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Üblicherweise beginnen Mördergeschichten mit der Tat, der Leser nimmt an den Ermittlungen teil und am Ende steht der Täter fest. Nicht so in den achtzehn Geschichten mit Mördern und ohne Polizei von Beate Morgenstern in dieser kleinen Sammlung. Hier erleben wir eine Entwicklung; die Tat steht am Ende. Intelligent, überraschend, nie langweilig.
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Seitenzahl: 315
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Beate Morgenstern
Eine Frau schon in den Jahren und andere Mördergeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
DICKIE UND DAVE
SEIN TRAUM
DER WETTLAUF
EIN DUFT VON ROSEN
DAS BILD SEINER FRAU
IMMER UNTERWEGS
EINE FRAU, SCHON IN DEN JAHREN
UNNÖTIGE VORSORGE
SIEBEN UND EINEN AUF EINEN STREICH
WUT
EINE LÜGNERIN
PEPE
WIE EIN WOLF
AM ENDE EINES TAGES
EINE FAMILIE
RUCKEDIGUH
UNNÖTIGE
BRÜCKEN
Impressum neobooks
Dave kam nicht zu früh. Dickie wartete schon. Sein weißer Latz, bis über die Nase zwischen die Augen reichend, die weißen Pfoten leuchteten in der Dunkelheit der Toreinfahrt. Jeden Morgen überfiel Dave auf den letzten Metern zu seinem Haus die Vorstellung, Dickie wäre nicht da und er könne ihn auch nicht herbeirufen, indem er das Häuserkarree umschritt und ihn lockte. Eines Morgens bliebe Dickie aus, habe günstigstenfalls einen anderen Ernährer und Gesellschafter gefunden. Wie Dickie, ein gut genährter Riesenkater, ja eines frühen Morgens, Einlass begehrend, vor seinem Haus aufgetaucht war, konnte er sich wieder einen anderen Menschen erwählen. Er müsste es billigen. Dickie war ein freier Kater. Wenn Dave auch noch nicht wusste, wie er dessen Wegbleiben verkraftete. Die Ungewissheit, ob dem Kater nicht doch ein Unglück zugestoßen sei, würde ihn wahrscheinlich umbringen. Zu Dickies Revier gehörte der große Friedhof. Für ihn war es ein leichtes, sich durch die Stäbe des Eingangstors zu schlängeln. Um zum Friedhof zu gelangen, musste er die und eine weitere Straße überqueren. Auch Rattengift war eine Gefahr. Und Katzenhasser! Dave durfte diese Dinge nicht weiterdenken. Heute war ja wieder alles gut gegangen. Er hockte sich hin, kraulte dem Kater zwischen den Ohren, unter dem Kinn, strich ihm über den Rücken und redete mit ihm. Mehr war es ein Singen als ein Sagen. Dickie schnurrte. Noch nur ein kleines Schnurren. Als Dave auf das Geschenk des Katers sah, ein Tier wie eine Maus mit abstehenden Schnurrbarthaaren, sehr nett, nur eben größer, schüttelte er den Kopf. Was bist du doch für ein Kerl, sagte er, nahm die Ratte am langen Schwanz, öffnete die Tür. Der Kater schlüpfte hindurch. Im Hof hielt Dave bei den Mülltonnen. Noch immer baumelte die Ratte zwischen Zeigefinger und Daumen. Der Kater setzte sich, blickte zu ihm auf. Ein so hübsches Gesicht hatte er, die honigfarbenen Augen schwarz, dann beige umrandet, am weißen Maul im beige-schwarz-gestreiften Fell ein unegaler Farbstups. Und zwei Tage Diät würden aus Dickie einen normal-schlanken Kater machen. Unklar, ob der Kater die Ablage seines Jagderfolgs guthieß. Dave hob einen Deckel an, tat das Tier hinein, zog einen Plastiksack beiseite, bedeckte es.
Hochparterreim QuergebäudeDavesWohnung:Zimmer, Küche,Innentoilette,Dusche. Dasser auf eine fensterloseMauersah,niemalsdieSonne inseineWohnung schien, war ihmgeraderecht.ErhattedieFenster mitJalousienversehen, die erselteneinen Spaltöffnete. Was sich dahinterereignete,bliebseinerFantasieüberlassen.Oftstellteer sichvor, ein großer Park befände sich hinterseinemFenster.
