Gezeitenwende mit dir - Morag McAdams - E-Book

Gezeitenwende mit dir E-Book

Morag McAdams

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Beschreibung

Mhairi McDonald hat ihr Leben im Griff. An der schottischen Küste führt sie mit ihrer Großmutter erfolgreich ein kleines Wollgeschäft. Doch als ihre Jugendliebe Tjark wieder in ihrem Heimatdorf auftaucht, gerät Mhairis ordentliches Leben aus dem Gleichgewicht. Gefühle, die sie für vergessen hielt, kehren mit Tjark zurück. Und dann droht auch noch ihr bestgehütetes Geheimnis ans Licht zu kommen...

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Seitenzahl: 202

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Morag McAdams

© 2023 Morag McAdams

Covergestaltung mit canva.com

ISBN Softcover: 978-3-347-97195-0

ISBN E-Book: 978-3-347-97196-7

Druck und Distribution im Auftrag:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Gezeitenwende mit dir

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 15

Gezeitenwende mit dir

Cover

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Mhairi stand an der Klippe und zwang sich zu ruhigen Atemzügen. Es war nicht die Anstrengung des Laufs, die ihr die Luft raubte. Diese Zeiten waren vorbei. Mittlerweile erledigte sie ihre allmorgendliche Runde in einer halben Stunde, ohne außer Atem zu geraten. Doch an diesem Morgen wehte der Wind kräftige Sturmböen über das Meer und machte ihr das Luftholen schwer. Über die Kante, an der sie stand, wurden Möwen ins Landesinnere getrieben, ohne dass sie einen Flügelschlag dafür taten. Ihre Schreie verklangen im Wind, und Mhairi hätte es ihnen gerne gleichgetan und ihren Frust auf das Meer hinausgebrüllt. Die Wellen rauschten laut in ihren Ohren. Ein Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Kehle zu und Tränen stiegen ihr in die Augen. Trotzig wischte sie sich die Wangen ab und gab dem Wind die Schuld. Dabei war ihr vollkommen bewusst, dass sie sich selbst etwas vormachte. Es war nicht der Wind oder die raue See an der Küste Schottlands, die ihr das Leben schwermachten. Es war auch nicht der Frühling, der sie rastlos hinaustrieb. An ihrer inneren Unruhe war sie ganz allein schuld. Tjark kam zurück. Aus heiterem Himmel hatte er ihr eine Nachricht geschrieben. Und sie wusste nicht, wie sie ihm begegnen sollte.

Mhairi war der Jeans-und-T-Shirt-Typ. Selbst zu ihrem Schulabschluss und als sie ihr Ausbildungszeugnis erhalten hatte, war sie in legerer Kleidung erschienen. Es war einfach und bequem und sparte Zeit, wenn alles in ihrem Kleiderschrank miteinander kombinierbar war. Doch nachdem sie an diesem Morgen von der Küste zurückgekehrt und frisch geduscht war, hatte sie tatsächlich lange vor ihrem Schrank gestanden und überlegt, ob sie den Hosenanzug anziehen sollte oder gar das Kleid, für das es noch viel zu kalt war.

Nun stand sie, wie immer in Jeans und Shirt, am Eingang zur Gepäckausgabe, und falls sie zufällig das grüne Oberteil trug, das so gut zu ihren roten Haaren passte, dann wollte sie nicht weiter darüber nachdenken. Endlich kamen die ersten Passagiere mit ihren Koffern durch die geöffneten Schiebetüren. Mhairi war überrascht, auch Tjark unter ihnen zu sehen. Sie kannte ihn noch als den größten Trödler von Schottland. Das waren die Worte seiner Mutter, nicht ihre.

„Mhairi?“ Er riss die Augen auf. „Bist das du?“ Er war also beeindruckt, dachte sie. Gut. Tjark machte Anstalten, sie zu umarmen, und sie wich zurück. Ihre Beziehung war kompliziert. Seit dem Kindergarten waren sie befreundet, und doch gab es immer wieder Zeiten, in denen sie sich wochenlang aus dem Weg gingen. Als Jugendliche hatten sie sich notgedrungen zusammengerauft, denn in dem kleinen Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, gab es nicht viele Kinder in ihrem Alter. Sie konnten sich zu einer Clique zusammenschließen, oder sie konnten ohne Freunde durchs Leben gehen. Doch zwischen Mhairi und Tjark herrschte schon damals eine Spannung, die sich in Streitigkeiten entlud. Dennoch würde Mhairi für ihn durchs Feuer gehen, trotz allem, was vorgefallen war.

