Der gewaltige Herr Natasian - Beate Morgenstern - E-Book

Der gewaltige Herr Natasian E-Book

Beate Morgenstern

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Beschreibung

Sieben Jahre sind es her, seit Ralja am 11. September 2001 ein letztes Lebenszeichen nach Deutschland schickte. Es war eine Ansichtskarte vom World Trade Center. Die vereinbarte Zeit des Schweigens ist abgelaufen. Nun darf erzählt werden, wie ihre verhängnisvolle Geschichte an einem Juniabend 1989 im Club der Kulturschaffenden Berlin-Mitte begann, als sie sich mit Schriftstellerkollegen zum Stammtisch traf und die Kulturschaffenden in die Fänge des gewaltigen Herrn Natasian gerieten. Die Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Nicht für die Dreizehn und möglicherweise auch nicht für die inzwischen längst vergangene deutsche Kleinrepublik, die sich Sozialistische Räterepublik Nemezien nannte. Der Roman ist eine Verbeugung vor dem Dichter von "Meister und Margarita" Michail Bulgakow.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Beate Morgenstern

Der gewaltige Herr Natasian

Eine Burleske aus deutscher Wendezeit

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Einführung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

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17

Impressum neobooks

Einführung

Erklärung: Sieben Jahre sind vergangen, seit mich Walja Kunze im Sommer 2001 aufsuchte und mir tage- und nächtelang ihre Geschichte erzählte und ich mir auf ihren ausdrücklichen Wunsch alles notierte. Ihr selbst, die das Schreiben als Beruf hatte wie ich, war es verwehrt, sich auf diesem Wege von ihrer Vergangenheit zu lösen. Oft habe sie versucht, aufzuschreiben, was ihr seit dem abendlichen Gang zum Club der Kulturschaffenden in Ostberlin im Juni 1989 widerfahren sei, sagte sie mir. Doch jedes Mal habe sie ihre Erinnerung so heftig überfallen, dass sie meinte, sich immer noch im Kreis der zwölf Kollegen im CdK zu befinden. Keine Hand habe sie rühren können, sobald sie dachte, ihre Erlebnisse niederzuschreiben, sagte sie. Dass Walja nach elf Jahren aus den Staaten nach Deutschland zurückkehrte, diente offenbar einzig und allein dem Zweck, ihre Geschichte loszuwerden. Wir jüngeren Autoren im Verband kannten uns alle irgendwie, wie überhaupt die Nemezen, ob turingischen, sächsischen, brandenburgischen oder mecklenburgischen Stammes. Warum Walja mich ausgesucht hatte, war mir zunächst nicht deutlich, da ich in Zeiten der SRR Nemezien jede ihrer Annäherungen unfreundlich und sehr bestimmt abgewehrt hatte. Die Antwort hat mit ihrer Geschichte zu tun, weshalb ich sie nicht vorwegnehmen möchte. Walja wirkte sehr gehetzt, angespannt. Ihr eigentlich rundes Gesicht noch abgezehrter als in jungen Jahren, sodass ich annahm, sie ernähre sich ausschließlich von Äpfeln und Brokkolis, womit ich nicht ganz falsch lag.

Walja hat mir aufgetragen, erst dann ihren von mir verfassten Bericht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn ich nach Jahren immer noch keine neue Nachricht von ihr habe. Nach wie vielen Jahren genau?, fragte ich nach, um ja keinen Fehler zu begehen. Sieben, sagte sie. Sieben ist eine schöne Zahl. Das fand ich auch.

Nun also ist es Zeit, einen Verlag zu suchen, der die Aufzeichnungen druckt. Ob ich ihn finde, liegt nicht in meiner Hand. In diesem Fall bin ich froh, dass ich alles Weitere dem Schicksal überlassen kann.

Zu Beginn der Handlung befinden wir uns im Juni des Jahres 89 in der Sozialistischen Räterepublik Nemezien, die wir milde spottend Ständig Ratlose Republik Nemezien oder Siegreiche Rentner Regieren Nemezien oder auch bissig Sowjetrussisch Regiertes Nemezien nannten. Stärkere Spottnamen spare ich aus. Ich beteilige mich nicht an dem Spiel, das da heißt, tote Riesen oder Zwerge zu treten. Auch bestätigt uns westliche Geschichtsschreibung zur Genüge, dass wir in einem Satellitenstaat der inzwischen ebenfalls untergegangenen UdSSR lebten. Wir selbst haben immer versucht, uns vom großen Bruder abzugrenzen, und uns einfach als Nemezen gesehen, mit einem durch den Krieg bedingten Sonderschicksal bedachte ostdeutsche Stämme.

1

Blitze, Fieberkurven zu kurz, das Auge zu blenden, durchzuckten den schwarzblauen Stadthimmel, von fernem Donner gefolgt. Über Irminhilds finsteres Gesicht glitt ein Lächeln. Er muss zeigen, dass er der Allergrößte ist. Glauben wir es ihm, Walja. Oder? Ihre Stimme dunkel, grollend. Der Anflug eines herben Chemnitzer Sächsisch tat das Seine dazu.

Und ich hab keinen Schirm mit!, piepste Walja in einem Sächsisch aus lieblicherer Gegend. Bei besserer Stimmausstattung wäre ein Singen herausgekommen. Die beiden in Berlin-Mitte, was eigentlich Berlin-Ende hätte heißen müssen, denn an der Grenze des Stadtbezirks begann die Selbständige Einheit Westberlin, die - je nach Standpunkt - nicht oder doch zu Deutschland gehörte.

Sie waren von der Friedrichstraße in die nach Otto Nitschke umbenannte Straße abgebogen, vorher und nachher Jägerstraße. (Otto Nitschke Mitbegründer der Berliner Christdemokratischen Partei und nach Ausrufung der nemezischen Republik stellvertretender Ministerpräsident.) Die Straße kurz, dafür unverhältnismäßig breit, stieß bald auf die mächtige Mauerstraße, die wie ein vorweggenommenes antifaschistisches Bollwerk auch einige andere Querstraßen in Richtung Brandenburger Tor abschnitt. In dieser Gegend graue ineinandergeschobene Steinmassive. Natur kommt nur bei Gewitter, niederstürzendem Regen oder Schneestürmen vor, welche in manchen Menschen ein gewisses Wohlgefühl verursachen. Von eben jenem Wohlgefühl befallen, schritt Irminhild in einem langen indischen Gewand auf der Otto-Nitschke-Straße. Wenn sich kein anderer Blick als der von Walja an ihre hohe, schlanke Gestalt heftete, an ihr finster-rätselhaftes Gesicht, umgeben von einer kleinlockigen schwarzen, bis zu den Schultern reichenden Haarpracht, die ihr Haupt an breitester Stelle verdreifachte, so nur deshalb, weil sich zu der Zeit keine weitere Menschenseele auf der Straße aufhielt. Neben ihr hüpfte die blonde, kleinere Walja. Deren Blick nun allerdings atemlos auf Irminhild gerichtet, als könnte ihr etwas entgehen, geriete ihr die eine Sekunde aus den Augen.

Irminhild eine internationale Größe in der Literarturlandschaft.

Wochen verbrachte sie bei italienischen Freunden. In diesen Ländern, auch im benachbarten Deutschland, geliebt, verehrt. Während sie im eigenen Land, in der SRR Nemezien, um Anerkennung ringen musste. Mit ihren schwergewichtigen Wälzern über Windeln, Hexen und Walpurgisnächte, über weibliche Emanzipation, stellte sie eine Herausforderung an das Fassungsvermögen unserer Menschen dar und an die Toleranz ihres Verlegers, eines gewissen Kaspar Borz, der sonst immer auf der Seite der schreibenden Zunft stand. Vielleicht ertrug er literarische Großmacht in Paarung mit weiblicher Schönheit nicht. Die alte Dame der Literatur, schon lange auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ruhend, hatte Borz jedoch verehrt wie fast alle seiner Generation, die das Gewerbe betrieben. Der nemezischen Enkelgeneration war die alte Dame leider durch schulische Pflichtlektüre verleidet. Wie sich Kaspar Borz gegenüber Christa T., der anderen weiblichen Großmacht verhielt, die nicht nur im Ausland, sondern auch in Nemezien selbst geliebt und hochverehrt wurde, ist mir nicht bekannt, ebenso wenig, wie das Verhältnis von Irminhild zu Christa T. war. Ich nehme an, ihre Bahnen berührten sich nicht. Objekt von Anbetung beide. Die Schar um Christa T. dauerhaft und groß. Anders verhielt es sich bei Irminhild. Möglicherweise ließ sie Nähe nur zeitweise zu.

