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Es ist, als ob wir Kinder töten. Das ist die erschreckende Erkenntnis, die die kognitive Ethologie in Verbindung mit den Neuro-Wissenschaften offenbart. In einer mühseligen Puzzle-Arbeit hat Professor Franz Friedrich Degen deshalb die jüngsten Entdeckungen der Wissenschaft zusammengetragen, die das bisherige Verständnis vom Tier als einen der größten Irrtümer der Menschheit entlarven. Um die letzten noch fehlenden Nachweise einzuholen, reist er in die USA. Doch dann wird er in LA von einem Bus überrollt. Der von Selbstzweifeln geplagte Ex-Journalist Diego Valdez glaubt nicht an einen Unfall. Motiviert durch die Primaten-Forscherin Marian Briggs beschließt er kurzerhand, Degens Arbeit zu vollenden. Das aber muss der Heimatschutz unbedingt verhindern. Zum brisanten Thema sagte Gerd Scobel in "scobel" auf 3Sat im September 2013: "Die Sonderstellung des Menschen im Tierreich wird immer vehementer in Frage gestellt, denn Genetik und Neuro-Wissenschaften haben längst gezeigt, dass der Mensch den Tieren ähnlicher ist, als der immer glaubte. Darf der Mensch dann aber die Tiere weiterhin zum Objekt machen? Wenn nicht, so müsste er seine Dominanz über das Tier aufgeben. Er müsste sich selbst neu verorten in einer Gleichberechtigung, für die er noch nicht bereit zu sein scheint. Wir leben auf diesem Planeten in einer Gemeinschaft mit Tieren. Die Regeln des Zusammenlebens wurden von uns durch pure Willkür festgelegt. Ein derartiges Verhalten aber passt nicht zu einem Wesen, das sich selbst als moralisch handelnd und vernünftig betrachtet." 2014 erschienen unter dem Titel: "Die wir Tiere nennen" wurde die Geschichte aufgrund der zunehmenden Fülle an Erkenntnissen maßgeblich erweitert und überarbeitet. Wenngleich die Handlung dieser Geschichte Fiktion ist, so sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die sensorischen und kognitiven Fähigkeiten der höheren Tiere jedoch keine Fiktion. Sie entsprechen weitestgehend dem Wissenstand von 2016.
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Seitenzahl: 949
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„Ich will es deutlich sagen: Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeneriert, in dem es unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlachters auf die Welt bringt.“
J. M. Coetzee
Literatur-Nobelpreis 2003
3. April 2011 Aachen, Deutschland
Sonntag, 3. April Los Angeles
3. April Bouquet Valley
4. April Los Angeles
Montag, 4. April Malibu
4. April Südlich von Torrey Pines
4. April Los Angeles
5. April Quartzhill
5. April Washington DC
Donnerstag 10. März Smithfield, Virginia
5. April Bouquet Valley
5. April Washington DC
5. April Quartzhill
Mittwoch 6. April Washington DC
6. April Malibu
Donnerstag 7. April Malibu
7. April Leona Valley
7. April Los Angeles
8. April Berkeley
8. April Washington DC
8. April Santa Barbara
8. April Berkeley Zentrum
8. April Washington DC
Marian Briggs
9. April Malibu
9. April Quartzhill
Montag 11. April Washington DC
Dienstag 12. April Malibu
12. April Anaheim Hills
Mittwoch 13. April Malibu/Leona Valley
13. April Washington DC
13. April Malibu
13. April Washington D.C.
Donnerstag 14. April Leona Valley
14. April Malibu
14. April Atlanta
14. April Galveston/Texas
Freitag 15. April Santa Monica
15. April Malibu
15. April Leona Valley
15. April Leona Valley
15. April Bouquet Valley - Quartzhill
Sonnabend 16. April Leona Valley
16. April Berkeley
Sonntag 17. April Quartzhill
17. April Salinas
Montag 18. April Washington DC
18. April San José
Dienstag 19. April Buffalo Niagara
19. April Seattle
Mittwoch 20. April Seattle
Donnerstag 21. April Washington DC
21. April Anaheim Hills
21. April San Francisco - Berkeley
21. April Malibu - Santa Monica
21. April San José
21. April Los Angeles
Freitag 22. April Leona Valley
23. April
Sonnabend 23. April Santa Ana
23. April Malibu
23. April Washington DC
23. April Colorado River/Arizona
Sonntag 24. April Südlich von Torrey Pines
24. April Kigali/Goma
Dienstag 26. April Goma/Kongo
Kinigi/Ruanda
26. April Quartzhill
Mittwoch 27. April Quartzhill
Freitag 29. April Quartzhill
Montag 2. Mai südlich von Torrey Pines
Dienstag 3. Mai Quartzhill
Mittwoch 4. Mai Washington DC
Freitag 6. Mai Anaheim Hills
6. Mai Quartzhill
Sonnabend 7. Mai Santa Monica
7. Mai Quartzhill
Sonntag 8. Mai Santa Monica
8. Mai Tehachapie
8. Mai Quartzhill
Montag 9. Mai Washington DC
9. Mai Studio-City LA
Dienstag 10. Mai Washington DC
10. Mai Studio-City LA
10. Mai Washington DC
10. Mai Leona Valley
10. Mai Studio-City
Mittwoch 11. Mai Washington DC
11. Mai Südlich von Torrey Pines
11. Mai Washington DC
11. Mai Los Angeles
11. Mai Green Valley Ranch
11. Mai Washington DC
Donnerstag 12. Mai
12. Mai Berkeley
12. Mai Washington DC
Freitag, 13. Mai Los Angeles
Sonnabend 14. Mai Großraum von LA
14. Mai Anaheim Hills
15. Mai Großraum von LA
16. Mai
16. Mai Studio-City LA
Dienstag 17. Mai Washinton DC
17. Mai Anaheim-Hills
18. Mai
Mittwoch 18. Mai Vienna, Arlington
18. Mai Anaheim Hills
18. Mai Green Valley Ranch
18. Mai Anaheim Hills
30. Mai Green Valley Ranch
16. Juni Bonita
23. Juni Östlich von San Diego
24. Juni Studio-City
24. Juni Plantage
25. Juni Leona Valley
25. Juni Anaheim Hills
26. Juni Östlich von San Diego
27. Juni Plantage
Epilog
Franz Friedrich Degen ließ das Skript sinken und wischte die Tränen fort. Die meisten Vorträge probte er einmal vor dem Spiegel, danach konnte er sich auf die längst eingespielten Mechanismen verlassen. Doch dieses Mal fehlte ihm einfach die nötige Distanz zu dem, was er zu sagen hatte. Als wäre er sich erst jetzt der ganzen Tragweite bewusst geworden. Gleichzeitig musste er einen kühlen Kopf bewahren und sachlich bleiben, ansonsten würden sie ihn noch für sentimental halten. Sentimental und senil. Das aber wäre fatal, schließlich wollte er mit dem Vortrag die entscheidende Wende einleiten. Denn sobald er die letzten Bestätigungen der amerikanischen Experten eingeholt hätte, würde er das vollständige Werk der Öffentlichkeit präsentieren. Dann müssen sie umdenken. Doch jedes Mal, wenn er sich das sagte, musste er an Gröbners alberne Bemerkung denken.
„Wenn Sie das veröffentlichen, Professor, wird man Sie kreuzigen.“
„Wie Sie sich vielleicht erinnern werden, hatte man Darwin auch nicht gekreuzigt“, hatte er ihm geantwortet.
„Bedenken Sie dennoch, dass es die Verhaltensforschung nur deshalb zu einer seriösen Wissenschaft gebracht hat, weil sie die Vermenschlichung der Tiere bislang strikt abgelehnt hatte.“
„Weshalb sie ja auch irgendwann stecken blieb. Das Absurde an der Sache ist doch, dass die meisten Wissenschaftler nur ein Modell der Intelligenz und Kommunikation anerkennen: das Eigene. Nur weil die Tiere nicht so sprechen oder denken wie wir, besäßen sie ihrer Meinung nach auch keinen Verstand. Ha, in dem sie von den Tieren erwarten, dass sie die menschlichen Kriterien von Rationalität und Sprache erfüllen, ist diese Sorte Wissenschaftler aber genau den anthropomorphen Irrtümern erlegen, die sie verurteilen.
Nein, Gröbner, das Problem ist, dass wir anscheinend noch immer nicht in der Lage sind, genügend Intelligenz aufzubringen, um auch andere Arten des Denkens und der Kommunikation zu deuten.“1.
Die Erinnerung an das Gespräch mit dem jungen Biologen verblasste. Gröbner war ein ewiger Pessimist. Er aber war sich sicher: Es war höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel, für eine längst überfällige Revolution.
Sein Spiegelbild starrte ihn noch immer an: ein unauffälliger Mann mit einem rundlichen Kopf, dessen aschblonder Haarkranz sich unauffällig grau verfärbte. Doch seine Haut war noch immer rosig, zudem sehr glatt für einen Mann von zweiundsiebzig Jahren und auch seine graublauen Augen waren noch lange nicht müde.
Obwohl sein Vorhaben ihn vorwärts drängte, verspürte er dennoch eine leichte Wehmut, als er jetzt ein letztes Mal durch die lichtdurchfluteten Räume mit ihren hohen Stuck verzierten Decken und dem knarzenden Parkettfußboden mit den farbenfrohen Orientbrücken ging. Hier lebte er seit sechsunddreißig Jahren, hier hatte er achtundfünfzig seiner zweiundsiebzig Bücher geschrieben – alles Sachbücher, wenn auch hier und da mit etwas Poesie. Er liebte diese Wohnung mit ihren sichtbaren und unsichtbaren Zeichen der Erinnerung. Sie war sein Spiegel, seine Inspiration und in den letzten Jahren auch vermehrt sein Schutzraum geworden. Schutz vor der Dummheit und Rohheit der Menschen da draußen, die er, je größer sein Wissen wurde, kaum noch ertragen konnte.
