Eine Hochzeit in der Provinz - Emma Rothschild - E-Book

Eine Hochzeit in der Provinz E-Book

Emma Rothschild

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Beschreibung

Marie Aymard war eine analphabetische Witwe, die in der Provinzstadt Angoulême im Südwesten Frankreichs lebte, einem Ort, an dem scheinbar nie etwas passierte. Dennoch hinterließ sie 1764 mit einem Ehevertrag für ihre Tochter mit 83 Unterschriften ihre flüchtige Spur in der Geschichte. Die berühmte Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild folgt den Spuren dieser Unterzeichner und ihrer Nachkommen über Generationen hinweg und entfaltet so eine faszinierend andere Geschichte Frankreichs vom Ancien Régime auf dem Weg in die Moderne. Eine Geschichte von unten über ganz alltägliche, wissbegierige, kontaktfreudige, abenteuerlustige Individuen, die mit Marie Aymards Ur-Ur Enkelin Anfang des 20. Jahrhunderts endet. Es ist eine weitläufige Erzählung, die den Sozialromanen von Balzac ähnelt, eine Erzählung, die eine große, so normale wie ungewöhnliche Familie in den Blick nimmt.

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Seitenzahl: 967

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Die englische Originalausgabe ist 2021 bei Princeton University Press unter dem Titel An Infinite History erschienen.

© 2021 by Emma Rothschild

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildung: Gruppenbild eines Brautpaares mit seinen Gästen auf einer

Handkarre in der Rue de Montreuil, Paris, Foto, um 1908. © akg-images

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Abbildung auf S. 2/3: Blick auf die Kathedrale von Angoulême, Fotografie von ca. 1860.

© mauritius images / Well/BOT / Alamy / Alamy Stock Photos

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4443-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4480-9

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4481-6

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

INHALT

Einleitung

Kapitel 1: Die Welt der Marie Aymard

Kapitel 2: Der Heiratsvertrag

Kapitel 3: Ein Blick von oben

Kapitel 4: Die erste Revolution

Kapitel 5: Die Französische Revolution in Angoulême

Kapitel 6: Eine Familie in bewegter Zeit

Kapitel 7: Moderne Leben

Kapitel 8: Geschichte(n) aus dem Wirtschaftsleben

Kapitel 9: Familienkapital

Kapitel 10: Charles Martial und Louise

Kapitel 11: Das Ende der Geschichte

Dank

Anhang

Stammbaum

Marie Aymard, ihre Kinder und Enkel

Die 83 Signatare

Stadtplan von Angoulême

Anmerkungen

Register

EINLEITUNG

Von Ebbe und Flut des Lebens

Das Buch, das Sie in Händen halten, ist ein Buch voller Geschichte – und voller Geschichten. Es stellt die Geschichte von drei- oder viertausend Menschen dar, die in bewegten Zeiten gelebt haben. Und es erzählt eine Geschichte – oder besser: 98 Geschichten – über eine kleine Stadt und eine wissbegierige, wenn auch ungebildete Frau namens Marie Aymard, die dort ihr gesamtes Leben verbracht hat. Es entfaltet zudem die Geschichte (und die Geschichten) eines ganzen Familienclans im Raum und in der Zeit, während jener historischen Epochen, die wir das 18. und das 19. Jahrhundert nennen: Marie Aymards Familie ist es, deren verschlungenen, oft reichlich merkwürdigen Lebenswegen wir über fünf Generationen hinweg nachgehen, bis zum Tod von Maries Ururenkelin Louise im Jahr 1906. Und es möchte der Frage nachgehen, wie sich in unserer eigenen Zeit die Möglichkeiten historischer Forschungsarbeit verändern angesichts einer schier grenzenlosen Menge an Quellenmaterial und Zeugnissen vergangener Leben.

Die kleine Stadt ist Angoulême, im Südwesten Frankreichs gelegen, und zu Lebzeiten Marie Aymards galt sie als ein Ort der „Unrast“, der Selbstbezogenheit und endloser „Händel“ in Justiz und Finanz.1 Noch zwei Generationen später waren die Stadt Angoulême und ihre Bewohner „zum düstersten Dahindämmern verdammt“, wie Honoré de Balzac in einem Band seiner Comédie humaine schreibt, jener ausufernden Folge von Romanen, die der Schriftsteller selbst als ein „Drama mit drei- bis viertausend handelnden Personen“ beschrieb.

Der Provinz entfliehen, „unprovinziell werden“, das nannte Balzac in Verlorene Illusionen (Les Illusions perdues), seinem Epos von Papierherstellung und Druckerschwärze, se désangoulêmer, also „sich des-“, sich entangoulêmisieren.2

Unsere Geschichte beginnt im Winter 1764, und sie beginnt mit zwei Stücken Papier. Bei dem einen handelte es sich um eine Vollmachtsurkunde, die Marie Aymard im Zuge ihrer „Nachforschungen“ (wie sie selbst es nannte) zum Schicksal ihres verstorbenen Ehemannes bezeugt hatte. Dieser, ein Zimmermann, war auf die Karibikinsel Grenada ausgewandert und hatte es dort – so war es der Witwe jedenfalls zu Ohren gekommen – bis zum Eigentümer „einer gewissen Anzahl von Negern*“ gebracht. Das andere Dokument war ein Heirats- oder Ehevertrag, der einige Wochen später in Angoulême von sage und schreibe 83 Personen unterzeichnet wurde, um die Heirat von Marie Aymards Tochter mit dem Sohn eines Schneiders zu bestätigen.3 Diese beiden urkundlichen Vereinbarungen, die ein Notar aus der Stadt aufgesetzt hatte, bildeten den Ausgangspunkt für eine Geschichte, die von einer Einzelperson zu ihrem unmittelbaren Bezugskreis aus Verwandten und Bekannten führte, weiter zu deren zahlreichen Bezugspersonen und so schließlich zu einer weit ausgreifenden historischen Recherche – einer Beziehungs- und Vernetzungsgeschichte der Neuzeit. In der Generation der Enkelsenkel von Marie Aymard treten darin auf: eine bitterarme Schneiderin vom Pariser Montmartre und ihre Schwester, eine Straßenhändlerin; ein Marine-Apotheker auf Tahiti; die Witwe eines gescheiterten Bankiers aus Le Mans; und der Kardinalerzbischof von Karthago.4

Immer wieder nehmen die Lebensläufe einzelner Familienmitglieder gänzlich unerwartete Wendungen, und dasselbe gilt von ihren Bekannten und Nachbarn, deren Geschichten nicht weniger unvorhersehbar sind. Wenn diese Geschichte einen Wappenvogel hätte, dann wäre es wohl die gazza ladra, die „diebische Elster“ aus der gleichnamigen Rossini-Oper, die mit Silberlöffeln, Geschirr und glänzenden Münzen auf und davon fliegt.5 Sie ist unendlich – oder doch zumindest von unendlichem Potenzial –, weil der Informationsfülle, der Nebenwege und Episoden des Alltagslebens schlicht kein Ende ist. Es geht um Nähe in dieser Geschichte – um die Nähe im Raum, auch in dem Raum sozialer Beziehungen: Die Recherche nimmt ihren Ausgang bei Marie Aymards engsten Verwandten, bei dem weiteren sozialen Netzwerk, das von den 83 Unterzeichneten des Heiratsvertrages von 1764 gebildet wird, und schließlich dem noch größeren Sozialgefüge von 4089 Individuen, die in den Gemeinderegistern von Angoulême aus demselben Jahr aufgeführt sind. Und es geht um die Nähe in der Zeit, um das Überlappen der Generationen einer Familie, deren Lebenswege in die ereignisreiche historische Epoche der Französischen Revolution hineinlaufen, bevor manche von ihnen auch die ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts noch erleben. Es ist eine Geschichte, die angeregt ist von einem Interesse an fremden Leben (daran, was als jeweils Nächstes geschah, und daran, was das alles bedeuten sollte) und beflügelt von dem Gefühl, wie unerschöpflich die Möglichkeiten der historischen Nachforschung tatsächlich sind – was, bei aller Begeisterung, doch manchmal auch zu einer gewissen Erschöpfung führen kann.

Die Geschichte Marie Aymards und ihrer Familie gleicht einer Reise durch Raum und Zeit, und ist dabei auch meine eigene Reise. Im Sommer 1980 fiel mir beim Stöbern in einer Buchhandlung in Florenz ganz zufällig ein Heft der geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift Quaderni Storici in die Hände. Darin abgedruckt war ein Beitrag, der mich wünschen ließ, eines Tages auch als Historikerin zu arbeiten: Carlo Ginzburg und Carlo Ponis Manifest einer „Prosopografie von unten“, das heißt einer Geschichtsschreibung, die voller Individuen und individueller Geschichten steckt und dabei nicht zwingend eine Geschichte der Mächtigen und Berühmten sein muss.6 Fünfzehn Jahre später – in Angoulême, in der Nähe des Bahnhofs, im wenig romantischen Ambiente der Archives départementales de la Charente – schlug mich die Welt der Archive in ihren Bann, und diesem Bann habe ich seither nicht eine Sekunde entfliehen wollen.

