Grüneres Gras - Morag McAdams - E-Book

Grüneres Gras E-Book

Morag McAdams

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Beschreibung

Die Sommerferien stehen vor der Tür und Samantha freut sich auf eine unbeschwerte Zeit mit ihren Lieblingsponys und mit ihrem Schwarm Moritz, den sie gerade erst kennengelernt hat. Doch schnell tauchen Wolken am Himmel über dem Edersee auf, denn Moritz schleppt ein düsteres Geheimnis mit sich herum. Samanthas Tiere werden bedroht, und auch ihr Vater verhält sich seltsam. Wird sie ihr Zuhause – und Moritz – retten können?

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Seitenzahl: 205

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Morag McAdams

GrüneresGras

© 2024 Morag McAdams

Covergestaltung mit canva.com

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Personen sind nicht beabsichtigt.

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Morag McAdams, c/o Auf Lülingskreuz 12, 34497 Korbach, Germany.

1

„Samantha!“Sam rollte mit den Augen und ignorierte die Stimme ihres Vaters. Sie trug die letzte Ziffer in die Tabelle ein. „Samantha!“Sie erlaubte sich ein Lächeln. Es reichte. Ihre Laune besserte sich schlagartig und sie beschloss, auf den Namen zu reagieren, mit dem ihr Vater sie rief.„Nenn mich nicht so“, sagte sie trotzdem, als sie aus ihrem Zimmer trat.„Spätzchen, kannst du …“„Papa, echt jetzt? Ich bin doch keine fünf mehr.“„Okay. Sam. Besser?“„Müssen wir diese Diskussion eigentlich jeden Tag führen?“ Sie gab sich mehr aus Reflex als aus Ärger widerspenstig.„Was ist schlecht an deinem Namen?“Sam zuckte mit den Schultern.„Sam passt besser. Ich bin doch kein Mädchen.“ Sie grinste. „Also kein Mädchen-Mädchen. Du kannst mich Samantha rufen, wenn mir blonde Locken wachsen und ich mir die Fingernägel lackiere.“Eher würde der See im März trocken liegen, dachte sie und fuhr sich durch das stoppelkurze Haar. Es war nicht so, dass sie kein Gespür für Mode hatte. Der Pixiecut stand ihr ausgezeichnet und betonte ihr kantiges Gesicht. Sie war klein und zierlich und machte sich nichts aus Rüschenkleidchen. Jeans und ein Hemd waren viel praktischer. Und es nervte ihre Mutter, wenn sie sich so kleidete. Nicht, dass sie sie oft sah; es ging ihr nur ums Prinzip.Abwartend stemmte sie die Hände in die Hüften. Ihr Vater runzelte die Stirn.„Was wolltest du?“, fragte er.„Papa. Du hast mich gerufen.“„Ach. Ja. Richtig.“Sam seufzte. Thomas Küfer vergaß vieles in der letzten Zeit. Er vergaß, die Milch zurück in den Kühlschrank zu stellen. Er vergaß das Weißbrot im Toaster. Er hatte in der vergangenen Woche sogar vergessen, die Pferde von der Weide zu holen. Sam hatte morgens einen furchtbaren Schrecken bekommen, als die Boxen im Stall leer waren.„Ist etwas mit den Pferden?“, versuchte sie ihm mit einem Stichwort zu helfen. Ihr Vater schüttelte den Kopf.„Nein. Die Hühner. Ja. Genau. Kannst du bitte die Hühner später füttern. Ich habe noch einen Termin in Bad Wildungen.“„Klar, mache ich.