Der Katerstrich umseineBeine, riss sein Maul auf.Die Mimik war Aufforderung genug.Er gingin die Küche,öffneteeineDose.Dengefüllten Teller stellte eraufden Fußboden. Der Kater schlabberte, bis der Teller leerwar,sahauf.Ja, ja,Dickie. Ergab einezweite Portion dazu.Schließlich musstensiebeneinhalb Kilo erhaltenwerden. Während der Katerfraß, schnurrteermordsmäßig,ohrenbetäubendgeradezu.Dickie sprang auf dieAblage neben der Spüle,vielleicht,um demgroßen Menschen näherzu sein. Davebücktesich,hob den Teller neben die Spüle. Der Kater spazierte auf derzweiten Küchenebene, nahm unterwegs immer ein paarHappen.Dave setzteWasserauf, brühteHaferflocken, Tee,legte sein Gesicht an den Katerkopf,während er daraufwartete,dass der Teedurchzog,dieHaferflockensich vollsogen. Nach dem Essen in der Kücheduschte er sich,wusch seinen Slip,sein Unterhemd, hängte beides auf.Erstellte das Radio an seinem Kopfende ein. Schubert.Auch gut,dachteer.Mal hatteer Klavier gespielt.Mal hatte erauchgezeichnet.Biser herausgefunden hatte,den Tag, die Nacht zu überleben,war Leistunggenug. Davelegte sich im Bettauf den Rücken,dieBeine gegrätscht.SoliebteesDickie. Dave betrachteteseineArme,seineHände. Die Armedurchtrainiert.DieHändelang und kräftig.Ein dünner, kleiner Junge war er gewesen.Undals er wuchs, war ereher nochdünnergeworden.Von allenseinen BemühungenalsJugendlicherwar einzig einevonsichtbaremErfolg gekrönt: Er hatte sicheinen athletischen Körperantrainiert.Groß war er, doch nichtdünn,sondern schlank.Blondgelockt, einschlanker,gerade eben noch junger Mann. Endlich kam der Kater,sprang auf seinBett.Baldlegteersichin die Kuhlezwischen Daves Beinen,drehte sich auf den Rücken,ließebenfallsdie Schenkelauseinanderklappen,dassnun nochzwei weiße,dreieckige BauchfleckenzumVorschein kamen. Dave stellte das Radio ab. Wollte das Katerschnurren hören, das Wände zum Erbeben brachte. Als es verstummte, schaltete er das Radio wieder ein, drehte sich zur Seite. Der Kater lagerte sich zwischen Daves ausgestrecktem und angewinkeltem Bein, bis er aufstand und sich neben seinem Kopf niederließ. Dave schlief ein. Mal saß Dickie auf seinen Beinen, dann wieder war Daves Körper unbeschwert. In kurzen Wachphasen schaute er, wo sich der Kater gerade befand, schlief ein, sobald er ihn in seiner Nähe erblickte. Gegen Mittag ging Dave zur Toilette. Ein wenig Tageslicht drang durch die Jalousien. Er dämmerte weiter. Am späten Nachmittag konnte Dave es nicht mehr verhindern: Er hatte ganz und gar ausgeschlafen. Er stellte das Radio lauter, kraulte den Kater. Mit einem Mal sprang der auf seinen Bauch, maunzte. Nur im äußersten Notfall legte er sich eine Stimme zu. Schreien konnte er. Wenn er sich zulange aus seiner Wohnung entfernte, hörte er bei seiner Wiederkehr den Kater schon unten im Hausflur. Ja, ja, Dickie, sagte Dave und gewöhnte sich an den Gebrauch seiner Stimme. Er ging wieder auf Toilette, dann in die Küche. Der Kater folgte ihm, ließ ihn nicht einen Schritt allein tun, so dass Dave immer mal über ihn stolperte, nie fiel. Er war plötzliche Hindernisse gewohnt. Kopfschmerzen hatte er wie immer die ersten Stunden nach dem Aufstehen. Er nahm für den Kater aus dem Plastikbehälter im Kühlschrank, in dem er das übrig gebliebene Dosenfutter aufbewahrte, tat es auf einen sauberen Teller, setzte sich. Denn der Kater, nicht mehr so hungrig, fraß nur noch, beobachtete er ihn dabei. Na, friss, friss, sagte er und wiederholte den Namen des Katers, machte wieder einen kleinen Sprechgesang daraus. Wir wollen doch groß und stark bleiben! Dave holte sich die Hanteln aus dem Schrank, trainierte eine dreiviertel Stunde. Duschte, wusch sich wie jeden Abend gleich die Haare mit, föhnte, rasierte sich, wärmte in der Mikrowelle das Essen vom vergangenen Abend. Mal kochte er für zwei Tage. Nie aß er aus der Büchse. Als er in die Stadt gekommen war, achtzehn war er gewesen und hatte das Abitur nachholen wollen, und Gedanken an eine Zukunft waren in ihm gewesen, da hatte er anfangs nur von Büchsen gelebt, bis ihm das zuwider geworden war. Zudem war Büchsennahrung nicht gesund, und er achtete auf seine Gesundheit. Er schaute auf seine Armbanduhr. Der Kater lag auf dem Sessel, öffnete kaum die Augen, als er ihm mitteilte, er werde nun kurz mal weggehen.