„Hattest du einen guten Flug?“ Ihre Worte klangen in ihren eigenen Ohren gestelzt. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sich wieder die gewohnte Leichtigkeit zwischen ihnen einstellte. Auf die unterschwellige Aggressivität dagegen könnte sie verzichten. Mhairi fragte sich, ob sie zu viel erhoffte. Seit damals hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, auch nicht vor knapp zwei Jahren, als Tjark an Weihnachten nach Hause gekommen war.

Er brummte etwas Unverständliches, schulterte seine Reisetasche und lief los.

„Wo steht dein Auto?“, rief er ihr über die Schulter zu. Mhairi schnaubte. Aller guter Wille, ihre Freundschaft in diesem Anlauf funktionieren zu lassen, minimierte sich, und sie überlegte, ihn einfach suchen zu lassen. Was fiel ihm eigentlich ein? Erst bestellte er sie nach Glasgow wie ein Taxi, dann ließ er sie einfach stehen. Und zu allem Überfluss besaß er die Frechheit, umwerfend auszusehen.

Man erkannte in Tjark deutlich seine niederländischen Vorfahren. Er war groß gewachsen, immer auf der leicht schlaksigen Seite, mit blonden Haaren und einem kantigen Kinn, das normalerweise glattrasiert war. Als er sich erneut zu ihr umdrehte, erkannte Mhairi die dunklen Ringe unter seinen Augen. Sie zwang die Erinnerung an eine durchwachte Nacht zurück in ihre Kiste und beeilte sich, zu ihm aufzuschließen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für kindische Streitereien oder eine Aussprache. Gemeinsam umrundeten sie eine Gruppe junger Frauen, die alle das gleiche schweinchenrosa Oberteil trugen. Tjark würdigte sie keines Blickes und Mhairi wunderte sich. Sollte ihn die Zeit in den USA so verändert haben, dass er nicht mehr jedem Rock hinterherschaute?

Für jeden Schritt, den er machte, benötigte sie mit ihren kurzen Beinen zwei, und so geriet sie doch außer Atem, bis sie am Auto ankamen.

Als sie in ihrem Fiat schließlich auf die A9 auffuhren, hielt Mhairi das Schweigen nicht länger aus.

„Hast du Urlaub?“

„Nein.“

„Kommst du ganz zurück?“ Freude mischte sich mit dem alten Unwohlsein, und die Angst, niemals genug sein zu können, bereitete ihr beinahe körperliche Schmerzen. Sie ärgerte sich, dass bereits diese kurze Zeit mit ihm ausreichte, um ihr dieses Gefühl zu bereiten. Das würden lange zwei Stunden Fahrt werden. Dann fiel ihr auf, dass er nicht antwortete, und sie warf einen schnellen Blick nach links. Tjark sah stur geradeaus. Mhairi wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Sie würde ihn nicht zum Reden zwingen. Sie stieß die Luft durch die Nase aus und schwieg ebenfalls. Erst als sie sich Sochorper aig Tairn näherten, musste sie fragen, wo sie ihn absetzen sollte. Schließlich hielten sie vor Laurel Court, Tjarks Elternhaus.

„Tapadh leat, a Mhairi.“

„Gern geschehen.“ Sie war noch damit beschäftigt, über den seltsamen Klang nachzudenken, den seine Muttersprache bekommen hatte, um die Lüge zu beachten, die sie aussprach.

„Können wir reden? Irgendwann, meine ich?“ Tjark stieß erst die Autotür auf und sich dann den Kopf, als er sich aus dem Sitz schälte. Mhairi verbiss sich ein Grinsen.

„Wenn du möchtest.“ Sie war wieder an der Stelle ihres Gefühlskreisels angekommen, an der sie ihm nichts abschlug. „Ruf mich einfach an, in Ordnung?“

Er nickte und schwang seine Tasche über die Schulter. Leichter Nieselregen sammelte sich wie Tau in seinen Haaren. Plötzlich sah er so müde aus, als fiele er gleich um.

