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Mit ihrer lieblosen Beziehung unzufrieden flüchtet Juliane aus ihrem Alltag und sucht Erholung in den schottischen Highlands. Schon bald wird ihr Geld knapp und sie sucht nach einem Weg, um die Rückreise zu ihrem aalglatten Verlobten Hannes hinauszuzögern. Auf dem Hof des verschlossenen Bauern Harry McNeill findet sie Arbeit und nach dem plötzlichen Tod seiner Tante jede Menge Geheimnisse. Beinahe vergisst Juliane darüber ihre Probleme, die sie mit ihrem kontrollsüchtigen Verlobten hat, bis er plötzlich vor ihr steht ...Eine Geschichte über Heimat, Heilung und vieles mehr.
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Seitenzahl: 245
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Morag McAdams
Eine Heimatin den Highlands
2. Auflage
© 2023 Morag McAdams
Umschlag, Illustration: Morag McAdams
Lektorat, Korrektorat: Jessica Idczak
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-347-97837-9
e-Book
978-3-347-97838-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
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Kapitel 1
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Kapitel 1
Regen fiel von einem wolkenverhangenen Himmel, trommelte gegen die Fensterscheiben und riss die letzten braunen Blätter von den Bäumen. Juliane saß auf der Bettkante und starrte in das Januargrau. Hannes schnarchte leise und sie fragte sich, weshalb sie nicht glücklich war. Vielleicht war Glück zu viel verlangt, aber Zufriedenheit sollte doch im Bereich des Möglichen liegen. Juliane seufzte leise. Das triste Wetter war nur teilweise für ihre schlechte Stimmung verantwortlich. Seit Wochen fühlte sie, dass sie in ihrem Leben dringend etwas ändern musste. Doch sie hatte es sich bequem eingerichtet. Jede andere Frau wäre zufrieden mit dem, was sie erreicht hatte.
Sie wandte den Blick von der regennassen Fensterscheibe ab und schlich aus dem Zimmer, um Hannes nicht zu wecken. Er war allerbester Stimmung eingeschlafen und hätte früh am Samstagmorgen kein Verständnis für ihre Nöte. Juliane schnaubte. Er hatte nie viel für ihre Befindlichkeiten, wie er es nannte, übrig.
Im Wohnzimmer standen noch die Weingläser auf dem Tisch. Einer von ihnen hatte abends einige Tropfen verschüttet, doch Juliane störte sich nicht daran. Es war Hannes’ Wohnung und Hannes’ fleckiger Tisch, und sie mochte eigentlich gar keinen Wein.
In der letzten Zeit hatte sie viele dieser Eigentlichs und Eigentlich-nichts entdeckt. Doch an welcher Stelle in ihrem Leben hätte sie sich anders entscheiden sollen? Welche Wahl hatte sie in diese Situation gebracht, in der sie sich selbst nicht mehr leiden konnte und ein Leben führte, das wie ein Märchen klang und sich wie ein Albtraum anfühlte?
Der billige Sperrholztisch ächzte, als Juliane ihre Füße darauf ablegte. Obwohl sie bereits vor mehr als einem Jahr bei ihrem Freund eingezogen war, wirkte die Wohnung noch immer wie die eines Junggesellen. Es gab keine Bilder an den Wänden, keinen dekorativen Nippes und nicht einmal ein Kissen auf dem Sofa. Alles war geradlinig und funktional gehalten, so wie Hannes es bevorzugte und was auch ihn selbst auszeichnete. Eigentlich fand Juliane diese Nüchternheit anziehend.
Erneut stolperte sie über dieses Wort und runzelte die Stirn, während sie überlegte, welche ihrer Entscheidungen falsch gewesen war. Nach der Schule hatte sie die Ausbildung zur Einzelhandelsfachangestellten mit Bravour bestanden. Als ihr Arbeitgeber in Insolvenz ging, hatte sie Arbeit bei einem Blumenversand gefunden, bei dem sie auch als ungelernte Kraft ein ausreichendes Gehalt bekam. Sie hatte Hannes kennengelernt und war bei ihm eingezogen. Und gestern Abend hatte sie „ja“ gesagt.
