Jenseits der Alle - Beate Morgenstern - E-Book

Jenseits der Alle E-Book

Beate Morgenstern

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Beschreibung

Ungewöhnlich ist an diesem Band, dass keine der Geschichten aus der Ich-Perspektive erzählt wird und dass die Autorin eigene Lebensprobleme, Konflikte, an denen sie selbst beteiligt ist, ausspart. Sie erzählt von Menschen, und gibt dem Leser mit detailgenauen stimmigen Beobachtungen deren Portrait.

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Beate Morgenstern

Jenseits der Alle

Alltagsgeschichten aus der DDR

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Renzonis neunzigster Geburtstag

Das Mädchen Mirka

Jenseits der Allee

Der Anruf

Unerwartet

Übereinkunft

Herr in Blassblau

Im Spreekahn

Ein gutes Mädchen

Von der anderen Seite

Gemüse-Erna

Bruno

Ich kenne keinen Siggi

Glatteis

Impressum neobooks

Renzonis neunzigster Geburtstag

Renzoni wurde wach mit einem leisen, tränenlosen Weinen. Niemand war zu seiner Geburtstagsfeier gekommen. Selbst seine Mutter erhob sich bekümmert und mit einem Blick des Vorwurfs von der festlichen Tafel und ging schweigend aus dem großen Saal. Nun saß er allein an der Stirnseite, die Tischtücher furchtbar weiß, Leichentücher.Nirgends eine Blume. Ein grünes Blatt schwebte auf die Mitte der Tafel.Als er aufstand, um es zu berühren, war es ein schwarzer Fleck, der sich immer mehr vergrößerte und ihm Angst einflößte, je länger er hinschaute.

Langsam öffnet Renzoni die Augen. Er sieht auf den kleinen Kalender über der Marmorplatte des Waschtisches, einziger Schmuck an den nackten, beinahe schwarz glänzenden Wänden, von denen die Leimfarbe längst abgeblättert ist. Das Kalenderblatt zeigt den 21. August. Renzoni nimmt die Zahl langsam in sich auf und spürt Erleichterung. Alles ist noch vor ihm. Später wird er das Blatt abreißen, und der Tag, auf den er eine ihm sehr lang erscheinende Zeit hingelebt hat, beginnt sich zu vollenden. Als die Zeit erfüllet war ...

Gäste werden kommen. Eltern schicken ihre Kinder mit Blumen, manche steigen selbst die schmalen Holztreppen zu ihm herauf. Auch ein paar Alte. Keiner aber so alt wie er. Alle zehn, zwanzig Jahre jünger. Die Stadtverwaltung von Gottshut entsendet Gratulanten. Schon lange gab es keinen neunzigsten Geburtstag in der Stadt. Die Bürger von Gottshut rechnen es sich zur Ehre an, einen neunzigjährigen Jubilar unter sich zu haben.

Undwennsie sich irren? Wennsie erst morgen kommen? Ein kleiner Fehler ... Wie leichtkannso etwas geschehen.

Aber da ist Frau Rüger,diejedenMorgenanseineTürklopft,um nach ihmzusehen. Er wirdsich feierlich hinsetzen undsagen: Frau Rüger, tun Sie mirdieEhre,trinkenSieeinGläschen mit mir.

Aber HerrRenzoni, sofrüh am Morgen,und plötzlichwirdsieanfangenzu kreischenund die Hände zusammenschlagen: UmGottes willen, Herr Renzoni.IhrGeburtstag! Siehaben Geburtstag heute!

Renzoni lächeltzufrieden. Nein, seinGeburtstag wirdnicht vergessen.

Errichtetsich im Bettauf,langsam,vorsichtig,schiebtseineBeine seitwärts ausder Decke und drehtsich.EineWeile bleibterauf der Bettkante sitzen.Ergibtacht,dassernichtdasGleichgewichtverliert und unversehens auf den Boden fällt. Erkäme vonallein nichtwieder hoch und müsstewarten, bis FrauRügerihm den Kaffeebrächte. Renzoni versucht, seine Gedanken zusammenzuhalten.