In den vierzig Jahren, die seit 1980 vergangen sind, haben sich die technologischen Grundlagen der geschichtswissenschaftlichen Forschung so stark gewandelt, dass sie kaum noch wiederzuerkennen sind – und auch das gehört zur Geschichte dieses Buches. An 795 Tagen seit dem Frühjahr 2012 habe ich mich zu virtuellen Recherchebesuchen auf der Website des Angoulêmer Departementsarchivs aufgehalten, und meine handschriftlichen Notizen sind auf 1348 Digitalseiten festgehalten. Aber das Gefühl, die individuellen Lebensgeschichten mir fremder Individuen gleichsam mit der Hand greifen und berühren zu können, bleibt dennoch bestehen, und genauso ist es mit dem Eindruck unendlicher Möglichkeiten. Sich in einem solchen Meer von Möglichkeiten zu verlieren, ist die reine Wonne, „e il naufragar m’ è dolce in questo mare“.7

Auf allen Etappen dieser Geschichte komme ich zudem auf Romane zurück, und auf diejenigen, die sie geschrieben haben. Mein Buch bildet eine Folge unvollendeter Geschichten und ähnelt darin A Sentimental Journey, Laurence Sternes Roman ohne Schluss; und tatsächlich handelt eine der 98 Geschichten, die ich erzähle, von dem bunt gefleckten Hündchen, das Sternes Tochter Lydia im Jahr 1769 in einer stillen Seitenstraße von Angoulême gestohlen wurde.8 Einige der ergreifendsten Szenen in Balzacs Les Illusions perdues spielen an einer Ecke derselben Straße, in der 1837 auch sechs Enkelinnen von Marie Aymard wohnten. Und die Lebensbilder der Familienangehörigen im 19. Jahrhundert wirken zusammengenommen wie das Tableau aus dem Rougon-Macquart-Zyklus, Émile Zolas Antwort auf Balzacs Comédie, denn wie bei Zola ergeben sie das Gruppenporträt der Nachkommenschaft einer Matriarchin aus einer isolierten Provinzstadt, die sich im Laufe von fünf Generationen bis in die entlegensten Winkel Frankreichs verteilt haben.

Eines vermittelt mein Buch dabei jedoch nicht: ein Gefühl von Schicksal oder Fügung, genauso wenig wie es vorgibt, die charakterliche Entwicklung einzelner Personen im Verlauf der Zeit darzustellen. Es ist so „flach“ und „positivistisch“, wie es, Émile Zola zufolge, der naturalistische Roman zu sein hatte: als ein „genaues Studium der Dinge und Tatsachen“.9 Es geht von einer Beobachtung über die Gegenwart aus und von der Annahme über Individuen in der Vergangenheit, dass ausnahmslos jeder, damals wie heute, inmitten eines dichten Geflechts von Beziehungen und Austauschverhältnissen existiert, durch deren Vermittlung Güter, Neuigkeiten und Informationen von einem Menschen zum anderen wandern. „Es [ist] unmöglich …, die Vergangenheit zu verstehen, ohne sich mit der Gegenwart zu beschäftigen“, schrieb der französische Historiker Marc Bloch im Jahr 1940, und für ihn, den Experten für das Landleben im Mittelalter, war der genaue Blick auf die überlieferte Form von Feldern und Äckern genauso wichtig wie die Fähigkeit, alte Handschriften lesen zu können.10 Auch in unserer heutigen Zeit ist es wichtig, die Gespräche und das Schweigen auf den Straßen wahrzunehmen – sich umzusehen im Hier und Jetzt, all die Leute zu betrachten, die praktisch ohne Ausnahme Geschichten erzählen und Bilder anschauen, Storys posten und Nachrichten versenden – und sich dann zu fragen: Wie wäre es wohl, wenn es schon immer so gewesen wäre?

Es war der 1764 geschlossene Ehevertrag von Marie Aymards Tochter, mehr noch sogar als die nur wenig früher aufgesetzte Vollmacht, der mich erkennen ließ, dass es auf dieser Reise durch die Geschichte kein Zurück mehr gab und ich dieses Buch unbedingt schreiben musste. Sowohl der Anlass für den Vertrag als auch die Namen der Unterzeichneten haben mich seitdem immer wieder aufs Neue irritiert und überrascht: Im Verlauf der zwei Seiten, über die sich die Signaturen erstrecken, sind verschiedene Tinten und eine Vielzahl unterschiedlicher Schnörkel zu entdecken; es gibt Kindernamen („Rosemarin“) und pompöse Namen („Marchais de la Chapelle“); es gibt Namen, die eng und wie zusammengedrängt beieinander stehen, und andere, die unmöglich zu entziffern sind. Es ist ganz, als wenn die 83 Unterschriften sich, jede für sich, von ihrem Platz auf der Seite erheben wollten. „Auf dem großen Schachbrett der Gesellschaft [besitzt] jede einzelne Figur ein eigenes Bewegungsprinzip“, wie der schottische Ökonom und Philosoph Adam Smith über dieses Spiel des menschlichen Zusammenlebens geschrieben hat.11

Die erste Erweiterung von Marie Aymards persönlicher Geschichte zu einer größeren Geschichte der Neuzeit bestand also in der Erforschung der einzelnen Unterzeichner auf dem Ehevertrag ihrer Tochter, in der Aufdeckung der sozialen Beziehungen, die sie untereinander sowie mit anderen verbanden. Wer waren all diese Menschen, und warum hatten sie sich an einem düsteren Dezembernachmittag des Jahres 1764 dort versammelt? Als historisches Forschungsprojekt ist diese Recherche zu den Unterzeichneten erschreckend unbeständig gewesen: Versucht man auf diese Weise, das Individuum zu einem bestimmten Namen ausfindig zu machen, kommt es immer wieder zu Irrtümern, alles muss man endlos oft wiederholen, dieselben alten Registerseiten immer und immer wieder neu lesen – und eine Portion Glück ist auch vonnöten. Eine Art Detektivarbeit ist es, die einiges an Spürsinn erfordert und ein beinahe unanständiges Interesse an den Leben anderer Menschen. Eine Vielzahl verworrener Identitäten tritt auf, und manche Beziehungen zwischen ihnen ergeben erst einen Sinn, wenn man entweder weit zurück in die Vergangenheit geht oder aber weit nach vorn in die (vergangene) Zukunft. Diese Erforschung der Vertragsunterzeichner führte schließlich zu einer größer angelegten Untersuchung der sozialen Beziehungen innerhalb Angoulêmes, und das erschien – zumindest anfangs – wie ein Abstecher in Richtung Regelmäßigkeit und Ordnung. Am Ende standen eine Liste mit Namen sowie ein Netzwerkdiagramm zur Visualisierung der sozialen Beziehungen zwischen allen Personen, die in den Kirchenbüchern der katholischen Pfarrgemeinden von Angoulême im Jahr 1764 aufgeführt waren oder erwähnt wurden: eine virtuelle Stadtgesellschaft mit 4089 Mitgliedern. Es war der Versuch, mit Blick auf die Einwohnerschaft, unter deren Angehörigen sich die Geschichten Marie Aymards und der 83 Unterzeichneten abgespielt hatten, zumindest eine Ahnung von Vollständigkeit und Abgeschlossenheit zu erlangen.12

Die anschließende Erweiterung des Vorhabens bestand, wie auch der Großteil des vorliegenden Buches, nicht in einer Erweiterung des geografischen oder sozialen Untersuchungsraums, sondern in einer Weitung des historischen Ausgriffs, einer Erweiterung in der Zeit. Wollte man nämlich herausfinden, wer all diese Leute gewesen waren, gab es letztlich nur eines: Man musste herausfinden, was als Nächstes geschehen war. So ist aus den einzelnen Geschichten schließlich eine Geschichte von Angoulême in den Jahren vor der Französischen Revolution geworden, in der die Rechtsstreitigkeiten der 1760er-, 1770er- und 1780er-Jahre eine gewisse Rolle spielen; eine Geschichte der Französischen Revolution in Angoulême; eine Geschichte von Marie Aymards Enkeln und deren wechselhaften Schicksalen während der Revolutionsjahre und in der napoleonischen Zeit; eine Geschichte des Wirtschaftssystems im 19. Jahrhundert, in dem Kredite, Steuern, die Kolonien und die Kirche von Bedeutung waren – und all das wird betrachtet aus der Perspektive einer unbedeutenden Familie in einer unbedeutenden Stadt. Wie in so vielen Geschichten des 19. Jahrhunderts ergibt sich auf diese Weise eine Erzählung von revolutionärer Politik, Migration, gesellschaftlichem Wandel und wirtschaftlichen Aufstiegschancen, die aber zugleich eine Erzählung von Bewegungslosigkeit, ja Bewegungsunfähigkeit ist. Vermittelt durch die Leben der hier vorgestellten Individuen und anderer, die ihnen verbunden waren, ist es eine Geschichte des Wandels in früher Neuzeit und anbrechender Moderne.