“ Sam fragte nicht, was er für eine Verabredung hatte. Vielleicht traf er sich mit einer Frau. Darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie überlegte kurz, ihm zu erzählen, dass sie sich endlich den Führerscheinlehrgang leisten konnte, doch ihr Vater wirkte sehr zerstreut. Mit einem Nicken ließ sie ihn stehen und verzog sich wieder in ihr Zimmer. Die Hühner würde sie erst im letzten Licht des Tages in den Stall holen. Sam liebte den Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war. Ein paar Pferde standen im Stall. Keines davon gehörte ihnen, sondern sie bekamen Miete für den Boxenplatz mit Weide. Meistens übernahm ihr Vater auch das Füttern, doch um das Kraftfutter oder das Ausmisten mussten sich die Besitzer selbst kümmern. Das Geld, das Sam sorgsam in ihre Tabelle eingetragen hatte, war deren Bequemlichkeit geschuldet. Sie hatte die Pferdeäpfel aus den Boxen geholt und den Reitern dafür einen kleinen Obolus abgeknöpft. Es hatte lange gedauert. Die meisten ihrer Freundinnen fuhren schon im Auto ihrer Eltern zur Schule. Hannah besaß sogar ein eigenes Fahrzeug. Es war grün und verbeult, mit durchgesessenen Polstern, und stank nach Zigaretten, doch Sam beneidete ihre beste Freundin um die Freiheit. Das ganze Waldecker Land stand ihr damit offen. Für Sam blieb nur der Bus, der jede Stunde einmal an der Haltestelle in der Dorfmitte auftauchte. Doch bald säße auch sie hinter dem Steuer. Sie grinste ihrem Gesicht zu, das sich im schwarzen Bildschirm des Laptops auf ihrem Schreibtisch spiegelte. Das Leben war schön.Der Morgen brach trübe und nasskalt an.„Typisch“, murmelte Sam, während sie zu den Pferdeboxen stapfte. Auf dem unebenen Hof stand Wasser. „Sommer ist, wenn das Eis auf den Pfützen taut.“Der Bauernhof am Rand des Edersees war ihr Zuhause. Sie hatte nicht vor, ihre Heimat zu verlassen. Obwohl sie gern über das Wetter und den Dorfklatsch meckerte, war sie glücklich, hier zu leben.Sie griff nach drei Halftern, dann tätschelte sie die Hälse der Pferde, die neugierig über die Boxentüren schauten. Sie hatten Glück, dass sich die kleine Herde gut verstand. Das machte die Arbeit leichter. Sam brachte erst die drei Warmblüter auf die Weide, dann holte sie die beiden Haflinger. Ihr Liebling war die Stute mit dem dunklen Fell, das verriet, dass nicht nur Haflinger in ihrem Blut steckte. Die kleinen Tiroler Ponys waren normalerweise gut am hellroten Fell und der weißen Mähne zu erkennen. Matilda hatte zwar helles Langhaar, doch ihr Körper war beinahe dunkelbraun. Sam klopfte der Stute den Hals, als sie nach dem Wallach schnappte, der sich an sie drängte.„Ach Tilli, stell dich nicht so an. Du liebst ihn doch.“ Sam grinste, als Matilda schnaubte. Geschickt hakte sie die Griffe des Elektrozauns ineinander und schlug die Litze in einem Bogen an die Seite. Dann ließ sie die Ponys frei. Die Nässe des Grases drang durch ein Loch in ihren Schuh. Seit Monaten schob sie den Kauf neuer Stallschuhe vor sich her. Erst der Führerschein, sagte sie sich.In der Küche brannte Licht, als sie zurück ins Haus kam, doch ihr Vater war nirgends zu sehen. Auf dem Herd stand ein Topf mit Eiern. Wasser war keines darin, und Sam schaltete die Herdplatte aus. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Vater war sehr schusselig in letzter Zeit. Dass er ab und zu die Hühner vergaß, war in Ordnung. Aber diese Situation hätte leicht gefährlich werden können. Sam schob den Topf mit spitzen Fingern von der Platte, die noch heiß war. Selbst die Griffe waren warm geworden. Ob ihr Vater wütend würde, wenn sie ihn darauf ansprach? Sam schüttelte den Kopf. Jetzt war er ohnehin nicht da.„Hi Sam!“Hannah winkte ihr vom Hoftor zu. Sam scheuchte gerade die Hühner vom Paddock und begrüßte ihre beste Freundin nur kurz.„Ich komme gleich!“Sie verriegelte die Brettertür, damit die Hühner nicht erneut von ihrem Auslauf entkommen konnten. Sie wunderte sich schon seit längerer Zeit nicht mehr über offenstehende Gatter und Türen, sondern räumte still hinter ihrem Vater auf.„Ich geh schon rein, okay?“„Klar, geh vor. Ich bin gleich fertig. Mach meinen Laptop schon mal an.“ Sam sah Hannah hinterher, deren weiße Turnschuhe nicht geeignet waren, über den dreckigen Hof zu laufen. Sie waren ein seltsames Gespann, ein Freundinnenteam aus Barbiepuppe und androgynem Arbeitstier. Aber ihre Freundschaft war echt und sie taten einander gut. Sam bekam durch Hannah oft neue Perspektiven und eckte weniger an. Nachdem sie einen letzten prüfenden Blick über die Stalltore und den großen Hof geworfen hatte, gesellte sie sich zu Hannah ins Wohnhaus.„Hi Süße. Ich habe Kekse mitgebracht.“Sam hängte ihr Hemd an einen Haken hinter der Tür, dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen.„Danke. Ich bin am Verhungern.“ Sie stopfte sich zwei Butterkringel in den Mund. „Papa wollte einkaufen. Keine Ahnung, wo er bleibt“, nuschelte sie. „Also, Geschichte. Was ist das Thema?“„Mann, Sam. Pass doch mal im Unterricht auf.“„Tschuldigung. Ich hab den Kopf voll mit wichtigeren Dingen. Außerdem ist das doch echt Quatsch, so kurz vor den Ferien noch Referate halten zu müssen.“ Sie zog an einer von Hannahs lockigen Strähnen. Zurzeit waren sie blond gefärbt, was Sam nicht besonders gefiel. Aber sie ließen einander, wie sie waren. „Ich hab dich lieb, Hannah, weißt du das?“„Ach Süße, so anstrengend ist es gerade bei dir?“Sam runzelte die Stirn und Hannah erklärte: „Du sagst mir nur, dass du mich magst, wenn du im Stress bist. Kann es sein, dass du das als emotionale Bestätigung brauchst? Aber ja, ich hab dich auch lieb. Und jetzt lass meine Haare los und fang an zu tippen. Das Thema ist industrielle Revolution und die Auswirkungen auf die verschiedenen Gesellschaftsschichten.“„In Ordnung, Frau Psychologin.“Die beiden Mädchen hörten auf, herumzualbern. Konzentriert arbeiteten sie an der Aufgabe für ihren Geschichtskurs, von der ihr Lehrer gesagt hatte, dass sie beinahe so schwer wie die mündliche Prüfung war. Nach einiger Zeit unterbrach sie das Klingeln von Sams Handy.„Hier ist Meike. Kommst du mal raus?“ Sam verzog wegen der fehlenden Begrüßung, Abschiedsfloskel und grundsätzlichen Höflichkeit das Gesicht. Dann gab sie sich einen Ruck.„Kommst du mit?“, fragte sie. „Meike ist da.“„Was will sie denn?“Sam zuckte mit den Schultern. Meike war Matildas und Salazars Besitzerin. Sie war diejenige, die sie gut bezahlte, wenn sie ihr dieArbeit abnahm, also sprang Sam, wenn Meike rief.„Du kannst meine Gummistiefel nehmen.