„Bye.“

„Tìoraidh.“

Mhairi wendete auf der Einfahrt, die zum Haus führte. Der Kies knirschte unter ihren Reifen. Im Rückspiegel erahnte sie in der Dämmerung das alte Herrenhaus hinter den Hecken, die seinen Eingang flankierten. Als sie Kinder waren, waren viele Türen im Inneren versperrt gewesen, und Planen hatten manch zerborstene Scheibe abgedeckt, doch in den letzten Jahren war das Anwesen renoviert worden. Tjarks Mutter lebte noch immer dort und vermietete von Zeit zu Zeit Fremdenzimmer an Touristen. Allerdings verschlug es nur selten einen Wanderer oder zwei in diese Gegend. Für einen großen Ansturm war Sochorper zu abgelegen von den typischen Routen, die an der Küste entlangführten oder die Highlands durchquerten. Sochorper aig Tairn war keine der bekannteren Ortschaften mit Golfplatz und malerischen Häuschen wie die Nachbarstadt Portpatrick. Doch es war Mhairis Heimat und gerade groß genug, um eine Grundschule zu haben, und der Weg zu den Klippen an der Küste war weit genug, dass die Jugendlichen dort ihr Lagerfeuer entzündeten, wenn sie der elterlichen Aufsicht entfliehen wollten. Mhairi liebte die Landschaft der Galloway-Rhins. Sie war geprägt von viel Grün, mageren Wiesen und Feldern und ab und zu steilen Abhängen an der Küste. Die Strecke, die sie jeden Morgen lief, führte sie ans Meer und zurück. Vor fast zwei Jahren hatte sie damit begonnen, als ihr der desolate Gesundheitszustand klar wurde, in dem sie sich mit damals vierundzwanzig Jahren befand. Dass sie Tjark über ihre Kilos lästern gehört hatte, hatte ihre Entschlossenheit nicht beeinflusst, redete sie sich ein. Dabei war er doch schuld an dem Kummerspeck gewesen, wie ihre Großmutter es nannte. Die Bewegung an der frischen Luft klärte ihre Sinne und sorgte für einen freien Kopf, doch seit Tjark ihr am Vortag diese Nachricht geschickt hatte, war ihr das versagt geblieben. Nun stahl sich dieser verflixte Kerl schon wieder in ihre Gedanken. Resolut schob Mhairi den Schmerz beiseite und parkte im Hinterhof des Hauses, das sie mit ihrer Großmutter bewohnte. Sie warf die Autotür mit mehr Schwung als notwendig zu, holte tief Luft und betrat den Laden durch die Hintertür.

„Hallo Granny.“

Ihre Großmutter saß an der Kasse und tippte hektisch darauf herum.

„Du bist früh zurück. Kannst du dir dieses verflixte Ding hier angucken? Das reagiert schon wieder nicht.“

Mhairi schürzte die Lippen, um ihr Grinsen zu verbergen, und machte sich an die Arbeit.

Sarah gähnte und griff nach ihrer Kaffeetasse. Sie war leer. Seufzend erhob sie sich. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine warf sie einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel über London zeigte ein einheitliches Grau, das ab und zu von einem Flugzeug durchbrochen wurde. Das Kaffeepulver war ebenfalls aufgebraucht. Leise schimpfend besah Sarah sich die mickrigen Reste, die noch in der Kaffeekanne waren, und gab Instantpulver in ihre Tasse. Der Wasserkocher pfiff und brodelte, und endlich stieg der Duft des Getränks wieder in ihre Nase. Sie gähnte noch einmal herzhaft und kippte den Rest aus der Kanne dazu.

Ein Klopfen ließ sie herumfahren. Beinahe hätte sie dabei das dringend benötigte Heißgetränk verschüttet. Vor der Scheibe, die ihren Arbeitsbereich von der Kundschaft trennte, stand ein Mann mittleren Alters.

„Sind Sie fertig?“

Sie nickte ihm höflich zu. Der Mann war ihr direkt unsympathisch. Er war bestimmt Amerikaner, so ungehobelt wie er sie ansprach.

„Was kann ich für Sie tun, Sir?“ Sarah schlüpfte in ihre Höflichkeit wie in eine Uniform, die sie als Verwaltungskraft nicht trug.

„Ich suche jemanden.“

Sarah arbeitete bereits mehr als vier Jahre in dieser Dienststelle der Londoner Polizei. Sie lag unweit des Flughafens Heathrow und war somit Anlaufstelle für fragende Reisende. Doch mehr als verlorene Gepäckstücke hatte noch nie jemand bei ihr gemeldet.

„Was haben sie denn verloren?“ Sarah spulte die gelernten Texte ab. Sie mochte den Mann unsympathisch finden, doch sie musste trotzdem ihren Job erledigen.

