf Leitlinien seines Integrationstheaters

3. SELBSTFINDUNG ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN –

Johnson Blay und die Einlösung der UNESCO-Werte

4. EINE WELT IM WANDEL –

Ram Orion und die abgründige Schönheit von Süd-Tel Aviv

5. DIE SCHÖNEN GESICHTER VON ISRAEL –

Elazar Friedman und die Wunder, die ehrenamtliche Helfer bewirken

6. DRAMEN ZWISCHEN ASYL UND AUSWEISUNG –

Megi Demçe und die Frage: Wer darf Deutscher sein?

7. REISE IN DIE ISRAELISCHE SEELE –

Yael Fisher Avitan und die universelle Lektion der Geschichte

8. DAS ENDE DES SCHULDGEFÜHLS –

Mohamad Loai und was die Deutschen von den Einwanderern lernen können

9. AUFBRUCH IN DIE UNABHÄNGIGKEIT –

Michelle Mombi und der Kampf um die freie Gesellschaft

SCHLUSS –

Zwölf Thesen, wie junge Zuwanderer in Deutschland besser integriert werden

Ein ganz persönliches Dankeswort

Anmerkungen

Bildteil

EINLEITUNG

Ein Leuchtturm der Integration

Sie bemalen sich die Gesichter. Tunken die Finger in cremige Farben und streichen sich dicke Linien auf die Wangen. Kriegsbemalungen entstehen, Masken, die an expressionistisches Theater erinnern, Hauttöne, mit denen sie sich ein anderes Gesicht verleihen.

Alex Rimbaris, der griechisch-indischer Abstammung ist, hat sich dunkelblaue Linien über die Backen gezogen, die ihn wie einen Footballspieler aussehen lassen. »Dunkelblau ist fröhlich und traurig zugleich. Das mag ich«, sagt er. Und der hochaufgeschossene Junge neben ihm, der aus dem Südsudan stammt, meint: »Ich male mein Gesicht schwarz-weiß.« Schon nach einem Tag hat sich eine erste Freundschaft zwischen den beiden Schülern herausgebildet. Warum? »Soni ist cool«, lächelt Alex, worauf der Dunkelhäutige – sehr cool – den Kopf schieflegt: »Wir sind die beiden Coolen in der Gruppe. Nur Tanzen muss er noch von mir lernen.«

Die Schüler der Essener UNESCO-Schule sind nach Tel Aviv gereist, um hier ihre neue Partnerschule zu besuchen, die berühmte Bialik-Rogozin-Schule, die als weltweites Vorbild für die Integration1 von Einwandererkindern gilt. Das interaktive Farbenspiel, das Kunstlehrer Adam Gilboa veranstaltet, baut sofort Brücken. Was man bei den zwanzig Jungen und Mädchen, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, ohnehin nicht erkennen kann, wird durch die Bemalung der Gesichter zusätzlich akzentuiert: Man kann nicht unterscheiden, wer von der deutschen und wer von der israelischen Schule kommt. Die Schülerinnen und Schüler2, die ganz ähnliche Lebensschicksale haben, sind wie Geschwister, die sich zum ersten Mal begegnen und auf Anhieb perfekt verstehen.

Schüler der Bialik-Rogozin- und der UNESCO-Schule haben sich im Kunstunterricht die Gesichter bemalt.

Rabin Mariano, der philippinische Eltern hat und in Israel geboren wurde, staunt über die deutschen Gäste: »Ich hatte geglaubt, dass sie total ernst sind, nicht so lustig. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie sind wie wir.« Auch Steven Lieu, der als Sohn chinesischer Eltern in Deutschland aufgewachsen ist, ist verblüfft: »Ich war anfangs ganz schön verwirrt, weil sie die ganze Zeit tanzen.« Manuel Muflizović, halb bosnischer, halb deutsch-polnisch-mongolischer Abstammung, nickt: »Die sind sehr nett, sehr offen.« Und Simi Shresta, die mit nepalesischen Wurzeln in Tel Aviv lebt: »Wir sind schon jetzt eine Familie.«

Eine der deutschen Schülerinnen zieht bereits die ersten Vergleiche. Rumeysa Koc hat türkische Eltern, ist in Essen aufgewachsen und wollte unbedingt an der Israel-Reise teilnehmen.

