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Eine Geschichte aus zwei Städten (Originaltitel: A Tale of Two Cities) ist ein historischer Roman von Charles Dickens. Geschrieben 1859, ist das Buch mit über 200 Millionen verkauften Ausgaben das meistgedruckte original englischsprachige Buch aller Zeiten und gehört zu den berühmtesten Werken der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 687
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Eine Geschichte aus zwei Städten.
Charles Dickens
Inhalt:
Charles Dickens – Biografie und Bibliografie
Eine Geschichte aus zwei Städten.
Erstes Buch. Ins Leben zurückgerufen.
Einleitung.
Erstes Kapitel. Die damalige Zeit.
Zweites Kapitel. Der Postwagen.
Drittes Kapitel. Nächtliche Schatten.
Viertes Kapitel. Die Vorbereitung.
Fünftes Kapitel. Die Weinschenke.
Sechstes Kapitel. Der Schuhmacher.
Zweites Buch. Der goldene Faden.
Erstes Kapitel. Fünf Jahre später.
Zweites Kapitel. Ein Spektakel.
Drittes Kapitel. Eine getäuschte Erwartung.
Viertes Kapitel. Glückwünsche.
Fünftes Kapitel. Der Schakal.
Sechstes Kapitel. Hunderte von Leuten.
Siebentes Kapitel. Ein vornehmer Herr in der Stadt.
Achtes Kapitel. Ein vornehmer Herr auf dem Lande.
Neuntes Kapitel. Das Gorgonenhaupt.
Zehntes Kapitel. Zwei Zusagen.
Elftes Kapitel. Ein Kameradschaftsbild.
Zwölftes Kapitel. Der Mann von Zartgefühl.
Dreizehntes Kapitel. Der Mann ohne Zartgefühl.
Vierzehntes Kapitel. Der ehrliche Gewerbsmann
Fünfzehntes Kapitel. Strickzeug.
Sechzehntes Kapitel. Noch mehr Strickzeug.
Siebzehntes Kapitel. Ein Abend.
Achtzehntes Kapitel. Neun Tage.
Neunzehntes Kapitel. Ein ärztliches Gutachten.
Zwanzigstes Kapitel. Eine Bitte.
Einundzwanzigstes Kapitel. Widerhallende Fußtritte.
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Immer höhere See.
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Feuer hoch!
Vierundzwanzigstes Kapitel. Hin nach dem Magnetfelsen.
Drittes Buch. Der Lauf eines Gewitters.
Erstes Kapitel. Ins Geheimnis.
Zweites Kapitel. Der Schleifstein.
Drittes Kapitel. Der Schatten
Viertes Kapitel. Windstille im Gewitter.
Fünftes Kapitel. Der Holzspalter.
Sechstes Kapitel. Triumph.
Siebentes Kapitel. Ein Klopfen an die Tür.
Achtes Kapitel. Eine Handvoll Karten.
Neuntes Kapitel. Das Spiel geordnet.
Zehntes Kapitel. Der Körper des Schattens.
Elftes Kapitel. Dämmerung.
Zwölftes Kapitel. Dunkelheit.
Dreizehntes Kapitel. Zweiundfünfzig.
Vierzehntes Kapitel. Ausgestrickt.
Fünfzehntes Kapitel. Die Fußtritte verhallen für immer.
Eine Geschichte aus zwei Städten, C. Dickens
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster, Deutschland
ISBN: 9783849609726
www.jazzybee-verlag.de
Früher bekannt unter dem Pseudonym Boz, berühmter engl. Schriftsteller, nebst Thackeray der Hauptvertreter der Londoner Romanschule, geb. 7. Febr. 1812 in Landport bei Portsmouth, wo sein Vater bei der Marine angestellt war, gest. 9. Juni 1870, kam mit seinen mittellosen Eltern 1816 nach Chatham, im Winter 1822/23 nach London, war schwächlich und genoß keine gute Schulbildung, zeichnete sich aber schon als Kind durch eifriges Lesen von Romanen und Dramen aus. Eine Weile saß der Vater im Schuldgefängnis, und Charles machte in einem Geschäftshaus Pakete für 6 oder 7 Schilling die Woche. Dann besserten sich die Verhältnisse; Charles besuchte eine »Academy« in Hampstead Road, wurde Advokaturschreiber, wobei er Gelegenheit hatte, das englische Volksleben zu studieren, trieb zugleich im Britischen Museum literarische Studien, lernte stenographieren, bekam eine Stelle als Reporter und zeigte dabei so großes Geschick, daß er zur Mitarbeit an »The true sun« und später am »Morning Chronicle« herangezogen wurde. Im »Monthly Magazine«, »Morning Chronicle« und in ähnlichen Zeitschriften veröffentlichte er seit Dezember 1833 die Skizzen vom bunten Treiben der Hauptstadt, die er gesammelt als »Sketches of London« (1836, 2 Bde.) mit Zeichnungen von Cruikshank herausgab. Im August 1834 unterzeichnete er zum erstenmal einen Aufsatz mit Boz, einer Kinderform für Moses, wie sein jüngerer Bruder, Augustus, nach einem Knaben im »Vikar von Wakefield« gewöhnlich genannt wurde. Eine zweite Reihe »Sketches« folgte noch 1836. Seinen Ruhm aber gründete er durch die »Pickwick papers« (1836–37), die in wöchentlichen Heften mit Federzeichnungen von Cruikshank und Phiz erschienen und von allen Schichten der Gesellschaft mit Freude begrüßt wurden. Das Buch enthält lustige Abenteuer einiger Herren des Pickwickklubs, die auf einer Reise durch England die Sitten verschiedener Gesellschaftsklassen beobachten. Die Frische, Schwäche und Gutherzigkeit des Londoners (cockney) ist darin mit ebensoviel Menschenkenntnis als Gemütsteilnahme dargestellt, ja literarisch entdeckt worden. D. hat seinem Volke die Poesie des gewöhnlichen Lebens durch das Medium des Humors zum Bewußtsein gebracht. Am 2. Dez. 1836 heiratete D. Katharina, die Tochter eines Kollegen beim »Morning Chronicle«. Im Januar 1837 begann er einen zweiten Roman: »Oliver Twist«, eine Erzählung aus den untern Volksschichten (1837 bis 1839). Es folgten: »Nicholas Nickleby« (1839), noch erfolgreicher als die »Pickwickier«; »Master Humphrey's clock« (1840–41), eine Reihe von Erzählungen, in denen die Zeichnung von Leidenschaften und die Schilderung des oft hoffnungslosen Elends in den Fabrikstädten besonders ansprechen (aufgelöst in zwei Geschichten: »The old curiosity shop« und »Barnaby Rudge«), u. »Martin Chuzzlewit«, worin manche Früchte einer inzwischen unternommenen Reise nach Amerika eingestreut sind. Seine im Allgemeinen nicht günstigen Eindrücke von Amerika legte er in eignem Zusammenhang nieder in den »American notes« (1842). D. bewohnte nun ein hübsches Haus mit Garten am Regent's Park, wurde viel gefeiert, auch hoch bezahlt. Er blieb aber auch im Wohlstand ein Philanthrop und bewährte dies besonders durch seine Weihnachtsgaben: »A Christmas carol« (1843), »Chimes« (geschrieben in Italien, 1844), »The cricket oa the hearth« (1845), »Battle of life« (geschrieben am Genfer See, 1846); »The haunted man« (1848). Dazwischen entstand der Roman »Dombey and son« (1846–48), ein erschütterndes Bild bürgerlichen Lebens. Mit erstaunlicher Arbeitskraft ließ D. bereits 1849–50 den mehr autobiographischen Roman »David Copperfield« folgen, durch treffliche Charakterzeichnung und einen