Als er jetzt sein Arbeitszimmer betrat, durchbrach heller Sonnenschein die Wolkendecke. Der Frühling war hier immer besonders schön, eine Explosion des Lebens. Und je älter er wurde, umso bewusster wurde es ihm. Zu gern würde er ihn jetzt auf ausgedehnten Spaziergängen genießen, doch seine lange geplante Reise duldete keinen Aufschub. Keinen Tag. Er konnte nicht genießen, solange sie litten und er es vielleicht in der Hand hätte, sie schon bald aus ihrer Not zu befreien.
Sein Blick streifte die Bücherregale. Tausende von Büchern vom Boden bis unter die Decke. Wo keine Bücher die Wände bedeckten, taten es Bilder. Meist handelte es sich um Geschenke von wohlhabenden Freunden aus besseren Zeiten, als es – zumindest aus ihrer Sicht - ein gesellschaftliches Privileg war, ihn zu ihrem Freundeskreis zählen zu dürfen. Das war die Zeit, als er noch kompromissbereit war, während seine Position einfach nur als avantgardistisch galt und sich insgesamt noch im Bereich des Zumutbaren bewegte.
Wenn er heute Gäste hatte, andere Gäste als damals, dann saß er mit ihnen nebenan im Wintergarten mit Blick auf das grüne Wiesental am westlichen Stadtrand. So wie gestern. Westhoff war am Spätnachmittag vorbeigekommen, einzig, um ihn doch noch von seinem Vorhaben abzubringen.
„Mensch, Franz! Ausgerechnet in den USA einen solchen Vortrag halten zu wollen, gerade jetzt, in diesen Zeiten!“
„Genau deswegen. Jeder Tag zählt. All das, was in den vergangenen Jahren sogar mehrfach wissenschaftlich belegt wurde, muss endlich in dem entsprechenden Zusammenhang zur Sprache gebracht werden.“
Westhoff hatte daraufhin laut und vernehmlich geseufzt. „Wirst du dich auch mit da Silva treffen?“
„Aber selbstverständlich.“
Daraufhin hatte ihn der Freund aus Studientagen fast bedauernd angesehen. Doch die Bestätigung seiner entscheidenden Thesen durch den Neurologen war ihm äußerst wichtig. Carlos da Silva, obgleich elf Jahre jünger, war lange Zeit sein Freund, Kollege und Mitstreiter im Geiste gewesen. Ohne ihn hätte er wahrscheinlich erst viel später die immense Bedeutung der Neurologie für sein Thema entdeckt. Doch dem namhaften Neurologen waren die Meriten offenbar zu Kopf gestiegen, deshalb wollte er seine Zeit nicht länger am Max-Planck-Institut in Leipzig verplempern, wie er ihm eines Tages eröffnet hatte. Nein, in La Jolla hätte er ganz andere Chancen – zumal im Neuron Valley, wie die Gegend nördlich von San Diego in Anlehnung an Silicon Valley inzwischen in Fachkreisen genannt wurde, Goldgräberstimmung herrschte. Und das betraf nicht nur die Bezahlung.
Auch wenn da Silva sich geändert haben mochte, so befand Degen, entscheidend waren seine Entdeckungen. Weil die sich nicht ändern würden.
Die Erinnerung an Carlos da Silva und an das gestrige Gespräch mit Westhoff verschwanden wieder. Er wusste genau: Für viele Menschen wäre sein Werk, das er als sein Lebenswerk begriff, nicht weniger als eine Kriegserklärung. Deshalb hatte er es auch bewusst nicht auf dem PC, sondern auf seiner altmodischen Schreibmaschine, einer Triumph Adler, geschrieben - ein Maschinentyp, der keine Spuren hinterließ und sich deshalb auch bei russischen Spionen großer Beliebtheit erfreute. Aus Sicherheitsgründen hatte er die Kopie des Skripts in einem Schließfach seiner Bank deponiert. All diese Vorkehrungen waren notwendig, denn man könnte versuchen, seine Arbeit zu sabotieren. Es wäre nicht das erste Mal. Sobald er aber die Bestätigungen der führenden Wissenschaftler eingeholt haben würde, konnte er das Werk vollenden und veröffentlichen. Dann würde das neue Wissen die Welt verändern.
Nicht zum ersten Mal folgte er der Einladung seines Freundes Luca Santini ins ferne Kalifornien. Santini wohnte mit seiner Familie in Berkeley, war Dozent an der Stanford University, betrieb eine Praxis für Psychoanalyse und war Autor einiger weniger, aber sehr erfolgreicher Bücher. Obwohl Santini – im Gegensatz zu ihm, der er auch Theologe war -, persönlich überhaupt nichts mit Religion anfangen konnte, schätzte er ihn doch sehr. Santini war im Moment auch der einzige Mensch, dem er notfalls seine gesammelten Aufzeichnungen überlassen würde. Gröbner vertraute er zwar gleichermaßen, aber er war einfach noch nicht reif. Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da klingelte es an der Wohnungstür. Degen nahm den Hörer ab. „Ja?“
„Gröbner“, hörte er die leicht polternde Stimme des aufstrebenden Biologen und Philosophen.
„Schön, dass Sie pünktlich sind, Bernd!“ Degen drückte auf den Türöffner und schulterte seine Bordtasche, in die er neben Reisepass, Kreditkarte und Flugticket auch sein Manuskript gepackt hatte. Es war ihm zu wichtig, deshalb würde er es bei sich behalten.
Dann stand auch schon Gröbner vor ihm, ein großer Kerl von kräftiger Statur, der dennoch ächzte, als er den altmodischen Koffer aufnahm.
Gröbner hatte seinen Wagen direkt vor der Haustür geparkt. Beim Einsteigen streifte Degens Blick die beiden Kindersitze auf der Rückbank. Es wäre Platz für mehr, dachte er und hoffte im Stillen, dass der Fortpflanzungs- und Brutpflegetrieb der Gröbners mit den beiden Jungs gestillt wäre und dass sie sich den Siebensitzer aus anderen Gründen gekauft hatten. Nicht, dass er etwas gegen Kinder hätte, im Gegenteil, aber bei bald schon acht Milliarden zunehmend anspruchsvollen Menschen auf einem kleinen, empfindlichen Planeten sollte man sich doch fragen, ob mehr als zwei Reproduktionen pro Paar unbedingt sein mussten. Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte er sich nach der Geburt von Gröbners zweitem Jungen zu einer Patenschaft hinreißen lassen. Dennoch waren Gröbner und er beim „Sie“ geblieben. Seltsamerweise schien es in ihrem Fall mehr Nähe auszudrücken, als das joviale „Du“; das „Sie“ war vielmehr Ausdruck gegenseitiger Hochachtung.
Während Gröbner den Wagen über den südlichen Aachener Ring Richtung Autobahn lenkte, verspürte Degen eine seltsame Melancholie in sich aufsteigen. Gröbner schien es zu merken. „Seien Sie zuversichtlich, Franz! Führen Sie sich immer unsere ersten Erfolge vor Augen. Oder hätten Sie es noch vor zehn Jahren für möglich gehalten, dass Ihre Thesen einmal von der Deutschen Bischofskonferenz gehört werden?“
Degen nickte kaum merklich. Für ihn aber war das längst nicht genug, zumal diese Anhörung ja bislang überhaupt keine Konsequenzen gehabt hatte. Er aber fühlte sich mehr denn je verantwortlich, schnellstens eine Wende herbeizuführen.
Auf der Autobahn angekommen, gab Gröbner Gas. „Ich staune ja noch immer, dass man Sie so ohne weiteres in die Staaten einreisen lässt.“
Degen starrte in die vorbeifliegende Landschaft. „Zwanzig Prozent aller Wildtiere werden übrigens von Kraftfahrzeugführern getötet.“
Gröbner nahm umgehend den Fuß vom Gas. Degen registrierte es. Als er das Visum via Internet angefragt hatte, hatte er in der Tat mit Widerstand gerechnet, schließlich war er nach mehreren Vortragsreisen sowie zahlreichen, in englischer Sprache erschienenen Büchern auch in den Staaten kein Unbekannter mehr. Und wenn er in diesem Zusammenhang den jüngsten Meldungen, vor allem aber Santinis erschütternden Schilderungen Glauben schenkte, standen Leute wie er inzwischen ganz oben auf der Abschussliste des Heimatschutzministeriums – praktisch auf einer Stufe mit Al Kaida. Dennoch hatte Santini mit der tatkräftigen Unterstützung von Gröbner insgesamt acht Vorträge vorbereitet. Zu ihrer großen Überraschung und Freude waren sämtliche Veranstaltungen in Windeseile ausverkauft gewesen.
Es waren nicht viele Vorträge verglichen mit früheren Vortragsreisen, was daran lag, dass er mit seinem USA-Besuch noch ein ganz anderes Ziel verfolgte. Ein Ziel, das er aber nicht angegeben hatte. Hätte er es aber unter „Anlass Ihres Besuches in den Vereinigten Staaten“ angegeben, hätten sie ihm die Einreise garantiert verweigert. Hätte er jedoch in seinen Antrag geschrieben, er käme als Tourist und Besucher von Xy, dann hätten sie es ihm nicht abgekauft und ihm die Einreise ebenfalls verweigert. Deshalb die Vortragsreise. Nach den jüngsten Äußerungen Santinis ahnte er aber, dass Washington dennoch längst im Bilde war. Auch deshalb musste er sich beeilen.