»Wenn man die Schule hier mit unserer Schule vergleicht, ist klar: Da ist viel, viel mehr los. Die Leute sind viel zuvorkommender. Hier sagen die Leute einfach hallo. Da ist auch jeder mit jedem befreundet. Man merkt ihnen an, dass sie hier wie eine Familie sind. Deren Zusammenhalt wirkt viel selbstverständlicher als unser Zusammenhalt. Bei uns herrscht mehr Schulatmosphäre, bei denen wirkt es mehr wie Freizeit. Bei uns dominiert die Bildung mehr, bei denen mehr der Mensch selbst. Aber es ist hier nicht so, dass sie weniger Bildung haben.«

Die junge Frau hat auch schon eine Vorstellung, was man in Deutschland besser machen könnte: »Lernen könnte man, dass Gruppierungen mit einem bestimmten Migrationshintergrund nicht so stark unter sich zusammen sind. Hier sind alle zusammen. Bei uns sieht man das nicht so, da ist jeder mit seiner Gruppe.«

Willkommen in Tel Aviv

Es ist ein kleines Wunder, was sich an diesem Tag in Israel ereignet: Die Schüler der UNESCO-Schule in Essen sind nach langer, nicht einfacher Planung an ihrer Partnerschule in Tel Aviv eingetroffen, von der sie so viel gehört haben. Genau wie sie haben die Schüler der Bialik-Rogozin-Schule allesamt Fluchtschicksale und Migrationsgeschichten hinter sich, waren vom Tode bedroht oder sind als Kinder von Einwanderern in einem fremden Land auf die Welt gekommen. Es sind Kinder aus Darfur und Jordanien, aus Eritrea und der Ukraine, von den Philippinen und aus vielen anderen Ländern. Sie alle haben großes Glück gehabt. Nicht nur weil sie sich vor Krieg, Verfolgung und Hungersnot in Sicherheit bringen konnten, sondern weil sie hier, an diesem außergewöhnlichen Ort, ein neues Zuhause gefunden haben.

Die Bialik-Rogozin-Schule, die im brodelnden Süden von Tel Aviv liegt, ist ein Leuchtturm, der im aufgewühlten Meer der Migration in die ganze Welt ausstrahlt. Es ist nur ein zehnminütiger Fußweg vom eleganten Rothschild-Boulevard mit seinen Banken und Restaurants hierher, doch das Viertel ist von Armut, Obdachlosigkeit, Drogenhandel und Prostitution geprägt. Es ist ein schwieriges, sich wandelndes Umfeld, das für die Kinder, die hier zur Schule gehen, allerlei Risiken bereithält. Auch wenn der flache 70er-Jahre-Bau zwischen den heruntergekommenen Häusern nicht sonderlich ansehnlich ist, findet sich in seinem Inneren ein wahres Paradies: ein riesiger Spiel- und Bildungsplatz für zugewanderte Kinder von der ersten bis zur zwölften Klassenstufe. 1.300 Schüler aus über fünfzig Nationen kommen hierher, und wer die Schule betritt, will unbedingt hinter das Geheimnis der außergewöhnlichen Atmosphäre kommen, die er sofort empfindet.

Tatsächlich ist der Ruf der Schule mittlerweile um die ganze Welt gegangen. (Ausgesprochen wird ihr Doppelname übrigens so: Biàlik-Rogòsin. Wer Genaueres über die beiden Männer wissen will, die ihre Namensgeber sind, findet alles hierzu im Anhang in einer Fußnote3.) Die Leitlinien und Methoden, die die Lehrer hier für ihre Schüler entwickelt haben, gelten als unübertroffenes Vorbild für alle, die es mit Kindern aus fremden Ländern gut meinen. Aufsehen erregte schon vor einigen Jahren ein bewegender Dokumentarfilm, der über die Schule gedreht wurde. Strangers No More erzählte so eindringlich von der erfolgreichen Aufnahme der Zuwandererkinder, dass er 2011 in Hollywood den Oscar für die beste Kurzfilmdokumentation gewann4. In ihm kann man sehen, wie die Schüler auf der Basis einer neuen gemeinsamen Sprache eine Heimat finden und die Traumata, die sie von ihren schwierigen Migrationsgeschichten nach Flucht und Vertreibung mitbringen, überwinden.

Einige Jahre sind seither vergangen, und die Situation hat sich auf der ganzen Welt verschärft. Mit Hunderttausenden von Einwanderungswilligen5, die aus Krisengebieten kommen, stellt die Flüchtlingsbewegung heute auch die deutsche Gesellschaft vor riesige Herausforderungen. Das betrifft gerade den Zuzug junger Menschen, auf die manche Wirtschaftsexperten ihre Hoffnung bei der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland setzen, um der wachsenden Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Doch wie beheimatet man Zuwandererkinder aus ganz anderen Kulturkreisen? Wie können Schulen den Grundstein für eine gelungene Integration legen? Wie schafft man es, dass die jungen Menschen sich mit unseren Werten identifizieren, damit sie die Sozialsysteme erfolgreich stärken und nicht den sozialen Frieden im Land stören?

Israel ist ein sehr gastfreundliches Land, in dem Reisende mit großer Offenheit und Wärme empfangen werden. Die Herzlichkeit der Menschen ist in der jüdischen Kultur verankert. Gleichzeitig ist das politische Umfeld, das nichtjüdische Einwanderer vorfinden, genauso kompliziert wie das in Europa. In dieser Situation hat in den letzten zehn Jahren keine andere Schule so gute Antworten auf die vielfältigen Integrationsfragen gefunden wie die Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv.