Eine Geschichte über Information

In den Unterlagen zum Personenstandswesen, erklärte 1826 ein Enkel Marie Aymards in einer Randnotiz am Geburtsregister der Hafenstadt Bayonne, „ist alles gewichtig, ernst und bedeutsam“ – „jegliche Kundgebung, die sie tun, soll mit der Wahrheit genauestens übereinstimmen“.13 Diese Universalarchive des Alltagslebens – ihre Protokolle, Verzeichnisse und Register – sind es, die über eine Spanne von zwei Jahrhunderten hinweg das Herzstück der vorliegenden Untersuchung bilden. Bisweilen handelt es sich bei ihnen um nicht mehr als Listen voller Namen und Daten.14 Aber sie stecken auch voller Geschichten. Sie sind Archive, die man lesen kann wie Literatur – oder wie Geschichtsschreibung. Sie lassen sich auf Zahlen reduzieren, und man kann sie mit allen Insignien historischer Gelehrsamkeit verzieren, mit Fußnoten und Quellenkritik.15

Die diversen Geburts-, Heirats-, Scheidungs- und Sterberegister haben mich in andere, sogar noch schmucklosere Archive geführt, zu den dokumentarischen Hinterlassenschaften des Geschäfts- und Wirtschaftslebens von einst – den Aufzeichnungen der Steuerverwaltung, die mit den ersten Regungen eines universalen Erfassungsanspruchs etwa festhielt, wer neben wem wohnte auf den verschiedenen „Steuerinseln“ des alten Angoulême; den „Listen“, „Bündeln“ und „Säcken“ mit Meldungen der unteren Finanzverwaltung, die ein Archivar des Departements Charente 1858 auf einem Dachboden wiedergefunden hatte, wo sie unter einer „äußerst lästigen Schicht von Staub“ verborgen waren; den Notarsurkunden, Anspruchsnachweisen und Schätzungen; den Registern von Enteignungen während der Revolutionszeit und solchen, in denen schlicht festgehalten war, wer wem wann ein Haus abgekauft hat – sowie zu vielen anderen Aufzeichnungen über Volkszählungen, Grundbuch-, Hypotheken- und Erbangelegenheiten aus dem 19. Jahrhundert.16

Von Anfang an war diese Geschichte auch eine Begegnung mit den vorherrschenden Technologien der damaligen Informationsgesellschaft. Immer geht es um „persönliche Kontakte“, um „Freunde, Familie und Gruppen“, ganz wie in den sozialen Netzwerken unserer Tage: „Verbindungen und Communitys aufbauen“, „Menschen helfen, sich miteinander zu verbinden und die Welt näher zusammenzubringen“, „Familie und Freunde zusammenbringen und wichtige Momente auf der ganzen Welt gemeinsam erleben“.17 Die Universalarchive des Alltagslebens im 18. und 19. Jahrhundert bilden zugleich ein Verzeichnis zwischenmenschlicher Beziehungen, und sogar eine Chronik von Augenblicken aus der Lebenswelt. Aber sie liefern bloß Belege für die Anlässe zu Konversation oder Austausch, nicht über den Inhalt des Gesagten selbst; für die Möglichkeiten von „persönlicher Einflussnahme“ und „individueller Meinung“ – oder doch zumindest jener Rahmenbedingungen, die durch die soziologische Untersuchung sozialer Netzwerke erforscht werden –, nicht jedoch von konkreten Meinungen oder Vorstellungen.18

Bei der wirtschaftswissenschaftlichen Erforschung sozialer Netzwerke, die eine der Inspirationen für dieses Buch gewesen ist, steht Datenmaterial in einer Menge zur Verfügung, die in der historischen Forschung unvorstellbar bleibt: So etwa bei einer Befragung in einer unlängst erschienenen Studie, bei der das Forscherteam „alle Erwachsenen in jedem der 35 Dörfer baten, diejenige Person in ihrem eigenen Dorf zu benennen, der man am ehesten die Weiterverbreitung von Informationen zutraute“.19 Eine solche Gründlichkeit sucht man in der Geschichte Marie Aymards und ihrer Familie vergebens, die ja dennoch Neuigkeiten und Informationen austauschten, über Zeit und Raum und den Atlantischen Ozean hinweg.

Die Aufzeichnungen der Stadt Angoulême steckten voller „Informationen“ im juristischen Sinne einer Meldung oder Anzeige: Es gab Berichte über Beleidigung und Körperverletzung und schreckliche, verleumderische Schmählieder. Aber was es bei den Druckern und Papiermachern von Angoulême um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht gab, waren veröffentlichte Nachrichtenquellen wie etwa Zeitungen; selbst Bücher waren rar.20 Noch im 19. Jahrhundert hinterließen die Nachfahren von Marie Aymard – mit der Ausnahme des Kardinals und einer seiner Großcousinen, die mit ihren beiden Söhnen in Paris ein einfaches Speiselokal führte – nur sehr wenige Spuren.21 Gerade einmal eine Handvoll persönlicher Briefe habe ich aufspüren können, und diese schrieb in den 1880er-Jahren Louise Lavigerie, die Schwester des Kardinals, mit der dieses Buch auch endet; aufbewahrt werden sie im Nachlass des Kardinals in Rom. Gerade die Vielzahl kleiner „Histörchen“ und Mikrogeschichten aber ist es, die unter den gegebenen Umständen eine Annäherung an den riesigen, kaum zu bewältigenden Materialbefund moderner Austauschbeziehungen ermöglicht.

Die Geschichte von Marie Aymards Familie hat mich mit noch einer weiteren Schlüsseltechnologie unserer Gegenwart in Verbindung gebracht, oder anders gesagt, mit der Suche nach Genealogie: nach einer Abstammungslinie von einem Individuum in der Gegenwart zu seinen Vorfahren in der Vergangenheit oder einer „Kette aus Geschichten von Verbindungen“.22 Auch dies ist eine der Mammut-Industrien unserer Tage mit „Milliarden von Einträgen“ und „Millionen von Stammbäumen“, die „Forschung und Selbstfindung zusammenbringen“, um es „allen, überall [zu ermöglichen], die Geschichte ihrer eigenen Herkunft zu entdecken“.23 Diese „Stammbaum-Industrie“ in ihrer modernen Form ist ein Produkt der Zeit seit den 1990er-Jahren; ihre Form ist die eines Archivs, das sich mit der Zeit beständig verändert.24

Die Technologien der Ahnenforschung haben die Recherchen zu diesem Buch konstant begleitet, und das, obwohl die darin erzählte Geschichte ja im Wesentlichen eine matrilineare und damit nur in Teilen eine „Geschichte von Verbindungen“ ist. Die Zentralgestalt in der Finanzgeschichte der Familie im 19. Jahrhundert war, wie sich herausstellen sollte, die älteste Tochter des Paares aus dem Heiratsvertrag, Jeanne Allemand Lavigerie, die zeitlebens mit ihren vier Schwestern zusammenlebte, niemals heiratete und 1860 im hohen Alter von 91 Jahren starb, nur wenige Minuten Fußweg vom Ort ihrer Geburt entfernt. Die Geschichte dieser Familie erzählt eine Geschichte über die Zeit in dem Sinne, dass sie den Kindern und Kindeskindern bei ihrer Vorwärtsbewegung durch die geschichtliche Zeit gefolgt ist (oder dies doch zumindest versucht hat), aber auch über ihren jeweiligen Lebensweg hinweg, Schritt für Schritt, in eine vorerst nur imaginierte, unbekannte Zukunft hinein. Erzählt wird sie, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, aus ihrer eigenen Perspektive, oder zumindest aus der Sicht der Individuen, unter denen sie lebten. Und diese Perspektive, diese Sicht ist eine ganz andere als die, mit der ihre spätere Nachwelt aus zehn oder mehr Generationen Abstand zurückblickt. Die (möglichst) zeitgenössische Sicht ist nicht vertikal und genealogisch, sondern horizontal und historisch; ihr geht es darum, „wie es eigentlich gewesen“ ist, nicht darum, „wer ich eigentlich bin“ (das unbekannte „Ich“ in einer nie imaginierten Zukunft).