Unglaublich, wie vieleDingeder Mensch mit demKopf regeln kann. Selbstseinedummen, altenBeine kanner regieren. Aberschwierig istes, weil die Gedanken immer wieder auseinanderflattern.

Renzonisetzt alle Kraftdaran, sichauf denTischzukonzentrieren,dernahe am Bettsteht.Schließlichist er mit der linken Hand an der Tischkante angelangt und greift nach ihr.Dann steht er.Seine gekrümmte, magere Gestalt schwankt leicht. Er stützt sich voll auf den Tisch und wartet, bis der Schwindel nachlässt. Geschafft.

Er umklammert eine Stuhllehne, gleitet an ihr entlang, fasst nach dem nächsten Stuhl, den er nur noch leicht berührt. Dann lässt er ihn los. Renzoni geht zwei Schritte ohne jeden Halt, legt prüfend die Handfläche auf die Marmorplatte der Waschkommode, aber er braucht die Stütze nicht.Er gießt Wasser aus der bereitstehenden Kanne in das angeschlagene Porzellanbecken, taucht seine Hände ein und schöpft Wasser, das er sich über das Gesicht laufen lässt, spült den Mund aus, versucht das Wasser in den neben der Kommode stehenden Eimer zu kippen, gibt es aber sogleich wieder auf. Seine Greisenarme halten das schwere Porzellan nicht mehr.Außerdem-heute braucht er seine Kraft für Wichtigeres.

Eine Viertelstunde später ist er-bis auf das Jackett-vollständig angezogen. Er bückt sich und holt aus dem kleinen Vorratsschränkchen die Marmelade. Zufrieden betrachtet er die zahlreichen bunten Likörflaschen in einem offenen Karton.Wie auf einem Tablett kann er sie mit einem Griff aus dem Schränkchen nehmen und seinen Besuchern servieren.

Er ist kein Trinker.Die Flaschen sind ihm in den letzten Jahren geschenkt worden.Er bietet seinen Gästen an, trinkt dann auch ein Gläschen mit.Aber allein ... Renzoni ist an Disziplin gewöhnt.

Nun stellt er auch die Margarine auf den Tisch.Dann drückt er ein halbes Brot an sein Hemd und schneidet sorgfältig oder einfach nur langsam eineScheibe ab. Von der Anstrengung erschöpft sitzt er eine Weile still da. Dann erinnert er sich, dass er noch das Jackett anzuziehen hätte, erhebt sich mühsam und fährt in die Ärmel. Genussvoll setzt er sich wieder auf seinen Stuhl.

Jetztendlich hat Renzoni sein morgendliches Pensum Arbeit hinter sich gebracht. Wenn der Tag doch gleich im Lehnstuhl anfinge, das wäre einfacher. Aber dann würde er sich gar nichts mehr abverlangen, und das ist sehr schädlich. Schließlich wird man ja nicht von selbst neunzig, und er hätte denheutigen Tag sicher nicht erlebt, gäbe er dem Drang nach Bequemlichkeit nach.

Schon der Lehnstuhl ist ein Eingeständnis an sein Ruhebedürfnis. Aber er empfand es doch als sehr blamabel, als er, vom Schlaf übermannt, zur Seite gesackt und vom Stuhl gefallen war, direkt neben den kleinen eisernen Ofen. Von dem lauten Fallerschreckt,kam die Nachbarin angelaufen, schrie und zeterte, währender am Boden lag und nicht wusste, was geschehen war. Dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte, nicht von dem Fall und nicht am heißen Ofen, hielt er für Schicksal.

Herr Renzoni, danken Sie Gott, beschwor ihn Frau Rüger. Nehmen Sie's als SEINEN Fingerzeig und siedeln Sie um, in ein Altersheim. Ich bitte Sie.

Ihm wurde ganz dumm von soviel Gerede. Dann schleppte sie den Lehnstuhl an und befahl ihm,sich tagsüber hineinzusetzen, damit sie nicht soviel Scherereien mit ihm hätte. Er musstenachgeben.