wahrscheinlichern Plan vor den andern Werken ausgezeichnet; ferner »Bleakhouse« (1852), »Hard times« (1853), »Little Dorrit« (1855), »Tale of two cities« (1859), »Great expectations« (1861), »Our mutual friend« (1864–65). Dazu gesellten sich journalistische Unternehmungen: er wurde 1845 Redakteur der neubegründeten liberalen Zeitung »Daily news«, in der er »Pictures of Italy« veröffentlichte, zog sich aber bald von dem Blatt zurück und begann 1849 die Herausgabe einer Wochenschrift: »Household words«, die Unterhaltung mit Belehrung verbinden sollte und, seit 1860 u. d. T.: »All the year round« erscheinend, ungemeine Verbreitung fand. Seine spätern Romane sind regelmäßig darin erschienen. Eine Ergänzung bildete das monatlich erscheinende -»Household narrative of current events«, eine Übersicht der Zeitgeschichte. »A child's history of England« (1852) ist eine behaglich geschriebene Geschichte Englands. In den von der »Literary guild«, einer Anstalt für altersschwache Schriftsteller, in den großen Städten gegebenen Theatervorstellungen entwickelte D. auch dramatisches Talent, wie er denn seit seiner Kindheit sich an Dilettantenschauspielen mit Lust beteiligte. Indes wirkten die Anstrengungen doch auf seine Gesundheit, um so mehr, als sich Verluste und Unbefriedigtheit in der Familie (Trennung von der Frau 1858) dazu gesellten; eine Rastlosigkeit befiel ihn, deren Spuren man in seinen Schriften zuerst in »Bleakhouse« bemerken will. Auf mannigfachen Reisen und in seinem Hause Gadshill Place, das er seit 1856 besaß und verschönerte, suchte er rastlos nach Erholung. Vollends verderblich wurden ihm die Vorlesungen aus seinen Werken, die er seit 1858 in Cyklen in London, der Provinz, Schottland, Irland und 1868 auch auf einer zweiten Reise nach Nordamerika hielt. Er gewann Ehren und ungeheure Honorare, fühlte sich aber oft am Ende seiner Kraft. Ein Blutaustritt im Gehirn führte schließlich seine Auflösung herbei. Er starb im geliebten Gadshill Place, während er an dem »Mistery of Edwin Drood« arbeitete, das deshalb Fragment blieb, und wurde in der Westminsterabtei beigesetzt. In den 12 Jahren nach seinem Tode wurden von seinen Werken über 4 Millionen in England verkauft. Die erste Sammelausgabe war schon 1847 begonnen worden. Die »Charles D. edition«, in Amerika unternommen, erschien in England 1868–70 u. ö.; 1881 in 21 Bdn.; die »Library edition« 1881 in 30 Bdn. Seine »Speeches, literary and social« veröffentlichte Shepherd (Lond. 1870, 2. Aufl. 1883), der auch die »Plays and poems« sammelte (das. 1882–85, 2 Bde.). Von Gesamtausgaben deutscher Übersetzungen sind zu erwähnen: die Webersche (von Roberts, Leipz. 1842–70, 125 Bde., illustriert), die Hoffmannsche (von Kolb u. a., Stuttg. 1855ff., 25 Bde.), die Seybtsche (Leipz. 1862, 24 Bde.), die Scheibesche (Auswahl, Halle 1892, 15 Bde.), die Schirmersche (von Heichen, Naumb. 1902ff., 34 Bde.). Zur Erläuterung seiner Schriften veröffentlichte Pierce ein »D. Dictionary« (2. Aufl., Boston 1878). D. schildert das Leben, die Charaktere der Weltstadt von den Gemächern der Aristokratie bis zur Dachstube oder den Kellern, wo die Armut und das Verbrechen wohnen, mit einer glücklichen Mischung von Satire und Gefühl, nicht ohne die Absicht, zu bessern und Mißbräuche zu beseitigen. Das Londoner Leben der mittlern und untern Stände ist seine eigentliche Sphäre; will er weiter hinauf und Bilder aus den höhern Ständen oder aus der Geschichte liefern, so mißlingt es ihm. Sein Pathos reicht aus, wahr und ergreifend den Tod eines Kindes zu schildern; eine tiefe Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, lag nicht in der realen Richtung seines Wesens. Seine Liebesszenen sind gern drollig, seine Verbrecher Ungeheuer. Nebenfiguren baut er sich auf aus einigen Eigentümlichkeiten, Launen, Sprechweisen. Von Frauengestalten weiß er alte Damen und Dienstboten gut zu schildern; seine Liebhaberinnen sind unbedeutend. Dagegen gelingt ihm die Zeichnung von Kindern meisterhaft, weil ihm bei allem Realismus der Sinn des Poeten für das Märchenhafte nicht abging. Dadurch wußte er selbst dem Häßlichen eine Anziehungskraft zu leihen und bei allem Realismus dezent zu wirken. Charakteristisch für seine Romane ist der Mangel an einheitlichem Plan, z. T. wahrscheinlich eine Folge davon, daß sie in Lieferungen erschienen; das Gedränge am Ende, wenn über Hals und Kopf abzuschließen ist, wird oft sehr fühlbar. Aber wie bei Walter Scott bleibt der Verfasser selber und um so mehr der Leser bis zum Ende in Spannung, wie es ausgehen wird. Sein Leben schrieben I. Forster (Lond. 1872–74, 3 Bde.; zuletzt 1891; deutsch von F. Althaus, Berl. 1872–75; in abgekürzter Ausg. von Gissing, Lond. 1898), Julian Schmidt (»Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit«, neue Folge, Leipz.1872), A. W. Ward (1882), Marzials (1887), Kitton (1902), Heichen (1902); vgl. auch Langton, Childhood and growth of D. (1891); G. Dolby, D. as I knew him (neue Ausg. 1900); R. Bluhm, Autobiographisches in »David Copperfield« (Leipz.1891); »The letters of Charles D.« (hrsg. von seiner Schwiegertochter und ältesten Tochter Lond. 1880, 3 Bde.); »Letters to Wilkie Collins« (das. 1892). Eine brauchbare »Bibliography of D.« lieferte Shepherd (Lond. 1880), zu ergänzen durch Kitton, Dickensiana (das. 1886), der auch »Minor writings of D.« herausgab (das. 1900) und in »The novels of D.« (1897) bequeme Inhaltsübersichten bot. Seinen Jugendeinflüssen ging Benignus nach (Straßb. 1894), seinen Beziehungen zu Addison Winter (Leipz. 1899), zu Fielding und Smollet Wilson (das. 1899).
Nach »Klein Dorrit«, dem Roman, der sich ganz mit dem Privatleben befaßt, nämlich mit der Seele eines reinen Kindes und seiner armen Umwelt, ließ Dickens 1859 die Erzählung »Zwei Städte« (Tale of two cities) folgen, die der Geschichte große Gegenstände zum Hintergrund der Handlung hat. Die zwei Städte sind London und Paris im Zeitalter der französischen Revolution, und wie nun Dickens diese schicksalsschwere Epoche, erlebt durch einzelne Menschen, darstellt, wie er den Widerhall dieses elementaren Gesellschaftsereignisses in London und in seiner Umwelt wiedergibt, das zeugt von einer schlechterdings kaum zu überbietenden Meisterschaft. Darum gibt es viele Literaturkenner, die dieses Werk Dickens' als seine beste Leistung überhaupt ansprechen.