Ich habe darüber nachgedacht, warum Irminhild sich Walja nicht vom Leibe hielt, sondern zeitweise mit ihr befreundet war, sie sogar in ihre große Neubauwohnung am Tierpark einlud, wo Irminhild mit ihrem inzwischen schon flügge werdenden Sohn lebte. Ich vermute, das Mädchen brachte in ihrer naiven sprudelnd munteren Lebendigkeit ein wenig Licht in Irminhilds düsteres Gemüt, von dem ich eine Anschauung habe. Ich kann nicht sagen, wie lange Irminhilds Depression schon währte, ob sie zu ihrem Wesen gehörte oder sich mit der Erkenntnis des unaufhörlichen Niedergangs der nemezischen Kleinrepublik einstellte. Ich lernte Irminhild erst Anfang der 80er Jahre besser kennen, hatte sie allerdings bis dahin schon öfter bei den Donnerstagclubabenden des Verlags gesehen, die regelmäßig im Winter stattfanden, zu denen schon genannter Kaspar Borz einlud. Auch sie kannte mich von Gesicht und Namen her, sonst hätte sie mich bei den Kulturtagen 1980 in Prag, damals CSSR, nicht angesprochen, wo sie mir wohlwollend gegenübertrat, mich zu meiner Überraschung duzte, wie dies später auch Christa T. ohne Weiteres tat. Die vertraute Anrede untereinander war vielleicht einer Tradition des in den zwanziger oder dreißiger Jahren gegründeten Bundes Proletarischer Schriftsteller geschuldet. Irminhild fand damals in Prag meine Unterbringung in einem Dreibettzimmer völlig indiskutabel. Es sei bekannt, dass Schriftsteller unter Schlafstörungen litten. Zwei Jahre später überfielen sie mich. Ich wurde sie nie wieder los. Wenn ich heute zu den vergessenen Autoren des untergegangenen Landes zähle, die nicht mehr veröffentlichen, dennoch weiter schreiben, so könnte ich auf diese Schlafstörung als Beleg für meine Professionalität verweisen.

So geschädigt bin ich allerdings noch nicht.

Walja ein Küken. Geschoren ihr hellblondes Haar, kurze Schnabelnase. Von fieberhafter Neugier getrieben, sprang sie durch diese und jene Betten und allem und jedem hinterher mit wasserblauen weit aufgerissenen Augen und kleinem, ebenfalls aufgerissenem Mund, ihre Kollegen gegebenenfalls bis auf die Herrentoilette verfolgend.

Ihr voller Name lautete Walentina. Ihre Mutter hatte sie nach der ersten Kosmonautin Walentina Wladimirowa Tereschkowa benannt, die vom 16. bis 19. Juni 1963 in der Wostok 6 die Erde umkreiste. (Eigentlich war der Name Yvonne vorgesehen.) Walja hatte ein paar hübsche Gedichte verfasst und eine ordentliche literarische Reportage über das Kombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz, wobei die Sage ging, sie habe ihre Recherchen sehr gründlich betrieben und das Intimleben einzelner Arbeiterpersönlichkeiten nicht geschont. Walja literarischer Nachwuchs, eine der jüngsten unter den zahlreichen jungen und noch jungen Frauen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihren Ingenieur- oder sonst einen Beruf an den Nagel hängten und zur Feder griffen nach dem Motto "Greif zur Feder, Kumpeline!".

Irminhild und Walja waren zum Stammtisch unterwegs. Fast am Ende der Otto-Nitschke-Straße machten sie vor einem Gebäude Halt, das gegenüber den anderen durch seine bombastische Neubarockfassade auffiel. Da eben kündigte sich nach vorausgegangener großer Stille das Gewitter an.

Der Stammtisch eine lose Runde um Paule Berlin und Karlheinz Karge, die im Club der Kulturschaffenden, dem früheren Herrenclub, ihre Tage verbrachten. Ab dem frühen Mittag traf man mindestens auf einen der beiden Herren im Restaurant des Hauses am Ende der Straße und, wie mir schien, am Ende der Welt. Selbst wenn sich zu Lesungen, Ausstellungen einmal eine große Gesellschaft von Leuten im Haus aufhielten, stellte sich bei mir ein Gefühl von Leere ein. Hatte es mit der Höhe der Wände zu tun, mit der Breite der Treppen, auf denen man bequem zu sechst hätte nebeneinander herlaufen können, mit der Dunkelheit, die in diesem Haus auch wegen der Holzpaneele herrschte? Oder war es das Bewusstsein der unmittelbaren Nachbarschaft zur Mauer, die uns vor Gefahren schützte, die wir nicht kannten. Ich jedenfalls hatte kaum eine Ahnung, was sich hinter der Mauer verbarg, sodass ich mir eine weite, wüste Fläche vorstellte. Selbst das die Mauer überragende Springer-Hochhaus und die mir bekannte Tatsache, dass in der Besonderen Einheit Millionen Menschen und einige davon sogar in größtem Luxus lebten, konnte mir diese Vorstellung nicht nehmen. Unter den älteren Kollegen gab es genug, die mit einem ständigen Passierschein versehen waren oder mit einem österreichischen Pass oder gar mit einem aus Exilzeiten stammenden australischen oder vorzogen, staatenlos zu bleiben. Denen war die Mauer durchlässig. Doch sie erwähnten höchstens einmal, sie hätten in einer Bibliothek der Besonderen Einheit ein paar Tage verbracht. Paule Berlin allerdings hüllte sich selbst darüber in Schweigen. Er liebte es, im Stillen zu wirken.

Paule übrigens war es, der Walja am Stammtisch eingeführt hatte, wo sie Irminhild näher kennenlernte. Paule Berlin ging mit seinem reichen Talent extrem sparsam um. Manche sagten, er vergeude es. Sparsamkeit eben nicht immer eine Tugend. Einige schmale Gedichtbändchen machten sein ganzes Lebenswerk aus. Das sei mein Vermächtnis ein scharfes Gedächtnis ... ,die Gedichtzeile ist mir in Erinnerung. Durch das Salär, das ihm als Mitglied der Akademie der Künste zustand, hatte er sein Auskommen. Paule ein zierlicher Mann mit reichlichem, schmutzig-grauem Haar. Sah er jemanden an, geriet schnell ein listiges Funkeln in seine grauen kleinen Augen, ein Zwinkern. Die Brille saß weit vorn auf der leicht gebogenen, schmalen Nase und hatte keine weitere Bedeutung für ihn. Las er, meist hatte er eine in- oder ausländische Zeitung vor sich auf dem Tisch, dann mit zusammengekniffenen Augen und unter Zuhilfenahme einer Lupe. Er mochte keinen Augenarzt konsultieren, ebenso wenig einen Zahnarzt, wahrscheinlich überhaupt keinen Arzt, was besagen könnte, dass Paule im Grunde ein misstrauischer Mensch war. Vom Argwohn gegen Zahnärzte zeugten seine Zähne, Stummel nur noch, braun vom Zigarillorauchen. Hatte Paule mal keine Zeitung vor sich, legte er Patiencen. An Stätten, wo ihm das aus Platzmangel versagt blieb, vertrieb er sich die Zeit des Zuhörens mit ornamentalen mehrfarbigen Filzstiftzeichnungen. Labyrinthische, nicht enden wollende Schlangenlinien zierten am Ende das Papier. Obwohl von geringem künstlerischem Wert erlangten sie im Kollegenkreis und unter den uns betreuenden Personen des Verbandes Berühmtheit. Paule war auf Vorgänge, Ausgänge aus, mischte sich - immer hinter den Kulissen - kräftig ein, denn Paule war eine Spielernatur. Und als solche hatte er auch einen Nerv für das Übersinnliche, veranstaltete mit denen, die er dazu verführen konnte, kleine Spiele, die vorgebliche Geheimnisse offenbar werden ließen, las aus der Hand, aus Karten, nickte bedeutsam, wenn sich dieses und jenes fügte. Ich glaube, er selbst nahm das, was er trieb, nicht ernst. Oder doch? War er nicht im Club oder nicht zwischen Schriftstellerverband und dem Zentralkomitee der Einheitspartei oder sonst wohin unterwegs, um etwas zu regeln, in Gang zu setzen, saß er am Radio, hörte ausländische Sender, selbstverständlich bundesrepublikanisch deutsche, aber auch französische, englische. Das Französische ihm so geläufig wie das in Nemezien gesprochene Deutsch. Englisch beherrschte er, deucht mich, weniger gut. Paule von Nachrichten besessen. Höhepunkte für ihn internationale Tagungen, wo man ihn aber keinesfalls in der nemezischen Delegation fand, die eher ängstlich beieinanderblieb. Paule tauchte weg und erst am Flughafen wieder auf. Er hatte Freunde weltweit. Dass er sich ausgerechnet in Nemezien aufhielt, war sein freier Entschluss, Aus der offiziellen politischen Arbeit hatte er sich zurückgezogen. Doch ließ er sich sowieso in keinem Gremium denken, zumindest in keinem, in dem Arbeit zur Pflicht gemacht wurde, Paule Berlin tat, was ihm einfiel, aber niemals, wozu er angehalten wurde.