“Meike stand am Paddock und sah zu der Weide, auf der die Pferde grasten. Neben ihr standen zwei Männer, die unverkennbar Vater und Sohn waren. Beide hatten rotblondes Haar und eine schlaksige Figur.„Da bist du ja!“Sam hätte längst an den Umgangston der Frau gewöhnt ein sollen. Trotzdem hätte sie sich ein wenig mehr Freundlichkeit gewünscht.„Das sind Mike und Moritz“, stellte die Mittvierzigerin die Männer vor. Sam hörte, dass Hannah ihr Lachen mit Husten zu tarnen versuchte. Die Namensgebung war tatsächlich etwas unglücklich und erinnerte an die Geschichte von Wilhelm Busch.„Hallo.“ Sam nickte ihnen höflich zu. Sie begegnete dem neugierigen Blick des Jüngeren mit Interesse. So helle blaue Augen hatte sie noch nie gesehen.„Mike ist mein neuer Freund. Ich wollte ihm die Ponys zeigen. Und Moritz wollte gerne einmal reiten. Ich dachte, ihr könnt bis zum See und zurück. Das ist doch eine schöne Strecke.“Sam riss sich von den roten Bartstoppeln los, die um Moritz‘ Kinn wuchsen.„Was? Entschuldige, wie war das?“Moritz grinste sie an und ihr wurde heiß.„Ich dachte, ihr könnt mit den Ponys zum See reiten“, wiederholte Meike und Sam begriff langsam.„Heute? Jetzt? Es tut mir leid, ich muss lernen.“„Ach Quatsch, geh nur“, mischte Hannah sich ein. Sam funkelte sie an.„Nein“, widersprach sie. „Wir müssen ein Referat vorbereiten.“ Etwas in ihr weigerte sich, aufs Wort zu springen. Was würde Moritz‘ erster Eindruck von ihr sein, wenn sie alles stehen und liegen ließ? Und weshalb interessierte es sie, was er von ihr denken mochte?„Ach, schade. Wir sind den ganzen Weg von Reinhardshausen gekommen.“Mike legte den Arm um ihre Schultern.„Ist doch nicht schlimm.“ Seine tiefe Stimme überraschte Sam, da sie nicht zu seiner schlanken Statur passen wollte. „Es gefällt mir hier. Dürfen wir uns umsehen?“„Klar.“ Sam machte eine ausladende Geste. Sie wusste nicht, was den Mann an ihrem etwas unaufgeräumten Hof interessierte, aber sie hatten keine Geheimnisse. „Nur nicht in den Schweinestall, bitte. Das ist Vorschrift. Wegen der Hygiene.“Mike rümpfte die Nase. „Schweine? Die Viecher wollte ich eh nicht sehen.“Sam begegnete erneut Moritz‘ Blick, dem der Kommentar seines Vaters sichtlich unangenehm war.„Am Samstag hätte ich Zeit.“„Perfekt!“ Meike strahlte. „Dann seht ihr euch also am Samstag.“„Wow“, seufzte Hannah, nachdem sie ins Haus zurückgekehrt waren. Trotz Sams Aussage war an Schularbeiten nicht mehr zu denken. „Hast du seine Augen gesehen?“Sam grinste. „Hast du schon einmal so blaue Augen gesehen? Wow! Und ganz viele Sommersprossen hatte er! Und rote Haare!“Hannah schüttelte sich theatralisch.„Das war’s. Du kannst ihn haben. Rote Haare bei Männern sind überhaupt nichts für mich. Er hatte ja eh nur Augen für dich.“„Echt?“ Sam hielt sich mühsam davon ab, vor Freude zu quietschen.„Klar, die ganze Zeit. Mach was draus, Süße.“ Hannah lachte leise. „Aber wirklich, diese Namen. Mike und Moritz. Und Mike und Meike. Sachen gibt’s. Ich wette, der heißt eigentlich Michael und will nur besonders cool wirken. Irgendwie komisch war der schon.“„Mhm.“ Sam reagierte kaum. Sie dachte noch an Moritz‘ blaue Augen und wurde rot, als Hannah sie auslachte. Offensichtlich sah man ihr an, wie weit ihre Gedanken gingen.