Jedes Mal war sie sicher gewesen, die richtige Wahl zu treffen. Doch nun saß sie im Wohnzimmer ihres Verlobten und sehnte sich danach, zurück auf Anfang gehen zu können.
Juliane griff nach der Fernbedienung, doch dann hielt sie inne. Würde sie sich anders entscheiden? Oder landete sie trotzdem erneut an dieser Stelle? Es war egal, entschied sie. Alles wäre besser als diese ungewisse Unzufriedenheit.
Ein besonders lautes Schnarchen von Hannes ließ sie erschrocken auffahren. Dann lächelte sie. Eigentlich liebte sie diesen Mann.
Das orangefarbene Fahrzeug der Stadtwerke parkte mitten in der Fußgängerzone. Von ihrem Platz im Café konnten Juliane und Lara den Mann erkennen, der auf der Hebebühne stand, um die Weihnachtsbeleuchtung abzuhängen. Obwohl sie das schon oft beobachtet hatte, faszinierte es sie noch immer, dass eine so einfache Maßnahme – ein Kabel mit Lampen – eine besinnliche Stimmung hervorrufen konnte. Doch nun ging der Januar zu Ende und weder das Wetter noch ihre Gedanken luden zur Besinnlichkeit ein. Seit ihrer Verlobung am Silvesterabend war Julianes Stimmung auf dem Tiefpunkt angelangt.
„Was schenkst du Hannes zum Valentinstag?“ Ihre beste Freundin grinste ihr Smartphone an, auf dem soeben eine neue Nachricht erschienen war.
„Eine Krawatte.“
„Schon wieder?“
Juliane zuckte mit den Schultern.
„Er braucht ständig neue. Vielleicht schenke ich ihm dieses Mal eine, die er auch trägt.“
Der billige rosafarbene Schlips mit blauen Punkten war im letzten Jahr als Scherz gedacht gewesen, und Juliane lächelte kurz in Erinnerung daran, dass Hannes’ Geschenk an sie tatsächlich ein Halstuch in denselben Farben gewesen war. Sie hatten damals eindeutig zu viel Zeit in dem kleinen Café verbracht, in dem sie auch jetzt mit Lara saß und dessen Einrichtung mädchenhaft verspielt war. Sah man darüber hinweg, wie Juliane es tat, bekam man wirklich gutes Essen serviert.
Grübelnd trank sie einen Schluck ihres Tees, der genau richtig war: schwach, süß und mit einem Schuss Milch. Hannes lachte oft darüber, dass sie keinen Kaffee trank. Er war schon lange nicht mehr mit ihr hier gewesen.
Lara schob ihr Telefon in die Hosentasche und sah sie lange an.
„Was ist los?“, fragte sie schließlich.
„Nichts.“ Ertappt hielt Juliane ihr Teeglas hoch, um ihre roten Wangen zu verbergen. Sie war eine schlechte Lügnerin.
„Das funktioniert nicht“, sagte ihre Freundin in einem Singsang, den sie verabscheute.
„Es ist nichts“, beharrte sie.
„Jule, bitte.“ Natürlich hatte Lara sie durchschaut, doch Juliane wollte nicht darüber reden. Sie fürchtete, dass ihr Problem an Realität gewänne, wenn sie es ausspräche. Solange sie darüber schwieg, konnte sie es als unwichtig abtun. „Nicht jetzt, okay? Erzähl mir lieber von deinem neuen Freund.“
„Woher weißt du das?“ Juliane sah sie mit hochgezogener Auenbraue an und sie kicherte. „Schon gut.“ Dann erzählte sie von dem Mann, der ihr süße und schlüpfrige Textnachrichten schickte und dessen Namen sich Juliane nicht merken würde, weil er in wenigen Wochen bereits wieder aus Laras Leben verschwunden sein würde. Juliane hatte gelernt, das zu akzeptieren.