Übrigens, der kleine Paule und Irminhild, schön, geheimnisvoll, von hohem Wuchs und zudem viel jünger, waren einmal ein Paar gewesen! Dass Irminhild und Paule nach der Trennung den Stammtisch nicht mieden, erstaunte und bewies die Hochherzigkeit beider Naturen.

Karlheinz Karge war derjenige, der fast so oft wie Paule im Club anzutreffen war. An ihm belächelte vor allem Berta Watersloh, die Älteste in der Stammtischrunde, seine Jeanskluft, die damals nur bei Jugendlichen üblich war. Karge ein in die Jahre gekommener jungenhafter Typ. Bitternis hatte tiefe Furchen in sein rechteckiges Gesicht gegraben, in der eine auffallende ebenfalls rechteckige Brille mit schwarzem Gestell saß. Seine kräftigen Haare immer noch dunkel, kurz gehalten, gescheitelt. Berta Watersloh spottete über Karge in der Meinung, er hinge einem Jugendwahn an, was man nicht von der Hand weisen konnte. Denn sein Erfolgsstück hatte er blutjung in den Fünfzigern oder frühen Sechzigern geschrieben. So mochte er seiner Jugendzeit nachtrauern, in der er erfolgreich gewesen war. Bis zum Ende Nemeziens war das Stück bekannt und mit seinem Namen verbunden. Ob es zu der Zeit allerdings auch gespielt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Karges weiteren Stücken hingegen war der Erfolg oder die Billigung durch die Oberen versagt. Karge ernährte sich hauptsächlich von Theaterkritiken für die Zeitung Das Neue Nemezien. In den Nächten schrieb er bisweilen wie im Fieberwahn viele Seiten an Romanen, Stücken, die er meist tags darauf zerriss. Seine Lieblingsbeschäftigung außerdem, so verriet er Walja: Im Grünauer Strandbad einen Kahn mieten und sich in der Sonne stundenlang auf dem Wasser treiben lassen. Seine Haut vertrage es, hatte er dem verwunderten Blondchen versichert.

Mit Karge innig befreundet war Gunter Scherzer. Auch er ein häufiger Stammtischbesucher. Scherzer besaß eine durch nichts zu erschütternde sonnige Gemütslage. Diese, kombiniert mit Fleiß bei einer Leichtigkeit des Schreibens und Einfällen im Überfluss, bescherten ihm eine Villa am See mit zwanzig Zimmern oder knapp darunter. Ich weiß nicht, was er mir erzählte. Er gab das Geld mit beiden Händen aus, und es wuchs ihm im gleichen Maß nach. Sein Reichtum, so schwärmten die Damen, sagenhaft.

Scherzer begann sein Tagwerk früh um vier und beendete es mittags. Wenn dieses oder jenes Stück oder ein Fernsehspiel von ihm verboten wurde, so litt er wie jeder Autor, hatte aber noch Dutzende Weitere, die gespielt wurden. Übrigens nicht nur in Nemezien, auch in Deutschland, was ihn in den Besitz von Devisen brachte und zudem Ansehen bescherte. Denn nichts galt den Nemezen mehr als ein Kulturschaffender, der eine Bühne, einen Verlag in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hatte. Sicher wurden Scherzers Stücke auch in der UdSSR, in Bulgarien oder Ungarn gespielt. Scherzer hatte eine intensive Neigung zur Arbeit und nicht minder intensive zu Frauen. Es gäbe keine, die ihm widerstanden hätte, hieß es. Und gab es doch eine, so bewahrte er Stillschweigen darüber, um seinen Ruf als Schürzenjäger nicht aufs Spiel zu setzen. (So wurde lange angenommen, wir hätten ein Verhältnis. Ich hatte mich hofieren lassen, war aber bis über beide Ohren in einen anderen verschossen.) Liebenswürdig verwies er auf einen Kollegen, einen überaus begabten Filmautor der Nefa in Babelsberg, der noch mehr Erfolge als Frauenheld aufzuweisen habe, von dem dies aber kaum einer wisse, denn der gehe seiner Leidenschaft in aller Stille nach. Im Übrigen war Gunter Scherzer seiner Frau, einem schönen Geschöpf, freundlich und klug, zutiefst zugetan, führte ihren Namen oft im Munde. Ellie hat dieses gesagt, Ellie hat jenes getan ... ! Seine beiden Söhne, der eine bald nach der Heirat geboren, der andere ein Nachkömmling, betete er an. Sie sind das Beste, was ich je gemacht habe, sagte er bescheiden. Scherzer setzte weder den Wert von sich selbst noch den seiner Werke, noch seinen Erfolg besonders hoch an, begeisterte sich hingegen an der Literatur anderer, meist Jüngerer, sprach enthusiastisch von dieser, die so viel besser sei als das, was er schrieb, setzte sich mit Vehemenz für ein Talent ein, das er entdeckt hatte. Dem Romane und Erzählungen verfassenden Verbandsvorsitzenden, der nach der großen alten Dame ans Ruder kam, war er in inniger Freundschaft verbunden: Hörmann, Hörmann!, sagte er schwärmerisch, wenn er Hermann meinte, der heute, soviel ich weiß, verlassen von Welt, Geld, Weib und Kind in nordischer Einöde haust. Allergrößte Bewunderung hegte er noch für einen anderen Stückeschreiber, der auf die Antike gekommen war, nachdem sich die Gegenwart als ein so schwieriges Geschäft erwiesen hatte. Über den wohl größten, wenn auch schwer erschließbaren Dramatiker deutscher Zunge, Reinhard Mühe, der noch heute in aller Munde ist, sagte er allerdings nichts. Sie lebten in zu verschiedenen Welten. Ansonsten besaß Scherzer, ich sagte es schon, die ausgezeichnete Gabe, sich immer zu freuen, begeistern zu können und sich von Misslichem nicht dauerhaft die Laune verderben zu lassen. Auf seinen breiten Lippen stets ein Lächeln. Seine braunen Augen blickten treu und tief ins Herz. Vielleicht waren es nicht nur sein Name und sein Geld, was die Frauen hinsinken ließ, sondern dieser tief treue Hundeblick und seine eben durch nichts zu bezwingende sonnige Gemütslage.

Berta Watersloh ließ sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters des Öfteren im Club sehen. Sie eine der drei mir bekannten Autoren, die noch dem Bund Proletarischer Schriftsteller angehört hatten. (Die letzte Überlebende, 98 Jahre alt, 110 möge sie werden!, besitzt auch heute noch ein kleines Auto, was sie hin und wieder fährt. So sagte sie mir jedenfalls. Hauptsächlich sei das Auto aber für ihren im Ausland lebenden Sohn da. Eine Urberlinerin mit ungeheurer Energie und Wachheit. Die zierliche schöne alte Dame zu erleben, ist immer wieder eine Freude. Als eine der letzten Zeitzeugen ist sie noch viel unterwegs und bewältigt erstaunliche Programme. Einen leicht erregbaren aus dem Böhmischen stammenden Herrn, ebenfalls Mitglied des Bundes Proletarischer Schriftsteller, auffallend wegen seines weißen langen Haars und des weißen Kinnbärtchens, traf ich immer und immer wieder in gleicher Gemütslage und geistiger wie körperlicher Verfassung, weshalb ich glaubte, dieses dritte überlebende Mitglied des Bundes Proletarischer Schriftsteller werde wohl nicht ewig, aber so fort und fort leben. Zu meinem Erstaunen segnete der sich zum Proletariat hingezogene Sohn eines Hotelbesitzers jedoch schon im Alter von 94 Jahren das Zeitliche.) Berta Watersloh hatte mit den Blaukarierten in der Nefa Filmgeschichte geschrieben.