Gleichwohl gibt es auch noch andere Hinsichten, unter denen die Recherchen von Historikerinnen und Familienforschern sich nicht immer so trennscharf unterscheiden lassen. Ihr Quellenmaterial ähnelt sich oder ist sogar identisch; die Geschichte Marie Aymards und ihrer Kinder, die ich erzähle, ist zugleich auch die (Familien-)Geschichte von anderer Leute Vorfahren. Die Familienforscherin fragt: „Wer bin ich eigentlich?“ (oder: „Was hat dazu geführt, dass es mich gibt?“), und sie fragt auch: „Wer waren die eigentlich?“ – jene fernen Ahninnen und Ahnen nämlich in ihrer so ganz anderen, fernen Welt. Auch das ist eine Art von historischer Erkenntnis. Es ist eine Möglichkeit, die Vergangenheit imaginativ wieder lebendig werden zu lassen, die Straßen zu erkunden, in denen die Vorfahren aufwuchsen, die Personen kennenzulernen, in deren Mitte sie gelebt haben. Beziehungen zwischen Menschen beruhen aber nicht nur auf Abstammung, sondern auch auf den geschichtlichen Umständen, auf Zufällen und Sympathien – Wahlverwandschaften. Als Marie Aymards jüngster Enkel im Jahr 1839 in einer kleinen Gewerbestadt an der Mündung der Yonne in die Seine eine Limonadenverkäuferin heiratete, gab er an, dass alle seine Großeltern tot seien und er noch nicht einmal wisse, wo sie gelebt hatten oder wann sie gestorben waren.25 Wie wir noch sehen werden, waren die fünf unverheirateten Schwestern gerade wegen ihrer ökonomischen Position und ihrer Verbindungen zu ihren Nichten und Großnichten für unsere Geschichte von großer Bedeutung.

Die Arbeit an diesem Buch gestaltete sich als ein Prozess der Entdeckung und auch der „Suche“: der Suche nämlich im Sinne von Suchfunktionen und Suchläufen, im Sinne jener beiläufigen, repetitiven, oftmals belanglosen Such- (und Finde-)Vorgänge, die genauso zur spezifischen Perspektive unserer Gegenwart gehören wie das Anschauen von Bildern, das Posten von Storys und Versenden von Nachrichten. Es ist eine Familiengeschichte, deren Entstehung den Stoff für eine Erzählung – eine romantische Erzählung – abgibt, die in den Provinzarchiven von Angoulême und anderswo spielt. Es steckt voller Beschreibungen von Zetteln und Papierstücken, deren Schrift verblichen ist und niemals fotografiert wurde. Aber es gibt auch noch andere Quellen, vor allem mit Blick auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts: Zeitungsberichte über tragische Unglücksfälle auf Bahnhöfen; Abhandlungen über die Geschichte Mesopotamiens und über die färbende Wirkung bestimmter Pflanzen; Gewerbeverzeichnisse und Gerichtsurteile aus dem Bankenaufsichtsrecht – alles Quellen, beziehungsweise Texte, die online gelesen und durchsucht werden können. Auch viele der Kirchenbücher sind inzwischen online einsehbar, ebenso die meisten staatlichen Personenstandsbücher; und einige dieser Quellen – mit der Zeit immer mehr – sind sogar durch Indizes erschlossen oder transkribiert worden.

Es sind also die gewohnten Quellen, die jedoch ungewohnte Fragen aufwerfen. Der älteste von Marie Aymards überlebenden Söhnen, Gabriel Ferrand, war in den 1790er-Jahren für eine Zeit lang der Archivar des Departements Charente. Die Seite des Kirchenbuchs, auf der seine Taufe verzeichnet ist, fehlt unter den online verfügbaren Abbildungen des Registers.26 Er heiratete 1763 in Angoulême; ein großer Tintenfleck verdeckt den Namen der Braut.27 Im Jahr 1793, inmitten der stürmisch-revolutionären Phase, in der enteigneter Kirchenbesitz auf den Grundstücksmarkt gelangte, erwarb er das Nutzungsrecht an einer „vormaligen Kirche“; die Seite, auf der dieses Geschäft im Pachtregister verzeichnet wurde, fehlt in der Onlineversion des Verzeichnisses.28 Einst gab es auch ein Bild von Gabriel Ferrand (oder das Bild eines Bildes); seit 1910 hat man es nicht mehr gesehen.29

Selbst in dem Universum der gedruckten Quellen, das ja einem ständigen Wandel unterworfen ist, sind die tatsächlichen Grenzen der Nachforschung – über eine Familie, über eine kleine Provinzstadt – nur schwer zu ziehen.30 So ist die hier skizzierte Art, Geschichte zu schreiben – auf der Grundlage kleinster Details und Indizien nämlich –, selbst wieder Ausdruck (oder Abbild) unserer heutigen Perspektive. So viele Entdeckungsreisen in die Geschichte sind jetzt möglich, virtuelle und andere, und es gibt viele, allzu viele Möglichkeiten, sich auf Abwege oder lange, weitschweifige Umwege zu begeben. Die Geschichte in diesem Buch ist eine lokale, und der Größe nach ist es eine „Mikrogeschichte“, die sich in angrenzende Bereiche ausgeweitet hat – indem die Darstellung einzelnen Personen in das Umfeld ihrer Familien, Freunde und Nachbarn hinein folgt oder sie auf ihren eigenen Reisen durch Raum und Zeit begleitet. Es ist eine flache, positivistische Geschichte in dem Sinne, dass sie mit einem Anmerkungsapparat verziert (oder vielleicht überladen) ist, der sich nicht selten auf das Gemeindearchiv von Angoulême bezieht. Aber es ist auch eine opportunistische Geschichtserzählung, deren Figuren nur flüchtig, gleichsam aus dem Augenwinkel (oder am Bildschirmrand), erblickt werden können. Es ist eine Geschichte, wie so oft im Online-Universum, von Einsamkeit – „von einem Geist,/der ständig reist durch unbekanntes Meer/des Denkens, ganz allein“ – und Agoraphobie zugleich.31

Eine „historische Geschichte“

Die Geschichte von Marie Aymard und ihrer Familie ist als Erzählung ausufernd, geradezu uferlos: Sie umfasst die lange Französische Revolution genauso wie die ökonomische Revolution des 19. Jahrhunderts. Wie so viel von der historischen Forschung im 20. Jahrhundert ist sie dem Gedanken einer Geschichte „von unten“ verpflichtet, und insbesondere solchen Einzelstudien, die eine große, bedeutende Geschichte anhand der „kleineren“ Geschichte einer Einzelperson, eines Ortes, einer Familie oder Berufsgruppe erzählt haben.32 Dieses historische Genre ist so etabliert wie umfangreich, und es mangelt nicht an Studien zu den unterschiedlichsten Epochen und Orten. Eine der Hauptinspirationen für dieses Buch ist die Mikrogeschichte des frühneuzeitlichen Italien, eine andere die „Geschichte der Welt von San José“ mit ihren Kirchenbüchern und „winzigen Tatsachen“, ihrem forschenden Blick „in alle Richtungen“.33 Die Inspiration durch den Realismus (und Naturalismus) der Romanliteratur ist sogar noch ausgedehnter; sie reicht von Schanghai bis auf den Montmartre.34 Der Wandel in den Zugangsbedingungen zu Informationen – auch und vor allem Informationen über die Lebenswege von Individuen –, der eine Grundvoraussetzung meiner Recherche gewesen ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein weltweites Phänomen.

Es ist eine typische Geschichte à la française, insofern sie von der unglaublichen Fülle an Aufzeichnungen und Unterlagen inspiriert ist, die in Frankreichs Archiven zur Verfügung stehen. Nicht weniger als 19 Notare waren 1764 in Angoulême tätig – oder waren vielmehr faul und untätig, wenn man einem königlichen Edikt aus dem Folgejahr glauben darf; und im Verlauf jenes einen Jahres fertigten diese 19 Notare mindestens eintausend Urkunden aus: „Archive sind etwas unendlich Kostbares“, wie es in einem Rundschreiben des französischen Innenministers von 1829 heißt, das im Archiv des Departements Charente erhalten ist.35 Aber meine Geschichte ist auch inspiriert von (mindestens) einer Generation an Einzelstudien über ganz gewöhnliche Lebenswege in der französischen Provinz – von dem Idyll der „sichere[n], nachprüfbare[n] Gegebenheiten“ und der Überzeugung, dass tausend Druckseiten über einen Menschen, der schlicht „gelebt“ hat, eine Reise sein können, die letztlich in die Geschichte der Moderne einmündet.36 Aus dieser Herkunft aus der Tradition der Mikrogeschichten einerseits, deren Maßstab so variabel ist wie ihre Beispielhaftigkeit (oder Repräsentativität), sowie dem Versuch, andererseits, den „Lebenswegen einiger tausend Menschen“ einen Sinn abzugewinnen, ergibt es sich, dass die vorliegende Studie zwischen Mikro- und Makrogeschichte einen Mittelweg einschlägt, den man mithin als „Mesogeschichte“ bezeichnen könnte.37 Um eine „Sozialgeschichte von Individuen“ handelt es sich, die der ganzen Vielfalt von Quellen zum Familienleben Rechnung tragen soll.38 Dabei greift sie auch auf Ansätze zurück, die den Brückenschlag zwischen Mikro- und Makrogeschichte anhand der von den untersuchten Individuen selbst geknüpften Beziehungsnetze erreichen wollen, darunter solche von Freundschaft, Ortszugehörigkeit oder Familie.39