Das tragische »Muß« der Revolution, ihre furchtbare Notwendigkeit wird von Dickens mit tiefem historischen Verständnis in seiner Darstellung aufgezeigt. Wenn die geduldigen unterdrückten Volksmassen nirgends Recht finden können, weil die herrschende Klasse in bösestem Egoismus ihnen keinen Raum zum Atmen läßt, dann wiederholt sich im Wandel der Jahrhunderte immer wieder das Phänomen der gewaltsamen Umwälzung und Befreiung. Dann aber springt mit dem Genius der Freiheit auch der Dämon der Gier und die Bestie im Menschen aus der Volksseele hervor, und die Ideen der Gleichheit und der Brüderlichkeit können sich nicht sündlos halten von pöbelhafter Blutgier. Die Sünde der Reichen wird heimgesucht an deren unschuldigen Kindern, und aus eben jener Sünde der Reichen erwächst die Sünde der Armen in Formen furchtbarer Rache. Das Geschlecht der Evrémondes hat in frivoler Genußsucht entsetzlich an den Untergebenen gesündigt, und nun führt Dickens aus, wie die Strafe oder die Vergeltung deren schuldlose Nachfahren trifft. Dickens zeigt, welche verheerende Wendung die Revolution bei den rasenden Volksmassen nimmt. Er malt die furchtbaren Tage, da die Guillotine ihre Triumphe feiert; aber er zeigt auch dem Adel, dessen Sittenlosigkeit und Tyrannei zu alledem führte, seine Schuld, seine Riesenschuld. Er schildert zuständlich; er ist mit ganzem Herzen dabei, ohne einseitig Partei zu nehmen. Er ist Dichter und »steht auf einer höhern Warte, als auf der Zinne der Partei«. Er ist »dichterisch-objektiv«, und darum ergreift dieses Werk den Leser in so besonderem Maße, weil dieser dadurch unmittelbar in die Tragik des Menschenlebens geschichtlich großen Stils geführt wird. Der Roman bietet hier dasselbe Beste, was das Drama hervorragenden Formats zu bieten hat: die Frage an das Weltenschicksal, das Warum, das uns auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, erschüttert und erhebt. – Nur am Rande angemerkt sei auch hier wieder die meisterliche Zeichnung der lebensechten Figuren. – Dadurch, daß das Ganze durch die Bande der Liebe nach England hinüberspielt, erhalten wir zugleich ein eindrucksvolles Spiegelbild der französischen Revolution im englischen Geistes- und Kulturleben.
Bei diesem vorletzten Band der Dickens-Werke aus dem Gutenberg-Verlag hat ebenso wie bei dem letzten Bund, der die Weihnachtserzählungen bringt, Frau Clara Weinberg dem Herausgeber bei der Textrevision freundlichst mitgeholfen. P. Th. H.
Es war die beste und die schönste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis. Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, die Periode glich der unsrigen so wenig, daß ihre lärmendsten Tonangeber im Guten wie im Bösen nur den Superlativgrad des Vergleichens auf sie angewendet wissen wollten.
Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem mächtigen Kieferwerk und eine Königin mit einem einfachen Gesicht. Den Thron von Frankreich zierte ein Herrscherpaar von ganz den nämlichen Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es der königlichen Umgebung, Mundschenk, Truchseß und so weiter, klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.
Es war das Jahr unsere« Herrn Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade geistiger Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag zurückgelegt, auf dessen erhabenes Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt halten, daß London und Westminster von der Erde verschlungen werden würden. Sogar der Hahnengassengeist war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem er seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letztabgelaufenen Jahr noch getan, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im irdischen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen und haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluß auf das menschliche Geschlecht geübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.
Mit Frankreich, das, was geistige Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt ist als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und hurtig bergab, indem es Papiergeld machte und es verjubelte. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Belustigungen, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der unter strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Staub knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Junge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der bäuerlichen Gehöfte von ländlichem Staub bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnersteigen dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution herbeizuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit; aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser, denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.
In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, nicht aufs Land zu ziehen, ohne daß sie vorher ihre Einrichtung in einem Speditionsgeschäft geborgen hatten. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als »Kapitän« anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihn ritterlich durch den Kopf und spornte sein Roß weiter. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Führer schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den andern vieren, »weil ihm die Munition ausgegangen war«, und nun erst konnte der Wagen mit Behaglichkeit geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber standhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg. Musketiere zogen nach St. Giles, um nach Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in der gleichen Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein andermal sein Amt Samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dem Dutzend nach Leuten die Hand brandmarkte. morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab, und dann wieder einen trotzigen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, in die Ewigkeit beförderte.
Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endigten in dem lieben alten Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Kieferwerke und jenes Paar einfacher schöner Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesenheiten, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.
Es war die Doverstraße, die an einem Freitag des November spät abends vor der ersten der Personen lag, mit denen unsere Erzählung zu schaffen hat, und auf derselben Straße wackelte auch die Postkutsche von Dover Shooter's Hill hinan. Die Person stampfte gleich den übrigen Personen neben dem Wagen im Schlamm bergan – nicht weil den Umständen nach ein Spaziergang besonderes Vergnügen gewährte, sondern weil die Steigung so jäh, das Pferdegeschirr so lästig, der Schmutz so tief und die Kutsche so schwer war, daß die Rosse schon dreimal hatten halten müssen und außerdem einmal sogar die meuterische Absicht verraten hatten, mit Sack und Pack wieder nach Blackheath umzukehren. Doch kannten Zügel und Peitsche, Postknecht und Schaffner gemeinsam jenen Kriegsartikel, der die Annahme verbot, daß es mit Verstand begabte Tiere gäbe; und obgleich dieser Satz eher eine schonende Behandlung begründen sollte, hatte man doch durch die gegenwärtige erzielt, daß das Gespann kapitulierte und zu seiner Pflicht zurückkehrte.
Mit gesenkten Köpfen und zitternden Schweifen arbeiteten sich die Pferde durch den tiefen Straßenschlamm, indem sie zwischenhinein zappelten und strauchelten, als wolle bei ihnen alles aus den Gelenken gehen. Sooft der Kutscher sie mit einem behutsamen »Oha!« haltmachen ließ, schüttelte das nächste Handpferd ungestüm den Kopf und das dahinter befindliche Geschirr, gleichsam um mit ungewöhnlicher Emphase anzudeuten, daß die Kutsche da nicht hinaufzubringen sei. Und wenn das Roß in solcher Weise rasselte, fuhr der Passagier, wie ängstliche Reisende zu tun pflegen, zusammen und zeigte eine traurige Miene.
Auf allen Taleinschnitten lag ein qualmender Nebel, der sich in seiner Trübseligkeit bergan wälzte wie ein böser Geist, der Ruhe sucht, ohne sie finden zu können. Er war feucht und ungemein kalt und bewegte sich in langsam aufeinanderfolgenden kleinen Wellenzügen, denen eines faulen Seestriches nicht unähnlich, durch die Luft. Sein Gewölk ließ das Licht der Kutschenlaternen nur auf ein paar Schritte unterscheiden, und der Dampf der sich abmühenden Pferde ging darin auf, so daß man meinen konnte, die abgehetzten Tiere seien die Quelle des ganzen Nebelmeeres.