Des Weiteren gehörten zur Runde der kleinwüchsige Federico Grosse, die gerechtigkeits- und wahrheitsliebende Ottilie Ehrlicher, die scharfzüngige Iris Sawatzky, der eloquente Axel Harder, der Intendant Peter Heil, der vielversprechende Sebastian Schulz, Lyriker wie Satiriker, gerade eben eins sechzig groß, Randglatze, obwohl noch keine 30. Auch ihn hatte einst Paule Berlin eingeführt. Es erschien am Stammtisch des Öfteren, leicht euphorisch wie benebelt, der dünne, blonde Dichter Kerschbaumer, der sich eine Weile in einem der Sessel niederließ, mit überglänztem Gesicht lächelnd zuhörte oder so tat, und ab und zu seinen Flachmann ansetzte. Plötzlich stand er auf und verschwand wieder, wobei er höchstens zur Begrüßung zwei Worte wie: Grüß euch! genuschelt hatte und zum Abschied gar nichts mehr.

Kaum traf man auf mehr als sieben zur gleichen Zeit. Der eine kam, der andere ging. Wer sich an den Tisch setzen durfte, galt nicht gleich als zugehörig, konnte es aber durch häufigere Teilnahme an der Runde werden. Die Zugehörigkeit spielte im Übrigen keine Rolle außer für Ottilie Ehrlicher an einem Tag tiefen Nachdenkens. Manchmal sah man den Übersetzer von Der Meister und Margarita dort, der sich auf dem Weg von oder zu seinem Verlag für eine Stunde oder mehr im Club festsetzte. Oder den Kriminalautor Horst Ossietzky, nicht verwandt mit dem Carl von, sofort erkennbar durch sein dünnes weißes Pferdeschwänzchen, der neuerdings durch Berlin-Romane wie ne halbe Treppe tiefer von sich reden machte. Wegen seiner Rückenschmerzen holte er sich einen Stuhl heran. (An dem niedrigen langen Tisch reihten sich dem Raum entlang wie der Wand zu, Ledersofas ohne Seitenstützen, in denen man versank. Wollten diejenigen, die mit dem Rücken zum Raum hin saßen, am Geschehen in ihrem Rücken teilhaben, lümmelten sie einen Arm oder beide auf die Rückenlehnen. Eine kleine Drehung, kein Aufwand, und sie sahen in den Raum. In der Regel hatten sie keinen Anlass. Während der folgenden Begebenheiten aber des Öfteren. Ossietzky, der aus Gesundheitsgründen die Bequemlichkeit der Ledereinrichtung des CdK ablehnte, sah mit seinen überwachen Augen von fast stichig hellem Blau mal auf den, mal auf den, machte zwei drei Kalauer, die er selbst mit einem lauten Lachen quittierte, und empfahl sich bald. Selten ließ sich der im Volk vor allen anderen beliebte Dichter und Brechtschüler Bengt Auer sehen. (Eva Matterhorn wird bis auf den Tag ebenfalls und sicher noch mehr von allen Schichten unseres Volkes gelesen und verehrt, sitzt aber auf ihrem Bauerngehöft fest, da sie selbst leider nicht Auto fahren kann.) Bengt Auer hörte mit kleinen gütigen wie weisen Augen schweigend zu. Sein Gesicht gelbweiß, flach und glatt trotz seines Alters, was von der guten Unterfütterung herrührte, seine Haare weiß, sein herabhängender Oberlippenbart vom Tabak vergilbt. Mal warf er einen Brocken ein, der wegen seines besonderen Witzes und weil er sehr leise sprach, erst nach längerem Nachfragen verstanden wurde. Waren genug Willige um ihn versammelt, redete er auch am Stück, monoton, aber eindringlich mit angenehmer Stimme, aus der Weisheit seines Meisters, des Augsburgers, wie der eigenen schöpfend. Irgendwann klopfte er seine Pfeife aus, erhob sich mühevoll. Die tiefen Sitzmöbel ließen die Muskulatur erschlaffen. Zudem war ihm von Jugend an jede Bewegung lästig gewesen, sodass er sie auf ein Minimum reduziert hatte. Doch hatte Ossietzky, schmal, drahtig, ein Radfahrer, nicht mehr Mühe mit seinem Körper als Bengt Auer? Noch einmal lächelte er breit mit seinen Schlitzaugen in die Runde, was seinem Gesicht den Ausdruck eines asiatischen Weisen verlieh und mindestens auf die Frauen seine Wirkung nicht verfehlte. Er nickte und zog wieder von dannen.

Im Club hatte man auch Kontakt zu anderen Kultur- und Kunstschaffenden, doch eher nebenher, es sei denn, Paule befand sich ganz allein am großen, niedrigen Tisch und ihm war nach Gesellschaft zumute. Dann machte er jemandem ein freundliches Zeichen mit der Hand, Platz zu nehmen. Sobald sich jedoch weitere Mitglieder der Stammtischrunde einfanden, ging die Unterhaltung an dem Eingeladenen vorbei, weshalb der sich bald mit schiefem Lächeln verabschiedete.

Obwohl Irminhild zum inneren Kern des Stammtisches zählte, war sie höchst selten anwesend. Arbeitsrhythmus wie Gemütsdüsternis ließen nicht zu, dass sie aus dem Haus ging. Meist war sie angerufen worden und fest verabredet.

Diesen Abend gab es einen Anlass, weshalb sich Irminhild mit Walja auf den Weg gemacht hatte: Peter Heil, der Intendant, war 65 geworden. Ehrungen durch seine Mitarbeiter hatte er sich entzogen, der Ehrung durch höchste Instanz hätte er sich zwar nicht entziehen können, doch es war ihm keine in Aussicht gestellt. Verdienstvollen Schriftstellern wurde zu solchen Anlässen mitunter im Verband ein kleiner Empfang bereitet, zu dem sich mindestens bei der Alten Dame, deren Zweitadresse nun der Dorotheenstädtische Friedhof war, Genosse Nager vom Politbüro eingefunden hatte. (Ihre Adlershofer Wohnung wird noch heute von der Akademie der Künste erhalten.) Peter Heil hatte sich zum Geburtstag nach Schierke im Harz verzogen. Doch Ottilie Ehrlicher, unter anderem mit einem starken Empfinden für Geburts- und Ehrentage begabt, hatte darauf gedrungen, dass man sich nach seiner Rückkunft um ihn versammelte. Und was Ottilie in die Hand nahm, erledigte sie gewissenhaft und gründlich. Sie hatte, wie gesagt, mit sich gerungen, ob sie den Übersetzer von Meister und Margarita einladen solle, ob er zum inneren Kreis gehöre, sich dann aber entschieden, dass sie es nicht tun werde. Eine Rolle mochte spielen, dass der Übersetzer, seitdem beim großen Bruder die Ära Glasnost und Perestroika eingeläutet war, seine Gesprächspartner mit laut ratternden Schimpfkanonaden über nemezische Verhältnisse überschüttete und seinem jeweiligen Gegenüber bloß noch ein beifälliges Nicken zugestand. Mit einem Wort, der so namhafte Übersetzer lief Amok, weshalb er sich wenig für eine Geburtstagsrunde eignete. Für eine Einladung des Dichters Kerschbaumer hatte sich Ottilie nach einigem Abwägen entschieden in der Meinung, schaden könne er nicht. Vielleicht hatte sie sich auch dankbar seiner frühen Gedichte erinnert, die für sie Anfang der 60er Jahre die Andeutung eines Aufbruchs der jungen Generation gewesen waren. Oberschüler wie ich hatten seine Gedichte verschlungen wie auch die seiner inzwischen nach Deutschland ausgewanderten und um vieles bekannteren Frau, die sich leider höchst ungern ihrer nemezischen Wurzeln und Vergangenheit erinnert. Bei Bengt Auer und Horst Ossietzky hingegen hatte Ottilie empfunden, dass sie eigentlich doch nicht dazugehörten. Zu selten ließen sie sich sehen. Da hätte es dann auch noch andere gegeben, die sie hätte bedenken müssen. Doch ab einer gewissen Größe wurde eine Gesellschaft unübersichtlich. Dass sie Auer und Ossietzky weniger schätzte als Kerschbaumer, tat nichts zur Sache. Ottilie, vom Gerechtigkeitsgefühl durchdrungen, versuchte sich bei solchen Dingen nicht von persönlichen Empfindungen leiten zu lassen. Sie hatte nach Absprache mit allen Beteiligten den Termin festgelegt und zwei Tage vorher jeden noch einmal angerufen, denn sie kannte ihre Pappenheimer. Schriftsteller eben, sagte sie mit kurzem heftigem Kopfschütteln, als sei sie nicht selbst Autorin.

Irminhild und Walja standen auf der Höhe des Clubs der Kulturschaffenden am Ende der Straße. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es so hell, dass sie ihre Augen schlossen. Ein Donner ließ ihre Ohren ertauben. Als die beiden zu sich kamen, lagen sie auf dem Boden, obwohl sie sich gar nicht erinnerten, gefallen zu sein. Sie rappelten sich.