Gröbner hatte sich jetzt verstärkt auf den Verkehr auf der Autobahn zu konzentrieren. So bemerkte er auch nicht die Verzweiflung, die ihn auch jetzt wieder überfiel und die ihn wie jedes Mal aufs Neue in seinen Grundfesten erschütterte. Er wusste ja, da sitzen Unschuldige in der Todeszelle, Kinder zumeist, Unschuldige, die man um ihr Recht auf ein lebenswertes Leben bringt oder gebracht hatte und die jetzt einem meist grauenhaften Tod entgegen sahen. Und nur er würde sie mit seinem Plädoyer befreien können. Und so versuchte er, zu ihnen zu gelangen, doch wieder und wieder wurde er aufgehalten, wieder fehlten die letzten Beweise und wieder und wieder kam er zu spät. Wie viele von ihnen wohl hofften, dass sie jemand aus ihrer Not befreite? So wie man es von Ratten wusste, die von Menschenhand aufgezogen und dabei schon mehrfach aus einer aussichtslosen Lage befreit worden waren. Setzte man diese Ratten in einen Wasserbehälter, aus dem sie nicht aus eigener Kraft gelangen konnten, schwammen sie viel länger und kämpften so um ihr Leben, als solche Ratten, denen noch nie aus einer lebensbedrohlichen Situation geholfen worden war.
Am Flughafen Düsseldorf angekommen, begleitete Gröbner Degen noch bis zum Check-in-Schalter. „Bitte grüßen Sie Professor Santini von mir. Und vor allem: Passen Sie auf sich auf, Professor!“
„Werd ich machen. Und Sie grüßen bitte Kerstin und die Kinder von mir. Alles Gute, Bernd.“
„Gute Reise, Franz.“
Gröbner wartete noch, bis Degen die Kontrolle passiert hatte, bis sie noch einen letzten Blick, der Zuversicht signalisieren sollte, austauschen konnten. Dennoch verließ er mit einem unguten Gefühl den Flughafen.
Die nächsten Stunden waren entscheidend. Wenn alles gut ging, würden sie noch heute die ersten aussagekräftigen Entdeckungen machen können.
Die Anspannung war Frank Raymond deutlich ins Gesicht geschrieben, als er jetzt die Tür seines Büros einen Spalt weit öffnete. Zu seiner Erleichterung sah er, dass Norton inzwischen vornüber gebeugt auf dem Gästebuch lag. In dieses Buch hatte sich jeder Besucher einzutragen, auch wenn er das Gebäude nur für fünf Minuten betrat. Eine Ausnahme bildeten seine sehr persönlichen Gäste, die jeden Moment eintreffen mussten: sieben ebenso hochrangige wie engagierte Wissenschaftler, die alle ein Interesse einte, die eine brennende Frage, deren Klärung jedoch dieser besonderen Umstände bedurfte.
Mit schnellen Schritten näherte sich Raymond dem gläsernen Empfang des Nachtportiers. Um ganz sicher zu gehen, dass Norton auch wirklich fest schlief, räusperte er sich und rief ihn beim Namen. Als Norton daraufhin keinerlei Reaktion zeigte, öffnete Raymond die Tür des Glaskastens. Als der Nachtwächter sich selbst dann noch nicht rührte, als er ihm auf die Schulter tippte, zog er dem Schlafenden ein Augenlid hoch. Zwar konnte er im Halbdunkel nicht allzu viel erkennen, doch allein dass Norton nicht reagierte, genügte ihm. Deutlich sichtbar platzierte er jetzt eine leere Wodka-Flasche im Papierkorb. Mit gezielten Bewegungen schaltete er die Kontrollmonitore aus, die die Räume der verschiedenen Menschenaffen überwachten, ließ Nortons leeren Teebecher in seiner Kitteltasche verschwinden und trat dann hinter den Nachtwächter. Er verschränkte seine Hände vor dessen Brust, hob den dünnen Mann von seinem Stuhl und schleifte ihn durch die verwaisten Flure bis in den Abstellraum neben der Herrentoilette. Dort legte er ihn in halbwegs bequemer Position auf die Fliesen und verschloss die Tür von außen. Anders Norton müsste jetzt mindestens fünf Stunden fest schlafen.
Raymond warf einen Blick auf die Uhr, dann betrat er den Sitzungssaal. Vorsichtig öffnete er einen Karton, in dem sich zwölf blaue Ampullen befanden, alle beklebt mit Namensschildchen und gefüllt mit einem neuartigen Narkotikum, das den Tieren schmecken würde und das keinerlei Beeinträchtigungen bei ihnen hinterlassen würde. Er mochte seine Menschenaffen, und er war mächtig stolz auf seine Arbeit, beherrschten drei der Affen doch einen Wortschatz von über siebenhundert Wörtern. Arusha, das Berggorilla-Weibchen, konnte sogar über achthundert gesprochene Wörter verstehen und sich in der speziellen Symbolsprache äußern - sei es über bedruckte Karten oder über die Symbole ihrer speziellen Computertastatur. Sie verstand aber nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze gesprochene Sätze, bestehend aus Subjekt, Prädikat und Objekt. Änderte man den Satzbau unter Verwendung der gleichen Wörter wie bei dem Satz zuvor, begriff sie die andere Bedeutung des Satzes.
Die Viererbande der Schimpansen dagegen beherrschte zudem noch die Gebärdensprache der Taubstummen und hatte diese bereits so verinnerlicht, dass sie sogar untereinander und in Abwesenheit der Menschen auf diese Weise miteinander kommunizierten. Wie die Primaten diese ihnen völlig fremde Sprache jedoch in ihrem Gehirn verarbeiteten und wie dabei ihre Denkmuster aussahen, das sollte Gegenstand ihrer Forschungen werden.
Vor einigen Monaten war er durch Beziehungen günstig an einen Kernspintomographen gelangt, den er in einem ebenerdig gelegenen Abstellraum installieren konnte, ohne dass die übrigen Mitarbeiter Wind davon bekommen hatten. An diesem Abend würde er ihn endlich einweihen können.
Ein leises Motorengeräusch ließ ihn aufhorchen. Sein Herz schlug schneller, viel stand auf dem Spiel. Schon sah er die ersten Wagen vorfahren. In zehn Minuten würden sie die zwölf Primaten seiner Elite-Abteilung mit diesem neuen Präparat beruhigen. Das Sedativum würde sie für Stress unanfällig machen und ihre willkürliche Muskulatur etwas lähmen - ihr Bewusstsein und ihr Denken aber würde es nicht beeinträchtigen. So würden sie sich friedlich in den Kernspintomographen schieben lassen. Sobald sie sich an das laute Geräusch und die Enge in der Röhre gewöhnt hätten, würden sie ihnen bestimmte Bilder und Symbolkarten vorführen, ihnen dazu die Begriffe nennen, sodass sie mit ziemlicher Sicherheit sagen konnten, an was die Affen gerade dachten. Wenn daraufhin einige Hirnareale stärker durchblutet und so mit mehr Sauerstoff versorgt würden, würden diese Areale entsprechend farbig aufleuchten. Dadurch könnten sie bestimmen, welche Areale für welche Wahrnehmungs- und Denkprozesse zuständig wären. Anhand des Zusammenspiels der Areale würden sich Denkmuster erkennen lassen. Wenn ihnen das gelänge, wäre das eine Sensation. Zwar wussten sie, dass sich diese Denkmuster nicht wesentlich von denen im menschlichen Hirn unterscheiden würden, doch so etwas wollte bewiesen werden. Einzig eine geringere Neuronendichte würde bewirken, dass in manchen Arealen die Magnet-Resonanzen schwächer abgebildet werden als bei Menschen; ansonsten ließ sich ihre Gehirnaktivität genauso beobachten und darstellen.
Mit raschen Schritten erreichte Raymond den Haupteingang, öffnete lächelnd die Tür und bat die Damen und Herren herein. Gedämpftes Gemurmel, hier und da ein Lachen. Raymond räusperte sich, um so die Aufmerksamkeit seiner Gäste zu gewinnen. Er nickte ihnen zu, während er gleichzeitig auf die Tür zum Sitzungssaal wies.
„Es freut mich, dass Sie alle kommen konnten“, begrüßte er gleich darauf die fünf Männer und zwei Frauen, allesamt namhafte Experten aus den verschiedenen Bereichen der Neurowissenschaften. Sie alle hatten anspruchsvolle Lehrstühle inne und bekleideten nebenbei bedeutende Positionen in den führenden Kliniken und Forschungseinrichtungen Kaliforniens. Dass sie hier versammelt waren, geschah unter Einhaltung absoluter Diskretion, denn diese Art der Verhaltensforschung widersprach durch die Sedierung der Probanden mit einem noch nicht zugelassenen Präparat dem Credo des Instituts.