Außer den gedachten Reisenden schritten noch zwei andere neben der Kutsche her. Alle drei waren bis über die Ohren verhüllt und trugen Stulpenstiefel. Keiner davon hätte nach dem Augenschein sich ein Urteil über das Aussehen des andern bilden können, und jeder war gegen die Geistesaugen seiner beiden Mitpassagiere ebenso verhüllt wie gegen ihre leiblichen. In jenen Tagen hütete man sich wohl vor allzu schneller Vertraulichkeit, da jeder, dem man auf der Straße begegnete, ein Räuber oder der Verbündete von Räubern sein konnte. Mit Charakteren der letzteren Gattung traf man besonders leicht zusammen, denn jedes Posthaus, jede Schenke konnte jemanden aufweisen, der im Solde des »Kapitäns« stand, mochte es nun der Wirt selbst oder irgendein unscheinbarer Stallbediensteter sein. So dachte auch der Lenker der Doverpost an jenem Freitagabend des Novembers Siebzehnhundertfünfundsiebzig, während er, Shooters Hill hinanholpernd, in seinem Kasten hinten auf dem Wagen stand, sich die Füße klopfte und weder Auge noch Hand von der Truhe vor ihm verwandte, in der auf einem Unterbau von Stutzsäbeln ein geladener Musketon und sechs oder acht geladene Reiterpistolen lagen.
Die Doverpost befand sich wie gewöhnlich in der angenehmen Lage, daß der Wagenführer die Reisenden und jeder Reisende seine Mitpassagiere und den Wagenführer, kurz, einer den andern beargwöhnte und der Postillion sich auf niemand als auf seine Pferde verlassen mochte, obschon auch er, sofern das liebe Vieh in Frage kam, es mit gutem Gewissen auf beide Testamente hätte beschwören können, daß es nicht für eine solche Reise paßte.
»Oha!« rief der Postillion. »So recht. Jetzt nur noch einen Zug, und ihr seid droben. Hol' euch der Teufel dafür, denn ich habe Not genug gehabt, euch hinaufzubringen. – Joe!« »Holla!« entgegnete der Wagenführer. »Wieviel Uhr schätzt Ihr, Joe?« »Gut zehn Minuten über elf.« »Oh, Mord und Tod«, rief der Postknecht ärgerlich, »und noch nicht einmal auf dem Shooter. Zu – hü! Vorwärts mit euch!«
Das emphatische Pferd, das in einem Akt der entschlossensten Verneinung von der Peitsche erreicht worden war, fing wieder kräftig an zu klettern, und die drei andern Rosse folgten seinem Beispiel. Noch einmal arbeitete sich die Doverpost vorwärts, und die Stulpstiefel der Reisenden klatschten nebenher. Sie hatten mit dem Wagen haltgemacht und demselben treulich Gesellschaft geleistet. Wäre einem von den dreien der vermessene Gedanke gekommen, den andern den Vorschlag zu machen, sie wollten in Dunkel und Nebel ein wenig vorausgehen, so hätte er sich damit sicher der Gefahr ausgesetzt, auf der Stelle als Straßenräuber niedergeschossen zu werden.
Der letzte Anlauf brachte den Postwagen auf die Höhe des Berges. Die Pferde hielten wieder an, um sich zu verschnaufen, und der Wagenlenker stieg ab, um für die kommende Bergsenkung den Radschuh einzulegen und den Passagieren den Kutschenschlag zu öffnen.
»Pst, Joe!« sagte der Postillion in warnendem Ton, indem er von seinem Bock niederschaute.
»Was wißt Ihr, Tom?«
Beide lauschten.
»Ich höre ein Pferd uns nachtraben, Joe.«
»Und ich sag', es galoppiert, Tom«, versetzte der Wagenlenker, indem er seinen Schlag losließ und hurtig nach seinem Platz hinaufkletterte. »Meine Herren, in des Königs Namen, geschwind eingestiegen!«
Der für unsere Geschichte vorgemerkte Passagier stand eben auf dem Kutschentritt und wollte hinein; die beiden andern hielten sich dicht hinter ihm und waren im Begriff, ihm zu folgen. Der erstere blieb halb in, halb außer der Kutsche auf seinem Tritt, das andere Paar drunten auf der Straße. Sie alle blickten lauschenden Ohrs von dem Postillion auf den Wagenführer und von dem Wagenführer auf den Postillion. Beide gaben ihnen die Blicke zurück, und selbst das emphatische Pferd spitzte die Ohren und schaute rückwärts, ohne einen Widerspruch zu erheben.
Die Stille, die auf das Aufhören des Rädergerassels und Rossegestampfs folgte, machte das Schweigen der Nacht nur um so eindrucksvoller. Das Schnauben der Pferde teilte der Kutsche eine zitternde Bewegung mit, als befände sie sich in einem Zustand von Aufregung. Die Herzen der Passagiere klopften vielleicht hörbar laut. Jedenfalls erzählte die stille Pause sehr verständlich von Leuten, die außer Atem waren, aber gleichwohl keine Luft einzuziehen wagten und unter beschleunigtem Herzschlagen dessen harrten, was da kommen sollte.
Man hörte, daß ein Pferd in wütendem Galopp den Berg hinaufjagte.
»Oho!« brüllte der Wagenlenker, so laut er konnte, in die Nacht hinaus. »Ihr dort – halt! – oder ich gebe Feuer!«
Der Hufschlag hielt plötzlich inne, und mit Not kämpfte sich die Stimme eines Mannes durch den Nebel: Ist das die Dover-Post?«
»Was kümmert's Euch, wer wir sind?« entgegnete der Wagenlenker. »Wer seid Ihr?«
»Ich frage, ob dies die Dover-Post ist.«
»Wozu braucht Ihr dies zu wissen?«
»Ich will zu einem ihrer Passagiere.«
»Wie heißt der Passagier?«
»Mr. Jarvis Lorry.«
Der Reisende auf dem Tritt ließ sogleich merken, daß dies sein Name sei. Der Wagenlenker, der Postillion und die beiden andern Passagiere betrachteten ihn mißtrauisch.
»Bleibt, wo Ihr seid«, rief der Wagenlenker der Stimme im Nebel zu, »denn wenn mir aus Versehen etwas passiert, so könnt' ich's Eurer Lebtage nicht wieder gutmachen. Der Gentleman namens Lorry soll unumwunden antworten.«
»Was gibt's!« fragte darauf der Passagier mit leiser, unsicherer Stimme. »Wer will etwas von mir? Ist es Jerry?«
»Die Stimme dieses Jerry gefällt mir gar nicht, wenn er wirklich so heißt«, brummte der Wagenlenker vor sich hm. »Der Jerry ist heiserer, als mir lieb ist.«
»Ja, Mr. Lorry.«
»Was gibt's?«
»Man hat mich Euch mit einer Depesche nachgeschickt. Von T. und Co.«
»Ich kenne diesen Boten, Schaffner«, sagte Lorry, wieder auf die Straße hinaustretend, wobei ihm die beiden andern Passagiere, die nicht geschwind genug in die Kutsche kommen, den Schlag schließen und das Fenster aufziehen konnten, von hinten her hurtiger, als sich eben mit der Höflichkeit vertrug. Beihülfe leisteten. »Laßt ihn herankommen: es ist nichts Unrechtes.«
»Ich will's hoffen, bin aber noch nicht so fest überzeugt davon«, sprach der Wagenlenker rauh vor sich hin. »He, Ihr!«
»Nun, was soll's?« entgegnete Jerry, noch heiserer als zuvor.