Um ein Haar!, sagte Irminhild. Hier muss irgendwo der Blitz eingeschlagen sein.

Ogottogott!, jammerte Walja. Jede sagte, was sie sagte. Doch die andere hörte es nicht. Ihre Ohren vom Donner noch unfähig, Geräusche wahrzunehmen.

Irminhild sah prüfend, ob irgendwo zwischen den Steinen massiver Rauch aufstieg. Walja zog sie zur Eingangstür des Clubs. Dann öffnete der Himmel auch schon seine Schleusen. Das Wasser schüttete auf Dächer wie Straßen, die bald die Mengen nicht mehr fassen würden. Neugierig betrachtete Irminhild das Naturschauspiel. Walja öffnete die Tür und drängte Irminhild, ihr in den Club zu folgen. Die beiden gingen an der kleinen Garderobe, die zu der Jahreszeit nicht benötigt wurde, vorbei, an den ausliegenden Büchern der Buchhandlung, an der Bibliothek. Der Bibliothekar mal pünktlich nach Hause gegangen. Ein Enthusiast, der nichts weiter im Sinne hatte, als der Literatur zu dienen, und dem es höchstes Vergnügen bereitete, Lesungen im Foyer des Clubs zu veranstalten. Je deutlicher sich ein Name im Gedächtnis der Nemezen eingeprägt hatte, um so hingebungsvoller sein Gruß, wenn auch nie servil. Immer noch behielt er als Bibliothekar einen Begriff von seiner eigenen Würde. Also ungegrüßt vom guten Geist des Hauses stiegen sie die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich das Restaurant befand. Am Stammtisch trafen sie als Letzte ein. Natürlich. Irminhilds Erscheinen war der erste Höhepunkt des Abends, und alle waren dem Küken Walja ordentlich dankbar, die von Ottilie für Irminhilds Erscheinen verantwortlich gemacht worden war. Ottilie, wie gesagt, Initiatorin des Abends, schoss denn auch aus dem Sofaeckplatz empor, den sie sich reserviert hatte, freudeüberstrahlt ihr immer noch gänzlich glattes leicht gerötetes Antlitz, die silbernen Ohrgehänge wippten heftig, während ihre leicht gewellte Pagenfrisur, das dunkle Haar tizianrot glänzend, die Form behielt. Sie eilte den beiden entgegen mit den zielgerichteten, harten wie graziösen Schritten, die manchen Tänzerinnen zu eigen bleiben. (Ottilie war Tänzerin am Staatlichen Volkskunstensemble gewesen, hatte sich aus der Zeit ihre tadellose, überschlanke Figur erhalten und konnte von Glück sagen, dass dabei ihr leicht großnasiges Gesicht nicht verhärmte.) Sie breitete ihre Arme aus. Irminhild war das Begrüßungszeremoniell von ihren Aufenthalten in Italien und Frankreich gewohnt, nahm die attraktive Kollegin und Verehrerin an den Oberarmen, eine freundliche Berührung wie ein Schutz gegen möglicherweise noch stärkere Umarmung.

Beide küssten sich zart und sorgfältig auf die rechte wie linke Wange. Oh, meine Liebe!, sagte Ottilie mit ihrer glockenhellen, immer noch jungen Stimme, und ihre lilablauen Augen fieberten vor Erregung. Und du, Walja! Nun wurde auch Walja artig mit Küsschen rechts und links auf die Wange begrüßt, was die, noch etwas ungeübt, mit kräftigen Schmatzern erwiderte, als hätte sie ihre Mutti oder Oma vor sich.

Nun sind wir vollzählig!, sagte Ottilie.

Irminhild nickte den Damen und Herren in der Runde zu. Ihre Augenlider schlossen sich beinahe ganz, ihr schön geschnittener sinnlicher Mund lächelte beinahe anzüglich. Sie ging auf Peter Heil zu. Man muss dir wohl gratulieren. Oder wie man's nimmt.

Der Intendant stand auf. Er war ein Mann mit glasklarem, stets aufmerksamem Blick, der auf Kühle, Unnahbarkeit und einen unbestechlichen Geist schließen ließ. Seine hellen Augen weit auseinanderstehend, der Oberkopf sehr massig, die Nase leicht eingedellt. Peter Heil ließ sich nicht anders als in einem gut geschnittenen Anzug denken, meist von der Stange, denn sein Körper wies ideale Maße auf. Die korrekte Kleidung tat ein Übriges, um den Eindruck entstehen zu lassen, er betrachte seine Umwelt mit großer Distanz. Dennoch ging etwas Jugendliches von ihm aus. Irminhilds ausgestreckte Hand nahm er mit einer Verbeugung und angedeutetem Handkuss entgegen. Oder wie man's nimmt, wiederholte er. Einen Augenblick zeigte sich in seinem Gesicht ein durchtriebener Schalk, was den Eindruck von Unnahbarkeit gänzlich auflöste.

Na, na, sagte Paule, der seine Ehemalige mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtete, wobei sein vergnüglicher Blick auch Walja streifte, das Küken, das sich an Irminhilds Seite hielt.

Paule hatte die siebzig längst überschritten. Was man wissen musste. Man sah es nicht.

Kopfhoch, Junge!, sagte Irminhild. Sie entstammte einer Eisenbahnerfamilie und erinnerte sich mitunter einfacher Floskeln.

Kopf hoch! Du bleibst für mich übrigens immer dreiunddreißig! Peter Heil lächelte wieder bezaubernd. Alle Strenge war dahin. Sein eigenartiges Gesicht verschönte sich und blieb es für jede Frau, auf die dieses Lächeln einmal gefallen war. Neben seinem Charme, seiner überragenden Intelligenz nahm für ihn ein, dass er sein kleines sprachliches Gebrechen missachtete und ungehemmt das Wort ergriff, wenn es ihm angezeigt erschien, obwohl er mitunter stockte, mitten im Satz Luft holen oder sich jedenfalls stark auf die Artikulation des nächsten Wortes konzentrieren musste. (Teilnahme an zahlreichen öffentlichen Debatten während und nach der Wende merzten das Gebrechen zur Gänze aus.)