„Bitte nehmen Sie doch Platz!“ Frank Raymond kam schnell zur Sache, schließlich wussten seine Gäste, um was es heute ging. Er hob eine der Ampullen hoch. „Mit Neurorelax werden die Tiere im Kopf hellwach bleiben, doch unempfindlich gegenüber Licht und Geräuschen, aber auch unempfindlich gegenüber der Enge in der unbekannten Umgebung. Zudem werden sie Kopfhörer tragen. Deshalb werden es unsere Primaten auch nicht als Stress empfinden, wenn wir sie nacheinander für je zehn Minuten in die Röhre schieben.“ Er lächelte gewinnend. „Ich habe die Namen der Tiere auf die Ampullen geschrieben, denn die Dosis richtet sich natürlich auch bei den Affen nach dem Körpergewicht. Wenn wir unseren Primaten gleich diesen wirklich schmackhaften Drink verabreichen, können wir...“, er tippte auf seine Tissot-Uhr, „können wir in einer halben Stunde mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Wenngleich sich jeder von Ihnen bereits mit seinen Probanden vertraut gemacht hat, habe ich vorsichtshalber mehrere Affenhandschuhe bereitgelegt. Und bitte denken Sie an Ihren Mundschutz! Noch Fragen? Nein? Gut. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden. Wir treffen uns nach der Sedierung hier wieder, um jedwede Aufregung in der etwa zwanzig Minuten dauernden Beruhigungsphase zu vermeiden.“
„Stell dir vor“, begann der Maori, „man würde zwei Menschen in eine Zeitmaschine setzen, um sie fünfhundert oder tausend Jahre in die Zukunft zu katapultieren. Doch dann geriete die Zeitmaschine außer Kontrolle und käme erst nach unvorstellbaren sechs oder sieben Millionen Jahren zum Stillstand. Unsere beiden Zeitreisenden kämen in eine völlig andere Welt. Eine Welt voll seltsamer Wesen, die ihnen zwar noch irgendwie ähnlich wären, die sie aber dennoch nicht oder nicht richtig verstehen könnten. Wesen, die Fähigkeiten entwickelt hätten, die sie haushoch überlegen machten, und die unsere beiden Menschen aus dem Jahre 2011 sofort gefangen setzen würden. Um sie anzuglotzen, um über sie zu lachen und um mit ihnen zu experimentieren, mehr oder weniger grausam.
Doch kein Science-Fiktion-Autor könnte eine derartige Horrorvision so stehen lassen, ohne dass seine durch die Zeit gereisten Helden am Ende frei kämen, damit sie wieder zurück in ihre Zeit, in ihre Welt, reisen könnten - mit wichtigen Erkenntnissen für die jetzt lebenden Generationen.“
Der Neuseeländer blickte in ein nachdenkliches Gesicht.
Marian Briggs nickte. „Arusha muss sich wie eine solche Zeitreisende fühlen, zumal sie praktisch direkt aus der Wildnis nach Los Angeles kam. Natürlich ist es nach wie vor mein größter Wunsch, sie und ihre Tochter zurück nach Ruanda zu bringen. Aber das muss ich dir wohl kaum sagen, Tom.“
„Nein, aber vielleicht müsstest du es so oder so ähnlich darstellen, solltest du noch immer diesen Film planen. Auf dass die Leute hier in den Staaten kapieren, was wir Kiwis damit meinen: Menschenrechte für Menschenaffen … wenngleich ich persönlich ja nach wie vor der Meinung bin, dass es besser Lebensrechte statt Menschenrechte heißen sollte, allein, um Spitzfindigkeiten im Vorfeld auszuschließen.“
„Ich möchte den Film noch immer machen, klar. Ich wüsste da auch schon einen Autor, der echt gute Filme macht. Die richtige Mischung aus Fakten und Emotionen.“
„Und? Worauf wartest du noch?“
Bevor Marian antworten konnte, summte Toms Telefon.
„Entschuldige“, murmelte er, um im nächsten Moment auch schon lauter zu werden. „Pete Creston, altes Haus! Woher weißt du, dass ich gerade in Kalifornien bin? … Okay … verstehe. Seit wann sind sie da? … Morgen früh um sechs am Pier. Mach ich.“ Tom drückte die Verbindung aus. Im nächsten Moment verzog er sein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Petes Video-Kamera ist kaputt. Und ich Idiot hab ausgerechnet dieses Mal keine dabei.“
„Du kannst meine haben“, sagte Marian sofort. „Nur liegt die im Institut. Hm. Ich könnte aber in die Stadt fahren und sie dir holen.“
„Aber dafür brauchst du hin und zurück mindestens drei Stunden!“
„Ich gehe davon aus, dass es wichtig ist, wenn dich Pete Creston bittet, mitzukommen.“
„Sie haben ein paar Grauwale nahe der Küste gesichtet, die sich ziemlich sonderbar verhalten.“
„Grauwale Anfang April?“
„Eben. Sie müssten bereits seit Wochen in Richtung Arktis unterwegs sein.“
Marian sah auf die Uhr. „Wenn ich jetzt losfahre, wäre ich gegen Mitternacht zurück. Ich werde dir die Kamera hier auf den Tisch legen. Denn wenn du morgen um 6 Uhr am Pier sein musst, wirst du sicher bald schlafen gehen.“
„Danke, Marian. Ich werde mich revanchieren.“
„Vorsicht! Ich könnte dich beim Wort nehmen.“
Los Angeles. Als Marian Briggs gegen 22 Uhr auf den Parkplatz des PReC, des Primate Research Center, bog, standen dort zu ihrer Überraschung mehrere fremde Wagen. Noch überraschender war, dass in dem gesamten unteren Bereich des zweistöckigen Gebäudes Licht brannte - sogar im hinteren Teil des Erdgeschosses, dort, wo ihre beiden Schützlinge lebten. Sie parkte ihren Wagen neben dem BMW des Institutsleiters, dem einzig bekannten Fahrzeug.
Raymond wird wieder mal einem ausgewählten Personenkreis einen Vortrag über seine Erfolge halten, versuchte sie sich mit logischen Erklärungen zu beruhigen. Denn wenn etwas mit den Tieren wäre, hätte man sie längst informiert. Sie hatte zwar für ein paar Tage Urlaub, doch war sie im Notfall jederzeit telefonisch erreichbar, schließlich war sie auch die zuständige Tierärztin des Instituts.
Als sie schwungvoll wie immer die Haupteingangstür aufziehen wollte, wurde ihr Schwung jedoch unsanft ausgebremst. Seltsam, dachte sie, während sie die Tür mit ihrem eigenen Schlüssel öffnete. Dann fiel ihr auf, dass Anders Norton, der Nachtportier, nicht in seinem Glaskasten saß. Auch sämtliche Monitore, die ansonsten Tag und Nacht die Räume der Affen überwachten, waren abgeschaltet. Oder ausgefallen. Stattdessen drang jetzt aus dem gegenüberliegenden Sitzungsraum verhaltenes Stimmengewirr. Vielleicht sollte sie Raymond besser kurz Bescheid geben, dass sie nur schnell ihre Kamera holen wollte. Dabei könnte sie beiläufig nach dem Grund des Treffens fragen. Nein, sagte sie sich im nächsten Moment, er würde garantiert vermuten, dass die Kamera nur ein Vorwand wäre und dass sie schnüffelte. Sie würde jetzt auf direktem Weg in ihr Arbeitszimmer gehen. Dabei könnte sie gleichzeitig einen Blick auf ihre Schützlinge werfen.
Sie öffnete die Glastür zur taghell erleuchteten Abteilung der Menschenaffen. Durch die auf Augenhöhe befindlichen Türfenster konnte sie jedoch erkennen, dass die beiden Orang-Utans im ersten Raum einen völlig entspannten Eindruck machten. Sie saßen auf ihrem an ein Hochbett erinnernden Podest gegen die Wand gelehnt, so, als wollten sie jeden Moment einschlafen. Nichts Ungewöhnliches, dachte Marian, schliefen sie doch normalerweise um diese Zeit schon. Sie lief weiter bis zu dem Raum, in dem die beiden Berggorillas lebten. Als sie Mutter und Tochter friedlich vereint vorfand, atmete sie erleichtert auf. Zu gern hätte sie ihnen schnell noch Hallo gesagt, doch dann würden sie sich nur aufregen, weil sie nicht verstehen würden, warum sie gleich wieder gehen wollte. Schließlich hatten sie sich seit vier Tagen nicht mehr gesehen.
„Ich vermisse euch ja auch. Mittwoch ist mein Urlaub vorbei, dann sind wir wieder zusammen“, sagte sie so leise, dass sie es nicht hören konnten. Vorsichtshalber warf sie noch rasch einen Blick durch die Fenster der anderen Räume. Aber auch die ansonsten sehr lebhaften Schimpansen verhielten sich ruhig. Marian nahm die Kamera aus ihrem Schreibtisch, um zwei Minuten später das Gebäude wieder zu verlassen.
Neben seinem Kopf rauschte es leise. Vergeblich bemühte er sich, die Augen zu öffnen. Seine Augenlider fühlten sich an wie dicke, schwere Wülste. Zudem war da etwas Kaltes an seiner Wange. Glatt und kalt. Da! Ein Geräusch wie eine sich öffnende Tür. Plötzlich wurde es rot vor seinen Augen. Licht! Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte seine Augen nicht öffnen, er konnte sich überhaupt nicht bewegen. Was war bloß los mit ihm? Wo war er? Schritte kamen näher, es klirrte leise, als ob Glas auf Metall treffen würde... Wenn er nur nicht so benommen wäre, dann würde er rufen oder sich sonst irgendwie bemerkbar machen. Denn er war sich sicher: Jemand war ganz in seiner Nähe und hantierte mit ... was war das bloß? Es roch medizinisch. Jetzt vernahm er das Geräusch von raschelndem Stoff - fester, glatter Stoff, hastige Bewegungen. Erneut dieses feine Klirren. Wie neulich beim Zahnarzt.
Plötzlich murmelte eine Stimme. „Am Anfang war das Wort …“ Die Stimme wurde grollender, ja regelrecht zornig. „Es gibt keine Affen, die Gottes Wort verstehen, es hat nie welche gegeben und es wird nie welche geben, denn Gottes Wort ist Geist, ist die schöpfende Vernunft.“
Träumte er vielleicht doch? Norton war sich nicht mehr sicher, denn dieser Jemand sprach wie sein Onkel Buddy, bei dem er früher immer die Schulferien verbracht hatte. Das war in einem grässlich langweiligen Kaff in Utah in der Nähe von Virgin gewesen. Doch sein Onkel war seit über zwanzig Jahren tot.