Gegen Abend gelang esihm einigermaßen, den Müll auf Höfen und der Straße zu übersehen,den die Menschen fallen ließen wie Tiere, die koteten, wo es ihnen gerade einfiel. Hundehaufen unter den dünnen alten Bäumen, die sich auf schmaler Straße zwischen hohen Häusern dem Licht entgegenstrecken. Er kam auf die sich endlos hinziehende Hauptstraße. Die auch nicht eben breit. Eine Menschenflut an den Rändern,viele Schwarzhaarige darunter und einige Frauen in langen dünnen Mänteln, Haare und Stirn von feinen,ebenfalls langen Kopftüchern bedeckt. Der Supermarkt gleich an der Ecke. Beim Türken in seinerStraßesein letzter Einkauf. Hier wählte er in großer Gelassenheit Obst und Gemüse für sich aus.
Zu Hause legte er CDs auf. Vielleicht kaufe ich mir doch ein E-Piano!, dachte er. Wenn der Wunsch überhand nähme,würde er ihn sich erfüllen.
Der Kater saß an der Tür. Dickies Zeit war gekommen. Seine auch. Ja, ja, sagte er,warte noch. Ja, ja.
Sie gingen durch den Hof. Sein Blick die Kastanie hinauf in das Himmelsgeviert. Der Kater misstrauisch schnuppernd, schlich, als befände er sich in höchster Gefahr, hatte jetzt keine Augen mehr für seinen Quartiergeber,verschwand in Richtung des Friedhofs. Vielleicht reichte sein Revier noch weiter. Der Gedanke machte Dave einen kurzen, spitzen Schmerz in seinem Bauch.
Er lief lange auf der Hauptstraße. Das Laufen tat ihm gut. Im angrenzenden Stadtbezirk die Kneipen. Die brachten sich mühsam durch, seitdem die Touristen in den Osten gingen, wo sie die Stadt erleben wollten, wie sie angeblich am echtesten war. Was zur Folge hatte, dass dort eine Kneipe nach der anderen öffnete, in der man Speisen aus aller Welt zu kosten bekam. Der Charme eines untergehenden Stadtbezirksverschwand. Die bröckelnden, einstmals prächtigen Gründerhausfassaden wurden saniert, die Wohnungen ebenfalls. Was er nie geglaubt hatte, trat ein: Im Viertel, in dem er gelebt hatte,gewöhnte sich der Osten weitgehend seine schlechten Manieren ab. Für Menschen wie ihn gab eskaum noch Zuflucht. Da hatte er sich aufgemacht, um sich im Westen eine dauerhaft billige Unterkunft zu suchen.
Das Leben nun in der Phase, die ihm eher behagte. Er schlenderte durch die Straßen, sah auf die Menschen, die es wie ihn nach draußen trieb, bemerkte wie jeden Tag, dass man zur Gründungszeit auch hier nicht gespart hatte, den Quartieren ihr besonderes Gesicht zu geben. Als er auf seinen Türken traf, trat er ein. Die Einrichtung sauber, der Fußboden weiß gefliest, die Wände weiß. Ausnahmslos Landsleute des Wirts kamen hierher. Er bestellte eine Buttermilch und noch eine, beobachtete die Familien, die jungen Männer, die er bisweilen um ihre Robustheit beneidete, die schöne Türkin, die bediente und ihn manchmal mit einem Lächeln bedachte. Er las in einer Tageszeitung, schaute in ein mitgebrachtes Buch. Nach Mitternacht war es Zeit für seine Besuche.
Er schloss eine Haustür auf, klingelte an der Wohnungstür schloss dann auch diese auf.
Agnes auf einem Krankenbett in der Wohnstube gebettet. Dort lag sie seit ihrem Sturz vor einem Jahr. Vorher hatte sie sich noch allein versorgt.
Ach, Herr Dave!, sagte Agnes. Ihre alten, blauen Augen leuchteten. Es ist soweit! Morgen bringen sie mich in ein Heim.
Er schaute die alte Dame an, schüttelte leise den Kopf.