Walja ließ wieder ihren kleinen Mund offen stehen vor Aufregung und Freude über so viel Anwesenheit mehr oder weniger bedeutender Persönlichkeiten. Nachdem Irminhild Peter Heil genügend gratuliert hatte, ergriff Walja dessen Rechte, umfasste sie mit beiden Händen, wie sie sich das in Pumpe angewöhnt hatte. Peter Heil sah freundlich auf das Küken. Mehrere Male zuckte sein Mund. Er unterdrückte allzu große Heiterkeit. Als einer der seltenen Menschenfreunde nahm er die Geringen unter seinen Brüdern und Schwestern vom Spott aus. Walja ging nun zum Angriff auf die übrigen Personen über, streckte ihre Hand zunächst dem eloquenten Axel Harder entgegen. In dessen schmalem Adlernasen-Gesicht erschien ein berückendes Lächeln, wobei eine seitliche Zahnlücke sichtbar wurde, die er aus unerfindlichen Gründen nie reparieren ließ. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich. Axel Harder, obwohl auf die sechzig zugehend, hatte noch immer braunes, volles Haar, was er wie Karlheinz Karge gescheitelt und kurz geschnitten trug. Durch einen Wirbel stand es ihm an der Stirn wie zu einem verstümmelten Hahnenschwanz auf Er hatte tadellose Manieren und zur Abwehr wie aus gegenteiligen Gründen immer dieses ganz berückende Lächeln bereit. Mit unschuldigster Miene übersah er die Hand des Kükens. Der kleinwüchsige Federico Grosse, der Spanier in der Runde, lächelte aus großen blausamtenen Augen, räusperte sich, bedeutete mit einer Geste, er müsse ja aufstehen, um ihr die Hand zu reichen, was ihm auf seinem Sofaplatz erhebliche Mühe machen würde. Seine Beweglichkeit seit einigen Jahren eingeschränkt. Beim Gehen kam er ohne Krücken nicht mehr aus. Als dann aber auch Paule Berlin mit den Augen blitzte und blinzelte, verstand Walja wieder einmal, dass man in dieser Runde von kumpelhafter Begrüßung, wie sie es von Pumpe gewohnt war, nichts hielt. Noch immer stand Ottilie, wies Irminhild mit eifriger Miene den für sie frei gehaltenen Platz auf dem Sessel der am Gang gelegenen Stirnseite der Tafel zu. Irminhilds entferntes Gegenüber, mit dem sie sich nur bei vollkommener Stimmenthaltung der Übrigen hätte verständigen können, der Dramatiker Karge. Er an der Stirnseite der Tafel unter dem Fenster. Paules Platz neben ihm auf dem Sofa mit Sicht auf den Raum. Ihm gegenüber und Karge zur Seite der Dramatiker des Heiteren, Gunter Scherzer. Die drei hatten sich gesetzt, wie sie es gewohnt waren. Um sie gruppierte man sich lose oder auch von Ottilie gelenkt. Federico hatte neben Paule auf dem Sofa Platz genommen. Ottilie legte ihren rechten Zeigefinger gegen ihre schmalen Lippen und ihr spitzeckiges Kinn. Die Sofaseite gegen den Raum hin belegt von Gunter Scherzer, vom Intendanten Peter Heil. Axel Harder, Chefredakteur der Monatszeitschrift von der Akademie der Künste Sinn und Wahn, hatte Ottilie an die Seite des Jubilars verwiesen und neben ihm die Sawatzky. Harder und die Sawatzky hockten sowieso immer nebeneinander. Ottilie sah es mit leichter Eifersucht. Die Trennung des Paars wäre aber mit dem Verlust vom Eckplatz Ottiliens nunmehr an der linken Seite der verehrten Kollegin Irminhild verbunden gewesen. Für den Jubilar konnte man sich übrigens außer der Sawatzky keinen passenderen Gesprächspartner denken als Axel Harder. (Dass zur Rechten des Jubilars auch der junge Schulz hätte sitzen können statt Gunter Scherzer, war Ottilie vielleicht in den Sinn gekommen. Doch Cliquenbildungen suchte sie vorzubeugen.) Kein freier Platz für Walja, wohin Ottilie auch schaute. Irgendetwas war ihr entgangen. Sie hätte Kerschbaumer doch nicht einladen sollen! Ottilie rieb mit ihrem rechten Zeigefinger ihr Kinn. Du müsstest dir vielleicht doch einen Stuhl holen!, sagte sie. Doch Walja sah: der junge Schulz schmächtig, der Dichter Kerschbaumer, Federico und Paule Leichtgewichte, Berta durch das Alter leicht geschmälert. Kurzentschlossen setzte sie sich auf einer Pobacke neben Sebastian Schulz, den jungen Lyriker und Satiriker, worauf der rückte, worauf Kerschbaumer rückte, und so ging es fort. Am Ende hatte das Küken Walja einen mehr als komfortablen Platz an der rechten Seite Irminhilds, was Ottilie sicher mit einem kleinen Neidauge sah, was sie aber leicht zu verbergen in der Lage war.

Mit den Bestellungen haben wir auf euch gewartet! Ottilie flötete. Nun, da sie alle ihre Schäflein beisammenhatte, kannte ihre gute Laune keine Grenzen.

Es brauchte nicht einmal ihres Winks. Lothar, der Kellner, hatte den Stammtisch immer im Auge. Ein Mann von faunischem Aussehen. Sein Glatzkopf stets gerötet wie auch sein Gesicht und vollkommen rund wie übrigens auch die Nase, seine kleinen schrägliegenden Augen blitzten vor Freude, sein Bauch vorgewölbt, seine Beine neigten einem kräftigen O hin. Seine Knie verbraucht. Dennoch behände und geradezu bewegungssüchtig. An einem so interessierten Kellner hätte jede gastronomische Einrichtung Nemeziens ihre Freude gehabt, deren Angestellten nachgesagt wurde, sie ließen sich in ihrer Ruhe ungern stören. Nicht einmal die Aussicht auf ein hohes Trinkgeld habe sie zu einem Entgegenkommen und einer dem Gast angenehmen Miene verlocken können. Anders der springlebendige Lothar, der einschätzte, seine Dienste seien nun erwünscht. Hinkend wegen seines Knieleidens eilte er herbei und blickte mit großer Aufmerksamkeit und einem durch und durch freundlichen Lächeln von einem zum anderen. Leber? Erst einmal eine Soljanka und dann Leber? Rumpsteak? Szegediner Gulasch? Filet Stroganoff? Schopska-Salat und dann Cevapcici? Grillplatte? Seine Vorschläge nur die Wiederholung der Bestellungen vom letzten Mal und der vielen Male zuvor. Fast jeder hatte sein Stammessen, bei dem er blieb, nachdem er anderes ausprobiert oder gleich dieses eine Gericht für ganz ausgezeichnet befunden hatte. Meist wurden seine Vorschläge auch heute mit einem Kopfnicken bestätigt. Blieb jemand die Antwort schuldig, schlug Lothar ein zweites, ein drittes Gericht vor, von dem er wusste, dass es dem Gast zusagte. Bei Ottilie verharrte Lothar, sie die Einzige, deren Wahl nie vorauszusehen war. Die Karte allerdings brauchte er ihr nicht zu reichen. Die hatte sie im Kopf. Was gibt es im Tagesangebot?, fragte sie. Lothar antwortete. Sie schüttelte den Kopf, versuchte sich an einem Stirnrunzeln, was ihr wegen ihrer glatten Haut kaum gelang, gab nach einer Weile bedächtig, geradezu genussvoll die Speisenfolge an. Ein klares Süppchen mit viel Petersilie, ein Blattsalat, Croûtons. Sie sah Lothar fragend an. Der nickte. Ein Hühnerbrustfilet, der Reis bitte nicht zu weich, eine Zitronencremespeise. Ja, das wär's.

Wiener Schnitzel, sagte Sebastian Schuh, der sich wohl beweisen wollte, dass er zum Szegediner Gulasch noch kein Abhängigkeitsverhältnis entwickelt hatte.

Schopska-Salat!, piepste Walja, als Lothar seinen Blick auf sie richtete.

Heute alles auf meine Rechnung! Auch die Getränke!, sagte der Jubilar Peter Heil, dem bei Waljas Bestellung offenbar einfiel, sie könne sich bei der Wahl ihres Gerichts vom Preis leiten lassen. (In Nemezien waren die Preise für den täglichen Grundbedarf subventioniert und geradezu unverschämt niedrig, sodass wir Nemezen heute träumerisch davon reden, wie man möglicherweise in Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg von Kaiserszeiten mit glänzenden Augen berichtete. Zwanzig Pfennige zahlte man für die Benutzung der Straßenbahn. In Halle/Saale gar fünfzehn!) Wie recht der aufmerksame Peter Heil mit seiner Vermutung gehabt hatte, was Walja betraf. Mit einem Mal verwirrte sie sich in ihrer Bestellung. Lothars Lächeln nahm zu, wodurch sich der Eindruck erhärtete, er sei ein Nachfahre Dschingis Khans. Vielleicht doch Filet Stroganoff?, sagte sie. Oder, oder doch Wiener Schnitzel? Sie sah Hilfe suchend auf Sebastian. Der zuckte mit den Schultern. Na ja, sagte Sie, wandte ihren Blick wieder auf Lothar, Filet Stroganoff. Nein, Wiener Schnitzel. Wiener Schnitzel. Ja, ja. Wiener Schnitzel, sagte sie nun, redete sich in Entschlossenheit hinein. Lothar nickte begütigend, wodurch er Waljas Zweifel in Bezug auf Essenwahl zerstreute.

2

Die Gespräche untereinander rissen selten ab. Die einen wie Paule Berlin oder der Intendant Heil sprachen fast nie über Persönliches. Andere erzählten munter von letzten Urlaubsreisen oder auch von Kindern, Enkeln. Walja, das Küken, begnügte sich, den anderen zu lauschen, gab aber getreulich Auskunft über alles, was man sie fragte. (Wem gegenüber sie ebenso bereitwillig über alles Geschehen berichtete wie den am Tisch Sitzenden, erfuhr man, als es den CdK, den Club der Kulturschaffenden, längst nicht mehr gab.)