Genau deshalb hat die UNESCO-Schule in Essen eine Schulpartnerschaft mit der Tel Aviver Schule aufgebaut. Auch sie ist eine Ausnahmeschule, eine Schule, die in Deutschland eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Integration innehat. Trotzdem glauben die Lehrer, dass auch sie noch eine Menge von der Bialik-Rogozin-Schule lernen können.

Zwei der Verantwortlichen, die den Schüleraustausch zwischen beiden Schulen mit auf den Weg gebracht haben, haben sich ebenfalls beim interaktiven Farbenspiel von Kunstlehrer Adam Gilboa beteiligt. Klaus Kirstein von der UNESCO-Schule hat sich für eine gelb-rote Indianerbemalung im Gesicht entschieden und betont die Verwandtschaft der Schüler: »Wenn man in die Augen der Tel Aviver Kinder blickt, sieht man, dass sie sich an ihrer Schule wohlfühlen, dass die Schule ihnen ein Stück Zuhause gibt. Das ist etwas, was uns unsere Schüler auch oft als Rückmeldung geben: dass sie ein Stück Gemeinschaft erleben, auch ein Stück Frieden bei ihrer Vielfalt.« Und sein Gegenüber, Eli Nechama, der mit den blau-beigen Kreisen auf der Wange wie sein israelischer Blutsbruder wirkt, grinst: »Es ist, als ob wir unseren Zwillinggeschwistern begegnet wären. Ich kann überhaupt keinen Unterschied zwischen ›unseren‹ und ›den anderen‹ Schülern spüren.«

Der Mann mit dem kurz rasierten Haar und dem Dreitagebart, der immer ein Lachen im braungebrannten Gesicht trägt, ist der bekannte Schulleiter von Bialik-Rogozin, der mit seiner unerschöpflichen Energie einen unkonventionellen pädagogischen Stil geprägt hat und deshalb zu einem der hundert einflussreichsten Tel Aviver gewählt wurde6. Es ist ein Schulstil, von dem nicht nur die UNESCO-Lehrer, sondern auch die Essener Schüler schon Fabelhaftes gehört haben. Eli Nechama ist sich sicher, dass sich die Schulen in diesen aufgewühlten Tagen, in denen viele vor den Flüchtlingsbewegungen kapitulieren, gegenseitig viel zu geben haben: »Wir stehen vor denselben Herausforderungen und können viele Erfahrungen teilen.«

Ein Geschichtenbuch zur aufgeladenen Debatte

Um welche Herausforderungen handelt es sich? Welche Erfahrungen haben Schüler und Lehrer auf ihrem Weg gemacht?

Dieses Buch beruht auf intensiven persönlichen Begegnungen und vielen stundenlangen Interviews. Es ist kein theoretisches und kein akademisches Buch, sondern ein Geschichtenbuch, das sich mit dem Erfahrungsschatz der Schüler und Lehrer in eine erhitzte Diskussion einbringen will. Das Buch beruht auf der Überzeugung, dass sich die Fragen, die die aufgeladene Debatte über Migration und Integration beherrschen, nicht abstrakt beantworten lassen, sondern nur indem man Menschen erzählen lässt, die auf besondere Weise in das Thema involviert sind.

Wie viel Einwanderung verkraftet eine Gesellschaft? Bedeutet Integration Assimilation? Müssen Einwanderer die Identität des Landes annehmen oder zeichnet sich eine offene Gesellschaft gerade durch ihr multikulturelles Klima aus? Wie sehr sollen Zuwanderer ihre tradierten Wertvorstellungen bewahren? Wie weit muss die Gesellschaft in die Erziehung, die die zugewanderten Eltern ihren Kindern geben, mit hineinreden?

In Deutschland hat sich die Debatte seit dem »Wir schaffen das« von Angela Merkel und durch den Aufschwung der rechten Parteien sehr verschärft. Dabei schwingt in vielerlei Hinsicht die deutsche Geschichte mit und spitzt die Fragestellungen zu. Dürfen wir vor dem Hintergrund dieser Geschichte Flüchtlinge abweisen? Muss es Obergrenzen geben bei Zuwanderern, die aus Kulturen stammen, die ein kritisches Verhältnis zu demokratischen Grundeinstellungen und zu Israel haben? Auf welche Weise müssen sich Zuwanderer mit dem Holocaust auseinandersetzen? Bedarf es, um die hierzulande geltenden Wertestandards durchzusetzen, schärferer Gesetze und stärkerer Polizeipräsenz? Worin besteht »das Deutsche« in diesem Land: in den Werten des Grundgesetzes oder in einer Leitkultur mit bestimmten Tugenden?

Schulen kommt bei diesen Fragen eine besondere Verantwortung zu. Eine Statistik besagt, dass mehr als ein Drittel derer, die 2016 in Deutschland Asyl beantragt haben, unter 19 Jahre alt sind. Fast zwei Drittel von ihnen sind männlich7. Sie alle müssen, wenn sie hier bleiben dürfen, in das Schulsystem eingegliedert werden.