»Reitet im Schritt heran – habt Ihr mich verstanden? Und wenn Ihr an Eurem Sattel Halfter habt, so kommt mir ihnen mit der Hand nicht zu nahe; denn ich habe verteufelt hurtig etwas versehen, und wenn es geschieht, so nimmt es die Form des Bleis an. So, jetzt laßt mich Euch mustern.«
Die Gestalt des Reiters kam langsam durch den wirbelnden Nebel gegen die Seite des Postwagens her, wo der Reisende stand. Dann machte der Fremde halt, blickte zu dem Schaffner auf und händigte dem Passagier ein Brieflein ein. Das Roß des Boten schnaubte mächtig, und Mann und Tier waren vom Huf bis zur Hutspitze mit Schmutz bespritzt.
»Schaffner«, sagte der Passagier im Tone ruhiger Geschäftszuversicht.
Der wachsame Schaffner, der die Rechte am Schaft, die Linke am Lauf seines Musketons hatte und kein Auge von dem Reiter verwandte, antwortete kurz:
»Sir!«
»Es ist nichts zu befürchten. Ich gehöre zu Tellsons Bank. Ihr müßt Tellsons Bank in London kennen. Ich reise in Geschäftsangelegenheiten nach Paris. Hier ein Krone Trinkgeld. Darf ich dies lesen?«
»So macht nur rasch, Sir.«
Er trat an die auf seiner Seite brennende Kutschenlaterne, öffnete das Schreiben und las – zuerst für sich, dann laut:
»›Wartet in Dover auf Mamsell.‹ Ihr seht, dies ist nicht lang, Schaffner. Jerry, sagt, meine Antwort darauf sei: Ins Leben zurückgerufen.«
Jerry richtete sich in seinem Sattel auf. »Das ist eine verwettert kuriose Antwort«, sagte er in seinem heisersten Tone.
»Richtet da« aus, und man wird daraus ersehen, daß ich den Brief erhalten habe, ohne daß ich Euch eine schriftliche Antwort mitgebe. Jetzt macht, daß Ihr wieder zurückkommt. Gute Nacht.«
Mit diesen Worten öffnete der Passagier den Wagenschlag und stieg ein. Diesmal halfen ihm seine Reisegefährten nicht, sondern taten, als ob sie schliefen, nachdem sie zuvor mit aller Behendigkeit Uhren und Börsen in ihren Stiefeln verborgen hatten. Ihr angeblicher Schlummer sollte sie wohl nur vor der Gefahr bewahren, zu einer andern Art von Tätlichkeit Anlaß zu geben.
Die Kutsche holperte wieder weiter, und da es jetzt bergab ging, wurde der Nebel immer dichter. Der Wagenführer legte den Musketon wieder in die Truhe, musterte ihren übrigen Inhalt, sah nach den Pistolen, die er noch als Zugabe in seinem Gürtel stecken hatte, und visitierte dann einen kleineren Behälter unter seinem Sitz, in dem sich einige« Schmiedegeräte, ein paar Fackeln und eine Zunderbüchse befanden. Er war nämlich mit solcher Sorgfalt ausgestattet worden, um für den hin und wieder vorkommenden Fall, daß die Kutschenlichter vom Sturm ausgeblasen würden, sich einschließen und unter Vermittlung von Stahl und Stein mit leidlicher Sicherheit und Gemächlichkeit, wenn's gut ging, binnen fünf Minuten ein Licht zustande bringen zu können.
»Tom!« flüsterte es über das Kutschendach herunter.
»He, Joe?«
»Habt Ihr gehört, was da ausgerichtet werden soll?«
»Ja, Joe.«
»Was denkt Ihr Euch dabei, Tom?«
»Nichts, Joe.«
»Wie das so seltsam zusammentrifft«, sagte der Schaffner vor sich hin. »Mir geht es gerade ebenso.«
Sobald Jerry sich in Nacht und Nebel allein sah, stieg er ab, nicht nur, um es seinem Pferd leichter zu machen, sondern auch um sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen und aus seinem Hutstulp die angesammelte große Wassermenge zu schütteln. So stand er, die Zügel seines Tieres über den schwer besudelten Ärmel geschlungen, da, bis er von dem weiterrollenden Postwagen nichts mehr hörte und die Nacht wieder mäuschenstill geworden war. Dann wandte er sich, um zu Fuß bergab zu gehen.
»Nach dem Galopp von Temple Bar her mag ich mich deinen vier Beinen nicht mehr anvertrauen, alte Mähre, bis ich dich wieder in der Ebene habe«, sagte der heisere Bote, sein Tier betrachtend. »»Ins Leben zurückgerufen«. Das ist eine verteufelt kuriose Botschaft, und du könntest dich nicht auf viele dergleichen einlassen, Jerry. Laß dir sagen, Jerry, du kämest in eine verzweifelt schlechte Karriere, wenn das Ins-Leben-Zurückrufen zur Mode würde.«
Es ist eine wunderbare, des Nachdenkens werte Tatsache, daß jedes menschliche Wesen seiner Eigenart nach für andere zu einem tiefen Geheimnis wird. Wenn ich nachts in einer großen Stadt anlange, so erfüllt es mich mit hehren Gedanken, daß jedes von jenen dunkel aufeinander gehäuften Häusern sein eigenes Geheimnis einschließt und jedes klopfende Herz in den Hunderttausenden von menschlichen Wesen irgendeine heimliche, ihm besonders teure Vorstellung birgt. Selbst das Grausen, das uns der Tod einflößt, hat in diesem Umstand seinen Grund. Ich kann nicht mehr in dem mir teuer gewordenen Buche blättern und darf nicht hoffen, es mit der Zeit zu Ende zu lesen. Ich soll nicht mehr schauen in die Tiefen des unergründlichen Wassers, in dem ich, je nachdem es durch augenblickliche Lichter erhellt wurde, manchen weit unter der Oberfläche befindlichen Schatz erschaute. Das Schicksal wollte es, daß das Buch sich schloß und für immer mit einer unlöslichen Klammer versehen ward, nachdem ich kaum eine Seite gelesen hatte. Es war bestimmt, daß das Wasser den starren Banden ewigen Eises verfiel, als das Licht noch auf seiner Oberfläche spielte und ich in ahnungsloser Unwissenheit am Ufer stand. Mein Freund ist tot, mein Nachbar ist tot, meine Liebe, der Schatz meiner Seele, ist tot. Wir haben da die unerbittliche Fortdauer eines Geheimnisses, das stets in jeder Persönlichkeit war und das ich bis zum Ende meines Daseins in die meinige übertragen habe. Und gibt es wohl auf irgendeinem Friedhof dieser Stadt, den ich durchwandle, einen Schläfer, der unerforschlicher wäre, als es mir der innern Persönlichkeit nach ihre rührigen Bewohner sind oder ich es ihnen bin?
Was dieses natürliche, unveräußerliche Erbe betrifft, so besaß es der Bote auf seinem Roß ebensogut wie der König, der erste Staatsminister oder der reichste Kaufmann von London. Nicht anders erging es den drei im engen Raum einer holperigen alten Postkutsche eingeschlossenen Passagieren, die sich wechselseitig so vollkommene Geheimnisse waren, als führen sie stundenweit voneinander jeder in einer eigenen sechsspännigen Equipage.