Ihre Freundschaft mit Lara war die einzige, die sie aus der Kindheit ins Erwachsenenalter hatte retten können, und trotz aller verschiedenen Meinungen war der Lockenkopf ihre engste Vertraute. Seit Juliane bei Hannes eingezogen war, schien sie ihre einzige Vertraute zu sein, denn der Kontakt zu anderen Freunden war eingeschlafen. Doch sie beschwerte sich nicht, denn eigentlich war ihr Hannes Freund und Vertrauter genug.
Als die Melancholie im Februar einer fieberhaften Anspannung wich, wagte Juliane es, ihren Verlobten darauf anzusprechen.
„Ich brauche Urlaub, denke ich.“
Sie hielt den Blick auf den Fernseher gerichtet, weil sie Hannes’ ungläubig überheblichen Gesichtsausdruck nicht sehen wollte. Dieselbe Miene setzte er auf, wenn ein Kunde um die Verlängerung eines ausgereizten Kredits bat.
„Im Februar ist immer viel Stress, das weißt du doch.“
„Es liegt nicht an der Arbeit.“
Hannes zappte sich durch die Werbung auf den Privatsendern und erhöhte die Lautstärke.
„Ich denke, es liegt an mir.“ Juliane schossen Tränen in die Augen und sie kämpfte darum, ihre Stimme neutral zu halten, als sie gegen die Jingles und das gestellte Lachen unechter Familien ansprechen musste. Sie sollte sich bei dem Mann, den sie heiraten wollte, sicher und wichtig genug fühlen, um seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch stattdessen spielte sie mit und versteckte sich vor ihm.
„Immer die gleichen Blumensträuße zu binden ist natürlich nicht die tollste Arbeit“, versuchte sie eine Erklärung zu finden. „Aber das hat mich noch nie gestört. Ich weiß es doch auch nicht, Hannes!“
Er sah sie nicht an, sondern saß steif auf dem Sofa. Zwischen ihnen war so viel Platz, dass niemand den anderen berühren konnte. Juliane wusste, dass es falsch war, und sagte trotzdem:
„Vielleicht brauche ich eine Auszeit.“
Hannes stritt nicht mit ihr. Er sah sie nur mit nüchterner Distanziertheit an, als wäre sie ein seltenes Insekt.
„Wo willst du hin? Wie willst du das bezahlen? Was ist mit deiner Arbeit?“, prasselten seine Fragen auf sie hinab und sie wandte den Blick wieder zum Fernseher. Eine Figur aus Butter tanzte über den Bildschirm. Hannes wollte die Tränen nicht sehen, die über Julianes Wangen liefen, und sie tat ihm den Gefallen. Vielleicht wusste er nicht, wie er mit weinenden Frauen umgehen sollte. Das erleichterte es Juliane nicht, die verzweifelt versuchte, nicht zu schluchzen.
Vielleicht war er einfach nur ein Egoist, ging es ihr durch den Kopf und sie hob die Schultern in einer hilflosen Geste.
Lara hatte ihr empfohlen, dem Alltag zu entfliehen, und sie hatte gehofft, dass Hannes ihr zustimmte. Doch er hatte die Möglichkeit eines gemeinsamen spontanen Urlaubs durch seine Fragen bereits ausgeschlossen. Er hätte lautstark mit ihr über ihre Unvernunft diskutieren oder wenigstens echtes Interesse zeigen können. Juliane atmete hörbar aus, nachdem sie in dem Versuch, sich zu beruhigen, die Luft angehalten hatte. Sie war steif vor Wut und Enttäuschung.
Eine grüne Wiese flackerte über den Flachbildschirm, an deren äußerstem Ende die Ruine eines Schlosses stand.
„Dahin“, entschied Juliane. „Da will ich hin.“
Hannes schnaubte abfällig und verließ das Wohnzimmer.