Wie dies der Bialik-Rogozin-Schule in Tel Aviv gelingt, wie sie Kindern ein Zuhause und eine Zukunft gibt – davon erzählt dieses Buch. Es ist ein Porträt der Menschen, die die Schule zu dem machen, was sie ist. Zwischen die sechs Kapitel, die Geschichten aus Tel Aviv erzählen, sind drei Kapitel über die UNESCO-Schule in Essen eingebunden. Auch sie liegt, südöstlich des Essener Hauptbahnhofs, in einem von vielen Zuwanderern geprägten Umfeld, das in vielerlei Hinsicht für die soziale Struktur des Ruhrgebiets und ähnlicher Ballungsräume deutscher Großstädte charakteristisch ist. Genau wie die Bialik-Rogozin-Schule haben wir die Partnerschule vor dem Schüleraustausch besucht, um dort intensiv den Erzählungen der Schüler und Lehrer zuzuhören.

Verblüffend: So wie sich viele der Einwandererkinder in Israel und in Deutschland in ihrem Aussehen gleichen, gleichen sich auch ihre Lebensgeschichten. Viele davon sind Erfolgs- und Glücksgeschichten, die die Schulen den hässlichen und widrigen Umständen der Weltlage abgekämpft haben. Es sind erschütternde und anrührende Geschichten, Geschichten von Flucht und Hoffnung, manchmal auch von Finsternis und Liebe. Es sind diese Geschichten, die wir in diesen Tagen brauchen, um zu verstehen, dass die Entwicklungen, die uns alle überfordern, keine abstrakten Massenereignisse sind, sondern dass es hier um Einzelschicksale geht, deren Herausforderung man nur mit individueller Menschlichkeit begegnen kann.

Zwölf Thesen

Aus den Geschichten lassen sich eine Reihe anschaulicher Schlüsse ableiten, die die aufgeheizte Diskussion mit klaren Argumenten bereichern können. Die zwölf Thesen, die im Schlusskapitel dieses Buches aufgestellt werden, erheben den Anspruch, all denen, die mit der Integrationsarbeit junger Menschen befasst sind, entscheidende neue Anregungen zu geben. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den Leitlinien, die Eli Nechama für seine Bialik-Rogozin-Schule aufgestellt hat, beziehen sich aber konkret auf die Situation in Deutschland, die sich aufgrund der Geschichte des Landes von der in Israel unterscheidet.

Denn natürlich: Lässt sich die Situation in beiden Ländern überhaupt vergleichen? Macht es nicht einen fundamentalen Unterschied, ob Flüchtlinge in einem Land Zuflucht suchen, dessen Volk jahrhundertelang Verfolgung erlitten hat, oder ob Zuwanderer sich auf dem Boden niederlassen wollen, von dem die Shoa ihren Ausgang nahm?

Eine Grundthese dieses Buches lautet, dass das Gegenteil der Fall ist, dass gerade der Vergleich beider Länder, die durch die gegensätzliche Vorgeschichte wie ungleiche Geschwister aneinander geschmiedet sind, uns auf neue Weise die Augen öffnen kann. Gerade der Blick nach Israel ist für uns in Deutschland ungemein erhellend. Weil auch dort eine intensive Integrationsdebatte geführt wird, schafft dieser Blick für uns einen Verfremdungseffekt, der uns das Verständnis der eigenen Situation in Deutschland erleichtert.

Wer an die Schule von Eli Nechama kommt, entdeckt eine kreative und unkonventionelle, vielfältige und menschlich engagierte Form der Integration, wie sie nur im nonkonformistischen Tel Aviv vor dem Erfahrungshintergrund der jüdischen Geschichte möglich ist. Dazu gehört vor allem auch der Einsatz unzähliger ehrenamtlicher Helfer. Auch in Deutschland engagieren sich Zigtausende von Freiwilligen8. Aber vom Erfindungsreichtum, den die Bialik-Rogozin-Schule an den Tag legt, können sich alle, die nicht tatenlos zusehen wollen, noch etwas abschauen. Hören wir ihre Geschichten und lassen wir uns von den Schlüssen, die sich aus ihnen ziehen lassen, anstecken.

Schulleben an der Bialik-Rogozin-Schule

1. EINE GESCHICHTE VON FLUCHT UND HOFFNUNG

Berhe Gonetse und seine Lehrerin Devora Schlesinger

1

Er ist gekidnappt worden, er hat erlebt, wie Menschen gefoltert wurden, er ist nur knapp dem Tod entronnen.

Der junge Mann, der an diesem Morgen das Klassenzimmer betritt, hat schwarze Augen, in denen ein unergründlicher Schimmer liegt. Er ist ein mittelgroßer, schlanker Junge, der ein breitgestreiftes T-Shirt und einen Ring am Zeigefinger trägt. Seine Wangen haben Schattierungen, die wie Narben aussehen. Und nach allem, was er erlebt hat, ist es wahrscheinlich, dass es Narben sind.

Berhe Gonetse ist 18 Jahre alt, und es ist klar, dass das Schimmern in seinen Augen die Dinge widerspiegelt, die er auf der Flucht gesehen hat. Damals, als er in der Geiselhaft von Beduinen war.