„Nicht was. Wen. Sie hören mir gar nicht zu.“ Der Mann kratzte sich hektisch am Kopf, was die wenigen Haare abstehen ließ, dann sah er sich im Empfangsbereich um. Außer ihm war niemand da. In einer der rückwärtig gelegenen Räume konnte Sarah die Kollegen in Uniform miteinander scherzen hören. Wenn sie Hilfe brauchte, wären sie sofort zur Stelle.

„Entschuldigung.“ Sie sah den Mann aufmerksam an. Kleine Schweißtropfen perlten auf seiner unansehnlich wulstigen Oberlippe. „Ich habe Sie wohl missverstanden. Sie wollen jemanden als vermisst melden, ist das richtig?“

Der Ausländer schien sich ein wenig zu entspannen.

„Exakt. Ich suche einen Mann namens Dirk.“ Die ungewohnte Sprachfärbung ließ den Namen wie „Dark“ klingen.

„Zunächst brauche ich Ihre Daten, Sir. Wie ist Ihr Name?“

„Das geht Sie gar nichts an, Miss Kumar“, blaffte er nach einem unmissverständlichen Blick auf ihr Namensschild. „Ich will doch nur Dirk Vanderbeek finden. Was ist denn das hier für ein schlechter Service? Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Sir, bitte beruhigen Sie sich. Ich möchte Ihnen helfen, aber es gibt gewisse Vorschriften.“ Als sie anfing, für die Polizei zu arbeiten, hatte sie schnell gelernt, sich hinter den Regeln der Behörde zu verschanzen, wenn es ungemütlich wurde. So wie sie sich unter dem Deckmantel der Gesetzeshüter verbarg, um Beleidigungen nicht persönlich zu nehmen, schob sie die Regularien vor, um der Wut eines Klienten nicht allein begegnen zu müssen. Der Polizeiapparat in ihrem Rücken gab ihr Macht.

„Wenn sich bei uns jemand so etwas erlauben würde, der würde entlassen!“

„Wo kommen Sie denn her?“ Ihr Versuch, die Wogen zu glätten, misslang.

„Sie werden noch von mir hören! Finden Sie Dirk Vanderbeek!“

„Sir, wenn Sie in offizieller Funktion hier sind, weisen Sie sich bitte aus.“ Sarah wartete, doch der Mann sah sie nur finster an. Sie seufzte. „Haben Sie denn Grund zur Annahme, dass ein Verbrechen mit Mr. Vanderbeek geschehen ist?“

Kopfschütteln.

„Ich muss ihn finden. Es ist Ihr Job, mir dabei zu helfen.“

„Ich kann Ihnen so nicht helfen. In diesem Land gibt es Regeln. Quid pro quo, sozusagen. Aus Langeweile jemanden suchen zu lassen, geht nicht.“

„Langeweile! Ich habe keine Langeweile. Ich muss ihn finden!“

Sarah seufzte.

„Können sie mir denn wenigstens einen Grund für Ihr Anliegen nennen? Sie sind sehr aufgebracht. Was ist geschehen?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Mit Verlaub, Sir, dann wenden Sie sich doch bitte an einen Privatdetektiv. Wir von der Polizei sind für die Aufklärung von Verbrechen zuständig, nicht für die Suche nach Personen, mit denen Sie private Angelegenheiten regeln wollen.“

Der Mann, von dem sie annahm, dass er Amerikaner war, schnaufte noch einige Male. Er öffnete und schloss den Mund, ohne etwas zu sagen, und drehte sich schließlich um. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss. Sarah schüttelte den Kopf über dieses Benehmen und stürzte den abgekühlten Kaffee hinunter. Die Leute kamen oft auf seltsame Ideen, vor allem, wenn sie nicht aus Großbritannien stammten. Dabei bezweifelte sie, dass in anderen Ländern die Polizeibeamten nach deren Pfeife tanzten. Ganz im Gegenteil, sie hielt die Metropolitan Police in letzter Zeit für sehr lasch und nur zu gerne bereit, dem kleinsten Gerücht nachzugehen, um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Bei der Aufklärung des Raubes, bei der ihr Vater damals angeschossen wurde, hatten sie es nicht so eilig gehabt. Sarah biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht ungerecht sein. Seit damals waren viele Jahre vergangen, und Polizisten mit dunkler Haut waren nicht mehr grundsätzlich Kollegen zweiter Klasse. Die vorgezogene Pensionierung ihres Dads hatte sie gezwungen, zum Unterhalt der Familie beizutragen. Ihre eigenen Pläne hatten eigentlich eine Auszeit nach der Schule vorgesehen. Sie hatte nicht weit reisen wollen, sondern eine Tour durch Großbritannien machen wollen. Die Gastfamilien waren bereits gebucht gewesen. Sarah starrte auf den Boden ihrer Tasse. Er war vom ständigen Gebrauch dunkel verfärbt und ihr ging ein Licht auf. Sie kannte Dirk Vanderbeek. Er war ein Freund ihrer Brieffreundin, die sie damals besuchen wollte. Dirk hieß eigentlich Tjark und es erklärte, warum der Amerikaner den Namen so seltsam ausgesprochen hatte. War nicht Mhairi schrecklich in ihn verliebt gewesen, damals, bevor ihr Leben so kompliziert geworden war? Sarah runzelte die Stirn. Sie würde nur vorsichtig anklingen lassen, dass ihr dieser Name im Job begegnet war. Sie wollte keine alten Wunden aufreißen.