Frau Rüger ist ein rechthaberisches Frauenzimmer. Nachdem ihr Mann gestorben war, ein schwächlicher Mann, bekehrte sie sich zur Religion. Sie ließ es aberdabei nicht bewenden, sondern schwatzte auch ihm dauernd vom nahen Ende etwas vor und von den schönen Möglichkeiten im Jenseits, die er hätte, wenn er sich dem HERRN anvertraute. Natürlich, ihr saß der Schreck über den schnellen Tod ihres Mannes in den Gliedern. Bei aller Courage in Fragen des täglichen Lebens, eine Frau braucht ihre moralische Stütze.Aber dass sie nun ihn in ihren Himmel befördern will, wohin der eigene Mann nach ihrem Glauben nicht mehr gelangen kann, tot und ohne Möglichkeit zur Buße und nicht fähig, die ewige Seligkeit zu erlangen, das ist ihm doch zu viel.Wie stellt sie sich das eigentlich vor? Dass sie dort wieder in einem Haus nebeneinander leben,womöglich auch in einer ausgebauten Dachwohnung wie im Diesseits, weil die Plätze knapp gewordensind? Ihm wäre es schon recht.Aber die Religion hat sich überlebt. Daran ist nichts zu ändern, auch wenn sie hier in Gottshut, dieser Bastion des Pietismus, fester daran glauben als anderswo. Sollen sie nur.Er ist Realist und hält es mit dem Fortschritt. Die Wissenschaft ist etwas, woran man sich orientieren soll.Wenn er sein Leben noch einmal beginnen könnte, würde erPhysiker. Oder Chemiker.Nie wieder Pianist.

Ein Pianist,der es nicht erträgt,wenn ihm mehr als ein einziges Kind zuhört, dem selbst in Gegenwart dieses einen Kindes die Hände zittern aus Furcht, es könne zu viel von der Vortragskunst verstehen und ihn insgeheim auslachen, so ein Pianist ist absurd. Es war ein sinnloses, lächerliches Dasein, das er wider Willen bis zu jenen grauenhaften Bombennächten in der Elbestadt geführt hat. Er lebte von dem, was seine Eltern erarbeitet hatten, das Vermögen reichte aus füreine sichere Existenz.Nach dem Abschluss am Konservatorium konnte er seine offenkundige Nutzlosigkeit als notwendigen Rückzug eines übersensiblen Künstlers deklarieren.

Er hat sich abgefunden,er musstesich abfinden mit diesen ersteneinundsechzigJahren Sinnlosigkeit. Nur eine kleineSentimentalitätgestattetersich:Unter der Wäsche bewahrt er dieNoten auf, die er ineinem der beiden Koffer aus der noch langerauchenden TrümmerwüsteDresden in diese Oberlausitzer Kleinstadtgerettet hat.

Doch das istschonalles.Erschaut nicht zurück.Dasist dumm,wissenschaftsfeindlich und wenig bekömmlich für einen alten Mann.

Er hat überlebt.Immergibt esÜberlebende.Und dabeigeht esnicht nach Verdienst. Ihn,den damalsschonalten Mann ohne Familie,traf das Los.Das mussteer annehmenvon diesem ungerechten Schicksal und daraus machen, was er konnte,damit es zu etwas nutze wurde.Deshalb gaber nicht mit siebzig oderachtzigauf wie viele andere, die heute auf dem kommunalen Friedhof oder dem Gottesacker der Einheimischen ruhen. Nein, er hateineVerpflichtung, für diemitzuleben, die damals so ein unnatürliches,böses Endegenommenhaben.

Kein ungewöhnliches,besonderes Lebenkonntees sein. Das war ihm nicht gegeben.Aberein Neues,anderes. Eines mit Pellkartoffeln und Möhren ineiner Dachkammer, eines, dasgenau den Ansprüchendesalten Mannesnach dem Krieg genügte und ihm seitherausreicht.