Sie haben es mir versprochen, Herr Dave! Ich habe mich auf Sie verlassen!
Ja, er hatte sich ein Versprechen abnötigen lassen. In Zukunft würde er darauf dringen, dass seine Klientinnen für den Notfall selbst vorsorgten. Zu allem, was er Agnes vorhielt, nickte sie und sagte bloß: Ich kann Ihnen nicht mal was extra geben!
Ich würde auch nichts haben wollen. Wir, die wir über sind ... Sie sind nicht über, sagte Agnes. Sie am allerwenigsten. Nachher nahm er das Geld, das sie ihm für den Monat hatte bereitlegen lassen, tat einen letzten Blick auf sie. Agnes hatte kämpfen müssen, ehe sie ihr Leben abgeben konnte. Jetzt sah sie aus wie eingeschlafen.
Auch in dieser Nacht besuchte er Gertrud und Mathilde. Soviel er sich sonst gehen ließ, in seiner kleinen Arbeit war er korrekt und auf die Minute pünktlich. Er nahm für die Stunde 10 Euro. Wenn eine Klientin ihm zusagte und das Geld nicht erübrigen konnte, auch weniger. Beim Vorlesen sagte man ihm schauspielerische Begabung nach. Die Manie, perfekt zu sein, schlug ihm einmal zum Guten aus.
An diesem Morgen wartete der Kater nicht in der Toreinfahrt.
Dave ging die Straße zurück. Unentwegt dessen Namen rufend, umlief er das Straßengeviert, das zu Dickies Revier gehörte, ging am Friedhof vorbei. Mit einem Mal nicht imstande, an das Schlimmste zu glauben, war er überzeugt, den Kater bei seiner Rückkehr in der Toreinfahrt zu finden. Dave ging in seine Wohnung, legte sich hin. Eine halbe Stunde später schaute er wieder nach dem Kater. Wie selbstverständlich saß Dickie vor der Haustür und sah ihn mit seinen großen, gelben Augen an. Er nahm den schweren Kater auf den Arm, trug ihn, unablässig seinen Namen aussprechend, in seine Wohnung. Für einen Tag war er wieder ein Mensch, der es mit sich und der Welt aushielt. Wie hatte Agnes gesagt? Sie sind nicht über, Sie am allerwenigsten!
Sie sahen sich in die Augen. Dunkel und schmal seine. Dunkel und schmal ihre.
Der Abspann mit den Namen der Darsteller und der an der Produktion Beteiligten lief über den Bildschirm. Sie drückte auf die Fernbedienung. Das Bild verschwand. Und jetzt?, fragte sie, lächelte. Es war ein deutliches Angebot.
Er wendete seinen Blick von ihr ab. Es ist Zeit, sagte er, stand auf, ging ins Bad, begann sich zu rasieren.
Sie kam ihm nach. Ich möchte das nicht, sagte sie. Bitte. Es ist keine so gute Idee. Ich finde das gar nicht witzig. Eine Weile redete sie auf ihn ein. Aber er kümmerte sich nicht darum, rasierte Bahn um Bahn seines Gesichts. Als er fertig war, hockte er sich auf den Rand der Badewanne und blickte sie auffordernd an. Du musst es wissen, sagte sie, schüttelte seufzend den Kopf, nahm ihre Schminksachen aus dem Spiegelschrank, legte sie sich auf die Waschmaschine. Das Bad in der sonst großen Altbauwohnung eng, aber Platz war für alles Notwendige. Sie zupfte seine Augenbrauen aus, was er hinnahm, ohne eine Miene zu verziehen, cremte sein Gesicht ein, legte Schminke auf, schwärzte seine Lidränder, die Wimpern, färbte seine Lippen. Er lächelte leise. Ihre Gereiztheit wich. Dann setzte sie ihm eine Perücke auf mit langen blonden Haaren, in der Art, wie sie die neuerdings trug.
Er stellte sich vor den Spiegel, nahm sie am Nacken, zog sie zu sich heran, betrachtete sich, betrachtete sie, die ebenfalls neugierig auf ihr Werk schaute. Im Spiegel trafen sich ihre Augen: schmal, dunkel. Wir gingen glatt als Schwestern durch, sagte er. Die gleiche Größe, die gleichen Augen und nun auch die gleichen Haare. Wenn wir keine Perücke tragen. Selbst unsere Gesichter sind sich ähnlich. Findest du nicht? Absolut der gleiche Typ.
Wie wir dann aufeinander gekommen sind, meinte sie nachdenklich. Man sagt doch, Gegensätze ziehen sich an.