Lächelnd strich Juliane über das Buch, das Lara ihr geschenkt hatte. Sie gab auf, eine Stelle auf dem Sofa zu finden, die nicht von Hundehaaren übersät war, und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Die zwei weißgelockten Terrier ihrer Freundin drängten sich an ihre Beine und sie widerstand dem Drang, sie wegzuschieben. Die Hunde waren so frech und unverfroren wie ihre Besitzerin, die sie nun zu Julianes Erleichterung auf ihre Decke schickte. Dankbar nahm sie ein Glas Limonade entgegen. Der süße Geruch verdrängte ein wenig den Mief, der von den Hunden ausging. Juliane verstand nicht, dass Lara die Tiere in ihrer winzigen Wohnung halten konnte, doch sie vermutete, dass ihre Freundin mittlerweile den Gestank nicht mehr wahrnahm, der ihre Geruchsnerven malträtierte, wenn sie sie besuchte.
„Also, wie hast du das vor?“
Vorsichtig blätterte Juliane durch den Reiseführer.
„Ich fliege nächste Woche. Nach dem Valentinstag gibt es immer wenig zu tun und ich kann Urlaub nehmen.“ Sie betrachtete ihre Hände, die rissig und rau waren und die in den letzten Tagen hunderte Sträuße gebunden hatten. Seit sie den Entschluss gefasst hatte, Deutschland für eine Weile den Rücken zu kehren, waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt. Sie zählte bereits die Tage bis zu ihrem Abflug.
„Wie lange willst du bleiben? Hast du genügend Geld? Alle Papiere? Tickets?“ Obwohl Lara die gleichen Fragen wie Hannes stellte, fehlte der vorwurfsvolle Beiklang. „Und Hannes?“
„Er kommt nicht mit.“ Juliane wusste, dass sein Desinteresse sie stören sollte, doch mehr als das war sie erleichtert. Das Gewicht des Rings an ihrer Halskette erinnerte sie an seine Absicht und an ihr Versprechen. „Ich bleibe zwei Wochen, denke ich.
Solange, bis ich kein Geld mehr habe.“ Lara wollte etwas sagen, doch sie ließ sie nicht zu Wort kommen. Hannes bestand auf getrennten Konten und in diesem Fall bedeutete das, dass sie ihm keine Rechenschaft schuldig war, wofür sie ihr Erspartes ausgab. „Ich habe eine Unterkunft für die ersten Tage, und danach sehe ich weiter.“
Stille breitete sich in dem kleinen Wohnzimmer aus, als die jungen Frauen ihren Gedanken nachhingen. Juliane blätterte andächtig im Reiseführer und bewunderte die Bilder. Max und Hanni schnarchten leise in ihrer Ecke und Lara rührte klappernd in ihrer Kaffeetasse. Erst als sie diese etwas zu laut auf den Tisch stellte und die Hand auf ihren Arm legte, registrierte Juliane, dass Tränen über ihre Wange liefen.
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist“, sagte sie mit kleiner Stimme. „Ich habe doch keinen Grund, unglücklich zu sein.“
„Was ist mit Hannes?“
Juliane zuckte mit den Schultern.
„Er ist wie immer und wir werden im Sommer heiraten. Ich liebe ihn.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte hohl.
„Du wirst sehen, diese Auszeit wird dir gut tun.“ Die Taschentuchpackung zerriss, als Lara sie öffnen wollte, und aus den Tiefen des Sofas zog sie eine neue, statt sich mit der ausgefransten Folie abzumühen. „Und nach zwei Wochen kommst du zurück und bist wieder ganz die Alte.“
Juliane wollte ihr gerne glauben.
Die kleine Schaferde drängte blökend gegen das Gatter, als der Rettungswagen mit heulenden Sirenen auf dem asphaltierten Hof zum Stehen kam.
„Wo bleiben Sie denn so lange?“ Harry winkte den Sanitätern, ihm zu folgen, und eilte ins Haus. „Sie ist oben im Schlafzimmer, erste Tür links. Ich muss mich um die Tiere kümmern.“
Er rannte beinahe aus dem engen Flur hinaus und versuchte, den nassen Abdrücken von den Schuhen der Männer keine Beachtung zu schenken. Seiner Tante würde das gar nicht gefallen. Hoffentlich waren die Fremden schnell mit ihrer Arbeit fertig, damit alles seinen gewohnten Gang nehmen konnte.