DieKammer hat sich seit dem Einzugnichtverändert. Auch ein neues Leben muss seineOrdnunghaben.Das alte großeHolzbettist ihmteuer, ebensodieWaschkommodeund dasSchränkchen. Allesbekamer von Menschengeschenkt,diedamalsoft selbst nur dasNotwendigstebesaßen.

Auch nach Gottshutwar derKrieg gekommen.Etwas späteralsin andere Orte.

Renzonientledigte sich dieser inNotzeitenso großzügigübergebenenGeschenkenicht.Alteristeine Ehre. Auch fürunscheinbare Gegenstände.

Manchmalstehtein Klavier inseiner Kammer.Unsichtbar für jeden außerihm. Aberergestattetessich nicht, langediesem Traum nachzuhängen,derseinerstesLebensounfruchtbargemacht hat.Hier in seinem zweiten Leben willerfrei seinvon jedem unnützenBallast.

Er war immer strengmitsich. Wiekann mantrinken undrauchen undsich einWohllebengönnen, ohneinnerlich zu erschlaffen,nachzugeben?AltwerdenisteineFrage der Konsequenz,mitder Lebenskraft rechnerisch umzugehen.Dashater im Laufe der Jahrebegriffen.Die Wissenschaftvom Alter wird noch interessante Dingezutage bringen.Vorläufigweiß man nichtviel.Anseinem Leben wird maneiniges ablesen können. Deshalb hater zäh undehrgeizigdarangearbeitet,neunzigJahreauf derErde zu bleiben.DieseZahl übte stets einemagischeKraftauf ihnaus,wieüberhaupt ZahleneinebesondereBedeutung für Renzonihaben.Deshalbwandte er sichauch der Wetterkunde zu. Auf seinemtäglichenSpaziergangbesuchteer regelmäßigdieWetterwarte. Schließlich übertrugman ihm kleine Pflichten.Manverließ sichaufihn.Mit geradezu pedantischerGenauigkeit halfer,den täglichen Niederschlag zukontrollieren und andere wissenswerte Dinge aufzuschreiben. Standen diese von ihm ermittelten Daten nicht auch in Verbindung mit der Mathematik der Musik? Vielleicht fügte sich auch deshalb sein zweites Leben so gut an das erste. In der Musik ergeben sich logische Tonfolgen, mathematisch analysierbar, die die Menschen in unruhiges Nachdenken versetzen über etwas,das sie selbst nicht in Worte fassen können. In der Meteorologie gibt es messbare Antworten der Natur auf Fragen, die noch nicht in richtiger Weise gestellt werden.

Früher wussten die Bauern in ihrem primitiven Naturverständnis wahrscheinlich schon manches, was dem modernen Wissenschaftler nicht zugänglich ist.

Zahlen sind Chiffren des Universums, die der Mensch entschlüsseln wird, aber nie vollständig.Schon Wallenstein wusste um die Zusammenhänge von Mensch und Natur, um die Bedeutung kosmischer Konstellationen für das menschliche Leben.

Und erkundet man nicht gerade jetzt unsichtbare magnetische Stürme über der Erde, die das seelische Wohlbefinden der Menschen stören, Trübsal und Angst über sie bringen? Wo wird man später erst Zusammenhänge zwischen Geschehnissen erkennen, die heute noch in das Reich des Aberglaubens verbannt sind? Schon beginnt man;den Instinkt von Tieren zu erforschen, Lebewesen, die der Natur näher stehen als der Mensch, die noch mehr Urwissen um das Universum in sich tragen.

Wiederum wird der Unglaube des Menschen, sein Drang nach Erkenntnis der Welt, nach ihren Gesetzen ihn dazu befähigen, sich nicht nur klug einzuordnen,sondern über dieWeltzu herrschen,währenddiedumme Kreatur sich nur willenlosfügen kann.