Vorlieben füreinander gab es in der Runde wie überall. Der dem Genre des Heiteren verpflichtete Gunter Scherzer und Karlheinz Karge, der vom Leben gebeutelte Theatermann, hatten immer miteinander zu reden. Scherzer sowieso aufgeschlossen für jeden, hätte wahrscheinlich gern Walja und Sebastian Schulz befragt. Doch die saßen zu entfernt. Mit heiligem Respekt betrachtete er Irminhild, deren Düsternis ihm, dem Sonnyboy, besonders mysteriös erschien. Näheren Kontakt zu Iris Sawatzky vermied er. Den Reden der Verfasserin historischer Romane hatte er nicht das Geringste entgegenzusetzen. Schon ihre tiefe, kräftige Stimme, die bei der kleinen, schlanken Person erstaunte, verschaffte Iris Sawatzkys Worten Geltung. Üppig ihre natürliche, bis zur Taille wallende rote Lockenmähne, wasserblaue Augen, wie man dies bei Rothaarigen oft findet. Die Sawatzky ganz und gar Profil. Sah man sie von vorn, sah man sie immer auch von der Seite: die großen Augen, die lang gebogene Nase, die breiten, blassen Lippen, das eher kleine Kinn. Sie verfügte nicht nur über einen mächtigen, schnell funktionierenden Verstand, sondern als ehemalige Literaturwissenschaftlerin auch über das einen Menschen wie Gunter Scherzer, der ganz aus dem Bauch heraus schrieb, einschüchternde wissenschaftliche Vokabular. Tat sie ihre Meinung kund, verstummten alle Übrigen. Selbst Walja, die sonst sich ja von nichts schrecken ließ, wich vor Iris Sawatzky zurück. Die Sawatzky fühlte sich offenbar zu Irminhild, der Düsteren, hingezogen, obwohl sie sonst nach Art mancher besonders attraktiver Frauen aus einem Konkurrenzgefühl heraus andere schöne Frauen nicht beachtete. So übersah sie konsequent Ottilie Ehrlicher, mochte sie mit ihren Ohrgehängen und ihren Augen auch noch so klimpern. Worunter die im Übrigen gar nicht litt. Zu selbstbewusst, vielleicht auch zu selbstverliebt war sie, um die Ignoranz der Sawatzky zu bemerken. Und falls sie es bemerkte, tat sie es, großzügig, wie sie war, als ganz unerheblich ab. So leicht ließ sich Ottilie nicht kränken. Ihr galt nur eine: Irminhild. Ihr suchte sie zu gefallen. Literarisch kümmerte sich Ottilie vorwiegend um den Alltag, gerade so, wie sie ihn selbst vorfand als Frau und Mutter und Geliebte, schrieb auch hin und wieder fantastische Geschichten und sah sich da in der Nachfolge von Irminhild. Gern hätte sie auch Irminhild von sich zu lesen gegeben. (Ottilie neigte dazu, Meinungen über ihre Manuskripte einzuholen, die sie, obwohl noch nicht gedruckt, Bücher nannte in bester Überzeugung, der Verlag risse sie ihr aus den Händen, was auch geschah. Ottilie Ehrlicher versammelte, ganz anders als Irminhild, in nemezischen Gefilden eine glühende Anhängerschaft um sich.) Doch Irminhild hatte ihr bedeutet, sie müsse sich entscheiden, entweder selbst zu schreiben oder anderes zu lesen. Da war Ottilie, dann doch ganz selbstlos, sehr dafür, dass Irminhild an der immerwährenden Vollendung ihres Werkes arbeitete. Axel Harder indes, der Adlergesichtige, war weniger von Irminhild als von der Sawatzky eingenommen. Sonst ein Wortführer und immer in einer Unterhaltung beschäftigt, ließ er sich nie auf ein Duell mit ihr ein, lauschte ihr, nickte beifällig und sah dann plötzlich aus wie ein Junge, der Erwachsenen zuhört. Dass sie ihm als Frau gefiel, daran bestand kein Zweifel. Möglicherweise hatte sie ihn einmal erhört, aber höchstens kurzzeitig. Denn beide lebten in fest gefügten Ehebanden. Peter Heil, der heutige Jubilar, dagegen nahm zwar mit aufmerksamer Miene zur Kenntnis, was Iris Sawatzky zu sagen hatte, um dann, nicht immer flüssig wegen seiner sprachlichen Behinderung, seine Einwände geltend zu machen, auf ihnen zu bestehen, falls die Beweisführung der Gegenpartei ihm nicht zwingend erschien. Gern nahm dann Sebastian Schulz das Wort, der sich in dieser Runde ebenfalls leicht Gehör zu verschaffen wusste. Mit einer Stimmgewalt, die man bei dem kleinen Mann nicht vermutet hätte. Da er sich als Alleinunterhalter finanzierte, Sketche vortrug, kam ihm sein Organ sehr zustatten. Der samtäugige Federico Grosse hörte sanft lächelnd zu und erwiderte bedachtsam und profund, ein Kenner der romanischen Literatur, wie es unter den Literaten nur wenige gab, seine Sprache neigte geringfügig dem Sächsischen zu, was ihm noch mehr Charme gab. Auch er erfreute durch ein wohllautendes Sprachorgan, nuschelte aber mitunter. Da Iris Sawatzky sowohl der Person von Federico Grosse wie auch seiner Literatur überaus gewogen war und ihn als einen herausragenden Vertreter nemezischer Romanautoren schätzte, gleich nach Christa T., Hermann K. und Irminhild, während die nemezischen Leser von Grosse leider vergleichsweise wenig Notiz nahmen, überdachte sie seine Einwände ein wenig länger als die von Heil oder Harder, den Theoretikern in der Runde, oder die des jungen Schulz. Wie Iris Sawatzky ihre eigene Produktion einschätzte, ist mir nicht bekannt. Immerhin hatte sie eine große Leserschaft, was bei gängiger Schreibweise fast jeder Autor in diesem als Leseland berühmten Nemezien von sich sagen konnte. Möglicherweise behandelte sie ihr Schreiben als den Zeitvertreib einer Literaturwissenschaftlerin, die unter diesen jämmerlichen Voraussetzungen (in der SRR Nemezien) sich lieber ins Reich der Fantasie begab. Wäre ihr historisches Interesse nicht so groß und der Markt hierfür günstig gewesen, hätte sie sich mit grimmiger Freude genauso gut an die Weiterführung der Tradition von Courths-Mahler machen können. Paule Berlin beteiligte sich an den Gesprächen mit einem gelegentlichen Einwurf. Sollten sich die Jüngeren tummeln! Wo er es für angebracht hielt, fragte er in kleinen, privaten Gesprächen nach persönlichen Kümmernissen. Ihm war ja nichts lieber, als für jemanden die Maschinerie in Gang zu setzen, über die er verfügte. Zwischen ihm und Federico Grosse entspannen sich des Öfteren Unterhaltungen über Bücher, die in Frankreich gerade von sich reden machten. Dann wurde natürlich Axel Harder von Sinn und Wahn aufmerksam, Literatur war schließlich sein Geschäft wie seine Leidenschaft. Der Adlergesichtige hob seine dichten Brauen, riss seine kleinen Augen auf und fragte Paule oder Federico: Ach ja, bist du wirklich der Meinung? Er folgte den Ausführungen, wobei er die Finger seiner rechten Hand gegen seine rechte Gesichtshälfte presste, das Fleisch darin verformte und den Mund öffnete. Ich hätte eher gedacht ...!, sagte er dann, breitete nun aus, wie er zu diesem oder jenem literarischen Ereignis in Frankreich stand, wobei er seine Augenbrauen hob und senkte, ein Lächeln seinen Mund umzuckte, und er mit großer, männlicher Eleganz seine Hände bewegte. Obwohl ein Gewächs hiesiger Breiten, hatte er etwas von der Leichtigkeit und Galanterie, die man den Franzosen nachsagt. Am Ende seiner Ausführungen zuckten seine Augenbrauen noch einmal, er schaute mit kleinen aufgerissenen Augen jungenhaft staunend, ein kleiner Trick, und sagte dann mit einem ganz berückenden Lächeln, das seine obere nicht ganz vollständige Zahnreihe sichtbar machte: Ich kann mich natürlich auch irren. Den Entgegnungen folgte er wieder mit einem aufmerksamen: Ah ja, ah ja! Für Argumente war er immer zu haben.

Den jungen Schulz, Axel Harder und Jubilar Peter Heil einte die Liebe zum Fußball. Alle natürlich Union-Fans, obwohl dem staatlich geförderten SC Dynamo absolut unterlegen. Union zu unterstützen stellte einen quasi subversiven Akt dar. (Selbst heute noch, im Jahr 2008, besitzt Union, der ewige Verliererverein, eine durch nichts zu erschütternde Anhängerschaft. Vielleicht will man sich nun gegen den Westberliner Hertha BSC abgrenzen.) War vom Fußball die Rede, hob gelegentlich Dieter Kerschbaumer seine Hand, bis jemand seine Meldung kopfnickend bestätigte. Dann sagte er mit schwacher Stimme in schönstem nemezischen Anhaltinisch: Die Jungs sind klasse! oder etwas in der Art, und auf seinem unegalen eckigen, mageren Blondgesicht machte sich ein diffuses Lächeln breit.