Wie Schwestern!, wiederholte er und versuchte, sie zu küssen. Sie wich aus. Es gefällt dir! sagte sie. Oh Gott, es gefällt dir auch noch!
Es gefällt mir nicht, erwiderte er trocken.
Nicht viel später trat aus dem Haus, in dem Tanja lebte, eine schmale, große Blondine. Sie ging mit kleinen wie aufgezogen wirkenden festen Schritten und schien es eilig zu haben. Einmal wandte sie ihr Gesicht kurz zur Seite.
Die Straße menschenleer, was sie noch breiter erscheinen ließ, noch düsterer. Die Fassaden der großen Miethäuser, eines an das andere gebaut, teils dunkelgrau und heruntergekommen, teils herausstaffiert. Die hellen Wände allerdings mit nur für Eingeweihte entzifferbaren breiten Schriftzügen überzogen. Der Gehweg vor Zeiten ausgebessert, in der Mitte große Platten, manche zerbrochen von den vielen Tritten über ein Jahrhundert hin. Die Seiten mit kleinen Steinen gepflastert, einige waren nach diesen und jenen notwendigen wie unnötigen Erdarbeiten verloren gegangen.
Mit einem Mal war da ein Mann auf der Straße. Groß, dünn und sehr jung. Obwohl er nicht schnell lief, blieb der Abstand zwischen ihm und der Blondine gleich.
Die Straße querte eine andere Straße, ebenso breit und nachtdüster.
Sie schien kein Ende zu nehmen, ebenso nicht der Weg der Blondine und der Weg des dünnen Jungen. Die S-Bahn durchschnitt das Viertel. Die Blondine bog auf die Hauptstraße ab, dann wieder in eine Nebenstraße ein und nahm bald die alte Richtung stadtauswärts. Der Junge folgte ihr. Er schien wie magisch angezogen. Eine Allee begrenzte das Viertel. Die Blondine ging über die eine Asphaltfahrbahn, den mit alten Bäumen bestandenen parkähnlichen Mittelstreifen, die andere Fahrbahn, in nun ein eher kleinstädtisches Viertel mit schmalen Straßen, kleineren Häusern, zwischen denen es auch einmal Lücken gab. Auf den Höfen hier und da Werkstätten. Der Junge ließ von seiner sanften Verfolgung nicht ab. Es konnte ihm nun klar geworden sein, sie war nicht zu einer Bekannten, einem Freund unterwegs. Dann hätte sie die Straßenbahn, die S-Bahn genommen. Vielleicht hatte sie kein anderes Ziel, als ihn zu locken. Was wollte sie? Vielleicht machte ihn dieses zielsichere Gehen unsicher. Und noch etwas musste ihm auffallen: dieser Gang, so puppenhaft. War sie es überhaupt?, musste er denken. Doch als er vorhin in einem Hauseingang auf sie gewartet hatte, musste ihm ihr starker Duft in die Nase gedrungen sein. Seine eventuellen Zweifel wären damit zerstreut worden.
Die Straßen in diesem ehemaligen Vorort hatten willkürliche Verläufe. Die Blondine schien weiter zu wissen, wohin sie wollte. Jetzt musste es auch dem großen, dünnen Jungen klar werden.
Der Park war nicht sehr groß. Ein See in der Mitte, auf dem Schwäne und Enten schwammen. An Sommerwochenenden war er übervölkert. In dieser kalten Jahreszeit ging da nachts niemand. Selbst die Leute, die ihre Hunde ausführten, mieden ihn.
Der große Junge brauchte bloß, stehen zu bleiben. Anscheinend war die Verlockung übermächtig. Seit Monaten folgte er ihrer Spur. Rief sie an, schrieb ihr Briefe. Belagerte sie. Er war besessen von ihr. Gleichgültig, was sie wollte, mochte er jetzt denken. Er mochte sich stark fühlen. Sicher war er stark. Was sie auch im Schilde führte, er würde ihr überlegen sein. Und wenn sie endlich nachgab? Das konnte auch ein Gedanke sein, den der große Junge hatte. Ja, wenn er sein ganzes Leben darauf ausgerichtet hatte, sie zu bekommen, musste er an einen Erfolg glauben.
Die Bäume im Park alt. Man hatte sie wachsen lassen, anders als die Armen, Dünnen an den Straßenrändern der Stadt. Mächtige Leiber, mächtige Arme hatten sie, nahmen von dem wenigen Licht weg, das der Stadthimmel gab. Ob es dem Jungen unheimlich wurde? Ob er den Gedanken hatte, umzukehren? Ader seine Gier war stärker.