Wo heutenoch dieWissenschaft den Erfahrungen der Vorväter störrisch ausweicht,daversucht Renzoni vorauszuerkennen mithilfeder Alten und desHundertjährigen Kalenders.Nichterklärbare merkwürdige Naturerscheinungen,von denen er aus derZeitung erfährt, fesseln ihn.Sein Wissen um dasZusammenwirkenvon irdischen und himmlischen Kräften, um die Abläufe der Jahreszeiten ist ihm in den letzten Jahrensehr zustattengekommen,als ihm die täglichenSpaziergängeverwehrtwaren und er mehr und mehrin seiner Kammerbleiben musste, ohnein den Wintern mit Leichtigkeit auf die Sommer zu warten. Bitter kam ihn jeder Herbsttagan,inErwartung eines kalten Winters, den er überdauern musste, um sein Lebenswerk zuvollbringen. Ervertiefte sich in dasStudiumalter Zeitungen, verglich ihre Wettervoraussagen mit denen der neuen, tröstete sich mit der Gewissheitlauer Winter,wennsolche abzusehen waren,stellte sich auch tapfer auf übermäßig harte und frostige ein, freute sich an kalten Frühlingstagenauf lange Sommer,mit dessen Ende auch wieder ein neuer Geburtstag kam,und er hatteseinem müden,gebrechlichen Körperein weiteres Jahr abgelistet.

Waswusste dieNachbarin, dieseeinfältigeFrau, von seinem Plan,als sie ihn in ein Altersheim bringen wollte.Hatteer doch seinganzesLebenallein verbracht.Er ist ein Hagestolz.Eingutes,altmodisches Wort. Allein. Unabhängig.

Natürlich dachtesie dabei an sich.Siewolltekeinen Ärger mitihmhaben, wennes einmalsoweit war.Aberwenner inseinem Lebenauch nochniemandemzur Last gefallenwarundalles soeingerichtet hat,dasser niemanden braucht,auf Frau Rüger undihre Angst, ihneinmal totin seinem Bett zu finden,kann er keine Rücksicht nehmen.DieseseineMal ist er rücksichtslos.Ausdiesem Zimmergeht er nicht mehr weg.

Frau Rüger,ichgeh nicht insAltersheim.Eher hängich mich auf,so hatte er ihr, auf ihre nichtenden wollendeTiradevomgemütlichen Klubraum, geantwortet und darauf,dass siedoch nur dasBeste für ihnwolle.

Siehatteihnverstörtangesehen. Darauf warsienichtgefasst. Er auch nicht, aber dieWirkungseiner Worte gab ihm recht,undim Übrigen hätte er eswirklich fertiggebracht. Ihn durftekeiner mehrzwingen.Es warseineinzigesLeben.Und die letzten Jahreund baldvielleicht dieletzten Tageließ ersich nicht wegnehmen. Heute ist sein Plan gelungen. Renzoni hat das Zielerreicht, und er fühltsich leicht und befreit.Unser LebenwähretsiebzigJahre,undwenn'shochkommt, so sind's achtzigJahre,undwenn'sköstlichgewesen ist,so ist esMüheundArbeitgewesen,dennesfähret schnell dahin, als flögen wir davon, hieß es.Sowar dennsein Leben mehralsköstlich.Ohne Kinder, ohne Enkel.Aber ist das so wichtig, das eigenFleisch und Blut? Er weiß ein paarjungeMenschen,die ihn, den Onkel Renzoni, ausalterKinderanhänglichkeit duzen,als einzige im Ort.Istesvon Bedeutung,dasssie nichtvonseinem Fleisch kommen?Sielieben ihnauf ihre Art,einbisschenvergesslichund mitvielenanderen Dingen beschäftigt, so wieall die jungen Menschen heute.