Die 98 Geschichten in diesem Buch sind zugleich noch von einer anderen, stärker zerstreuten Form der Geschichtsschreibung inspiriert, nämlich der Wirtschaftsgeschichte als Sammlung von Geschichten des Wirtschaftslebens. Meine Geschichte begann mit einer außergewöhnlichen (wenn auch ungebildeten, des Lesens unkundigen) Einzelperson, und sie fand zwei völlig unerwartete Endpunkte in der Finanzwelt und der römischen Amtskirche des 19. Jahrhunderts. Sie ist dem Geist jener neuen Wirtschaftsgeschichte verpflichtet, der Marc Bloch einst freudig entgegensah, in der Politik, Ökonomie und Religion miteinander verschränkt sein würden, im Gegensatz zu der „blutleere[n]“ Geschichte einer „Welt ohne Menschen“.40 Blochs neue Art der Geschichtsschreibung, der „die Vielfalt der historischen Zeugnisse … nahezu unbegrenzt“ erscheint, ist heute eine florierende, eklektische und weltweit praktizierte Teildisziplin der Wirtschaftsgeschichte, in der Ökonomen auf „völlig unterschiedlich geartete[] Zeugnisse[]“ zurückgreifen, Wirtschaftshistorikerinnen wirtschaftsfremde Quellen verwenden und Historiker des Wirtschaftslebens eine Vielzahl von juristischen, bildlichen und ökonomischen Belegen zusammentragen, um ihren ebenso vielfältigen Studien nachzugehen.41

Dieses Buch ist ein Experiment, ist der Versuch einer Geschichtsschreibung aufgrund von „historischer Nachbarschaft“, aufgrund der Nähe seiner Untersuchungsgegenstände – immerhin drei- bis viertausend Personen – in Raum und Zeit. Und diese „Geschichte aus Kontiguität“, wie man sie auch nennen könnte, stellt zugleich den Versuch dar, das Individuelle und das Kollektive zusammenzubringen, das Ökonomische mit dem Politischen und eine „Geschichte von unten“ mit der „Höhenkammgeschichte“ großer und größter Ereignisse der Neuzeit. Sie nimmt eine Untersuchung individueller Lebensumstände vor und stellt zugleich die Frage nach dem „Warum“ (und dem „Wie“) ökonomischer Wandlungsprozesse und politischer Vorgänge.42 Kausalgeschichten sind im Grunde stets gegen die fundamentale Bedingung historischer Forschung gewendet, dass nämlich die Leben von Individuen in der Vergangenheit verstanden werden sollten, was immer bedeutet, eine Geschichte der „individuellen Bewusstseine“ zu schreiben.43 Aber wir denken doch nie nur an das „Wie“, sondern immer auch an das „Warum“. Im Einklang damit erzählt dieses Buch eine Vielzahl kleiner, ja kleinster Geschichten und bejaht damit die Möglichkeit, sich sowohl dem Verstehen als auch der Erklärung historischer Gegenstände in winzigen Schritten anzunähern, wie bei dem Kinderspiel „Tipp-topp“, bei dem die kleinen Füße immer weiter aufeinander zutrippeln.

Die Entscheidung für einen bestimmten historischen Maßstab, eine bestimmte „Rastergröße“ hat immer etwas Anrührendes, und sie ist ideologisch, insofern sie die Toten auf den gewaltigen Gräberfeldern der Geschichte in eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ sortiert: hier die Bedeutenden (Individuen mit Gedanken und Gefühlen), dort die Unbedeutenden (Individuen, von den es keine – oder kaum eine – Überlieferung gibt, die vielleicht gezählt, aber doch keinesfalls verstanden werden können). Wenn eine Historikerin sich also dafür entscheidet, mit der Geschichte von Individuen den kleinstmöglichen historischen Maßstab zu wählen, entscheidet sie sich zugleich dafür, nur kleine und unbedeutende Veränderungen und Wandlungsprozesse zu verstehen (es sei denn natürlich, die auf diese Weise untersuchten Individuen sind selbst bedeutend, so wie Marie Aymards Ururenkel, der Kardinal). Entscheidet sie sich für die Geschichte einer ganzen Sozial- und Wirtschaftsordnung, legt sie sich darauf fest, ihrem Forschungsgegenstand in einer vergangenen Welt ohne Gedanken oder Hoffnungen oder Freundschaften nachzugehen, dafür aber große Veränderungsprozesse zu verstehen, etwa die Ursachen von Revolutionen oder die Entstehung der modernen Ökonomie. Jedoch sind dies nicht die einzigen beiden Möglichkeiten, und es gibt Zeiten – wie auch unsere eigene Gegenwart –, in denen es wichtig, ja sogar vorrangig ist, ein Verständnis von politischen und ökonomischen Wandlungsprozessen gerade aus der Perspektive von Individuen und Familien anzustreben: aus der Perspektive des Alltagslebens.

Die Protagonisten meiner Geschichte – die eine Geschichte des Wirtschaftslebens ist – haben in einer Zeit tiefgreifenden Wandels gelebt, in der Epoche der langen Französischen Revolution, die ein politischer Vorgang war, jedoch ökonomische Ursprünge und ökonomische Folgen hatte; und in einer Zeit ökonomischer Umbrüche, in der Epoche der industriellen Revolution und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen im 19. Jahrhundert, die ihrerseits politische Ursprünge und politische Folgen hatten.44 Aber der Blick „von unten“, in diesem Fall der Blick aus der Perspektive einer bestimmten (unbedeutenden) Familie, wirkt befremdlich im Verhältnis zu manchen Unterscheidungen, die von der „Geschichte im großen Maßstab“ ganz selbstverständlich getroffen werden. Die Leben von Einzelpersonen lassen sich eben nicht ohne Weiteres aufspalten in einen „ökonomischen“, einen „persönlichen“ und einen „politischen“ Bestandteil. Die Innenwelt jedes Individuums bietet ein buntes Sammelsurium von „erhabenen“ und „ordinären“ Vorstellungen. Religion, zum Beispiel, ist persönlicher Glaube, Glaubenspraxis und – in institutioneller Gestalt – Akteurin des Wirtschaftslebens. Ökonomische Austauschbeziehungen können interessengeleitet oder interesselos sein, öffentlich oder privat oder intim. Verschiedene Individuen sind in ihrer Lebenswelt mobil oder immobil, flexibel oder unflexibel, und dasselbe gilt von der Innenwelt ihrer Vorstellung – von den Informationen oder Fehlinformationen, die sie über weit entfernte Orte und lange schon aus den Augen verlorene Freunde haben.

Angoulême war ein Ort, an dem im Verlauf der Französischen Revolution – oder zumindest im Sinne von deren historischer Erforschung – nur sehr wenig wirklich passierte, und die Familie Marie Aymards ist, von einer kleinen Ausnahme abgesehen, in der gesamten geschichtswissenschaftlichen Literatur unsichtbar geblieben. Jedoch ist die Geschichte der Revolutionsjahre, aus der Perspektive eines unbedeutenden Ortes und einer unbekannten Familie erzählt, selbst eine „große Erzählung“, wie noch deutlich werden wird. Es gibt darin eine Art Revolutionshelden, der in unmittelbarer Nähe der Familie aufgewachsen war, und eine Heldin der Gegenrevolution. Die Lebenswege von Marie Aymards Enkeln skizzierten, in ihrer je eigenen Art, eine Geschichte der sich verändernden Lebensbedingungen in der Epoche der Revolution.

Die Geschichte, wie sie in diesem Buch erzählt wird, mag auch dann befremden, wenn man sie im Zusammenhang mit (allzu) weitreichenden Vorannahmen über die anbrechende Moderne betrachtet.45 Die Nachfahren Marie Aymards im 19. Jahrhundert waren tatkräftige, fleißige Leute – oder zumindest gab es unter ihnen einige, auf die diese Beschreibung zutrifft. Ihre Tatkraft und ihren Fleiß lebten sie allerdings eher in der ausgedehnten Staatswirtschaft ihrer Zeit aus – und ähnlich innerhalb der Kirche – als auf dem freien Markt, oder aber in einer Reihe von Geschäftsbeziehungen, die man als eine vage Mischform von Markt- und Staatswirtschaft charakterisieren könnte. Sie verhielten sich „unökonomisch“, insofern sie ihr Fortkommen im Bereich jener öffentlichen und privaten Dienstleistungen suchten, die im Wirtschaftsleben – damals wie heute – von so entscheidender Bedeutung ist. Bisweilen bestimmten über ihr ökomisches Schicksal auch die Entscheidungen kalkulierender, fleißiger Frauen, die niemals irgendwohin gingen – so wie Marie Aymards Enkelinnen, deren Leben (und Ersparnisse) eine zentrale Rolle in der Geschichte der Familie im 19. Jahrhundert spielen sollten. Das einzige Familienmitglied, das es im weiteren Rahmen der französischen Ökonomie zu einiger Bedeutung brachte, war Marie Aymards Enkelsenkel, der Erzbischof von Karthago und Primas Africae: Charles Martial Allemand Lavigerie, der Visionär der humanitären Öffentlichkeitsarbeit und Kämpfer gegen den Sklavenhandel im Afrika südlich der Sahara; nach der Einschätzung seiner Kritiker war der Kardinal zugleich ein „fabelhaft geschickter Geschäftsmann“, „ein Millionär, ein Multimillionär“.46

Aber vor allem sind die Geschichten von Marie Aymard und ihrer Familie befremdlich, weil sie immer wieder die Asymmetrie der Zeit unterlaufen, weil sie das Elend des „Immer-schon-Bescheidwissens“ über den weiteren Verlauf der Geschehnisse, an dem wir Nachgeborenen leiden, aushebeln. Wenn man über so gut wie gar kein Belegmaterial verfügt, von den kargen Informationen ganz gewöhnlicher Personenstandsarchive abgesehen, dann muss man eben den Rhythmen des Alltagslebens folgen; muss in der Gegenwart (der Individuen aus der Vergangenheit) leben und in deren (annäherungsweise) erinnerter Vergangenheit; darf nichts von ihrer Zukunft wissen und von den großen, revolutionären Umwälzungen, an denen sie teilhatten. Man muss sich darauf beschränken, (fast) nur das zu wissen, was sie auch wussten, oder allenfalls ahnten; nur diejenigen Menschen zu kennen, die sie aus ihrem alltäglichen Leben auch kannten. Doch ergibt sich daraus selbst wieder eine Wissens- und Informationsgeschichte, und eine Geschichte allmählichen Wandels.