»Da war eine große Grube, in die sie die Toten geworfen haben. Die Beduinen scherten sich um alles einen Dreck, sie taten, was sie wollten. Sie vergewaltigten die Frauen, und wenn die Frauen schwanger wurden, ließen sie viele während der Schwangerschaft sterben.«

Berhe Gonetse spricht gut hebräisch, mit einer ernsten Coolheit. Er hat Glück gehabt, ist 2011 nach seiner Odyssee durch den Sudan und Ägypten nach Israel gelangt, wo er in das Saharonim-Lager in der Negev Wüste gebracht wurde.

»Ich war dreizehneinhalb, aber weil ich jünger aussah und keinen Pass hatte, habe ich mich für elf ausgegeben. Da haben sie gesagt, du kommst in ein Internat.«

Als er die Schummelei mit seinem Alter erwähnt, schleicht sich ein Lächeln in sein Gesicht. Es tastet sich tatsächlich voran, stiehlt sich auf Zehenspitzen in seine Züge, wie ein Tier, das auf der Hut ist und prüft, ob die Luft rein ist.

Denn auch das ist klar: Er wäre an diesem Morgen nicht in die Schule gekommen, wenn da nicht die Frau mit den schwarzen schulterlangen Haaren wäre, die nun an seiner Seite steht. Auch sie hat tiefschwarze Augen, aber sie sind von einem anderen, in sich ruhenden Schwarz, einem Schwarz, das Güte ausstrahlt.

Devora Schlesinger ist seit über dreißig Jahren an der Schule. Bis vor kurzem war sie Berhe Gonetses Lehrerin und Berhe Gonetse einer ihrer außergewöhnlichsten Schüler. Als ihre Blicke sich begegnen, spürt man, dass den jungen Mann mit der Frau ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet.

Berhe Gonetse

»Diese Schule ist mehr als eine Schule«, sagt Berhe Gonetse, »sie ist ein Zuhause.«

Vor anderthalb Jahren hat er hier mit sehr guten Noten seinen Abschluss gemacht. Dank Devora Schlesinger ist seine tragische Geschichte in vielerlei Hinsicht auch eine Glücksgeschichte. Eine Geschichte von Flucht und Hoffnung.

2

Eritrea ist ein weites, heißes Land, das vom Hochland mit dem angrenzenden Sudan als Wüste zum Roten Meer hin abfällt. Über dreißig Jahre hat es um seine Unabhängigkeit gekämpft, in einem blutigen Krieg, in dem über 200.000 Menschen ums Leben kamen und in dem es sich von der Diktatur des Nachbarlands Äthiopien befreite. Doch auch im unabhängigen Eritrea herrscht kein Frieden. Seit einem Vierteljahrhundert führt eine »Übergangsregierung«, die sich demokratisch nennt, ein Ein-Parteien-Regime, das für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. »Reporter ohne Grenzen« stuft Eritrea weltweit als das Land ein, in dem die Pressefreiheit am brutalsten eingeschränkt wird1.

Im Hochgebirge nahe der Hauptstadt Asama gibt es bedeutende Rohstoffvorkommen. Kupfer, Zink, Gold und Silber bringen chinesischen und kanadischen Unternehmen hohe Profite ein, doch bei der Bevölkerung kommt nichts davon an. Korruption und Unterdrückung führen dazu, dass der Reichtum an Bodenschätzen und Edelsteinen dem Volk vorenthalten bleibt. 5.000 Eritreer fliehen jedes Jahr aus dem Land und nehmen dabei große Gefahren in Kauf. Wer als Regierungskritiker, Deserteur oder Flüchtling verhaftet wird, verschwindet laut Amnesty International ohne Prozess in dunklen Staatsgefängnissen, aus denen viele nicht wiederkehren2.

Es sind Menschen wie Berhe Gonetse. Solange diese Regierung an der Macht ist, kann er nicht in seine Heimat zurück. Während er erzählt, hält er den Kopf gesenkt, blickt von unten herauf. Vielleicht ist es das, woran das Schimmern seiner dunklen Augen erinnert, an den Glanz der ungehobenen Edelsteine, den die eritreischen Hochgebirge bergen. Es ist ein schüchternes, aber zugleich bestimmtes Leuchten, das aus seinem Inneren aufsteigt und mehr als versteckten Schmerz andeutet, auch einen tiefen Mut.

Berhe Gonetse ist zu Beginn des Eritrea-Äthiopien-Kriegs geboren, der vom Mai 1998 bis zum Juni 2000 dauerte. Der Krieg, eine Eskalation der Streitigkeiten, die die Grenzziehung nach der Unabhängigkeit Eritreas nach sich zog, bedeutete für die Menschen im Grenzgebiet dauernde Lebensgefahr. Manche wurden in den Krieg geschickt, andere einfach ausgebeutet.