Er schlüpfte in seine Wachsjacke, die er schloss, während er bereits über den Hof lief. Der Regen störte ihn nicht. Mit geübten Handgriffen spannte er die Leinen, die die Schafe auf dem richtigen Weg halten sollten, und öffnete das Gatter. Die Tiere rannten sich gegenseitig um, weil jedes von ihnen das erste im Stall sein wollte. Sie machten sich über das Futter her, als wären sie halb verhungert. Wenn Harry das Gestammel seiner Tante richtig verstanden hatte, waren sie das auch. Zwei Tage lang hatten sie in dem matschigen Pfuhl ausharren müssen, weil Elaine nicht in der Lage gewesen war, sie auf die Weide zu bringen oder in den Stall zu lassen. Ohne Futter und nur mit dem Dreckwasser aus den Pfützen, mit dem sie ihren Durst stillen konnten, wäre es ein Wunder, wenn keines krank würde.
Harry schlug auf den Riegel am Tor ein, bis er einrastete. Seine Tante musste doch einsehen, dass sie zu alt war. Sie konnte den Hof nicht mehr führen. Er war nur drei Tage fort gewesen und schon war eine kleine Katastrophe eingetreten. So konnte es nicht weitergehen. Er warf den zwanzig Tieren, die gleichzeitig versuchten, an die automatische Tränke zu kommen, einen missmutigen Blick zu. Die ranghöheren Schafe blockierten den Zugang und das Blöken wurde lauter. Harry gab nach. Er griff nach zwei Eimern und füllte damit die Futtertröge mit Wasser. Dann drehte er die Leitung der Tränke ab. Die Tiere durften nicht zu viel trinken, nachdem sie gefastet hatten, sonst wären Koliken die Folge. Er wollte die Tierärztin nicht rufen müssen. Vor zwei Jahren hatten sie sich im Streit getrennt und seither hatte er jede Gelegenheit, sie zu treffen, vermieden, weil er nicht wusste, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Die Wut schlummerte noch immer tief in ihm.
Harry hob mit der Mistgabel sauberes Heu über die Wand zu den Schafen und runzelte die Stirn. Wenn der Hof erst ihm gehörte, würde sich einiges ändern. Als erstes würde er sich von den Schafen trennen.
„Sir? Mr McNeill?“
Harry stöhnte und ging dem Sanitäter entgegen. In der beginnenden Dämmerung warf das Blaulicht des Rettungswagens Muster an das Haupthaus.
„Sir, wir müssen Ihre Tante ins Krankenhaus bringen. Sie hat sich vermutlich den Oberschenkelhals gebrochen.“
Harry nickte. Je schneller die fremden Männer den Hof verließen, umso besser. Dann erst verstand er, was der Sanitäter gesagt hatte. Er fuhr sich mit der Hand durch das zu lange blonde Haar und schämte sich für die Erleichterung, die er verspürte.
Kapitel 2
Hannes war bereits zu Hause, als sie von der Arbeit kam. Ihre Finger schmerzten und waren noch kalt, obwohl sie den letzten Strauß vor über einer halben Stunde gebunden hatte. Sie verstand nicht, warum die Menschen am Valentinstag so viele Blumengrüße versenden wollten. Es wäre doch sinnvoller, das ganze Jahr über aufmerksam gegenüber seinem Partner zu sein.
Hannes telefonierte, ohne ihre Anwesenheit zu würdigen, und so ging Juliane in die Küche. Er würde auf das Abendessen warten und erst danach zugänglicher sein. Sie wusste, dass sie ihre Pflichten im Haushalt erfüllen musste, wenn sie nicht den distanzierten Ausdruck auf seinem Gesicht ertragen wollte. Wasser und Schmutz brannten auf ihren Händen, während sie die Kartoffeln bürstete und dem Telefonat lauschte. Sie vermisste die Vertrautheit der Szene und stellte frustriert den Topf viel zu schwungvoll auf den Herd. Es knallte und Wasser schwappte über und Hannes bellte aus dem Wohnzimmer, sie solle vorsichtiger sein.