Ein Handy klingelte. Ein erneutes Rascheln, das von hastigen Bewegungen zeugte. Die Stimme, die der seines Onkels glich, meldete sich, doch sie nannte keinen Namen, sagte nur ja und später. Wieder klirrte es. Wieder raschelte Stoff. Harte Absätze klackten auf den Fliesen. Das rote Licht erlosch. Eine Tür ging auf … erneut schwaches Licht … die Tür fiel mit einem Doppelklick ins Schloss. Dunkelheit.
Marian hatte das San-Fernando-Tal gerade hinter sich gelassen, als ihr plötzlich bewusst wurde, was da nicht zusammenpassen wollte: Alle ihre Kollegen hatten immer Wert darauf gelegt, dass die Tiere ihrem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus folgen konnten – und der richtete sich nach dem Sonnenstand. Hätte demnach nicht die ungewohnt späte Beleuchtung, die zudem noch mit einem Anteil stimulierenden blauen Lichts angereichert war, die Affen eher munter machen müssen? Doch stattdessen wirkten sie seltsam ruhig. So, als wären sie ruhig gestellt worden … als wären sie sediert. Wenn man die Menschenaffen jedoch sediert hätte, konnte es dafür nur einen Grund geben. Quatsch, sagte sie sich sofort, in ihrem Institut wurde seit Jahren ausschließlich eine gewaltfreie Verhaltensforschung betrieben. Deshalb waren sie ja auch so erfolgreich. Es lag sicher nur an Toms Vergleich mit der defekten Zeitmaschine, der sie nur einmal mehr an das Schicksal all jener Primaten erinnert hatte, an denen noch immer unvorstellbar grausame Versuche vorgenommen wurden: Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr.
Inzwischen hatte sie das Ferienhaus erreicht, in dem sie mit den beiden Neuseeländern ihren Kurzurlaub verbrachte.
„Wahrscheinlich bist du schon hysterisch“, hatte sie über sich selbst den Kopf geschüttelt, als es ihr einfach keine Ruhe ließ, sie schnell die kleine Kamera auf den Esstisch legte und sie sich erneut in den Wagen setzte – nachts um halb eins. Doch dann sorgte die plötzliche Sperrung des San-Diego-Freeways dafür, dass sie einen ziemlichen Umweg fahren musste, weshalb sie erst um zehn nach drei das PReC erreichte. Der Parkplatz war jetzt wieder leer, und auch das Gebäude lag wieder im Dunkeln. Allerdings lag es jetzt völlig im Dunkeln. Normalerweise aber brannte am Empfang die ganze Nacht über Licht – schließlich war es Nortons Arbeitsplatz. Hastig schloss sie die Eingangstür auf. Um bei etwaigen Passanten kein Aufsehen zu erregen, schaltete sie lediglich das Licht im hinteren Flur an. Als sie sich dem Glaskasten näherte, fiel ihr auf, dass die Monitore, mit deren Hilfe Norton die Affen überwachen konnte, noch immer abgeschaltet waren. Im schwachen Schein des Flurlichts erkannte sie die Umrisse des Nachtwächters. Er schien tief und fest zu schlafen. Nichts Ungewöhnliches, war er doch nicht mehr der Jüngste. Er schien jedoch äusserst fest zu schlafen, denn selbst als sie die Schreibtischlampe direkt neben seinem Kopf einschaltete und sanft an seiner Schulter rüttelte, veränderte Norton nur unwesentlich seine Position.
„Mr. Norton?“ Sie tastete nach seinem Puls. Der Mann schlief anscheinend nur sehr fest. Marian beachtete ihn daraufhin nicht weiter. Sie rannte jetzt durch die Flure, riss die Tür zu ihrer Abteilung auf und schlug auf sämtliche Lichtschalter, sodass in allen Räumen gleichzeitig das Licht aufflammte.
Als aber daraufhin alles still blieb, beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Bevor sie zu Arushas und Julies Raum gelangte, musste sie an den beiden Orang-Utans vorbei. Beim Blick durch das kleine Türfenster wollte ihr Herz aussetzen. Wie erstarrt und mit weit aufgerissenen Mündern lagen die beiden Menschenaffen auf den weißen Fliesen. Ungeachtet aller Vorsichtmaßnahmen riss Marian die Tür auf und kniete im nächsten Moment neben dem ersten Affen. Routiniert zog sie ihm ein Augenlid hoch, doch das starre Auge reagierte nicht auf den plötzlichen Lichteinfall. Sie versuchte den Puls des reglosen Tieres zu erfühlen, vergeblich. Sie legte ihr Ohr auf seine Brust, auch nichts. Daraufhin wandte sie sich klopfenden Herzens dem anderen Orang zu. Doch auch bei ihm konnte sie nur noch den Tod feststellen. Entsetzt stürzte sie hinaus, rannte den Gang entlang, bis sie zum Raum der beiden Berggorillas gelangte. Beim Blick durch die Glasscheibe blieb ihr fast das Herz stehen. Sie stürzte in den Raum, als ein Schatten an ihr vorbei sprang.
„Julie!“ Julie lebte! Umgehend schöpfte sie Hoffnung, während sie auch schon neben der am Boden liegenden Arusha kniete. Die Äffin hielt einen Arm vor ihrem Gesicht – so, als schliefe sie nur. „Arusha! Hörst du mich? Arusha!“
Behutsam nahm Marian Arushas Arm von deren Gesicht und klopfte ihr die Wange. Doch Arusha rührte sich nicht. Und als sie vorsichtig ihr Augenlid hochzog, zeigten auch ihre Augen keine Reaktion mehr.
„Bitte nicht!“, murmelte Marian und tastete vergeblich nach Arushas Puls. Sie legte ihren Kopf auf die Brust des Affen, aber da war auch kein Herzschlag mehr. „Arusha, bitte!“, lallte sie wie benommen, während sie unterschwellig registrierte, dass sich Julies Verhalten änderte. Sprang sie eben noch panisch um sie herum, saß sie jetzt wie versteinert ganz dicht neben ihrer Mutter, so, als wüsste sie längst, dass man ihr nicht mehr helfen konnte.
Marian ahnte, dass der Tod der Menschenaffen in irgendeiner Weise mit dieser Versammlung zusammenhing. Nur wie?
Sie wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für diese Frage war – doch eins wusste sie sicher: Julie musste hier raus. Denn wenn das Gorillamädchen hier allein zurückbliebe, würde sie am Ende eingehen - wie so viele Gorillakinder zuvor, nachdem sie ihre Mütter verloren hatten. Sie müsste Julie mitnehmen, denn sie war nach Arusha ihre einzige Bezugsperson. Das aber ginge nur unter Betäubung, denn freiwillig würde sie ihre tote Mutter nicht so bald verlassen. Und obwohl sie erst fünf Jahre alt war und ihr gerade bis zum Bauchnabel reichte, konnte Julie bereits enorme Kräfte entwickeln, denen sie nicht gewachsen sein würde.
„Warte Julie, ich bin gleich wieder da!“ Während sie den Gang zum Medikamentenraum hinunterhastete, erkannte sie erst das ganze Ausmaß des Dramas: Auch die Schimpansen lagen auf dem steinernen Boden, lagen auf dem Rükken oder auf der Seite, die Münder wie zu einem letzten Schrei aufgerissen. Marian begann zu taumeln. Ein einziger Alptraum! Nein, kein böser Traum, das Unfassbare war Wirklichkeit. Und sie mittendrin. Sie sollte Tom anrufen. Nein, besser nicht, es würde zu lange dauern, bis er hier wäre. Sie musste jetzt handeln, sofort, so wie damals in den Virunga-Bergen, als Wildhüter die schwerverletzte Arusha vor ihr abgesetzt hatten. Ein winziges Baby hatte auf ihrem Bauch gehockt und sie aus großen Augen angesehen.
Normalerweise wusste sie genau, wo die Medikamente lagen. Doch jetzt stand sie nur da in dem gefliesten Raum mit den weißen Kunststoffschränken, war wie gelähmt, unfähig, auch nur einen konstruktiven Gedanken zu fassen.
Der Schlüssel, ich brauch den Schlüssel für den Medikamentenschrank, erinnerte sie sich, während sie allmählich wieder klarer sah. Und ich brauche zumindest eine Blutprobe, um herauszufinden, woran ihr gestorben seid.
Mit zitternden Händen klaubte sie verschiedene Dinge zusammen: Einwegspritzen, Röhrchen, Wattestäbchen, Tape, ein paar Folientüten. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder, wo der Schlüssel lag. Im Medikamentenschrank fand sie ein ausreichend starkes Sedativum, das Julie gefahrlos ruhigstellen würde, sodass sie die Fahrt mit ihr hinaus aus der Stadt wagen könnte. Jetzt noch das Blasröhrchen, denn Julie würde in dieser Situation kaum stillhalten. Doch dort, wo das nur selten benutzte Blasrohr lag, lag nichts. Sie riss die anderen Schubladen auf, nichts. Verdammt, dachte sie, dann muss es eben anders gehen. Klopfenden Herzens kehrte sie in den Raum zurück. Julie schien noch immer apathisch – etwas, was sie nutzen sollte. Sie verbarg die Spritze in ihrer Hand, doch als sie sich ihr nähern wollte, sprang Julie schreiend auf. Bei jedem weiteren Versuch, sich ihr auf weniger als einen Meter zu nähern, floh die, die sonst kaum von ihrem Bein wich, jedes Mal erneut vor ihr. Nicht auch noch das, dachte Marian und zwang sich, geduldig zu bleiben. Ruhig und mit leiser Stimme redete sie auf sie ein. Vergeblich.