Der Bote ritt in leichtem Trab wieder zurück und hielt dabei fleißig vor den Wirtshäusern, um sich einen Trunk zu holen, zeigte aber dabei eine entschiedene Neigung, nicht viel Worte zu verschwenden und den Hutrand über den Augen aufgestülpt zu tragen. Freilich hatte er Augen, denen eine solche Dekoration recht gut stand: denn sie waren dunkel auf der Oberfläche, ohne Tiefe in Form oder Farbe und viel zu nah beieinander, als fürchte jedes, über etwas ertappt zu werden, wenn sie nicht treu zusammenhielten. Sie hatten einen finstern Ausdruck, und der alte Hut saß über ihnen wie ein dreieckiger Spucknapf, während unter ihnen die Flügel der dicken, Kinn und Hals umhüllenden Halsbinde fast bis zu den Knien niederfielen. Wenn er zu einem Trunk haltmachte, drückte er, solange er mit der Rechten sich den Branntwein in die Kehle goß, mit der Linken seine Hülle nieder, zog sie aber, sobald er sich angefeuchtet hatte, augenblicklich wieder in die Höhe.
»Nein, Jerry, nein«, fuhr der Bote auf seinem Ritt in dem alten Thema fort, »das wäre nichts für dich, Jerry. Du bist ein ehrlicher Handwerksmann, Jerry, und dies paßt nicht in deinen Kram. Zurückgerufen –! Ei der Kuckuck, man sollte meinen, er sei ein Trinker gewesen.«
Der Auftrag verwirrte ihm den Sinn dermaßen, daß er mehrmal den Hut abnehmen mußte, um sich den Kopf zu kratzen. Sein Scheitel war elend kahl; sonst aber hatte er ein steifes schwarzes Haar, das sich überall borstig emporsträubte und fast bis zu seiner stumpfen Nase bergab wuchs. Der Kopf schien aus einer Schlosserwerkstatt zu kommen; denn er sah weit eher einer oben mit Spitzeisen geschirmten Mauer als einem natürlichen Schopf ähnlich, so daß der beste Laubfroschspringer es abgelehnt haben würde, über diesen allergefährlichsten Menschen von der Welt einen Satz zu machen.
Während er mit dem Auftrag, den er durch den Wächter im Portierstübchen neben der Haustür von Tellsons Bank bei Temple Bar an die vornehmeren Personen drinnen ausrichten zu lassen hatte, seines Weges trabte, nahmen die Schatten der Nacht für ihn lauter Gestalten an, die aus seiner Botschaft hervorzuquellen schienen, während sie für sein Roß Umrisse gewannen, die aus dessen Privatbesorgnissen entsprangen. Letztere mußten wohl sehr zahlreich sein: denn das Tier scheute vor jedem Schatten am Wege.
Wie lange holterte und polterte, rasselte und schulterte der Postwagen mit seinen drei unerforschlichen Personen im Innern auf dem langweiligen Weg dahin! Und wem enthüllten sich die Schatten der Nacht in den Formen, die die schimmernden Augen und die unsteten Gedanken an die Hand gaben?
Tellsons Bank kam dabei in dem Postwagen nicht zu kurz. Während der Bankpassagier, den einen Arm durch die Riemenschlinge gezogen, die das ihrige tat, um ihn vor einem Zusammenstoß mit dem Nachbar oder vor einem Wurf in die Ecke zu bewahren, wenn die Kutsche einen besonders schweren Stoß erlitt, mit halbgeschlossenen Augen auf seinem Sitze nickte, wurden für ihn die kleinen Kutschenfenster, die durch dieselben trüb hereinblinkenden Kutschenlichter und der mächtige Reisesack des gegenübersitzenden Passagiers zu einer Bank mit eifrigem Geschäftsbetrieb. Das Rasseln des Pferdegeschirrs war das Geklingel des Geldes, und in fünf Minuten wurden mehr Wechsel bezahlt, als Tellson trotz seiner ausgedehnten in- und ausländischen Geschäftsverbindungen in dreimal soviel Zeit auszuzahlen gewöhnt war. Dann taten sich Tellsons unterirdische feste Räume mit ihren wertvollen Schätzen und Geheimnissen, wie sie dem Passagier bekannt waren – und er wußte nicht wenig davon – vor ihm auf. Er ging, die großen Schlüssel und das matt brennende Licht in der Hand, darunter umher und fand alles so sicher und wohlverwahrt, so still und in Ordnung, wie er es zuletzt gesehen hatte.
Aber obschon die Bank unablässig in seiner Phantasie arbeitete und auch der Postwagen ihn stets in unklarer Weise, wie etwa ein Schmerz, wenn man ein Betäubungsmittel genommen hat, an seine Gegenwart erinnerte, so war doch auch noch ein anderer Gedankenstrom vorhanden, der ihm die ganze Nacht hindurch keine Ruhe ließ. Er befand sich auf dem Weg, jemanden aus dem Grabe herauszugraben.
Die Schatten der Nacht zeigten ihm allerdings unter der Menge der Gesichter, die sie ihm vorführten, das wahre der begrabenen Person nicht. Dafür aber vergegenwärtigten ihm alle die Umrisse eines Mannes von fünfundvierzig Jahren, die hauptsächlich durch den Ausdruck der Leidenschaften und ihres unheimlichen Wesens sich voneinander unterschieden. Stolz, Verachtung, Trotz, Starrsinn, Unterwürfigkeit und Jammern folgten der Reihe nach. Ebenso der Wechsel in den eingesunkenen, leichenfahlen Wangen und in den abgezehrten Körperformen. Das Gesicht blieb jedoch in der Hauptsache dasselbe, und jeder der Köpfe war vor der Zeit weiß geworden. Wohl hundertmal fragte der schlummernde Reisende dieses Gespenst:
»Wie lange schon begraben?«
Und jedesmal lautete die Antwort in der gleichen Weise:
»Fast achtzehn Jahre.«
»Habt Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«
»Längst.«
»Ihr wißt doch, daß Ihr ins Leben zurückgerufen seid?«
»So höre ich.«
»Ich hoffe, dies hat noch einen Wert für Euch?«
»Ich weiß darauf nichts zu sagen.«
»Soll ich sie Euch zeigen? Wollt Ihr mich zu ihr begleiten?«
Die Antworten auf diese Frage waren verschieden und widersprechend. Bisweilen lautete die gebrochene Erwiderung: »Halt! Es würde mich töten, wenn ich sie zu bald sähe.« Ein andermal wurde sie durch einen milden Tränenregen eingeleitet und klang: »Nehmt mich zu ihr.« Bisweilen folgte auf die Frage ein wirres Glotzen und die Entgegnung: »Ich kenne sie nicht – verstehe Euch nicht.«
Unter solchem eingebildeten Zwiegespräch konnte der Passagier in seiner Phantasie graben, graben und graben – jetzt mit einem Spaten, jetzt mit einem großen Schlüssel, oder wohl gar mit den Händen – um das unglückliche Wesen herauszuschaffen. Und war es endlich, Gesicht und Haare mit Erde beklebt, gehoben, so verfiel es plötzlich wieder zu Staub. Der Passagier konnte dann zusammenfahren und das Fenster niederdrücken, um sich durch den Regen und Nebel, die seine Wangen feuchteten, an die Wirklichkeit erinnern zu lassen.
Doch selbst wenn seine Augen sich für den Nebel und Regen, für den beweglichen Lichtstreifen auf der Straße und für die stoßweise weiter und weiter zurückweichenden Heckenpartien am Wege auftaten, pflegten die Nachtschatten außerhalb der Kutsche mit dem Gang der Nachtschatten im Innern wieder zusammenzutreffen. Da stand vielleicht das wirkliche Bankhaus bei Temple Bar, das wirkliche Geschäft des abgelaufenen Tages, der feste Kellerraum, der ihm nachgeschickte Eilbote und die Antwort, die er durch ihn zurücksagen ließ. Und mitten aus diesen Bildern trat dann wieder das gespenstige Gesicht hervor, das er abermals anredete:
»Wie lange schon begraben?«
»Fast achtzehn Jahr.«
»Ich hoffe, das Leben hat noch einen Wert für Euch.«
»Weiß nicht.«
Und er grub, grub, grub immerfort, bis ihn einer der Mitreisenden durch eine ungeduldige Bewegung mahnte, er solle das Fenster wieder aufziehen. Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.