„Entschuldigung“, rief sie und wusste doch, dass es ihr nicht leid tat. Wieder fragte sie sich, an welcher Stelle ihr Leben so aus ihrer Hand geglitten war. Die Leuchte am Backofen erlosch und sie bückte sich, um den Backfisch auf das Blech zu legen.
„Au, verdammt!“, fluchte sie. In der Wärme hatte sich der Ring, der an ihrer Halskette baumelte, erhitzt und ihre Haut verbrannt.
„Was ist?“ Juliane zuckte unter der Ungeduld in seiner Stimme zusammen. „Ist das Essen fertig?“
„Gleich!“
Nur noch ein Wochenende lag zwischen ihr und ihrer Auszeit und ihr Herz schlug schneller, als sie an das Abenteuer dachte, das sie erwartete.
Die Kartoffeln waren etwas zu weich und fielen auseinander, doch Hannes beklagte sich nicht, obwohl er während des Essens sehr einsilbig war. Juliane freute sich, weil er gute Laune zu haben schien.
Als sie spät abends erschöpft und zufrieden neben Hannes lag und seinen ruhigen Atemzügen lauschte, fragte sie sich, ob sie ihren Urlaub tatsächlich brauchte.
Sie hatte das Geschenk zum Valentinstag auf dem Esstisch stehen lassen. Hannes erwartete eine Aufmerksamkeit von ihr, also hatte sie ihm eine Krawatte gekauft, doch sie glaubte nicht, dass er sie tatsächlich trüge. Zu hart war ihr Abschied gewesen.
„Du bist nicht die erste Frau, die Panik vor ihrer Hochzeit bekommt“, hatte Hannes beinahe zu verständnisvoll gesagt und sie hatte ihr schlechtes Gewissen zurückdrängen müssen. Sie hatte immerhin nicht vor, ihn zu verlassen. Sie wollte nur Urlaub, nur eine kurze Zeit für sich allein, dann könnte sie wieder die Frau sein, die er wollte. Dann trüge sie auch abends vor dem Fernseher Jeans und eine hübsche Bluse, freute sich, wenn er nach Hause käme, und kochte Essen, das er mochte. Dann würden sie heiraten und alles wäre so schön wie am Anfang ihrer Beziehung.
Juliane lachte freudlos auf und der Mann, der vor ihr in der Schlange stand, drehte sich zu ihr um. Peinlich berührt senkte sie den Blick. Sie sollte aufhören, sich selbst etwas vorzumachen. In weniger als zwei Stunden flöge sie in einen Urlaub, den sie brauchte, um Kraft zu tanken und Hannes’ Launen auszuhalten. Er wäre weiterhin enttäuscht von ihr, weil sie sich in lässiger Kleidung auf dem Sofa fläzte und oft später als er von der Arbeit kam. Und wenn ihm nicht gefiele, was sie kochte, ginge er weiterhin zum Dönerstand an der nächsten Straßenecke.
Der grauhaarige Mann griff nach seinen Unterlagen und seinem Handgepäck, dann trat er beiseite und Juliane fand sich vor dem Schalter der Sicherheitskontrolle wieder.
„Ich brauche diesen Urlaub wirklich“, erklärte sie der verdutzten Servicekraft, die wortlos ihr Ticket und ihren Pass kontrollierte und sie durchwinkte.
Plötzlich wimmelte es von Menschen, die auf der Suche nach dem richtigen Gate einen Bogen um Juliane schlagen mussten, die völlig perplex stehen geblieben war. So ein Getümmel hatte sie nicht erwartet. Geschäft reihte sich an Geschäft, Familien mit Koffern drängten sich an Männern im Anzug vorbei. Eine Putzkolonne markierte mit gelben Aufstellern ihren Weg und beinahe jeder hielt sein Handy ans Ohr und brüllte hinein. Es roch nach Kaffee und Parfüm, und Juliane fragte sich, wie sie sich ohne Hannes in diesem Chaos zurechtfinden sollte. Doch dann straffte sie die Schultern, packte den Griff ihres kleinen Koffers fester und lief los. Sie fühlte sich leicht und frei.