Die Blondine blieb stehen. Drehte sich um. Sah auf den großen, dünnen Jungen. Nun war er ihr ganz nah, nahm wieder ihren Duft wahr, sah in ihre dunklen, schmalen Augen. Das Gesicht schmal, die Lippen voll und stark geschminkt. Und so blond war sie. So entsetzlich blond. Jetzt kam es auf sie an. Wenn sie ihn wollte, würde er ihr zu Füßen fallen. War sie darauf aus, ihn fertigzumachen, würde er alles mit ihr tun, was ihm einfiel. Und ihm fiele garantiert eine Menge ein. So dachte der Junge wahrscheinlich. Tanja?, sagte er. Seine Stimme heiser. Er hatte lange nicht geredet. Was willst du?
Die Blondine lächelte.
Tanja?, wiederholte der Junge, wurde mit einem Mal unsicher.
Die Augen, ja, die waren es, der Duft, den kannte er. Aber dieses Lächeln. Sie lächelte so eigentümlich. Als würde sie ihn gleich hereinlegen. Oder als hätte sie ihn schon hereingelegt.
Die Blondine lächelte noch immer. Aber das Lächeln verwandelte sich. Verführerisch wurde es. Sie wollte ihn. Ja, sie wollte ihn! Aber warum hier? Warum um diese Zeit?, ging es dem Jungen durch den Kopf.
Und dann machte die Blondine mit ihrem Körper, ihren Hüften Bewegungen, die nur noch einen Gedanken zuließen. Er musste sie haben! Der Junge packte sie. Willig ließ sie es geschehen. Wie muskulös ihr Körper war! Er hatte sich schon vorgestellt, dass sie durchtrainiert war. Aber wie sehr hätte er nicht gedacht. Dann küsste er sie. Etwas für ihn Unerwartetes geschah, wenn er auch davon geträumt hatte: Sie küsste zurück. Sie war wild, sie biss. Sie war stark.
Torsten genug! sagte Tanja.
Der Junge blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Da stand Tanja! Groß, schlank, blond, die Augen dunkel. Ihre Lippen blass. Ein Schrecken durchfuhr ihn wie noch nie in seinem Leben.
Dann löschte ein Schlag gegen seinen Kopf das Bewusstsein des Jungen.
Torsten gibt es nicht mehr, sagte der, den Tanja angesprochen hatte, sah ihr in die Augen, die wie seine waren, schmal dunkel. Lächelnd ging er auf sie zu. Jetzt war er eins mit ihr, ganz eins. So deutlich wie in diesem Augenblick hatte er es noch nie empfunden.
Torsten!, sagte Tanja. Was tust du? Er hörte das Flehen in ihrer Stimme. Aber er konnte nicht anders: Er liebte sie zu sehr.
Die Zeitungen berichteten in dieser Woche von einem Mord im Park. Eine junge Frau war erwürgt worden. Gesucht wurde eine männliche Person, die ihr über Monate nachgestellt hatte, ein sogenannter Stalker. Es musste einen Kampf gegeben haben, bei dem der Stalker erheblich verletzt worden war.
Die Suche wurde nach Monaten ohne Ergebnis eingestellt. Einmal behauptete eine Frau, des Nachts Tanja gesehen zu haben. Sie hätte sich furchtbar erschrocken. Da sie aber unter Alkoholeinwirkung stand, glaubte ihr niemand, und am Ende schob sie selbst Tanjas Erscheinen auf den Alkohol.
Die kleine alte Pendeluhr tickte. Tagelang hatte er immer wieder auf die Uhr geschaut, ein auf vier Säulchen stehendes Türmchen, mit dem runden Zifferblatt. Die Zeiger standen auf halb elf. Noch nicht!, hatte er sich gesagt, wenn er überlegte, die Uhr auf der alten Konsole mit nie benutztem Fach über dem Herrenschrank wieder aufzuziehen. Er hatte sich den Trost des hin und her schwingenden Pendels versagt, hatte sich versagt zu hören, wie die Zeit ablief. Obwohl eine solche Gewissheit, ein solches Versprechen in diesem Ticken lag, in dem Blick auf das hin und her schwingende Pendel, hatte er sich diesen Trost vorenthalten. So schlecht war es ihm gegangen!