Während sie sich eine neue Tasse Instantkaffee zubereitete, kündigte ein Piepton ihres Computers eine eingegangene Suchmeldung an, eine echte dieses Mal.

2

Das Meer war ruhig. Am Horizont wurden die ersten gelben Schleier sichtbar. Mhairi hatte keinen Schlaf finden können, und gegen vier Uhr in der Nacht aufgegeben. Sie kletterte aus dem Bett, schlich die Treppe hinunter und übersprang das knarzende Bodenbrett kurz vor der Haustür. Sie brauchte ihrer Granny keinen Zettel hinlegen, denn ohne ihre Hilfe käme sie ohnehin nicht so schnell aus dem Bett. Sie würde rechtzeitig zurückkehren müssen, doch nun hielt sie nichts im Haus. Die Straßen von Sochorper lagen ruhig und verlassen da. Zu dieser nachtschlafenden Zeit konnte sie das Meer bereits rauschen hören, als sie sich auf den Weg zu den Klippen machte. Tagsüber ging das Geräusch im Alltag verloren.

Nun starrte Mhairi auf den ersten Schimmer des neuen Tages und hörte statt der Wellen nur ihre eigenen Gedanken rauschen. Tjark war wieder da. Sie konnte an nichts anderes denken. Dabei wollte sie seinetwegen keinen Schlaf mehr verlieren. Sie wollte seinetwegen keine Träne mehr vergießen. Ihre Wangen waren trocken, als sie dem Licht entgegenblinzelte. Wenigstens das blieb ihr heute erspart. Tjark war wieder da, brachte ihre Gedanken und ihr Herz durcheinander und schreckte die Geister der Vergangenheit auf. Und dabei wirkte er so kühl und unnahbar, dass Mhairi zurückschreckte. Er hatte seine Seele mit etwas beladen, das spürte sie genau. Die Bitte um ein Gespräch hatte beinahe flehend gewirkt. Doch sie wollte nicht seine Ansprechpartnerin sein. Sie wollte sein Vertrauen nicht. Als sie sich einander das letzte Mal anvertraut hatten, bei einem Glas Whisky oder drei, hatte sie die Auswirkungen über die Kloschüssel gebeugt nur zu gut gespürt. Diese Nacht konnte sie nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen. Im Gegensatz dazu hatte Tjark das Erlebnis offensichtlich direkt im Anschluss vergessen. Mhairis Kehle wurde eng und sie drehte sich von der Sonne und dem Meer weg. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Die genauen Erinnerungen konnten noch ein wenig warten.

„Du bist zu dünn, Schätzchen.“

„Ich habe ein normales Gewicht, Granny.“

Mhairi hakte die Gurte aus, mit denen sie ihre Großmutter vom Bett in den Rollstuhl gebracht hatte, und zog sie seitlich weg.

„Du bist ganz knochig.“

Sie wich dem Finger aus, der sie in die Rippen pieken wollte.

„Willst du, dass ich wieder so fett wie vor zwei Jahren bin?“

„Nein, Schätzchen, natürlich nicht. Du warst so unglücklich. Ich bin sehr stolz auf das, was du geschafft hast. Aber ich sehe doch, dass dich etwas bedrückt. Fall mir nicht auf der anderen Seite vom Pferd herunter. Wenn du nichts mehr auf den Rippen hast, kannst du dem Leben nichts entgegensetzen.“ Granny sah sie prüfend an. „Dieser Bursche ist wieder da. Ich weiß das doch.“ Joyce streichelte ihrer Enkeltochter über die Wange. „Es hat dir sehr wehgetan, dass er immer wieder fort ist.“

Mhairi wandte sich brüsk ab.