2

Der Samstag kam schneller, als es Sam lieb war. Der Morgen brach kalt und neblig an und wirkte wie ein Tag im November. Dabei war es Ende Mai und Sam hatte entschieden keine Lust auf trübe Tage. Als sie am Frühstückstisch saß und darauf wartete, dass ihr Vater aufwachte, fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, wann Moritz kommen würde. In ihrem Bauch kribbelte es, als sie an den jungen Mann dachte. Ob Hannah recht hatte und sie eine Chance bei ihm hatte? Ihr burschikoses Äußeres schreckte viele Jungs ab, die lieber Kurven und lange Haare bei Mädchen sahen. Deshalb war ihre Auswahl eher eingeschränkt, was die Möglichkeiten betraf, auszugehen, Spaß zu haben und sich auszuprobieren. Selbst bei der Dorfjugend wurde sie oft außen vor gelassen, obwohl sie immer wieder Geschichten hörte, wie frei und ungezwungen die Partnerschaften dort gewechselt wurden. Sam machte das wenig aus. Sie war sich im Klaren, dass sich ihr Wert und ihre Weiblichkeit nicht an einem Bodycount festmachen ließen. Wer ihre schlanke Figur und den raspelkurzen Pixiecut nicht zu würdigen wusste, der verdiente sie auch nicht. Sie hatte keine Torschlusspanik, sie war schließlich erst achtzehn Jahre alt. Trotzdem wäre es schön, mal wieder jemanden zu haben, mit dem sie sich verstand.Sie würde sich nicht für Moritz verstellen, beschloss sie. Aber sie würde sich Mühe geben.Sam sprang auf, als sie eine Autotür schlagen hörte. Sie rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer, zerrte ein frisches T-Shirt über ihren Kopf und riss ein frisches Hemd aus dem Schrank. Mit roten Wangen kam sie schließlich auf dem Hof an. Der Nebel lag noch in der Luft und sie fröstelte.„Hallo!“ Sie zog das Hemd über und stellte fest, dass sich der rote Karostoff mit dem Farbton ihres Shirts biss. Soviel dazu, dass sie sich Mühe geben wollte.„Hi.“ Moritz lächelte und Sam vergaß die Farben ihrer Kleidung.„Hallo.“ Unbeholfen trat sie von einem Bein auf das andere. „Ist Meike gar nicht da?“„Nein, mein Vater hat mich rausgeschmissen. Ist das okay für dich?“„Klar.“ Sam beäugte die Cargohose, die Moritz trug, und verzog den Mund. „Das sind deine Reitklamotten?“ Die Hose war sehr leger geschnitten und saß locker auf seinen Hüften. Sam wurde rot, als ihr klar wurde, dass sie auf seine Mitte starrte. Sie riss ihren Blick hoch.„Meike sagte, ich sollte etwas Bequemes anziehen. War das falsch?“Langsam dämmerte es ihr. „Du bist noch nie geritten, oder?“Moritz schüttelte den Kopf.„Puh. Und dann sollen wir gleich bis zum See?“„Müssen wir nicht“, erklärte Moritz schnell. „Um ehrlich zu sein, war das nur so eine Idee meines Vaters. Wir können auch etwas anderes machen. Was kann man denn hier unternehmen?“„Nichts. Hier ist tote Hose.“ Wieder schoss ihr das Blut in die Wangen. „Hast du gar keine Lust zu reiten? Wir können es ja langsam angehen lassen.“Schließlich putzten sie gemeinsam Meikes Haflinger. Sam zeigte Moritz die Handgriffe, und wenn sich ihre Finger dabei berührten, zuckte sie zurück, bis er ihre Hand einfach festhielt.„Hast du Angst vor mir?