Diese Geschichte Marie Aymards und ihrer Familie ist entstanden auch als ein zweifaches Experiment im „Denken mit Zahlen“ – in einer Welt, die in Information schwimmt – und im „Denken mit Geschichten“ – in einer Welt schier endlosen Geschichtenerzählens. In allen ihren Teilen ist sie inspiriert durch ein Bewusstsein von der Unvollständigkeit – bei gleichzeitiger Unermesslichkeit – des historischen Quellenmaterials; von der grundsätzlichen Möglichkeit, alle und jeden aufzuspüren (ob in der Generation der Ururenkel oder in den Angoulêmer Kirchenbüchern von 1764), bei zugleich notwendiger Begrenztheit selbst der umfänglichsten dokumentarischen Überlieferung. Auch in dieser Hinsicht ist sie also eine unendliche, nicht abschließbare Geschichte. Der einzige Trost auf unserem Weg wird sein, so offen und sinnfällig wie möglich mit unseren Quellen und statistischen Grundlagen umzugehen, und zu hoffen, dass nach uns andere kommen, die noch mehr Verbindungen aufdecken, noch mehr Quellen aufspüren und noch mehr Hypothesen aufstellen, die dann zu erkunden wären.47 Es ist eine Geschichte wie gemacht für unsere Zeit: eine Geschichte, die davon erzählt, wie es ist, mit Ungewissheit zu leben, eine Geschichte ohne absehbares Ende. Und es ist eine Geschichte aus wechselvollen Zeiten, die aus der Perspektive einer einzigen, aber großen und ungleichen Familie erzählt wird. Vor allem aber ist es eine Geschichte, die uns erkennen lässt, was es heißt, inmitten von Entwicklungen und Ereignissen zu leben, die unserer Kontrolle entzogen sind.

Der 1764 geschlossene Ehevertrag von Marie Aymards Tochter. Archives départementales de la Charente, „Contrat de marriage de Estienne Allemand et Françoize Ferrand“, 9. Dezember 1764, Bernard, Notar, 2E153.

* Die Verwendung der Begriffe ‚Neger‘ bzw. ‚Negerin‘ im vorliegenden Buch geschieht ausschließlich im Zusammenhang historischer Quellenzitate. Sie gibt die englischen bzw. französischen Begriffe negro bzw. nègre/naigre wieder und reflektiert den Sprachgebrauch des 18. und 19. Jahrhunderts.

KAPITEL 1: DIE WELT DER MARIE AYMARD

Was die Quellen sagen

Marie Aymard kam 1713 in Angoulême zur Welt und starb 1790 in ihrer Heimatstadt.1 Sie war ein Einzelkind. Ihre Eltern hatten bei ihrer Heirat 1711 angegeben, sie könnten ihre Namen nicht schreiben. Ihre Mutter war die Tochter eines Schusters, der aus einem kleinen Ort südwestlich von Angoulême in die Stadt gekommen war; ihr Vater wurde als ein Ladenbesitzer oder Kaufmann bezeichnet, als marchand.2 Er starb noch während Maries früher Kindheit, und als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter erneut, einen verwitweten Zimmermeister.3 Im Jahr 1735 heiratete Marie selbst, und zwar den Schreinerlehrling Louis Ferrand. Anlässlich ihrer Heirat erklärte auch sie – wie später noch bei vielen anderen Gelegenheiten –, dass sie nicht imstande sei, ihren Namen zu schreiben – in der historischen Forschung sagt man: Sie war nicht signierfähig. Ihr Bräutigam, der seine Unterschrift im Heiratsregister leisten konnte, war als Zugezogener in die Stadt gekommen; sein Vater war ein Holzschuhmacher aus dem Bistum Tours, rund 200 Kilometer – oder mehrere Tagesmärsche – nördlich von Angoulême.4

Im Lauf der folgenden vierzehn Jahre brachte Marie Aymard acht Kinder zur Welt, von denen zwei früh starben. Es ist zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass sie Angoulême jemals verlassen hat. Sie und ihr Ehemann zogen häufig um, jedoch stets innerhalb der Mauern ihrer kleinen Stadt; während der sechs Jahre von 1738 bis 1744 gebar Marie sechs Kinder in vier verschiedenen Pfarrgemeinden, die alle im alten Stadtkern von Angoulême lagen.5 Louis blieb ein Außenseiter; in dem Taufvermerk für sein jüngstes Kind Jean (oder Jean-Baptiste) wird er beschrieben als Ferrand dit tourangeau – „Ferrand, genannt der Tourainer“ oder „Mann aus Tours“.6 Aber er wurde schließlich Schreinermeister, und 1744 begegnet er uns als sindic, als „Syndikus“ oder gewählter Repräsentant der kleinen Schreinergilde oder -innung von Angoulême.7 Die Bekannten oder Verwandten, die er und Marie als Paten für ihre acht Kinder auswählten, gehörten demselben Milieu ihrer Heimatstadt an: ein Zimmermann, ein Hutmacher, gleich drei verschiedene Schlosser, eine Küfersgattin sowie die Frau noch eines weiteren Schlossers.8

Im Juni 1753 ereignete sich im Leben der Familie Großes. In der Stadt Angoulême gab es eine berühmte höhere Schule, zur damaligen Zeit ein Jesuitenkolleg, an der begabte Söhne der Stadt kostenlosen Unterricht erhalten konnten. Und 1753 tat nun Gabriel, der älteste Sohn der Eheleute Aymard, den ersten Schritt in Richtung einer späteren Priesterweihe, indem er die Tonsur empfing – jene spezifische Haartracht, die ihn als Angehörigen des (katholischen) Klerus auswies. Er war fünfzehn Jahre alt.9 Im Dezember desselben Jahres machte sich Louis Ferrand auf, um sein Glück zu suchen und seiner Familie ein Vermögen zu gewinnen. Er und ein weiterer, der Zimmermann war, unterschrieben eine Vereinbarung, in der sie sich zu einer zweijährigen Arbeitszeit als Vertragsknechte (engagés) auf der Karibikinsel Grenada verpflichteten, wofür sie 500 Livres pro Mann und Jahr erhalten sollten, dazu freie Kost, Logis und Wäsche „in Gesundheit und in Krankheit“. Ihr Vertragspartner war ein aufstrebender Plantagenbesitzer namens Jean-Alexandre Cazaud, der auf Guadeloupe geboren war und sich in Angoulême niedergelassen hatte, wo er die Tochter eines ortsansässigen Seidenhändlers heiratete; für Cazaud zeichnete den Arbeitsvertrag dieser Schwiegervater, der später einer der Protagonisten (der wichtigste „Kapitalist“) in dem berüchtigtsten Justiz- und Finanzskandal der Stadt werden sollte – oder eben in der kommerziellen „Revolution“ von Angoulême, die 1769 begann.10

Zum Zeitpunkt der Abreise ihres Mannes hatte Marie Aymard sechs minderjährige Kinder, die zwischen vier und fünfzehn Jahren alt waren. Ihr eigener Stiefvater starb zwei Jahre darauf, 1755, und ihre Mutter im Jahr 1759; der Zimmermann, der mit Louis nach Grenada aufgebrochen war, starb ebenfalls.11 Und dann, es muss irgendwann vor dem Mai 1760 gewesen sein, erhielt Marie die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Mannes. In einer Vereinbarung mit ihrem Sohn Gabriel, die von einem Notar aufgesetzt wurde, dessen „übler Charakter“ allgemein bekannt war – und das in einer Stadt, in der die Anzahl praktizierender Notare „derart übermäßig“ war, dass die französische Krone regulierend eingriff –; in dieser Vereinbarung also wurde sie als die „Witwe des Louis Ferrand“ bezeichnet.12