„Das ist vorbei. Und ja, er ist wieder hier.“

„Balach dona“, murmelte ihre Großmutter und Mhairi grinste. Sie nannte Tjark nicht beim Namen, wenn sie es vermeiden konnte. In Grannys Augen war er immer der böse Junge, und am liebsten wäre es ihr gewesen, Mhairi hätte sich nicht mit ihm angefreundet. Mhairi hatte nie verstanden, warum sie ihn nicht mochte. Je älter sie wurde, um so leiser wurde Grannys Ablehnung. Irgendwann hatte sie die Freundschaft der beiden akzeptiert, doch Mhairi hütete sich noch immer, viel von ihren Unternehmungen zu erzählen. Joyce war nicht einmal auf der Beerdigung von Tjarks Vater gewesen, was viele Fragen nach sich gezogen hatte.

Granny band sich die grauen Haare zu einem unordentlichen Dutt.

„So, genug jetzt. Heute kommt ein Vertreter wegen der Winterwolle. Willst du dich mit ihm hinsetzen oder willst du im Laden bleiben?“

„Ich bin der Ladenhüter“, murmelte Mhairi und erntete einen bösen Blick. „Triff du die Auswahl, du hast da mehr Erfahrung.“

„Irgendwann wirst du das übernehmen müssen.“

„Aber nicht heute. Geh schon mal vor, ich hole uns noch Tee und komme dann.“

„Der Tag kann beginnen“, sagte ihre Großmutter mit der ihr eigenen Fröhlichkeit. Mhairi gähnte und verschwieg, dass ihr Tag mit einem strammen Gang mitten in der Nacht begonnen hatte.

Tjark war nach Hause gekommen. Mhairis Herz sang. Sie stand vor dem schmalen Spiegel, den sie auf die Tür ihres Kleiderschranks geklebt hatte, als sie ein Teenager war, und ruckelte an der Jeans, bis sie richtig saß. Es spielte keine Rolle, dass der Anlass für Tjarks Rückkehr ein trauriger war und dass sein Vater vor vier Tagen beerdigt worden war. Heute Abend würden sie sich mit ihren Freunden im Pub treffen und eine gute Zeit haben. Wer wusste, wie lange der Pub noch für seine Gäste öffnen durfte. Die wenige Freiheit in dieser seltsamen Zeit, in der sich jeder einschränkte und mit seinen Ängsten allein gelassen wurde, wollten sie voll auskosten. Sie waren jung und gesund und würden dem Virus trotzen, wenn es käme. Tjark selbst hatte das Treffen vorgeschlagen. Mhairi hatte Verständnis dafür, dass er der bedrückenden Enge des Herrenhauses und den Tränen seiner Mutter für eine Weile entfliehen wollte.

Ihre Großmutter rief nach ihr und sie hüpfte die Treppe hinunter, um direkt in Tjarks ausgestreckten Armen zu landen.

„Hi.“ Sie lachte etwas atemlos, als er sie fest an sich drückte.

„Ich habe dich vermisst.“

Mhairi war nicht sicher, ob sie sich verhört hatte, und überging seinen Kommentar sicherheitshalber. Schließlich waren sie sich in den letzten Tagen häufiger begegnet als im ganzen Jahr zuvor.

„Können wir los?“

Der Weg zum Pub war nicht weit. Mhairis Zuhause lag an der Hauptstraße und beherbergte nicht nur die Wohnung, sondern auch den kleinen Wollladen, den sie mit ihrer Großmutter führte. Der Pub war nur wenige hundert Meter entfernt, und weitere hundert Meter dahinter lag die Kirche mit dem angrenzenden Friedhof, wo sich nun unweit der Gräber von Mhairis Eltern auch die letzte Ruhestätte von Donald Vanderbeek befand.

Tjark war Mhairis bester Freund, obwohl sie sich so oft stritten, dass es ein Wunder war, dass sie sich immer wieder trafen. Nach jedem Streit fanden sie die Kraft, ihre Freundschaft zu kitten und zu pflegen. Ohne es zu wollen gerieten sie dennoch aneinander. Doch ohne einander kamen sie auch nicht aus. In den letzten Jahren überwogen die guten Zeiten. Deshalb war es für Mhairi selbstverständlich, dass sie noch mit Tjark im Pub saß, als die Freunde sich verabschiedeten und die Trauer zurückkehrte.