Als wäre es kein bedeutungsvoller Vorgang, hatte er heute ganz nebenbei den Schlüssel von der Konsole genommen, ihn in das Zeigerblatt der Uhr gesteckt und sie aufgezogen. Wahrscheinlich, weil ein schöner Morgen geworden war, anders als vorausgesagt und er bei seinem Aufstehen in der Dunkelheit befürchtet hatte. Früher hatte er an Wochenenden ausgeschlafen, bis neun, bis zehn Uhr. Jetzt sein Schlaf war nicht mehr gut. Wovon sollte er auch müde werden? Erst recht aber brauchte der Tag Struktur. Vormittag, Mittag, Nachmittag, Abend. Diese Einteilung machte den Tag nicht zu einem einzigen langen Stück, durch das man nie hindurch käme. Halb acht stand er auf. So war die Regel, an die er sich auch im Winter hielt. Obwohl er an Beklemmungen litt, bis es endlich hell wurde. Dafür erlebte er das Anbrechen des Morgens und die Überraschung, wenn sich allgemeine Wettervoraussagen nicht erfüllten, der Himmel nicht das eintönige helle Grau annahm, das ihm vor allem verhasst war. Regen ihm lieb. Regentage ihm immer lieb. Die hüllten ihn ein, umgaben ihn wie einen Mantel. Auch einen gleichmäßig düsteren Novemberhimmel mochte er, aus dem es leise nieselte. Das Grau heute aufgelockert, dunkle Wolken, die schnell zogen, helle kleine, die sich kaum fortbewegten, große verwischte Flächen. (Er hatte diese Aussicht auf den Himmel. Das hatte ihm der zweite Umzug gebracht.) Noch hatte er gar nicht nach draußen geschaut, bloß das Licht gefühlt, genau richtig für ihn dosiert, war sich wieder ein bisschen mehr gut gewesen. Das hatte ihn sicher zum Uhrschlüssel greifen lassen. Jetzt erst betrachtete er den Himmel. Bis er sich zu nächstem Tun aufraffen konnte, lag er nach dem Frühstück auf dem Kanapee. Er sah, wie sich die Sonne ihren Weg durch die Feuchtigkeitsmassen bahnte: Bleich war sie, lächerlich kreisrund, geradezu wie mit einem Zirkel gezogen. So war sie ihm recht. Seine Beklemmung hatte einer Melancholie Platz gemacht, in der er sich wohlfühlte, die sich an den seltenen guten Tagen bis ins Heitere steigern konnte. (Wie lange war es her, dass er tatsächlich einen ganzen langen Tag gelassen gewesen war und sich selbst wie von ferner Warte mit ein wenig gutmütiger Häme betrachtete: Soweit bist du gekommen, und das Übrige wirst du auch noch hinter dich bringen.) Er schaute in den Himmel und wieder auf die Uhr. Sie das Lebendigste, Schönste in seiner Wohnung, die eine Mischung war zwischen Altem und Neuem, alles aufeinander abgestimmt. Nicht den kleinsten Mangel konnte er ertragen, weshalb er bei der Einrichtung Schulden gemacht hatte, von denen er wohl nie herunterkäme, was ihn weniger bedrängte, als wenn er etwas Unvollkommenes hätte anschauen müssen. Der halbhohe Herrenschrank mit seinen Säulchen und Kapitälchen, die Innenflächen marmoriert, die Konsole darüber und darauf die Uhr hatte er bewusst als Blickfang gewählt. Er konnte schauen, wie die Zeit verging. Die Möbel wohl aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. So musste man jetzt schon sagen, obwohl das neue Jahrhundert gerade erst ins zweite Jahr ging. Als Junge hatte er sich nie vorstellen können, dass er diesen Zeitsprung ins nächste Jahrhundert/Jahrtausend mitmachen würde. Wenn es auch bloß ein angenommener war. Andere, weniger bestimmende Kulturen lebten in ganz anderen Zeiten. Die Möbel würden ihn überdauern, die Uhr auf jeden Fall einen Liebhaber finden. Es tat ihm gut, an das zu denken, was Bestand hätte, wäre er nicht mehr. Die Uhr würde fort und fort ticken. Aber diesen tröstlichen Klang wie für ihn hätte sie für einen nächsten Besitzer wohl kaum noch. Andere Menschen besorgte es eher, dass Zeit verging. Er würde gern von dem, was ihm an Jahren blieb, abgeben. Sofort alle Tage und Jahre an jemanden, der noch einen Sinn in seinem Leben sah, vielleicht tatsächlich Sinnvolles tat in dieser Zeit, die nicht mehr die seine war, in der er aussortiert war, von der er aber nicht nur deshalb keine gute Meinung hatte. Bitter notierte er: Je größer der Unsinn, je größer die Unvernunft, umso mehr hatte sie Aussicht auf Erfolg. Wahnwitziges ereignete sich. Wo er doch allen Ernstes an den Sieg der Vernunft geglaubt hatte. In dem vergangenen System, als ihm noch deuchte, lediglich Reformen ständen aus, die Einführung des Zweifels als Kategorie würde die Gesellschaft in die richtigen Bahnen lenken.