»Wie lange schon begraben?«
»Fast achtzehn Jahre.«
»Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?«
»Längst.«
Diese Worte klangen noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.
Er ließ das Fenster nieder und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits desselben sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.
Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Royal-George-Hotel den Kutschenschlag. Er tat dies mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel; denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.
Diesmal galt der Glückwunsch nur einem einzigen Passagier; denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, in den dichten, zottigen Umhüllungen, den niederhängenden Hutkrempen und den schmutzbespritzten Beinen den dazu gehörigen Hund vorstellen konnte.
»Geht morgen ein Paketschiff nach Calais, Kellner?«
»Ja, Sir, wenn das Wetter hält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Ein Bett, Sir?«
»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Doch wünsche ich ein Schlafzimmer zu haben. Schickt mir einen Barbier.«
»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn's beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentleman und heiß Wasser auf Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel ab! Ihr werdet ein schönes Seekohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier auf Concord! Hurtig da, auf Concord.«
Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen und ließ in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, die interessante Beobachtung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder herauskamen. Als daher zufällig ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin an unterschiedlichen Punkten des Weges zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer einherschlenderten, sahen sie einen Gentleman von etwa sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen, braunen Anzug mit breiten Ärmelaufschlägen und großen Taschen auftauchen, um unten sein Frühstück einzunehmen.
Selbigen Vormittag barg das Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war von dem Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen.
Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und exakt aus, und eine laute Uhr tickte in seiner Westentasche eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter zu dem Leichtsinn und der raschen Vergänglichkeit der lodernden Flamme in einen Gegensatz bringen. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Stutzperücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfädchen als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach in Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein an Ruhe gewöhntes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und abgemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.
Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:
»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier anlangen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«
»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«
»Ja.«
»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Besuch, Sir. Tellson und Kompanie lassen außerordentlich viel reisen, Sir.«
»Ja. Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Geschäftshaus.«
»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«
»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir – seit ich – meine letzte Reise nach Frankreich machte.«
»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause; auch mein Chef noch nicht, Sir. Der George befand sich zu jener Zeit in andern Händen, Sir.«
»Ich glaube das gern.«
»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«
»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne weit gegen die Wahrheit zu verstoßen.«
»Wirklich, Sir?«
Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tisch zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine imposante Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachturm oder einer Sternwarte aus, nach dem stereotypen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.
Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Ufer zu machen. Die kleine, schmale, winkelige Stadt Dover lag kaum beachtenswert an der Küste hin und verbarg wie eine Art Meeresanemone ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie vermochte; und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische brauchten darin eine Luftkur, wie die kranken Menschen im Wasser drunten einer Seekur obzuliegen pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr müßigen Spaziergängern zum Tummelplatz, die abends, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, sich am Anblick des Meeres vergnügen wollten. Kleine Gewerbsleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Lampenanzünder ausstehen konnte.
Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Feuer des Kaffeezimmers saß, und wie am Morgen auf das Frühstück, so jetzt auf das Diner wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig mit Graben, Graben und Graben in den glühroten Kohlen.
Eine Flasche guten Bordeaux' nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, indem sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas voll eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in dem Wirtshaushof haltmachte.
Er stellte das Glas ungekostet wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber:
»Dies ist die Mamsell.«
Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellson zu empfangen.«
»So bald?«
Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellson sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.
So blieb dem Gentleman von Tellson keine andere Wahl, als mit einer Miene stummer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner in Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so, daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte diesen Hausrat so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jedem Tischblatt düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und könne kein der Rede wertes Licht von ihnen erlangt werden, bevor sie ausgegraben wären.
Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Bodenteppich leiten ließ, schon glaubte, Miß Jeanette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn in einem Reitkleid, die den Strohreisehut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen eine Miene anzunehmen, die nicht gerade ein Ausdruck von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Eigenarten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei seiner Fahrt über eben diesen Dover-Kanal bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauch auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom toten Meer darbrachten. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.
»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.
»Ich küß' Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren eines früheren Datums, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.
»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht –«
»Das Wort ist nicht wesentlich. Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«
»Das kleine Eigentum meines Vaters betreffend, den ich nie sah und der schon lange tot ist.«
Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen konnten in ihren abgeschmackten Körben!
»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und daselbst gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit auch nach Paris geschickt worden sei.«
»Der bin ich.«
»Das habe ich erwartet, Sir.«
Sie machte einen Knix gegen ihn (damals knixten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.
»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, diesem Auftrag unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«
»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry. »Und noch glücklicher wird mich seine Ausführung machen.«
»Ich danke Euch, danke Euch von ganzem Herzen, Sir. Man hat mir in der Bank gesagt, der Herr werde mir die ganze Angelegenheit auseinandersetzen, und ich müsse mich darauf gefaßt machen, überraschende Dinge zu hören. Ich habe mein Bestes getan, um mich darauf vorzubereiten, und bin natürlich in hohem Grade auf Eure Mitteilungen gespannt.«
»Natürlich«, versetzte Mr. Lorry. »Ja – ich –«
Nach einer Pause fügte er, die Perücke gegen das Ohr rückend, bei:
»Es ist sehr schwer, den Anfang zu finden.«
Und so fing er lieber nicht an, begegnete aber in seiner Unschlüssigkeit ihrem Blicke. Die junge Stirn furchte sich zu jenem eigentümlichen Ausdruck, der zwar auffallend, aber doch hübsch und charakteristisch war; dabei erhob sie ihre Hand, als greife sie mit dieser unwillkürlichen Bewegung nach einem flüchtigen Schatten oder wolle ihn festhalten.
»Seid Ihr mir ganz fremd, Sir?«
»Bin ich's nicht?«
Mr. Lorry öffnete seine Hände und streckte sie mit einem beweisführenden Lächeln aus.