“Stumm schüttelte Sam den Kopf. Er stand so dicht bei ihr, dass sie den Geruch seiner Kleidung trotz des Dufts der Pferde wahrnahm. Er roch nach Waschmittel und leicht süß und sie musste sich beherrschen, nicht offensichtlich zu schnuppern.„Gut.“ Er ließ ihre Hand los. „Ich glaube, ich bin mutig genug, um aufzusteigen.“Benommen trat sie einen Schritt zurück, bevor sie sich zusammenriss und das Sattelzeug holte.„Du kannst bestimmt Meikes Helm nehmen. Der hängt hinter dir am Haken. Das Satteln übernehme besser ich.“„Du bist die Expertin.“Es war nett, dass er sie nicht in Frage stellte oder mit ihr diskutieren wollte, dachte Sam, während sie Matilda sattelte. Dann holte sie den nächsten Sattel.„Ich denke, du nimmst am besten Salazar.“ Sie grinste ihn an. „Keine Bange, er ist braver, als sein Name vermuten lässt. Wenn ich dich auf Matilda setze, komme ich bei den vielen Ms ganz durcheinander.“„Ja, Mike und Moritz. Und Mike und Meike. Die bekloppten Namen sind also auch dir aufgefallen. Ich weiß wirklich nicht, was mein Vater sich dabei gedacht hat. Mich Moritz zu nennen, meine ich. Ob er uns für Lausejungs wie Max und Moritz hält? Vielleicht hat er sich das damals so vorgestellt. Ich bin aber eigentlich nett und klaue alten Damen keine Hühner.“„Was klaust du denn? Herzen?“ Sam biss sich auf die Zunge und bückte sich nach dem Sattelgurt, um Moritz nicht ansehen zu müssen. Sie hatte ihre Gedanken schneller ausgesprochen als sie sich bremsen konnte. Sie wusste nicht, welche Art Antwort sie erwartete, und sie ließ sich Zeit, die Gurtstrippen festzuzurren. Doch Moritz antwortete erst, als sich ihre Blicke über dem Pferderücken begegneten:„Ich bekomme es lieber geschenkt.“Peinlich berührt drehte Sam sich weg.„Salazar ist eigentlich kein Anfängerpony. Aber Matilda ist die Leitstute und duldet es nicht, wenn jemand anders die Führung übernimmt, deshalb muss es wohl so gehen. Ich nehme dich jedenfalls an den Strick.“„Machst du das absichtlich?“Sie sah ihn verständnislos an.„Na, diese Andeutungen. Willst du spielen, oder…?“„Ich will jetzt eigentlich reiten.“ Sam stöhnte und drückte ihre Stirn gegen Matildas Hals. „Ich verstehe, was du meinst. Ist das peinlich. Ignoriere mein Geplapper bitte, und lass mich meine Unfähigkeit vergessen.“ Sie sah ihre Chancen bei Moritz schwinden. Wieso konnte sie nicht ein Gespräch führen wie normale Menschen? Stattdessen warf sie mit Andeutungen um sich, die ihn in Zugzwang brachten, oder die sie wie eine verzweifelte alte Jungfer wirken ließen.Moritz lachte und Sam lief ein Schauer über die Haut. Sein Lachen klang schön.„Na los, lass es uns versuchen.“ Moritz schwieg kurz. In der Stille konnte sie ihr Herz klopfen hören. „Reiten, meine ich. Also auf den Pferden.“ Er räusperte sich. „Es scheint ansteckend zu sein, diese Art der Kommunikation.“Sam hob den Kopf und erwiderte sein Lächeln. Vielleicht war doch nicht alles verloren.„Na, dann los.“Sie erklärte ihm, wie man in den Sattel kam, was er mit seinen Beinen und Händen machen sollte, und saß schließlich selbst auf. Dann sprang sie wieder vom Pferd und führte die Tiere durch das Hoftor. Wieder einmal war sie zu schnell gewesen, doch Moritz schien sich nicht daran zu stören. Er war damit beschäftigt, mit seinen langen Beinen nach den Steigbügeln zu angeln.