»Was dem ganzen Dorf widerfuhr, drei- bis vierhundert Familien – darüber will ich nicht sprechen.«

Er beißt sich bei diesem Satz auf die Lippen, es ist ein Ausdruck des Schmerzes über das, was er damals gesehen hat – und Gegenwehr gegen die Tränen, die ihm kommen, wenn die Bilder wieder in ihm aufsteigen. Mord, Vergewaltigung, Folter, Sklaverei: Wenn er dergleichen schon als kleines Kind erlebt hat, war es nur eine Ankündigung der grausamen Dinge, deren Zeuge er später wurde.

Berhe Gonetses Dorf wurde ins Grenzgebiet zum Sudan umgesiedelt, in die Provinz Gash-Barka.

»Es war sehr hart dort, es gab kaum Medizin. Die Jungen begannen zu revoltieren, schlugen das Oberhaupt des Dorfes, worauf das Dorf in vier Teile aufgeteilt wurde. Meine Familie landete in einem weiteren Dorf in der Nähe zum Sudan. Ich wusste immer, dass ich eines Tages weggehen würde, aber noch nicht damals, ich war noch zu jung«, sagt er und beißt sich wieder auf die Lippen. »Auch darüber möchte ich nicht sprechen.«

War er selbst an den Aufständen beteiligt, wurde er misshandelt? Hat seine Familie ihn losgeschickt, damit wenigstens einer von ihnen ein besseres Leben findet? Oder ist er abgehauen, auf eigene Faust aufgebrochen?

Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Berhe Gonetse bereits damals gekidnappt wurde. Gekidnappt von einer der Banden, die Männer und Frauen aus der Krisenregion verschleppen, auch aus den Flüchtlingslagern Shagrab und Kassala, in dem eritreische Flüchtlinge im Sudan Zuflucht finden.

Das unabhängige sudanesische Mediennetzwerk »Dabanga« berichtet auf seiner Webseite über die brutalen Methoden, mit denen kriminelle Gruppen ihre Opfer aus der Grenzregion verschleppen und auf welchen Routen sie sie nach Norden in das angrenzende Ägypten bringen3. In der Zeit, in der sich Berhe Gonetses Odyssee nach Israel ereignete, waren solche Entführungen nach UNHCR-Angaben an der Tagesordnung. Über Zehntausend solcher Entführungsfälle soll es allein zwischen 2007 und 2014 gegeben haben, etwa dreißig pro Monat. Die sudanesische Polizei arbeitete dabei mit den Menschenhändlern vielfach Hand in Hand.

Wie barbarisch die Kidnapper zu Werke gehen, welch grausames Schicksal die Opfer erleiden, hat der preisgekrönte Journalist Michael Obert 2013 in einer Reportage für das SZ-Magazin rekonstruiert. Obert erzählt die Geschichte eines Flüchtlings, der ein älterer Bruder von Berhe Gonetse sein könnte und in einem Flüchtlingslager auf dem Weg zur Essensausgabe »unter den Augen sudanesischer Soldaten, die von den Vereinten Nationen für den Schutz der Flüchtlinge bezahlt werden«, von sechs Männern mit Kalaschnikows verschleppt wird.

Die Männer, die dem Nomaden-Verbund des Rashaida-Stamms angehören, transportieren ihn mit einem Pick-Up nordwärts. »Von einer kriminellen Bande an die nächste weiterverkauft, wird er von einem gut organisierten Netzwerk über die Grenze nach Ägypten geschafft, mit rund 150 anderen entführten Eritreern in einen als Geflügeltransporter getarnten Lastwagen gepfercht und über die Suez-Kanal-Brücke auf den Sinai gekarrt. Die einzige Frischluft kommt durch die Schlitze hinter dem Motor. Als schwer bewaffnete Beduinen die Heckklappe des Lastwagens aufreißen, sind sieben Afrikaner erstickt, darunter zwei Kinder und ein Baby.«4

Auch Berhe Gonetse ist wohl auf dieselbe Weise in die Hände von Beduinen im Sinai gelangt. Das Wüstendreieck, das vom Roten Meer, vom Suez-Kanal und Israel begrenzt wird, wird von etwa 300.000 Menschen besiedelt, von denen die meisten Viehzucht betreiben. Einige Beduinenstämme aber leben vom Menschenhandel. Berhe Gonetse schildert beim Gespräch in der Schule genau, wie die Entführer Kapital aus ihren Opfern schlagen:

»Am Anfang verlangen sie 3.000 Dollar Lösegeld. Je mehr Zeit vergeht, desto höher steigt die Summe, von 10.000 auf 15.000 Dollar. Die Verwandten müssen zahlen. Mich hielten die Beduinen in sicherem Gewahrsam, da ich für sie Arabisch-Übersetzungen gemacht habe. Aber wer das Geld nicht aufbringt, dem entnehmen sie Organe. Oder sie bringen ihn einfach um. Es wurde nach und nach eine richtige Industrie der Entführung und Vergewaltigung. Je mehr Geld sie erpressten, desto mehr gingen die Preise in die Höhe.«

Berhe Gonetse wechselt Blicke mit Devora Schlesinger, seiner ehemaligen Lehrerin, der er diese Dinge schon früher anvertraut hat. Man merkt, dass ihre Anwesenheit ihm Sicherheit verleiht, und wie schwer es ihm fällt, die Geschichte vor Fremden zu erzählen. Der Zuhörer spürt ein ähnliches Unbehagen: Seine Schilderungen sind in ihrer Grausamkeit fast zu plakativ, als dass man ihre Dimension fassen könnte. Können die Dinge, die er erzählt, stimmen? Was bedeuten sie konkret?