Die Linie zwischen den Brauen und unmittelbar über dem Mädchennäschen, die so zart und fein wie nur immer möglich war, wurde ausdrucksvoller, als sie nachdenkend sich auf den Stuhl niederließ, neben dem sie bisher gestanden hatte. Er verwandte keinen Blick von dem gedankenvollen Wesen, und sobald sie ihre Augen wieder erhob, fuhr er fort:
»Ich vermute, daß ich in Eurem Adoptivvaterland nichts Besseres tun kann, als wenn ich mich gegen Euch wie gegen eine junge englische Lady benehme, Miß Manette?«
»Wenn es Euch so beliebt, Sir.«
»Miß Manette, ich bin ein Geschäftsmann und als ein solcher beauftragt, ein Geschäft auszurichten. Diesem meinem Auftrag gegenüber braucht Ihr mich nicht anders zu betrachten, als ob ich eine sprechende Maschine sei – in der Tat, ich bin auch kaum etwas anderes. Mit Eurer Erlaubnis, Miß, will ich Euch die Geschichte eines unserer Kunden erzählen.«
»Geschichte?«
Er schien absichtlich das Wort, das sie wiederholt hatte, mißzuverstehen, indem er hastig fortfuhr:
»Ja, eines Kunden. Im Bankgeschäft nennen wir gewöhnlich diejenigen, die mit uns in Geldbeziehungen treten, unsere Kunden. Er war ein Herr aus Frankreich, ein Gelehrter, ein Mann von ausgedehnten Kenntnissen, ein Doktor.«
»Nicht aus Beauvais?«
»Nun ja, von Beavoais. Gleich Eurem Vater, dem Monsieur Manette, war der Herr aus Beauvais und wie Euer Vater auch in Paris sehr angesehen. Ich hatte die Ehre, ihn dort kennenzulernen. Unsere Beziehungen waren geschäftlicher, aber doch vertraulicher Art. Ich arbeitete damals in unserem französischen Haus und wäre nicht – oh! zwanzig Jahre.«
»Damals, Sir – darf ich fragen, was Ihr mit diesem damals meint?«
»Ich spreche von der Zeit vor zwanzig Jahren, Miß. Er heiratete – eine englische Dame –, und ich war einer der Administratoren. Seine Angelegenheiten befanden sich wie die vieler französischer Herren und Familien ganz in Tellsons Händen. So bin ich denn oder war ich in der einen oder anderen Weise Güterpfleger für viele unserer Kunden. Dies sind bloß geschäftliche Beziehungen, die mit besonderem Interesse, Gefühl und Freundschaft nichts zu schaffen haben. Ich übernahm im Laufe meines Geschäftslebens bald diesen bald jenen Dienst, geradeso wie ich im Laufe des Geschäftstages von einem unserer Kunden zum anderen übergehe. Kurz, ich habe keine Gefühle – bin eine bloße Maschine. Um fortzufahren –«
»Aber Eure Geschichte betrifft wohl meinen Vater, Sir, und ich fange an zu glauben« – die seltsam gefurchte Stirn war ihm mit großer Angelegentlichkeit zugewendet –, »daß Ihr es wart, der mich nach England brachte, als ich nach dem Tod meiner Mutter, die meinen Vater nur um zwei Jahre überlebte, verwaist in der Welt stand. Ja, ich bin fest überzeugt davon.«
Mr. Lorry ergriff die zögernde kleine Hand, die sich ihm vertrauensvoll genähert hatte, um die seinige zu ergreifen, und brachte sie mit einiger Förmlichkeit an seine Lippen. Dann führte er die junge Dame wieder nach ihrem Stuhl, stützte seine Linke auf die Lehne und benutzte seine Rechte abwechselnd, um sich das Kinn zu reiben, die Stutzperücke gegen das Ohr zu ziehen oder seinen Worten Nachdruck zu geben, während er auf das achtsam zu ihm aufschauende Gesichtchen niederblickte.
»Ja, ich war es, Miß Manette. Und Ihr werdet sehen, wie wahr ich eben von mir selbst gesprochen, als ich sagte, daß ich keine Gefühle habe und meine Beziehungen zu meinen Nebenmenschen bloß geschäftlicher Natur seien, wenn Ihr Euch vergegenwärtigt, daß ich Euch seitdem nie wieder gesehen habe. Nein, Ihr wart von jener Zeit an Tellsons Mündel, und ich hatte in anderen Geschäften des Hauses Tellson zu tun. Gefühle? Dafür finde ich weder Zeit noch Gelegenheit. Ich verbringe mein Leben damit, Miß, daß ich stets eine ungeheure finanzielle Waschanstalt im Gang halte.«
Nach dieser eigentümlichen Schilderung seines täglichen Geschäftslebens strich Mr. Lorry mit beiden Händen die flachsfarbige Perücke auf seinem Kopfe glatt (wohl ein unnötiges Bemühen, da ihre glänzende Oberfläche vorher schon nicht glatter hätte sein können) und nahm seine frühere Haltung wieder an.
»Wie Ihr bemerkt habt, Miß, paßt die seitherige Geschichte auf Euren bedauerten Vater; jetzt aber kommt der Unterschied. Wenn Euer Vater nicht gestorben wäre, als er – Ihr müßt nicht erschrecken. Warum fahrt Ihr so zusammen?«
Sie war wirklich zusammengefahren und faßte jetzt seinen Arm mit ihren beiden Händen.
»Ich bitte«, fuhr Mr. Lorry in beschwichtigendem Ton fort, indem er seine Linke von der Stuhllehne entfernte, um sie auf die flehenden Finger zu legen, die mit so heftigem Zittern seinen Arm umfaßt hielten – »ich bitte, bekämpft Eure Aufregung – eine Geschäftssache. Ich wollte sagen –«
Ihr Blick brachte ihn dermaßen außer Fassung, daß er innehielt, eine Abschweifung versuchte und dann von neuem anhub.
»Ich wollte sagen – wenn Monsieur Manette nicht gestorben, sondern nur plötzlich in aller Stille verschwunden und nach irgendeinem schrecklichen Platze entrückt worden wäre, den man wohl erraten, aber nicht ermitteln konnte; wenn er einen Feind gehabt hätte in einem Landsmann, dem ein Vorrecht zu Gebot stand, von dem zu meiner Zeit auch die kecksten Männer dort über dem Wasser drüben nur mit Flüstern sprachen – die Befugnis zum Beispiel, Förmlichkeiten auszufüllen, die irgend jemand für beliebige Zeit dem Vergessenwerden in einem Gefängnis überantworteten: wenn seine Gattin um Kunde von ihm sich vor König und Königin, Hof und Geistlichkeit in den Staub geworfen hätte, aber alles vergeblich – dann wäre die Geschichte Eures Vaters auch die jenes unglücklichen Mannes, des Doktor von Beauvais gewesen.«
»Ich bitte Euch flehentlich, mir alles zu sagen, Sir.«
»Es soll geschehen. Ich bin im Begriff. Könnt Ihr es ertragen?«
»Ich kann alles ertragen, nur nicht die Ungewißheit, in der Ihr mich schweben laßt.«
»Ihr sprecht gefaßt, und Ihr seid es wohl auch. Recht so.« Freilich schien er innerlich weniger befriedigt zu sein, als seine Worte ausdrückten. »Eine Geschäftssache. Betrachtet es als ein Geschäft, das abgetan werden muß. Wohlan, wenn die Frau dieses Doktors trotz ihres hohen Geistes und Mutes um dieses Umstandes willen so sehr gelitten hätte, daß sie noch vor der Geburt ihres Kindes« –
»Dieses Kind war eine Tochter, Sir.«
»Eine Tochter. Eine – eine – Geschäftsache – laßt Euch nicht beunruhigen, Miß. Wenn die arme Dame so furchtbar gelitten hätte, daß sie vor der Geburt ihres Kindes den Entschluß faßte, dem armen Wesen die Teilnahme an ihren eigenen Qualen zu ersparen, indem sie es in dem Glauben erzog, daß sein Vater tot sei – – Nein, kniet nicht nieder. Um Himmels willen, warum kniet Ihr denn vor mir?«
»Die Wahrheit. O mein lieber, guter, mitleidiger Herr, die Wahrheit!«
»Eine – eine Geschäftsache. Ihr bringt mich in Verwirrung, und wie kann ich ein Geschäft bereinigen, wenn mein Kopf nicht klar ist? Wir müssen uns zusammennehmen. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, mir zum Beispiel zu sagen, was neunmal neun Pence ausmacht, oder wie viele Schillinge man zu zwanzig Guineen braucht. Das wäre schon ermutigender und würde mich über den Zustand Eures Geistes beruhigen.«
Er führte sie sanft nach ihrem Stuhl; hier blieb sie, ohne auf seine Berufung unmittelbar zu antworten, so ruhig sitzen, und ihre Hände, die noch immer seinen Arm umfaßt hielten, zeigten gegen früher eine so augenfällig erhöhte Stetigkeit, daß er wieder ein Herz faßte.