Das Flugzeug war winzig. Obwohl Juliane zum ersten Mal flog, hatte sie eine gute Vorstellung davon, dass die Flieger normalerweise mehr als achtzig Passagieren Platz boten. Doch die Billiglinie, bei der sie gebucht hatte, betrieb ihre Verbindungen ausschließlich mit kleinen Flugzeugen. Das mulmige Gefühl verließ sie erst, als sie nach zwei Stunden mit einem Ruck auf dem Rollfeld aufsetzten. Nun betrat sie zum ersten Mal britischen Boden. Der Officer, der ihren Pass kontrollierte, schüchterte sie ein. Er sah in seiner dunkelblauen Uniform streng und Achtung heischend aus. Juliane wünschte sich, an Hannes’ Hand zu gehen, der sie beschützte und sicher nach Hause brächte. Doch sie war weggelaufen und musste ihren Weg allein finden. Sie stellte fest, dass es nicht so schwierig war, wie sie erwartet hatte, den Anschlussflug zu erreichen. Die Menschen, die ihr begegneten, schienen freundlicher als in Deutschland zu sein, und auch die Angestellten des Flughafens waren hilfsbereiter. Bald hatte sie sich an die fremde Sprache in ihren Ohren gewöhnt, obwohl sie noch über viele Worte stolperte, wenn sie sie aussprechen wollte.
Als sie das Flugzeug betrat, das sie nach Edinburgh bringen sollte, wurde sie von einer Welle der Sehnsucht nach Hannes erfasst. Sie hoffte, dass sie ihre Beziehung mit ihrem eigenmächtigen Handeln nicht zerstört hatte. Als sie die Wolkendecke durchbrachen und hellster Sonnenschein durch das kleine Seitenfenster fiel, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Aufrührerische Gedanken bahnten sich ihren Weg. Sie hatte bisher gedacht, Lara hätte diese vielen wechselnden Männerbekanntschaften, weil sie keine Verantwortung übernehmen wollte. Nun überlegte Juliane zum ersten Mal, ob ihre Freundin nicht mehr Verantwortung sich selbst gegenüber zeigte als sie.
Irgendwo im Flugzeug begann ein Baby zu schreien, als der Sinkflug begann und Juliane den ersten Blick auf die Häuser der schottischen Hauptstadt warf.
„So kann das nicht weitergehen, Seanie.“
Der Angesprochene verdrehte die Augen, als er den Kosenamen aus seiner Kindheit hörte. Nur Harry und seine Mutter sprachen ihn so an, und sein Cousin tat es nur, wenn die Lage ernst war und er Seans volle Aufmerksamkeit bekommen wollte.
„Elaine schafft die Arbeit nicht mehr.“ Er meinte, dass sie die Arbeit auf dem Hof nicht mehr allein bewältigen konnte, doch er hielt etwas Dramatik für angebracht. Immerhin lag seine Tante seit drei Tagen im Krankenhaus und hatte ein künstliches Hüftgelenk implantiert bekommen. Harry hatte den Fachbegriff dafür vergessen, aber er erinnerte sich daran, dass der Arzt gesagt hatte, Elaine fiele für mindestens sechs Wochen komplett aus. Es machte keinen großen Unterschied, dachte Harry, denn die meiste Arbeit erledigte seit langem er.
„Du weißt, dass der Hof mir zusteht, Seanie. Du solltest mit Elaine reden. Es wird Zeit, dass sie ihn mir überschreibt.“ Harry konnte nicht verhindern, dass seine Stimme einen harten Klang annahm, um die Verzweiflung zu überspielen. Wenn er freie Hand bei dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb hätte, löste das mehr als ein Problem. Er dachte an Jen und die Ideen, die sie gehabt hatte, und an Mr Duncan und an das, was er von ihm verlangte. Doch seine Tante weigerte sich bislang, das Heft aus der Hand zu geben. In ihrer Sturheit stand sie Harry in nichts nach.