Tatsächlich decken sich Berhe Gonetses Schilderungen genau mit den Berichten anderer, die die barbarische Methodik dokumentieren, mit der die Schergen ihren millionenschweren Menschenhandel betreiben5. »Das sind keine Menschen«, sagt ein Opfer, das sind »Bestien«6. Sie schlagen ihre Entführungsopfer mit Eisenstangen oder Ketten so lange, bis diese ihnen die Telefonnummern ihrer Verwandten verraten. Sobald der telefonische Kontakt hergestellt ist, geht die Folter systematisch weiter, um die Lösegeldforderung in die Höhe zu treiben:

»Die Kidnapper drücken ihren Opfern Zigaretten in den Gesichtern aus, brandmarken sie mit glühendem Metall, überschütten sie mit kochendem Wasser. Sie umwickeln ihre Finger mit Kabeln und drücken sie in die Steckdose, bis das Fleisch schwarz wird, oder sie gießen ihnen Diesel über den Kopf und zünden sie an, während die Angehörigen der Gefolterten daheim ihre Schreie über Handy mit anhören müssen.«7 Ein Opfer berichtet, dass es mehrere Tage lang an einem Fleischerhaken in seiner Folterzelle aufgehängt war. Von seiner Hand ist nur noch eine verstümmelte Haut- und Knochenklaue geblieben.

Die Verrohung, die die Täter an den Tag legen, ist so wenig zu begreifen wie die Verrohung, mit der die Roten Khmer ihre Opfer auf den kambodschanischen Killing Fields abschlachteten oder mit der die Nationalsozialisten ihren industriellen Völkermord in den Gaskammern von Auschwitz oder Sobibor betrieben. Das Motiv, das hinter den Verbrechen der Menschenhändler im Sinai steht, ist jedoch offenbar frei von jeder weltanschaulichen Ideologie und ausschließlich ihrer puren finanziellen Gier geschuldet. Einer der Folterknechte berichtet, dass er für seine Arbeit 120 Euro im Monat erhalte – von Mitgefühl keine Spur. »Vor einer benachbarten Kellerzelle stehen täglich Beduinen an, um Frauen zu vergewaltigen. Mit dem heißen Gummi geschmolzener Kühlerschläuche verbrennen sie ihre Brustwarzen und stoßen Eisenstangen in ihre Vaginen. Selbst wenn eine der Frauen ihren Verletzungen erliegt, lösen sie ihre Fesseln nicht. Tagelang bleiben die Überlebenden an die Toten gekettet.«8

Wenn man die Summen hochrechnet, die sich aus den Lösegeldern ergeben, lässt sich der Gewinn in den letzten zehn Jahren auf sagenhafte 300 Millionen Dollar schätzen9. Können die skrupellosen Menschenhändler einmal kein Geld erpressen, tauschen sie ihre Opfer zuweilen auch gegen Fahrzeuge ein: drei Geiseln gegen einen Toyota Landcruiser, sieben gegen einen Lastwagen10.

Wie viel obendrein jene Opfer einbringen, für die niemand Lösegeld bezahlt, ist unklar. Ihr Leben wird in noch brutalerem Wortsinn ausgeschlachtet. Menschenrechtsaktivisten berichten, dass den Geiseln Nieren und andere Körperteile entnommen worden seien, um sie auf dem Organmarkt zu verkaufen. Die Abnehmer seien ägyptische Ärzte aus Kairo, die für die Organe viel Geld bezahlen würden – nach Recherchen von CNN zwischen 1.000 und 20.000 Dollar11. Die Rede ist sogar von einer mobilen Klinik, in der Organtransplantationen mitten in der Wüste durchgeführt würden.

In einem Massengrab außerhalb des Friedhofs der nordägyptischen Stadt Al-Arish wurden neben der Müllgrube eines Slums über tausend Tote gefunden, bei denen es sich um Entführungsopfer handeln soll. Im Jahr 2014 belief sich die Zahl derer, die auf dem Sinai spurlos verschwunden sind, auf 4.000, wie die Organisation Ärzte für Menschenrechte (PHR) schätzt. 5.000 bis 7.000 der geschätzt 50.000 bis 60.000 afrikanischen Flüchtlinge, die es in Israel gibt, sollen eine Entführungsgeschichte hinter sich und diese überlebt haben12.