Gabriel war zu diesem Zeitpunkt kein Kleriker mehr und befand sich auch nicht auf dem Weg zur Priesterweihe. Aber das Notarsdokument setzt mit einer Nacherzählung seiner – zugegebenermaßen imponierenden – Pläne ein: „Der besagte Ferrand hatte zuerst den Entschluss gefasst, den Grad eines Magister Artium zu erlangen, um der Jugend Unterricht erteilen zu können, und beschloss dann, einen Haushalt zu gründen … in dem er noch heute lebt und den er auf eigene Kosten eingerichtet hat.“ Dann lieferte Gabriel eine Geschichte seiner Ansichten und Gefühle. Er kenne wohl die „strengen Verpflichtungen der Kinder gegenüber jenen, denen sie ihr Dasein verdankten“, und wolle seiner Mutter nun beweisen, dass „sein Empfinden darauf abzielt, sie zu trösten, so weit es in seiner Macht steht, und ihr Leben weniger hart zu machen“. „Da er seine Mutter in einer Lage erblickt hat, in der sie nicht länger imstande war, zu leben und sich ohne seine Hilfe selbst zu versorgen“, habe er sie dringend gebeten, zu ihm zu ziehen.13

Marie Aymards Antwort – in den Worten, die sie oder ihr Sohn diktiert hatten oder der Notar selbst formulierte – war eher kühl. „Da sie von dem guten Herzen ihres Sohnes nutznießen will“, heißt es da, und „unter der Annahme, dass sein Wohlwollen ihr gegenüber anhalten und er sie nicht jenem schlimmen Schicksal überlassen wird, in das ihr trauriges Los sie ohne Zweifel bringen würde“, habe sie ihrerseits entschieden, sein Angebot anzunehmen und in seinen Haushalt zu ziehen. Ihre Möbel sowie ihren sonstigen Hausrat brachte sie mit, und auch diese werden in der Notarsurkunde benannt und beschrieben: zwei alte hölzerne Betten mit einem schon stark verschlissenen Bezug aus grünem Sergestoff; zwei Halbkommoden oder Schränkchen aus Pappelholz; ein „abgenutzter“ Tisch mitsamt „zehn alten, schlechten Stühlen“; zwölf Teller, sechs Löffel aus schlichtem Zinn, sechs Gabeln aus Blech und sechs Bettlaken. Die „beiden Parteien“ – Marie Aymard und ihr Sohn – vereinbarten, dass der Wert des mütterlichen Besitzes 130 Livres betrug und dass sie aufgrund des Umzugs „keinerlei Gemeinschaft oder Vereinigung begründe[te]n, weder direkt noch indirekt, weder stillschweigend noch aus Gewohnheitsrecht“.14

Doch auch in dem neuen Haushalt, der keine Gemeinschaft oder Vereinigung war, blieb das Leben wohl hart, und als Gabriel im Oktober 1763 heiraten wollte – und zwar Marie Adelaide Devuailly, die einer Tuchfärberfamilie aus Amiens entstammte und sich erst kürzlich in Angoulême niedergelassen hatte –, da gab er an, dass seine Mutter „zum jetzigen Zeitpunkt über keinerlei Besitz, Mobiliar oder Grundeigentum verfügt“.15 Einige Wochen darauf tauchten Marie Aymards Möbel schon wieder in einer notariellen Urkunde auf. Im Januar 1764 erschienen Gabriel und seine Mutter vor einem anderen Notar, Jean Bernard mit Namen, von dem es hieß, er habe „zahlreiche Schriftstücke für die kleinen Leute gemacht“. Bei dieser Gelegenheit wurde Gabriel als „Schreibemeister“ oder „Meisterschreiber“ bezeichnet.16 Und auch dieses Mal erzählten Gabriel Ferrand und Marie Aymard eine Geschichte. In den Jahren seit 1760, so legten sie dar, hatte Gabriel sich mehrfach gezwungen gesehen, Zahlungen an eine Reihe von Gläubigern seiner Mutter zu leisten, und zwar „aus eigenen Mitteln“, denn jene hätten sonst „das besagte Mobiliar“ gepfändet. Marie hatte Schulden bei einem Schuster; einem Produzenten von Pottasche (die als Waschmittel verwendet wurde); einer Person, die Kochfett verkaufte; und einem Tuchhändler. Insgesamt beliefen sich ihre Schulden auf 290 Livres.17

Um wenigstens einen Teil seiner Aufwendungen zurückzuerhalten, erklärte Gabriel, habe er bereits mit dem Gedanken gespielt, eine amtliche Verfügung gegen seine Mutter zu erwirken, damit er selbst das Mobiliar einziehen und gerichtlich versteigern lassen könne. Jedoch habe Marie ihm versichert, dass schon die Kosten einer solchen Zwangsversteigerung den Wert der Möbel fast zur Gänze aufzehren würden. Deshalb schlug sie vor, das Konvolut ihm zu verkaufen, „a la miable“: zu einem Freundschaftspreis; so hatte er 1763 das gesamte Mobiliar für 130 Livres erstanden.18 Am Tag darauf beurkundete Marie Aymard vor wiederum einem anderen Notar, dass auch der Dienstherr ihres verstorbenen Mannes für sie eine Schuld über 150 Livres beglichen und zusätzlich die Summe von 606 Livres – eine Menge Geld, mehr als der Jahreslohn ihres Mannes – an zwei Bäckerfamilien aus Angoulême gezahlt habe.19

Die Vollmacht

Im Oktober 1764 wurde Marie Aymard erneut bei dem Notar Jean Bernard vorstellig und erklärte, sie sei die Witwe des „Zimmermeisters“ Louis Ferrand und Mutter fünf minderjähriger Kinder. „Sie sagte uns, [dass] ihr Gemahl die besagte Stadt Angoulême verlassen habe und im Jahre 1753 zusammen mit Monsieur Cazaud nach der Insel Martinique gefahren sei“, vermerkte der Notar; „hernach sei jener nach Grenada gegangen, um dort seinen Wohnsitz zu nehmen.“ Im Laufe der folgenden Jahre habe Marie Aymard „davon Kenntnis erlangt, dass ihr besagter Gemahl eine gewisse Anzahl von Negern sowie einige Maultiere erworben habe und 24 Livres am Tag verdiene, zusätzlich zu den 15 Livres, welche seine Neger ihm einbrächten, gleichfalls per diem“. Wie es heißt, hatte Louis „im Verlauf der vier oder fünf Jahre, die er auf Grenada verbrachte, ein kleines Vermögen angehäuft“ und sei „nach Martinique zurückgekehrt mit dem Vorsatz, von dort zu seiner Familie zurückzukehren“. Jedoch sei er „von einer Krankheit überrascht worden und am dritten Tage verstorben“, allen Bemühungen der „Pères de la Charité“ zum Trotz, die auf Martinique ein Missionsspital führten.20

Der Zweck sowohl von Marie Aymards Aussage als auch der Vollmacht, deren Ausstellung sie erbat, bestand darin, Klarheit über den Verbleib des kleinen, etwaigen Vermögens zu erlangen, das Louis Ferrand dem Vernehmen nach „angehäuft“ hatte. Vor seinem Tod habe ihr Ehemann „sein Vermögen in die Hände eines gewissen M. Vandax gegeben, eines Schiffseigners oder Kaufmanns, der an der Promenade du Mouillage [von Martinique] oder aber in Fort Saint-Pierre lebt“. So hatte man es ihr jedenfalls gesagt; „dies sind die Tatsachen, von denen die ansuchende Partei zu verschiedenen Zeiten durch gewisse Personen in der Stadt Angoulême unterrichtet worden ist“. Die Informanten hätten Marie „zugleich mitgeteilt, dass der besagte M. Vandax auf die mündlichen Nachfragen, die sie in der selbigen Angelegenheit an ihn gerichtet hatten, nur undeutlich und vage geantwortet habe, was sie dennoch zu der Hoffnung bewegte, dass ihr Anspruch erfüllt würde, sobald erst ihre Kinder die Volljährigkeit erlangt hätten“.21

Und auf diesem Stand war die Sache dann für eine ganze Weile geblieben. „Diese Hoffnung, ihre eigene Mittellosigkeit sowie die große Entfernung [nach Martinique]“, erklärte Marie Aymard, „hatten sie gezwungen, ihre Nachforschungen bis dato aufzuschieben“ – und damit auch ihre Bemühungen zur Herausgabe ihres Erbes, „ohne welches sie sich nicht länger ernähren konnte“. Nun hatte sie jedoch erfahren, dass ein Unterleutnant zur See der französischen Handelsmarine namens Pascal Chauvin, der auf Heimatbesuch in Angoulême weilte, kurz vor der Abreise nach Martinique stand. Die erbetene Notarsurkunde wurde für ihn ausgestellt, der als „allgemeiner und besonderer Bevollmächtigter“ Marie Aymards auftreten sollte, und endete mit einer Fülle rechtssprachlicher Fachausdrücke. Chauvin wurde ermächtigt, Marie gegenüber „allen Richtern, Notaren, Amtsschreibern und anderen öffentlichen Personen“ zu vertreten; „sämtliche Forderungen gegen den besagten M. Vandax und alle anderen zu erheben, nach seinem Gutdünken“; er war autorisiert, „zu bitten, plädieren, einzuwirken, abzulehnen, zu verteidigen und zu widersprechen“. Indem Marie Aymard jegliches weitere Handeln ihres Bevollmächtigten „billigte und zu billigen verspricht“, stellte sie ihn zugleich von der Haftung für etwaige zukünftige Verluste frei, für die sie vielmehr selbst „in Verpflichtung getreten ist und all ihren Besitz sowie den ihrer besagten Kinder verpfändet hat“.22