Sean zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube nicht, dass ich sie überreden kann. Du weißt doch …“
„Ich kenne das verdammte Testament!“
Harry drehte sich weg, um den verletzten Ausdruck in Seans Augen nicht sehen zu müssen, und holte mehrmals tief Luft, um die Verzweiflung und Wut unter Kontrolle zu bringen. Seinem Cousin bedeutete der Hof seiner Mutter und Harrys verstorbenem Vater zwar so viel wie ein altes Stück Brot, doch ihm war schmerzhaft bewusst, dass Harry erst der Besitzer des Betriebs werden würde, wenn Elaine starb.
Harry rammte die Faust gegen die Wand, als die Wut in ihm Überhand gewann. Es war ungerecht. Der Bauernhof am Rand des kleinen Dörfchens war das einzige Zuhause, das er nach dem Tod seiner Eltern gehabt hatte, doch obwohl er es dringend benötigte, hatte er nun keinerlei Anspruch darauf Elaine war so unvernünftig!
„Du musst mit ihr reden, Seanie“, wiederholte Harry, nachdem der heiße Schmerz die Wut vertrieben und er sich wieder zu seinem geduldig wartenden Cousin gewandt hatte. „Rede mit ihr und bring sie zur Vernunft. Ich weiß nicht, was ich sonst …“
Glücklicherweise unterbrach er sich rechtzeitig und Sean schien seinen Ausbruch für eine seiner Launen zu halten und die Drohung überhört zu haben. Harry wusste, dass er dringend an seiner Selbstkontrolle arbeiten musste. Impulsive Handlungen und Entscheidungen hatten ihn erst in diese Lage gebracht, in der er Elaines Hof mehr brauchte als alles andere. Eigentlich stand er ihm ohnehin zu, denn sein Vater hatte ihn ihm hinterlassen. Doch sein Testament sah vor, dass Harry den Hof erst mit dem Tod seiner Tante entscheidungsberechtigt führen durfte. Wenn er George McNeill besser gekannt hätte, hätte er vielleicht verstanden, warum er so verfügt hatte. Doch seine Eltern waren ums Leben gekommen, als Harry sieben Jahre alt gewesen war. Er war Elaine dankbar, dass sie ihn aufgenommen hatte, doch jetzt wünschte er sich, seine Tante würde endlich Platz für ihn machen. Er hatte Fehler gemacht und es war nötig, dass er sie schnell berichtigte. Dafür brauchte er Entscheidungsfreiheit und dann wäre er Jen endlich nichts mehr schuldig.
Kapitel 3
Den Weg zu ihrer Unterkunft zu finden gestaltete sich schwierig. Frustriert zerknüllte Juliane den Zettel mit der Wegbeschreibung in ihrer Faust, um ihn sofort wieder glatt zu streichen und erneut zu lesen. Sie stand vor dem Eingang der Waverly Station und sollte sich links halten, um die Bushaltestelle auf der Brücke zu erreichen, doch sie fand auf dieser Seite des Bahnhofs nichts, das einer Brücke auch nur ähnlich sah. Nach einer Stunde fruchtlosen Hin- und Herlaufens gab sie auf und marschierte in das Touristikbüro, das sie auf dem Hinweg entdeckt hatte. Ihre Arme waren schwer und ihre Finger schmerzten vom Tragen des Koffers, doch es regnete nicht und während ihrer Suche hatte Juliane immer wieder einen Blick auf die Burg werfen können, die über der Stadt thronte und ihr dieses besondere Flair verlieh. Sie hörte von Zeit zu Zeit deutsche Stimmen und obwohl die Stadt laut Laras Reiseführer im Februar nicht von Besuchern überlaufen sein sollte, musste sie in dem kleinen Gebäude der Touristikzentrale anstehen. Durch die Glastür konnte sie die Haltestelle der Flughafenshuttlebusse sehen und der Gedanke an ihre Heimreise bedrückte sie bereits. Sie konzentrierte sich auf die Bilder an den Wänden rechts und links vom Schalter, die Ausflüge in die Highlands, nach Glasgow oder an den Firth anpriesen. Etwas versteckt neben dem Ausgang hingen einige Stellenangebote für Aushilfsjobs aus.