3

Einer von ihnen ist Berhe Gonetse, der junge Mann im Klassenzimmer der Bialik-Rogozin-Schule. Man kann verstehen, dass er über die Dinge, der er gesehen hat, nichts Näheres erzählen will. Berhe Gonetse hat bei seiner Entführung Glück. Glück, dass er den Beduinen als Übersetzer helfen kann, Glück, dass seine Familie für ihn irgendwie das Lösegeld zusammenbringt, Glück, dass er einen Onkel in Tel Aviv hat, dem einige Jahre zuvor die illegale Einreise nach Israel gelungen ist. Dieser wird mit der Lösegeldübergabe betraut.

»Als sie meinen Onkel anriefen, sagten sie ihm, dass er das Geld an einen bestimmten Ort legen sollte. Die Entführer sind gut vernetzt, zum einen in Gaza, aber sie haben auch viele Freunde in Israel. Sie holen es ab, ohne dass sie gesehen werden.«

Obwohl der Onkel den Umschlag mit dem Geld hinterlegt, kommt Berhe Gonetse nicht sofort frei.

»Es spielt keine Rolle, wann das Lösegeld bezahlt worden ist. Man kann dann immer noch drei, vier Monate gefangen bleiben. Wenn sie das Geld für zwanzig, dreißig Leute zusammen haben, zeigt ihnen ein Beduine den Weg zur Grenze.«

Der Weg birgt eine weitere Gefahr: ägyptischen Soldaten in die Hände zu fallen. Dann geht die Odyssee weiter, findet das Martyrium kein Ende: Sie stecken die Flüchtlinge erst in ein ägyptisches Gefängnis – und schicken sie in ihr Heimatland zurück. Für einen Flüchtling wie Berhe Gonetse bedeutet das, in einem der Staatsgefängnisse von Eritrea zu verschwinden.

»Es waren ein oder zwei Kilometer bis zur Grenze, und man sagte uns, geht nicht dort entlang, da sind die ägyptischen Soldaten, sondern geht zur anderen Seite, da sind die Israelis. Die israelischen Soldaten schicken einen niemals zurück. Wenn man ärztlich behandelt werden muss, zum Beispiel wegen einer gebrochenen Hand, bringen sie einen direkt nach Beer Sheva ins Krankenhaus, wo man behandelt wird. Wer medizinisch okay ist, wird direkt ins Lager Saharonim gebracht.«

In Saharonim wird er zwei Tage befragt, er schwindelt die Soldaten in Bezug auf sein Alter an. Dann liefert ihn einer, ohne dass die Befragung zu Ende ist, im Levinsky Park in Tel Aviv ab, der Anlaufstelle für alle afrikanischen Flüchtlinge. Von dort aus sucht er sich den Weg zu seinem Onkel, wo er bis heute lebt.

So kam Berhe Gonetse, der als Christ erzogen ist, nach Israel, in ein Land, von dem er überhaupt nichts wusste. Tatsächlich, sagt Berhe Gonetse, hat er erst in der Gefangenschaft auf dem Sinai begriffen, wo er sich befindet – und dass Israel das einzige Land ist, das ihm Zuflucht bieten kann. Israel, das er vorher nur aus der Bibel kannte.

»Ich hatte Angst vor den religiösen Menschen. Anfangs traute ich mich nicht mal, das Haus zu verlassen, weil ich so Angst hatte.« Da stiehlt es sich wieder in sein Gesicht, sein Lachen. »Ich kannte nur die Legenden – dass die Juden Jesus umgebracht haben sollen – und die anderen Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin.«

Was soll aus einem Jungen werden, der mit 13 Jahren in einem Land gestrandet ist, in das er nie wollte? Ein Junge, der vielleicht nie mehr zurück in seine Heimat kann? Hätte er je eine Chance im Leben gehabt, wenn er nicht an die Bialik-Rogozin-Schule gekommen wäre? Wenn er dort nicht Devora Schlesinger getroffen hätte, die – wie es der Zufall will – eine religiöse Jüdin ist?

4

Die Frau mit den tiefschwarzen Augen unterrichtet seit zweiunddreißig Jahren an der Schule. Früher trug diese nur den Namen Rogozin und war eine Schule wie jede andere auch.

»Süd-Tel Aviv war damals völlig israelisch, hier lebten keine Flüchtlinge. Ich bin Geografie-Lehrerin und habe an der Rogozin-Schule angefangen. Es gab etwa 1.000 Schüler, von der sechsten bis zur zwölften Klasse. 90 % der Schulabgänger schafften es auf die Universität.«

Als die Stadtbehörde von Tel Aviv aber die Stadtviertelbindung für Schulen auflöst, beginnen viele Eltern im sozial schwachen Süden der Stadt, ihre Kinder auf Einrichtungen im Norden zu schicken. Zurück bleiben die, die sich den Wechsel nicht leisten können. Aufgrund drastisch sinkender Schülerzahlen will die Stadt die Rogozin-Schule Anfang der 1990er Jahre schließen, doch die Schüler beginnen zu demonstrieren, kämpfen um ihren Erhalt. Es ist genau die Zeit, als Israel eine große Immigrationswelle aus der früheren Sowjetunion erfasst, die die soziographische Landkarte verändert.