Auchzur Nachbarin kommtselten Besuch.Dabeihat sie einen Sohn und Enkel.Aber der Sohn zogaus dem kleinen Gottshut weg. Was soll ich in dem Nest, hat er zur Mutter gesagt. Frau Rüger kränkt sich, er ist ihr Einziger.Und wegen ihres lärmigen Wesens wurde sie auch nicht warm mit den stillen, trotz ihrer äußeren Freundlichkeit ein wenig hochmütigen Einwohnern, die auf ihre zweihundertfünfzigjährige Geschichte stolz sind. Einige leiten sich noch von den wegen ihres Glaubens aus Böhmen und Mähren vertriebenen Gründern ab. Die Nachbarin aber ist eine Zugezogene wie auch Renzoni.Dennoch passt er mehr hierher, und er muss nicht um die Gunst der Alteingesessenen besorgt sein, die ohnehin nicht zu erbetteln ist oder sich verdienen lässt.

Jetzt braucht die Nachbarin ihn, den alten Mann, so allein ist sie, und vor Jahren konnte sie sich nicht genug über den vornehmen Klavierklimperer mokieren. Die Demütigungen an der gemeinsamen Wasserstelle im Flur sind bis heute nicht vergessen. Aus ihrem Mund ergoss sich oft ein Schwall von Beleidigungen gegen ihn, dessen Kammer der Nachbarin noch gut zu ihrer Wohnung gepasst hätte. Aber er wusste sich auf seine Weise zu wehren, mit kühler Geringschätzung.Er ließ sie auf dem Flur stehen und verschwand wortlos mit der vollen Porzellankanne in seiner Kammer.Immer allerdings hielt er die Formen der Höflichkeit ein. Sein Gruß zum Morgen blieb nie aus. Und sie lernte, an die Tür zu klopfen und auf Antwort zu warten, ehe sie die Kammer betrat,um gegen ein geringes Entgelt bei ihm sauber zu machen.

Nach dem Tode ihres Mannes veränderte sie sich sehr.Sie musste ihn sehr gebraucht haben, diesen stillen unscheinbaren Menschen. Renzoni sah zu, wiesie begann,sonntags in dieKirchezugehen.Nicht in die der Einheimischen, sondern in die der Zugezogenen.Siewurde älter, und ihr Gezeter verlor an Kraft.Schon freute esihn, wenn sich ihre schrille Stimmeeinmal vor Wut überschlug.Aber auch dann hatte sienicht mehr die Ausdauer der jungen Frau,alsdie er sie kennengelernt hatte. Sie hörte mit einem Mal auf, seufzte und beklagte sich weinerlich bei ihrem Gott über dasböse Schicksal, daser ihr zugeteilt hatte.

DieSonne hat jetztaufihrer täglichen Runde dasZimmerdes altenManneserreicht.Sie scheint in das kahleFenster, auf das Gesicht Renzonis.

DieNachbarinstößt dieTür auf. Sie trägteinen Kuchen,deretwas Schlagseitehat, in derMittebrennteineKerze. Hinter Frau Rüger ist der Enkelzu sehen mit einem kleinen Strauß Rosen in der Hand.

Herr Renzoni! Ihre Stimmeschnappt übervor Aufregung.Siestellt den Kuchenauf den Tisch und beginntzuschluchzen.

Renzoni steht langsamauf,würdevoll.DieNachbarin hält dengroßen Mann,dervoneinem Windstoß umgeworfen werden kann, an den Händen. Dann küsstsie dieseHände.Renzoni siehtverwundert auf die rundekleine Frau mit den noch beinahe schwarzen Haaren und dem flachen, von Faltenfäden durchzogenen Gesicht. Er streicht ihrbehutsam über den Kopf. Aber, Frau Rüger.

Alle,dieer erwartete, kamen an diesem Tage, und manchehat erseit Jahren nicht mehr gesehen.DieNachbarin schaffte Eimer heran, für dievielen Blumen.Er botvonseinenLikörchenan und duldetenicht,dass jemand ablehnte. Die Nachbarin brachtedie wenigen Briefe, die für ihn gekommen waren. Sie hatte alle für diesen Tag aufgehoben.

Im November fand ihn die Nachbarin still im Bett liegend. Er brauchte nie mehr aufzustehen und durfte es sich leisten, vom Leben auszuruhen.