Sie musste ihre Strategie ändern. Ohne Julie nur eines Blickes zu würdigen, stand sie auf. Die Spritze lauerte einsatzbereit in ihrer Hand – unsichtbar für den Affen. Und tatsächlich: Für einen Moment ließ Julies Aufmerksamkeit nach. Jetzt oder nie, dachte Marian, während sie auch schon mit einem Satz vorschnellte und Julie mit der ganzen Kraft ihrer Verzweiflung umschlang. Gleichzeitig drückte sie ihr die Betäubungsspritze ins Gesäß. Sie spürte Julies Gegenwehr, spürte ihre harten Fingernägel, die über ihre Wangen schrabbten und sich schmerzhaft in ihre Stirn bohrten. Doch sie hatte es geschafft.
Die Wirkung der Betäubungsspritze ließ Julie schnell erlahmen. Sie würde nicht schlafen, sie würde lediglich die nächsten zwei, drei Stunden so apathisch sein, dass sie die Fahrt in die Berge ohne Probleme überstehen würde.
Die Stirnwunde brannte inzwischen, als hätte man Salz hineingestreut, doch auch das war ihr momentan völlig egal. Sie würde sonst was drum geben, könnte sie dadurch Arushas Tod und den der anderen Menschenaffen ungeschehen machen. „Arusha“, murmelte sie. Selbst im Tod strahlte sie noch eine große Erhabenheit aus. So wie sie mit geschlossenen Augen vor ihr auf dem Rücken lag, sah sie aus wie ein Mensch – wie eine kräftige Frau.
Was dann kam, ging rein mechanisch. Marian riss die Folie der Einmalspritze ab und nahm zuerst der inzwischen völlig apathischen Julie etwas Blut ab. Mit geübten Bewegungen steckte sie die Blutprobe in eine der Plastiktütchen, die benutzte Spritze und den Abfall in eine zweite Tüte. Bloß keine Spuren hinterlassen. Sie atmete noch einmal tief durch, dann hockte sie sich neben Arusha. Sobald das Herz still steht, zirkuliert das Blut nicht mehr. Die einzige Vene, aus der man auch noch nach dem Tod von Primaten, egal ob Gorilla oder Mensch, Blut ziehen konnte, war die Femoralvene, erinnerte sie sich. Mit zittrigen Händen ertastete sie die kräftige Oberschenkelvene. Es kostete sie einiges an Überwindung und sie brauchte mehrere Anläufe, der toten Arusha Blut abzunehmen. Marian markierte das Röhrchen mit einem Klebestreifen, bevor sie alles getrennt verpackte. Zum Schluss hob sie Arushas Lippen hoch und fuhr mit einem Wattestäbchen in ihre Backentaschen und am Zahnfleisch entlang. Das Wattestäbchen steckte sie in ein Glasröhrchen und verschloss es mit einem Pfropfen. Geschafft.
Angestrengt lauschte sie in Richtung Flur. Als jedoch alles ruhig blieb, wandte sie sich noch einmal Arusha zu.
„Es tut mir so leid“, sagte sie leise, während ihre Hand das vertraute Gesicht streichelte. „Es ist unverzeihlich, ich hätte vorhin hier bleiben müssen. Ich hätte nachfragen, hätte mich einmischen müssen. Dann wärst du und die anderen vielleicht noch am Leben. Dennoch Arusha … ich will dir sagen, es war mir eine große Ehre, dass ich dich kennenlernen durfte. Wenn ich die Entwicklung damals geahnt hätte!“
Verdammt, sie hatte sie doch geahnt! Doch damals hatte sie noch gehofft, mit überzeugenden Argumenten die Verantwortlichen zum Umdenken bewegen zu können. „Arusha... Ich muss mich jetzt beeilen“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Aber ich verspreche dir, egal was kommt, ich werde gut auf deine Julie aufpassen. Und wer weiß, vielleicht kann ich sie eines Tages wieder zurück in eure Heimat bringen.“
Marian richtete sich auf. Julie hatte ihre Position nicht verändert. Das hieß, die 300-er Dosis Ketamin wirkte. Schnell schnappte sie die Sachen, verließ den Raum und rannte zum Haupteingang. Sie registrierte, dass Norton noch immer schlief. Man wird ihm etwas in seinen Tee gegeben haben, vermutete sie. Doch für das, was sie jetzt vorhatte, kam ihr sein Zustand wie gerufen.
Ohne die Scheinwerfer anzuschalten, fuhr sie ihren Wagen rückwärts an das fast ebenerdige Portal, schnappte sich die Wolldecke von der Rückbank und rannte ins Haus. Nachdem sie Julie auf die Decke bugsiert hatte, verabschiedete sie sich noch einmal von Arusha. Wieder spürte sie die Tränen, aber dann wandte sie sich endgültig ab, packte die Wolldecke an zwei Enden und schleifte Julie durch die Flure bis zum Haupteingang. Sie brauchte ihre ganze Kraft, das inzwischen fünfundfünfzig Kilo schwere Tier in den Kombi zu hieven, denn durch die Sedierung war sie so schlapp und schwer wie der berühmte nasse Sack. Als sie es endlich geschafft hatte, breitete sie vorsichtshalber noch die Decke über sie. Nicht auszumalen, sollte unterwegs zufällig jemand einen Blick in das Wageninnere werfen.
Als sie das Ferienhaus erreichte, war Tom längst bei den Grauwalen. Dafür aber war Phil zurück.
„Frag jetzt nicht, ich erzähl dir gleich was passiert ist“, keuchte Marian, als sie mit noch immer blutverschmierter Stirn und wirren Haaren den Freund aus dem Bett holte. Gemeinsam trugen sie Julie ins Haus. Nachdem Phil über die Situation halbwegs im Bilde war, fuhr er nach Palmdale, um all das zu kaufen, was sie für Julie brauchen würden. Julie aber bot ein Bild des Jammers. In sich zusammengesackt kauerte sie völlig bewegungslos in einer Ecke der Couch und starrte unbeteiligt vor sich hin. Es wird dauern, sagte sich Marian und setzte sich zu ihr. Sie spürte, wie die Anspannung sie noch immer gefangen hielt. Inzwischen war es sieben Uhr. Jeden Augenblick musste sie damit rechnen, dass jemand vom Institut anrief, um sie über die Vorfälle zu unterrichten und um ihre Unterstützung bei der anstehenden Untersuchung der verstorbenen Tiere anzufragen - womöglich auch bei der Suche nach ihrem verschwundenen Schützling Julie.
Er blinzelte in die schrägstehende Sonne. Im hellen Gegenlicht erkannte er drei leere Weinflaschen. Es waren tatsächlich drei leere Flaschen. Während er sich zu erinnern versuchte, warum er den Chateau de la Terre aus dem Keller geholt hatte, wurde ihm zumindest klar, was mit der Sonne nicht stimmte: Denn wenn die auf die hintere Wand des Wohnraums traf und dort auf den Turner schien, genauer gesagt, auf Lisas perfekte Kopie, dann war es nicht abends, sondern morgens.
Schwerfällig hangelte er sich hoch, wankte durch weite Räume, bis er ins Bad gelangte. Helles Morgenlicht strömte gleichmäßig durch eine mächtige quadratische Kuppel aus Milchglas.
Er schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht, immer wieder, bis er meinte, klarer zu sehen. Dennoch kroch sein Blick jetzt an seinem Spiegelbild hoch wie an einer fremden Person. Die war groß und schlank, mit brauner Haut, aber einem dunkleren Braun als das der meisten Hispanics. Dazu die dunklen, etwas eng zusammenstehenden Augen, wie sie typisch waren für verbrecherische Charaktere - einer von Cluggs dämlichen Sprüchen. Mit einer müden Geste strich er das schwarze Haar zurück.
Wie zum Teufel hatte er bloß all die Jahre so blöd sein können und so beharrlich an seinen naiv-idealistischen Vorstellungen festgehalten? Die Kamera ist die mächtigste Waffe der Welt! Oh Mann! Willkommen in der Wirklichkeit! Willkommen im digitalen Zeitalter!
Dank jeder Menge Klammermaterial, Footage aus zahlreichen vorangegangenen Sendungen rund um die Grenze zu Mexiko, war es Jake Cluggs gelungen, seinen Film bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln.
„Ich will eine ausgewogene Berichterstattung, Diego. Dein Film aber ist eine einzige Anklage.“
„Der Film sollte von den legalen und illegalen Todesschützen auf amerikanischem Gebiet handeln und warum und mit welchem Recht sie die Leute, die sich zu uns geflüchtet haben, abknallen. Du warst damit einverstanden, Jake!“
„Du hast aber etwas Entscheidendes vergessen, Diego.“
„So? Was denn?“
„Ein guter Reporter macht sich mit keiner Sache gemein – nicht mal mit einer guten.“
Er, Diego, hätte eindeutig Partei ergriffen - und zwar für seinesgleichen. Und das waren ohnehin alles Schmarotzer, Gauner und Drogenkuriere. Das hatte Cluggs zwar nicht gesagt, aber gedacht. Nach vier Jahren kannte er den Redakteur, wusste um seine persönlichen Meinungen genauso wie um die, die er für Fokus zum Maßstab machte.