Stilles Einverständnis herrschte sowieso zwischen Paule Berlin und Karlheinz Karge, denn sie waren diejenigen, die im CdK sozusagen ihr Zelt aufschlugen von mittags zwölf bis abends, obwohl sie weder Gegensätzliches noch Gemeinsamkeiten verbanden. Selbstverständlich hing Gunter der Heitere Paule Berlin wie allen, die seinen Lebensweg begleiteten, in großer Treue an.

Dass sich die alte Berta Watersloh von Adlershof in die Stadt hineinbegab, zeugte von robuster Gesundheit und dem Willen, immer noch am Leben teilzunehmen. Die Glanzzeit ihres Wirkens lag Jahrzehnte zurück, noch etwas länger als bei Karlheinz Karge, was aber ihre Autorität nicht schmälerte. Sie war sozusagen die Alterspräsidentin. Im Übrigen vergaß niemand, dass sie über Jahrzehnte Nachbarin und Weggefährtin der großen alten Dame gewesen war und sich ihr gegenüber Rechte herausgenommen hatte wie sonst keiner. Anna, es war ein Fehler, dass du nach Nemezien gekommen bist! Deinem Werk wäre es besser bekommen, wärest du nach Deutschland gegangen! (In ihre Geburtsstadt Mainz zum Beispiel, Heimstadt des Zweiten Deutschen Fernsehens.) So hatte Berta Watersloh gesagt und wiederholte ihre Meinung des Öfteren in dieser Runde. -Diese dickleibigen Romane der großen alten Dame, in denen sie sich um die Entwicklung Nemeziens sorgte und die ihre Kraft verbrauchten, hatten Schüler wie Germanistikstudenten und wen noch gequält und sie selbst verschlissen. Wie großartig war dagegen ihr Frühwerk und wie berührend ihre späten Erzählungen! Berta Watersloh war eine resolute Person, weshalb man sie keinesfalls einen Schatten der alten Dame nennen konnte. Eher war sie der Knüppel aus dem Sack, der selbst auf die vergötterte Anna eingeprügelt hatte. So oder so: Den Anwesenden schien es, durch Berta Watersloh weilte immer noch die große alte Dame unter ihnen. Berta ließ die Gespräche laufen, hörte mal zu Paule hin, mal auf Federico Grosse, der darauf achtete, dass sie sich immer beteiligt fühlte. Federico Grosse ein Kavalier der alten Schule, zu Frauen stets liebenswürdig. Ein Frauenverehrer und Frauenverzehrer, wenn auch nicht in Ausmaßen wie Gunter der Heitere. Obwohl ihm die normale Körperhöhe durch eine Stoffwechselkrankheit verwehrt geblieben war, wurden Frauen schwach, schauten sie in seine großen blausamtenen Augen. Er lächelte, dass sich seine Mundwinkel wie bei der lachenden Theatermaske weit nach oben verschoben. Ein nahezu menschenfresserisches Lächeln hatte er. Ach, und seine kleinen schwarzen Locken (gefärbt allerdings nun schon)! Und überhaupt dieses Gesicht, trotz runder Nase erinnerte es an den Dichter Pablo Neruda, vielleicht der runden Stirn, der ausgeprägten Tränensäcke wegen, dieses Ovals, das sich aus Augen und Augenringen ergab. Und ein ganz klein wenig gemahnte er an den unvergessenen Fernandel. In einem nachnemezischen Roman würde er sich als Weißer Clown gefallen. Vielleicht die Rolle seines Lebens, denn in den Jahrhunderten zuvor hätte man ihn sicher gern in den Zirkus verfrachtet. Und reden konnte er, reden! Ach, mit so schöner Stimme, wenn leider bisweilen sehr vernuschelt, so kenntnisreich! Übrigens ohne dem anderen, in italienischer, spanischer, portugiesischer Literatur wenig Bewanderten das Gefühl der Unterlegenheit zu geben. Er plauderte mit Berta Watersloh beispielsweise ganz artig über Katzen, von denen er mehrere besaß. Sein ausdrucksvolles Gesicht hatte immer ein Lächeln bereit für Sinn und Unsinn dieser Welt. Auch die Übrigen schauten hin und wieder, ob Berta sich noch beteiligt fühlte. Karlheinz Karge erhob nicht selten seine tiefe, einem Dramatiker gut anstehende Stimme und fragte Berta jetzt zum Beispiel über den halben Tisch hinweg: Und wie geht's, Berta? Hast du wieder was von deiner Schwester gehört? Wann machst du dich wieder nach Israel auf! Karge und Berta hatten dieselbe Liebe zu diesem Landstrich. Bertas Schwester und deren zahlreiche Familie wohnten in einem israelischen Kibbuz. Karge bereiste Palästina und nahm sich der Sorge der Palästinenser an. Um Bertas Antwort zu hören, verstummten die Übrigen. Es war schon etwas außergewöhnlich für Nemezien, dass eine alte Frau einmal im Jahr für Wochen nach Israel reiste. Und da wiederum in ein Kibbuz, aufs Dorf, in eine landwirtschaftliche Genossenschaft, wie es die in der nemezischen Republik ja auch gab. Nur hatten die hier inzwischen Ausmaße angenommen, dass sie eher industriellen Kombinaten als Produktionsgemeinschaften ähnelten. Wie zerrissen mussten die Seelen der nach Nemezien zurückgekehrten Emigranten jüdischer Herkunft sein, von denen viele diesen Staat mit aufgebaut hatten, wenn sie an Israel dachten. Das Land ja. Die Politik nein. Doch diesen in hohen Führungspositionen tätigen Genossen, Verdrängung, Disziplin in ihrem Leben, oberstes Gebot.

Walja sagte mir, erst, als Paule sie zum Stammtisch eingeladen habe, sei ihr klar geworden, wie viele unserer älteren Kollegen jüdischer Herkunft waren. Ja, selbst die große alte Dame sei jüdisch gewesen, was doch in keinem Schullesebuch stand. Natürlich wusste man die Abkunft des verstorbenen Stammtischinhabers Peter Hilfreich durch seinen Roman, der von der Nefa in früheren Zeiten eindrucksvoll verfilmt worden war. Ehe hinter der Sonne. Noch wurde sein Name am Stammtisch erwähnt. Der verstorbene Peter Hilfreich übrigens der Einzige, bei dem Walja im Nachhinein wegen seines Aussehens gedacht hatte, ja, na klar. Ob ich gewusst hätte, fragte sie mich, dass er sich in Auschwitz durch sein Zeichentalent gerettet habe. Ich wusste es nicht. Ja, sagte sie, er wurde Fälscher, hat für die Nazis Geld gefälscht, Dollar wahrscheinlich. Umso tragischer, dass er dann doch, Jahrzehnte später, aber zu früh, durch Blutkrebs hingerafft wurde. Bis fast zuletzt sei er noch im CdK gewesen und habe seine Witze darüber gerissen, dass nun wieder sein jüdisches Blut gewaschen würde mit dem Blut mehr oder minder ehrlicher Sozialisten-Gois. Paule hat Walja ebenfalls berichtet, wie er vor den Nazis geflüchtet sei. Es sei aber ein so abenteuerlicher Weg gewesen, zu viele Stationen, und er habe leise geredet, weshalb sie seine Erzählung komplett vergessen habe. Berta habe durch die Ehe mit einem Herrn Watersloh überlebt. Iris Sawatzky war ein Emigrantenkind. Ihre Eltern habe gerettet, dass sie Kommunisten waren und deshalb fliehen mussten, als die Nazis an die Macht kamen. Ebenso wie Peter Heils Eltern. Die hatten lange Zeit in Hongkong gelebt, bis der Vater die Untätigkeit nicht mehr ausgehalten habe und nach Serbien gegangen sei, um als Arzt gegen die Faschisten zu kämpfen. Heils Mutter Krankenschwester. Den Schabbat habe Heils Mutter nie vergessen. Sie habe am Freitagabend immer bei Einbruch der Dunkelheit zwei Kerzen angezündet und etwas gesprochen. Aber das hatte Walja nur durch intensives Ausfragen herausbekommen.

Man hatte ein Auge auf Berta, musste aber nicht besorgt sein. Denn sie machte nie den Eindruck, allein gelassen zu sein. Ihre kleinen, nüchternen Augen im faltigen Alltagsgesicht, das auf den ersten Blick nichts Besonderes erkennen ließ, weder geistige Interessen noch irgendetwas Jüdisches, sahen mal auf den, mal auf den. Wenn sie einen Satz hörte, der ihrer Auffassung und Erfahrung widersprach, so sagte sie etwas. Von ihr hatte Walja außer dem Satz über unsere große alte Dame noch einen weiteren behalten, der ihr lange zu denken gegeben habe: Leiden macht nicht besser!