„Drück die Fersen ein bisschen nach unten“, riet Sam. „Dann rutschst du nicht heraus.“„Danke, dass du einen Anfänger wie mich mitnimmst.“Sam zuckte mit den Schultern. Sie hatte nicht wirklich eine Wahl, wenn Meike ihr eine Aufgabe übertrug.„Doch, wirklich. Ich kenne nicht viele Leute hier. Man sagt, die Waldecker sind eher scheu.“„Ruppig, meinst du wohl.“ Sie lachte und Matilda zuckte mit den Ohren. „Wo kommst du denn her?“„Mein Vater brauchte einen Neuanfang. Er kommt eigentlich aus Frankfurt.“„Aus Frankfurt. Das muss eine große Umstellung sein. Verrätst du mir, wie alt du bist?“„Zwanzig, und du?“„Achtzehn.“ Sie bemerkte, dass er ihre erste Frage nicht beantwortet hatte, doch sie hakte nicht nach. Es ging sie auch nichts an.Der Nebel hatte sich gelichtet und die Sonne blinzelte durch das Blätterdach, während sie einen Waldweg entlangritten. Nach einiger Zeit saß Moritz nicht länger verkrampft auf dem Pony und sie plauderten über dieses und jenes. Sam war froh, dass ihr keine verbalen Fehltritte mehr passierten, und sie beschloss, sicherheitshalber nur einen kurzen Ausritt zu machen. Ob sie sich nicht blamieren oder Moritz‘ Muskeln schonen wollte, mochte sie nicht ergründen. Nach einer halben Stunde kamen sie wieder am Stall an.„Und wie komme ich jetzt hier wieder runter?“„Warte kurz.“ Sam sprang aus dem Sattel, zog Matilda die Zügel über den Kopf und hielt die Ponys mit einer Hand fest. Sie stellte sich neben die linke Schulter des Wallachs und blinzelte zu Moritz hoch. „Füße aus den Bügeln“, kommandierte sie. „Lehn dich nach vorne und bring dein rechtes Bein über den Rücken. Nicht so schnell, du musst dich…“ Moritz rutschte am Sattel herunter, Gesicht zum Pferdepo, und stolperte rückwärts. Sam streckte ihm die Hände entgegen. „…festhalten“, beendete sie ihren Satz, als er längst am Boden stand. Ihre Hand, die nicht die Zügel der Ponys hielt, lag auf seiner Schulter. Er war tatsächlich mehr als einen Kopf größer als sie. Wieder stieg ihr dieser frische, süße Geruch in die Nase. Sie konnte Moritz‘ Körperwärme durch den Stoff seines Shirts spüren. Seine Schultern hoben sich, als er tief einatmete.„Du kannst deine Finger nicht von mir lassen, was?“ Sie spürte die Vibration seiner Stimme durch ihre Kleidung. Sam wollte ihm widersprechen, doch selbst durch den Nebel in ihrem Kopf war ihr klar, dass sie lügen müsste. Seine Nähe verdrehte ihre Welt und sie ließ die Hand sinken, als er sich umwandte. Sie konnte den Blick nicht von seinen strahlend blauen Augen nehmen. Sie reckte ihm ihr Kinn entgegen und fühlte sich verwegen.„Und wenn?“Moritz lächelte schief.„Ich würde dich gerne küssen.“Blut rauschte in ihren Ohren und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Zweifel kämpften mit ihrem Mut um die richtige Antwort.„Mach doch.“Er legte seine rechte Hand in ihren Nacken und sie folgte dem leichten Zug, bis sie dicht vor ihm stand. Mit seinem Daumen fuhr er die Kontur ihrer Lippen nach und dann löste sich die Spannung endlich in einem Kuss. Sam seufzte in die Berührung. Ihre Knie wurden weich und sie lehnte sich an ihn. Seine Bartstoppeln piekten ein wenig, und er schmeckte nach Minze, und dann kehrte die Spannung als Kribbeln in Sams Bauch zurück und sie griff in Moritz‘ Shirt, um ihn noch näher zu ziehen. Ein schwarzer Geländewagen hielt am Hoftor.