Wenn sich aber ein guter Reporter nie mit einer Sache gemein machen durfte, hatte er ohnehin den Beruf verfehlt. Dann war die Kündigung die logische Konsequenz. Doch das war nur die eine Seite der Geschichte. Es gab da noch was. Sicher war das auch der eigentliche Grund, warum es ihm gestern Abend plötzlich egal geworden war und er nach der einen Flasche noch die nächste und offensichtlich auch noch die übernächste Flasche aufgemacht hatte, einzig, um den immer und immer wiederkehrenden Bildern wenigstens für ein paar Stunden zu entkommen. Denn seit er wieder da draußen gewesen war, das erste Mal nach dreiundzwanzig Jahren, war da etwas, was ihn Tag und Nacht verfolgte, in ständigen Alpträumen in der Nacht und in unberechenbaren Flashbacks am helllichten Tag.
Dabei hatte er dieses Mal auf der anderen Seite der Grenze gelauert. Eine Grenze, die streckenweise von einer bis zu fünf Meter hohen Stahlwand gebildet wurde, errichtet von einem Volk, das vergessen hatte, dass es selbst aus Flüchtlingen hervorgegangen war. Wo kein Zaun oder keine Stahlwand die Menschen aufhielt, war es der Kanal, der Rio Grande, die Wüste oder die Kugel eines Farmbesitzers – man konnte also wählen, wie man sterben wollte.
Nach wochenlanger Vorbereitung, perfekt ausgerüstet mit den Kameras und Mikrofonen von CTV, hatten sie schließlich in diesem Erdloch gelauert, bestens getarnt hinter aufgetürmten Büscheln aus Gestrüpp und Gras und mit einer eigens gefertigten Abschirmung gegen die Wärmebildkameras der patrouillierenden Helikopter der US-Streitkräfte und der US-Border-Police, während sie die feinen Spürnasen der Suchhunde zuvor noch mit zig Litern Hau-ab-Spray außer Gefecht gesetzt hatten. Alles hatte er bedacht – nur nicht das, was speziell mit ihm zu tun hatte. Während der monatelangen Vorbereitungen war er sich sicher gewesen, dass er dem gewachsen sein würde, schließlich lag das alles schon so weit zurück. Doch dann war es plötzlich wieder so gewesen wie in jener Nacht, und später wusste er nicht mehr zu sagen, ob es real gewesen war oder ob ihn seine Erinnerung genarrt hatte.
Cluggs war mit seinem Drehbuch einverstanden gewesen, doch bei der Abnahme des fertigen Films konnte er sich anscheinend nicht mehr daran erinnern. Vielleicht hatte er auch kalte Füße bekommen, denn er machte aus seiner Arbeit von sieben Monaten diesen Mainstream-Schleim, den er dann auch noch als ausgewogene Berichterstattung bezeichnete. So konnte er am Ende nur noch seinen Namen aus dem Abspann nehmen. Mit dieser Farce wollte er um nichts in der Welt in Verbindung gebracht werden. Dann war er eben kein guter Reporter. Aber er war nicht käuflich, wenngleich das auch manch einer angesichts seiner komfortablen Situation meinen mochte. Von LA East nach LA West und noch etwas westlicher…
Jetzt aber stand er da, einer winzigen Bruchbude entkommen, wo man ständig das Geschrei der betrunkenen oder prügelnden Nachbarn hatte hören müssen, und wo es ständig nach Essen, Weichspüler oder irgendwelchen Ausscheidungen stank, stand in einem riesigen Bad aus echtem Carara-Marmor und fühlte sich überflüssig, ausgelaugt, perspektivlos und leer.
Das gedämpfte Klingeln des Telefons riss ihn aus seiner Starre. Er wankte zurück durch die Räume und versuchte die Schallquelle zu orten. Es klingelte auffallend hartnäckig. Irgendwo zwischen den Polstern fand er sie schließlich.
„Lisa!“
„Richtig!“, lachte sie. „Hey, lief gestern Abend nicht dein Film?“
Dass sie sich den Sendetermin gemerkt hatte, musste einen Pferdefuß haben.
„Diego? Bist du noch da? Also lief dein Film jetzt schon?“
„Nein, doch, bloß war es am Ende absolut nicht mehr mein Film.“
„Was soll das denn heißen: nicht mehr mein Film?“
In knappen Sätzen erzählte er ihr, was ihn veranlasst hatte, umgehend zu kündigen.
„Ich höre, dir geht es gar nicht gut. Weißt du was? Ich sehe zu, dass ich in ein paar Tagen zurückkommen kann. Das kriegen wir schon wieder hin. Also, Kopf hoch und bis ba-ald!“
Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit Lisas Rückkehr. Er hatte sich längst an ihre Abwesenheit gewöhnt, schlimmer noch, er hatte sie überhaupt nicht vermisst. Keinen Tag. Und wenn er ehrlich war, lag das nicht nur an seiner monatelangen Arbeit, sondern vor allem daran, dass sie sich am Ende überhaupt nicht mehr verstanden hatten. Nur deshalb hatte sich Lisa schließlich am Ende auch in das Andalusien-Projekt geflüchtet.
Vielleicht war nach vier Jahren einfach die Luft raus. Oder sie waren eben doch nicht das ideale Paar, für das Lisa sie anfangs gehalten hatte, während er zu der Zeit noch nicht mal sagen konnte, ob er sich überhaupt so richtig in sie verliebt hatte. Aber er mochte sie, er mochte ihre meist souveräne Art und ihren Sinn für komische Situationen. Dass Lisa sich damals mit ihm angefreundet hatte, hatte anfangs zwiespältige Gefühle in ihm ausgelöst - als wollte sie damit ihren Eltern eins auswischen. Ein Hispanic ohne Background im Hause McLane kam höchstens als Dienstbote in Frage. Das aber hatte ihn wiederum herausgefordert. Er hatte mitgespielt, nicht zuletzt, um vor allem dem alten McLane zu beweisen, dass es eben nicht so war, wie er dachte. Doch er hätte sich die Mühe sparen sollen, denn Typen wie Bertrand McLane konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die Geld nicht sonderlich interessierte.
Er dachte noch eine Weile an Lisa und ahnte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Noch eine.
Es war ein überaus prächtiges Haus, ganz aus Zedernholz und Glas, auf einer kleinen Anhöhe direkt am Pazifik gelegen. Der Taxifahrer pfiff anerkennend durch die Zähne, während er seinen Fahrgast noch skeptischer musterte, als in dem Moment, als der ihm die feine Adresse genannt hatte.
„Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind, Mister?“ Sein Doppelkinn schob sich in Richtung des Hauses, das sich hinter einem Heer aus bedrohlichen Speeren mit goldenen Spitzen in der Sonne aalte. Da waren Palmen, blühende Blumenrabatten, ein pompöser Springbrunnen aus schwarzem Marmor mit einer Fontäne, die glatt der des Genfer Sees Konkurrenz machen könnte. Dazu eine respekteinflößende Auffahrt aus schneeweißem Kies - all das rechtfertigte die für jedermann sichtbaren Alarm- und Überwachungseinrichtungen.
„Ja, wir sind richtig. Wie viel bekommen Sie?“
„41 Dollar!“ Der skeptische Blick des Taxifahrers fiel auf die labberige Stofftasche, auf der Save our planet stand und in der sein schweigsamer Fahrgast für seinen Geschmack schon etwas zu lange kramte.
„Moment bitte!“, murmelte Degen, stieg aus und griff in die Gesäßtasche seiner Cordhose. Der Taxifahrer war alarmiert und stieg ebenfalls aus.
Degen reichte dem Fahrer einen 50-Dollar-Schein. „Ist gut so.“
Der Taxifahrer starrte überrascht auf die 50-Dollar-Note. „Danke“, murmelte er verlegen und zwängte sich wieder hinter sein Steuer.
Als Degen sich dem Tor näherte, setzte sich ein Mechanismus in Gang, der beide Torflügel gleichzeitig nach innen zog. Ein sportlich wirkender Mann Anfang sechzig, braungebrannt, mit weißem Haar, rotem Polohemd und weisser Leinenhose kam ihm entgegen.
„Mein lieber Franz!“ Da Silva entblößte ein teures Gebiss. „Willkommen in Kalifornien!“
„Grüß dich, Carlos!“ Degen ergriff die ausgestreckte Hand. Dabei hatte er gehofft, Westhoff hätte übertrieben. Doch erst der Anblick des Hauses und nun der der protzigen Halle, die ihm da Silva jetzt als „mein neues Reich“ vorstellte und ihn dazu noch völlig unpassend aufforderte „sich wie zuhause zu fühlen“, ließen Westhoffs Vermutungen zu den schlimmsten Befürchtungen seinerseits anwachsen. Als Nächstes stach Degen der weiße Steinway - Flügel ins Auge. Soweit er sich erinnern konnte, spielte weder Carlos noch seine schwedische (und um dreißig Jahre jüngere) Frau Liv Klavier. Hinter dem auf einem kleinen Podest schwebenden Flügel befanden sich auf verschiedenen Ebenen zwei behagliche, aber für zwei Personen völlig überdimensionierte Sitzgruppen, eine weiß, die andere rauchblau, jede mit einer gut bestückten Bar in Reichweite. Dahinter rückwärtig beleuchtete Regalwände mit unendlich vielen Büchern, ähnlich wie in seiner Wohnung – nur ungleich mehr. Obwohl er sich nie damit brüsten würde, war er Carlos, was die veröffentlichten Buchtitel betraf, noch immer um neunundvierzig voraus. Carlos bevorzugte ohnehin kürzere Publikationen in den gängigen Fachzeitschriften, wobei er auch die populär-wissenschaftlichen Blätter nicht verschmähte, um kontinuierlich von sich reden zu machen.