Nicht einmal als Organspender kam er in Frage. Seine Körperfunktionen unzuverlässig. Der Wurm war in ihm. Der Wurm!, wiederholte er leise, genussvoll vor sich hin sprechend. Ein leichtes Grinsen überzog sein Gesicht. Seine dicken schräg liegenden Augenlider verengten sich. Sein breiter Mund zog sich leicht in die Höhe. Schmal seine Nase, die am Ende wie zu einem Tropfen auslief. Kräftig, männlich sein gespaltenes Kinn. Sein Gesicht von einem beinahe vollkommenen Oval, was nun durch völlig fehlenden Haarschmuck auffiel. Was noch kümmerlich spross, rasierte er sich ab. Er selbst bezeichnete sich als hässlich, was aber seiner geringen Selbstachtung geschuldet war. Seitdem er seine Arbeit und dann seine Liebe verloren hatte, war er sich nicht gut, wenn er sich auch nicht so sehr hasste, dass er auf Annehmlichkeiten verzichtete, auf eben diese in aller Bescheidenheit bis zum letzten Winkel vollkommen ausgestattete Wohnung, auf schmackhafte Mahlzeiten, wobei er nie so ganz genau im Voraus wusste, ob sie ihm bekommen würden. (Die bekömmlichsten waren ihm die von Nina, der Lebensgefährtin seines Freundes. Sie bevorzugte die südländische Küche. Keiner begriff, warum er sich ausgerechnet mit Nina so gut verstand. Norbert warf ihm sogar vor, er würde immer auf ihrer Seite stehen.) Kaffee in Maßen, Trinkschokolade, Kuchen. Er buk auch selbst, bekam er einmal einen Gast. Er suchte zu genießen, so gut er es vermochte. In den letzten Tagen allerdings war ihm die geringste Maßnahme zum Erhalt seines seelischen Gleichgewichts zuwider gewesen, als könne er so sein Ende beschleunigen. Heute nun schien wieder ein Anfang gemacht in dieses Stück Leben, das er vor sich hatte. Sein Blick wanderte zum Foto einer nicht mehr ganz jungen Frau in altmodischer dunkler Kleidung. Hübsch war sie mit ihren dunklen locker aufgesteckten Locken, dunkeläugig und die Züge sehr weich. Diese Frau, seine Großmutter, hatte ihn geliebt, und er sie. Er nahm sie, wie sie auf dem Bild war: als junge Frau, und drängte beiseite, wie kläglich ihre letzten Jahre gewesen waren und wie erbärmlich ihr Tod. Noch hatte sie ihr Leben nicht an das ihrer bösen, wenn auch schönen Tochter gehängt, diese seine Mutter, über die er keinen einzigen guten Gedanken hatte.
Die Sonne drang nun ganz durch die Wolken, gleißte unangenehm, traf bald genau seine Augen. Eine Weile lag er, unfähig, Abhilfe zu schaffen. Jede Aktion kostete Mühe. Doch das Licht stach so sehr, dass es ihn dann doch von der Liege trieb. Er zog das Sonnenrollo herunter. Nun herrschte eine Dämmerung im Zimmer, die ihn aufatmen ließ. Der schöne Morgen durfte noch fortdauern. Es schien ihm, er brauchte nur auf seinem Kanapee zu liegen und Zeit verrinnen zu lassen. Tag um Tag um Tag, ein Jahr und noch eines und noch eines.
Die Zeiger rückten vor. Wie sie zehn Uhr anzeigten, wusste er nicht, warum er nicht heute wie jeden Samstag um diese Zeit weit hinausfahren sollte aus der großen Stadt in den Norden.
Er sah sich noch einmal in der Wohnung um, räumte noch Kleinigkeiten beiseite, damit er die Wohnung so vorfand, wie er sie vorzufinden wünschte: in bester Ordnung. Es war ihm nicht bewusst, dass er damit jede Spur seiner Anwesenheit tilgte.
Mit dem kleinen Auto, das er sich nach der Wende geleistet hatte und dessen Reparaturen ihn eines Tages ganz ruinieren würden, war er nach fünfzwanzig Minuten aus der Stadt und auf der Autobahn, die bald mitten durch Wälder führte.