„Ich werde abgeholt.“Sam fiel aus allen Wolken.„Schon?“, krächzte sie. „Wenn wir bis zum See geritten wären, wären wir doch noch gar nicht zurück. Und wir müssen noch absatteln und die Ponys auf die Weide bringen.“Ihr Protest hörte sich in ihren eigenen Ohren erbärmlich an. Sie wollte sich nicht von Moritz verabschieden.„Es tut mir leid. Ich muss los. Er wird leicht ungeduldig.“Tatsächlich drückte Mike so heftig auf die Hupe, dass selbst die unerschütterliche Matilda zusammenzuckte.„Schon okay.“ Sam straffte die Schultern und versuchte, die Enttäuschung zu verstecken. „Ich mache die Ponys allein fertig. Aber nächstes Mal musst du selbst zu Ende bringen, was du anfängst.“Moritz grinste und Sam errötete.„Was machst du nur mit mir?“, murmelte sie.„Ich glaube, man nennt es küssen.“ Er kam wieder näher.„Aber nicht vor deinem Vater!“ Sie schob ihn weg. „Kommst du wieder?“„Natürlich.“Sam sah hinterher, als Moritz aus dem Hoftor trat und die Beifahrertür öffnete. Bevor er einstieg, wechselten die beiden Männer einige Worte. Sam wandte sich ab und führte die Ponys zum Stall. Ob Mike verstanden hatte, wobei er sie gerade gesehen hatte? Noch einmal stieg ihr die Hitze in die Wangen.„Mach schon“, hörte sie Mikes tiefe Stimme dröhnen. „Frag sie.“„Sam?“ Wenn sie nicht ohnehin gelauscht hätte, hätte sie ihn überhört. „Kannst du mal kommen?“Schnell legte sie den Ponys die Halfter um und band sie fest, dann rannte sie zurück zum Hoftor. Moritz hielt eine blaue Tasche hoch.„Wir müssen nach Korbach weiterfahren, aber Papas Kumpel hat seine Tasche im Auto vergessen. Er braucht sie dringend. Kann er sie hier abholen? Es reicht, wenn wir sie am Zaun hängen lassen.“ Er sah sie bittend an. „Geht das? Wenn wir jetzt den ganzen Weg zurückfahren … naja, er ist kein geduldiger Mensch und du würdest mir das Leben echt leichter machen.“„Und wenn sie geklaut wird?“ Sie hatte Bedenken.„Was soll hier schon passieren? Wir sind doch nicht in Frankfurt, sondern auf dem Dorf.“Sam zuckte mit den Schultern. Er hatte recht. Hier wurden höchstens Blumenkübel geklaut, und das auch nur von der Dorfjugend. Meistens tauchten nicht lange danach wieder auf. Das war ihr Versuch, gegen die Langeweile des Landlebens anzukommen. Sam machte bei so etwas nicht mit.„Von mir aus, ist in Ordnung. Häng sie über den Pfosten.“„Danke, Sam!“ Er strahlte sie an und streichelte über ihre Wange. Sam widerstand der Versuchung, sich in die Berührung zu lehnen. Zärtlichkeiten gehörten sich nicht vor den Augen der Eltern, fand sie.„Bis zum nächsten Mal!“„Bis dann“, antwortete sie flüsternd, als die Tasche längst am Zaun hing und sie von dem Auto, in das Moritz gestiegen war, nur noch die Rücklichter sah.Abends tauchte ihr Vater mit gerunzelter Stirn in ihrem Zimmer auf.„Ist das deine?“, blaffte er ohne Begrüßung und hielt die blaue Tasche in der Hand. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst deinen Kram nicht auf dem Hof liegenlassen!“„Das ist nicht meine.“