Durch die geöffneten Glastüren des Wohnraums blickte man auf eine weitläufige, von Palmen umstandene Terrasse, an deren westlichem Rand sich ein zartblau schimmernder Pool ausdehnte. Sein Blau kontrastierte mit dem morgendlichen Dunkelblau des nahen Pazifiks, das seinerseits das Blau des Himmels berührte. Das riesige randlose Becken war so groß, dass selbst ein Blauwal bequem hineingepasst hätte – wenn auch nicht mehr als das.
„Großer Gott!“, murmelte Degen. „Ich dachte, du bist Neurologe!“
„Der bin ich nach wie vor und zwar mit Leib und Seele – hier vielleicht noch mehr als in Leipzig.“ Da Silva zeigte wieder Zähne. „Aber hier lebt es sich einfach besser, du siehst ja selbst. Weil man hier wissenschaftliche Arbeit ganz anders zu schätzen weiß.“
Degen nickte stumm, während sein Blick all das umfasste, wofür da Silva jetzt einstand. Das aber musste unweigerlich seinen Preis haben. Natürlich war ihm bekannt, dass die namhaften Wissenschaftler in den USA nicht selten zu Popstars mutierten, die entsprechend zu repräsentieren hatten. Das implizierte, sich in einem klar umrissenen Rahmen zu bewegen - auch, was die geistigen Wertvorstellungen anbelangte.
Degen spürte, wie es ihm zunehmend schwerer fiel, dennoch keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Carlos und er waren lange Zeit Brüder im Geiste gewesen, wenngleich sie aus ganz anderen Fachrichtungen kamen. Nachdem er sich vor einundzwanzig Jahren - unter anderem - ebenfalls der Neurologie zugewandt hatte, hatten sie wieder so etwas wie Gleichstand erreicht. Doch dann war es ausgerechnet dieses „unter anderem“, das ihm so manch harsche Kritik eingebracht hatte. „Man muss sich für eine Sache entscheiden“, hatte ihm nicht nur Carlos mehrfach vorgeworfen. „Man kann nicht alles wissen können. Das führt am Ende zu Dilettantismus.“
Doch gerade dieses Alles-wissen-wollen war ihm schon immer ein tiefes Bedürfnis gewesen. Denn wie sonst konnte man diese hochkomplizierte Welt, wie den Menschen darin, wie die Natur verstehen, wenn man nur Biologe, nur Mediziner, nur Astronom oder gar nur Ökonom war? Alles hing eng mit allem zusammen.
Inzwischen saßen sie bei eisgekühlten, frisch geernteten und direkt gepressten Zitrusfrüchten, die ihnen ein mexikanisches Hausmädchen serviert hatte. Da Silva sah ihr wohlwollend nach.
„Du hast geschrieben, dass du gern eine verbindliche Stellungnahme von mir hättest, Franz. Dazu hast du mir einen Auszug deiner Ausführungen geschickt. Ganz altmodisch als Brief per Post! Das fand ich ja besonders entzückend. Moment, ich hatte ihn doch irgendwo hier hingelegt.“
Da Silva trat an einen unauffälligen kleinen Tisch und begann einen ziemlich chaotischen Stapel Papier zu durchwühlen, Werbung und andere bunte Blätter, wie Degen zu seinem Entsetzen erkennen musste. Eine der bedeutendsten Entdeckungen in der Geschichte der Naturwissenschaften verlegt in einem nachlässig aufgetürmten Stapel nichtigen Papiers! Mehr als die persönliche Kränkung, die mit dieser Achtlosigkeit gegenüber seiner jahrelangen Arbeit einherging, war es vielmehr die traurige Erkenntnis, dass der Mann, auf den er in seinem tiefsten Inneren so große Hoffnungen gesetzt hatte, seine einstige Überzeugung verloren haben musste. Verloren oder verraten.
„Ich denke, Carlos, um über das Wesentliche zu sprechen brauchen wir mein Schreiben an dich nicht. Das Wesentliche ist doch, dass die höheren Tiere nicht nur über bloße Empfindungen im Sinne einfacher Reiz-Reaktionsmuster verfügen, sondern dass alle Säugetiere und Vögel, aber auch viele Fischarten und andere lange unterschätzte Wesen – ich erinnere an Octopus bimaculoides - ganz ähnlich wie wir über Gefühle verfügen.“
Da Silva verzog das Gesicht, während er mit steifen Bewegungen seinen Kopf verdrehte, so, als kratze sein Hemdkragen. Dabei vermied er es, Degen anzusehen. „Nein, das kann ich unmöglich unterschreiben“, stieß er schließlich hervor. „Nein Franz! Gefühle sind an Selbstbewusstsein gekoppelt. Wie du wissen müsstest, haben zwar auch einige wenige Tiere dieses Bewusstsein ihrer selbst, doch alle anderen sind nicht in der Lage, ihre Empfindungen mit sich selber in Verbindung zu bringen. Ergo können sie keine Gefühle haben.“
„Meine Güte, Carlos! Gerade du warst es doch, der mich genau dahingehend korrigiert hatte.“
„Lass uns ein paar Schritte tun, Franz!“ Carlos da Silva fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. „Da draußen weht ein angenehmer Wind.“
„Gern. Erinnerst du dich, Carlos, wie du mich vor knapp zwanzig Jahren auf ihre Vergleichbarkeit mit uns aufmerksam gemacht hattest? Du hattest mir damals die entscheidende Frage gestellt: Wenn man doch Versuche am zentralen Nervensystem oder am peripheren Nervensystem von Tieren durchführt, weil ihre Gehirne und neuronalen Verschaltungen mit den Verhältnissen im menschlichen Körper zum größten Teil oder ganz übereinstimmen und weil ihre Neurotransmitter, jene Botenstoffe bei ihnen die gleichen Gefühle wie bei uns auslösen, müsste man dann nicht mit ihnen fast oder vollständig so umgehen wie mit Menschen?“
„Äh, entschuldige, dass ich dich unterbreche... Aber hatte ich tatsächlich Gefühle gesagt?“
„Ja, hast du. Und du warst es auch, der mich damals fragte, ob nicht allein schon deshalb eine neurologische Forschung, die sich auf Tierexperimente stützt, ein moralischer Widerspruch ist. Eine ethische Fragwürdigkeit. Statt mit der Massenquälerei von Tieren in gewohnter Weise fortzufahren, egal ob in Versuchslaboren, in kleinen wie großen Tiermastanlagen oder Schlachthäusern, läge es doch gerade an den Neurologen, ihre inzwischen beachtlichen Forschungsergebnisse zum Aufbau einer neuen Moral zu nutzen und eben ihre ethische Verantwortung in unserer Gesellschaft zu erkennen.“ Degen fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Ich aber denke, wir brauchen keine neue Moral, wir sollten lediglich das, was für uns gilt, auch für sie gelten lassen.“
Da Silva war stehen geblieben. Sein Blick schien sich jetzt in den Weiten des Pazifiks zu verlieren. „Ach Franz!“, seufzte er. „Du bist anscheinend noch immer der Traumtänzer, der ich mal war.“
„Nein, ganz sicher nicht. Aber ich denke, dass jeder, der das Wissen hat, das wir beide haben, und es, warum auch immer, für sich behält oder gar leugnet, dass der ein Verräter ist. Nein, nein, wir wissen es doch, du weißt es: Es ist derselbe Schmerz, dieselbe Furcht, dieselbe Wut und dieselbe Hilflosigkeit, die eine Ratte, eine Katze, ein Schimpanse und eben auch ein Mensch empfinden kann. Denn es sind dieselben Loci, es sind dieselben Strukturen im Gehirn aller höheren Tiere, welche dieselben Empfindungen und Gefühle codieren. Eben deshalb war es euch Neurologen nur möglich, an ihren Reaktionen zu studieren, zu welchem neurologischen Korrelat sie wie wir die entsprechenden Erfahrungen besitzen..“ 2
Degen war entgegen seiner Art in seinem Zorn laut geworden. Da Silva nickte bedächtig. „Es sind zwar dieselben Strukturen, dieselben Loci und dieselben Mechanismen, dennoch können wir nicht wissen, dass sie ebenso wie wir empfinden. Oder gar fühlen. Weil sie keine Sprache haben. Dadurch können sie es sich nicht bewusst machen.“
„Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Erst sollen sie keine Gefühle haben, weil sie kein Selbstbewusstsein hätten, was aber nicht stimmt, dann, weil sie über keine Sprache verfügen! Wie kommt es zu diesem Rückfall in die vorwissenschaftliche Zeit?“
„Ich habe dazugelernt, Franz, und ich habe mich korrigieren müssen.“
„Aber überleg doch mal, Carlos! Wenn Gefühle erst durch Sprache zu Gefühlen würden, dann gäbe es sie praktisch gar nicht, sie wären nur ein Konstrukt unserer Sprache und damit unserer … Phantasie. Denn das Gefühl der Hilflosigkeit oder der Einsamkeit kommt doch nicht, weil man einen Begriff dafür hat. Man macht sich Gefühle mitunter bewusster, wenn man darüber spricht, ja, schließlich dient Sprache dem sozialen Austausch, der Kommunikation. Aber oftmals sind wir ja noch nicht einmal in der Lage, unsere Gefühle zu benennen. Ha, manche Denker sind sogar der Meinung, unsere Sprache zwinge uns in ein Korsett. Weil wir nur das beschreiben können, für das wir Worte haben. Nein, Gefühle sind selbstverständlich auch ohne Sprache vorhanden, zumal wir heute wissen, dass wir in erster Linie in Bildern denken, träumen sowieso.“
Da Silva schnaubte nur leise. Degen sah ihn entrüstet an. „Wenn du jetzt einen derartigen Rückzieher von deinen eigenen Erkenntnissen machst, ist es eine Schande, mehr noch, es ist Verrat an den Tieren. Abgrundtiefer, schäbiger Verrat, Carlos!“