Marie Aymard konnte nicht schreiben: „die ansuchende Partei hat erklärt, dass sie ihren Namen nicht zu schreiben vermöge“. Aber sie lebte in einer wahren Wolke von Neuigkeiten. Da gab es die „Tatsachen“, von denen man sie „unterrichtet“ hatte, und die Berichte über vage Erkundigungen auf Martinique; da gab es ihre eigenen Nachforschungen und das, was sie aus verschiedenen Quellen sonst noch erfahren hatte. Briefe ließ sie für sich schreiben und hatte das schon getan, als sie und ihr Mann noch – aus heutiger Sicht unvorstellbar langsam – Informationen über den Ozean hinweg ausgetauscht hatten. Sie wusste, dass er in der Gemeinde „Marquis a la Cabeste“ auf Grenada „besondere Bekanntschaft“ mit einem gewissen M. de Flavigné geschlossen hatte, ebenso mit einem Mann namens Herbert du Jardin, der als Kaufmann in Saint-Pierre auf Martinique ansässig war und an dessen Adresse sie ihre Briefe an Louis richtete. Ihr waren zwei mögliche Wohnorte des ominösen M. Vandax bekannt. Sie kannte Namen und Adressen und Zahlen wie jene der „15 Livres, welche seine Neger ihm einbrächten, gleichfalls per diem“.23

Dieses war nun also die Vollmachtsurkunde, ein einzelnes, gefaltetes Blatt Papier. Die Geschichte Marie Aymards wirkte zunächst so faszinierend, weil sie Einblick zu gewähren schien in die rege Geschäftigkeit, die schon im 18. Jahrhundert die Vermittlung von Informationen (oder Fehlinformationen) bestimmte, selbst im tiefsten Inneren der französischen Provinz. Von Interesse war sie also in Bezug auf die traditionelle historische Frage danach, „wie es eigentlich gewesen ist“. Marie Aymard beschrieb, in der formalisierten Sprache der Notare, die ungeschriebenen Austauschbeziehungen, die Tatsachen und Neuigkeiten und obskuren Erkundigungen, die in der Frühen Neuzeit die maßgeblichen Informationsmedien darstellten, und die in den Archiven wie auch in den digitalen Datenbanken der historischen Forschung so vergänglich und störungsanfällig sind.

Die Geschichte war aber auch aus der Perspektive einer anderen historischen Fragestellung interessant; jener nämlich, „was eigentlich geschehen ist“. Marie Aymard erzählte eine Geschichte mit einem klaren Anfang im Jahr 1753, als ihr Ehemann die Stadt Angoulême verlassen hatte, und einem überaus obskuren, um nicht zu sagen offenen Ende. Was hatte denn jener Unterleutnant zur See schließlich herausgefunden, sofern er tatsächlich jemals wieder nach Martinique gekommen war? Wer war M. Cazaud, der Dienst- und Lohnherr ihres Mannes, der Marie Aymards Schulden bei der örtlichen Bäckerschaft beglich, sich ausweislich anderer, mit Marie in keinerlei Zusammenhang stehender Prozessakten aus dem Jahr 1779 jedoch als „brutaler“, „gewalttätiger“, „unbarmherziger“, „geiziger“, ja von Grund auf „scheußlicher“ Mensch entpuppte – ganz abgesehen davon, dass er der Schwiegersohn des wichtigsten „Kapitalisten“ (oder Gläubigers) in der Finanzkrise von 1769 war?24 Wer war M. Vandax? Wer waren die „Neger“, über die ihr Ehemann Louis gebot, sofern er das denn jemals wirklich getan hatte? Und wer war sie denn eigentlich, diese ebenso mittellose wie erfindungsreiche und beharrliche Marie Aymard?

Es gibt Belege – mehr oder minder – für Marie Aymards wirtschaftliche Situation: Ihr gesamter weltlicher Besitz im Jahr 1764 – und die Genauigkeit dieser Schätzung ist ungewöhnlich – belief sich auf minus 160 Livres. Es gibt eine Beschreibung der Dinge, mit denen sie lebte, den ramponierten alten Stühlen und den sechs Blechgabeln, und von den Personen, mit denen sie Tausch- und Austauschbeziehungen unterhielt oder Kredit- und Schuldenbeziehungen. In der erhaltenen Vollmachtsurkunde werden ihre Informations- (und Fehlinformations-)Quellen zumindest angedeutet: die „Tatsachen“, von denen Marie „unterrichtet“ worden war; ihre eigenen „Nachforschungen“; die Leute, die ihr „mitgeteilt“ hatten, der Kaufmann an der Promenade von Martinique habe nur „undeutlich und vage“ auf ihre Nachfragen geantwortet; die Berichte von Briefen, die man ihr vorgelesen, und von Briefen, die man für sie geschrieben hatte. Es gibt eine Liste ihrer Bekanntschaften – oder zumindest jener 83 Zeugen, die an einem Dezembertag des Jahres 1764 den Ehevertrag ihrer Tochter unterzeichneten. Aber das ist dann auch schon der gesamte Umfang der historischen Überlieferung zu ihrer Person. Marie Aymard hatte 22 Enkel, die zu ihren Lebzeiten in Angoulême geboren wurden; einer von ihnen – der Großvater von Louise Lavigerie und des zukünftigen Kardinals Lavigerie – war zum Zeitpunkt von Maries Tod bereits verheiratet. Seine Großmutter hatte die ersten neun Monate der Französischen Revolution durchlebt; sie starb im Bezirk der Pfarrei Petit-Saint-Cybard im Alter von 77 Jahren und wurde auf dem Kirchhof noch einer weiteren Pfarrei – der von Notre-Dame-de-Beaulieu – zur letzten Ruhe gebettet.25

Acht Kinder

Selbst die Lebenswege von Marie Aymards Kindern (oder jedenfalls der meisten ihrer Kinder) hat der Sand der Zeit unter sich begraben. Ihr erstes Kind, Anne Ferrand, wurde 1736 geboren und starb bereits im März 1738, im Alter von 19 Monaten.26Gabriel Ferrand, ihr zweites Kind (und das erste, das sein Kleinkindalter überleben sollte), kam im April 1738 zur Welt, nur wenige Tage nach dem Tod seiner älteren Schwester; der Zweitgeborene sollte auch das einzige unter Maries Kindern sein, dessen Leben – zumindest eine Zeit lang – ausgiebig, ja obsessiv dokumentiert werden würde.27 Sein ganzes Leben verbrachte Gabriel in der Welt des Wortes, und er sollte seine früh geäußerte Absicht wahr machen und „der Jugend Unterricht erteilen“. Er heiratete eine Frau namens Marie Adelaide Devuailly und hatte mit ihr sechs Söhne, die allesamt in Angoulême geboren wurden; zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Jüngster 1775 getauft wurde, war er ein „Schreibmeister und Rektor einer Internatsschule“. Als er 1816 in Angoulême starb, wurde er als der „Leiter des archivarischen Bureaus der Präfektur des Departements Charente“ bezeichnet.28

Das dritte Kind von Marie Aymard und Louis Ferrand, Léonard Ferrand, starb ebenfalls im Kleinkindalter: Er kam 1739 zur Welt und verließ sie bereits kurz nach seinem zweiten Geburtstag wieder.29Françoise Ferrand, die Braut aus dem Heiratsvertrag mit den vielen Unterschriften, war das vierte Kind des Ehepaares – und das zweite überlebende. Sie wurde im November 1740 geboren und führte, wie ihr Bruder Gabriel, ein zumindest in Teilen dokumentiertes Leben.30 Im Alter von fünfzehn Jahren war sie Taufpatin der kleinen Tochter eines Zimmermeisters aus der Pfarrei Saint-Martial und unterschrieb im Taufregister mit einer ausladenden, selbstsicheren Handschrift als „Françoige Ferant“.31 Sie selbst sollte 13 Kinder bekommen, die alle in Angoulême getauft wurden; sie war Trauzeugin bei der Heirat ihres ältesten Sohnes Martial im Jahr 1790; ebenfalls Zeugin bei seiner Scheidung im beiderseitigen Einvernehmen 1796; wiederum Trauzeugin bei seiner zweiten Eheschließung 1801 mit einer gewissen Bonne oder Bonnite, einer jungen Frau aus Saint-Domingue; und unterzeichnete als Zeugin seinen Ehevertrag, in dem Bonnite ihrerseits versprach, dass all ihre „Besitztümer und Anrechte“ sowie jegliche „anderen Sachen“ nach ihrer Heirat „beschlagnahmt, erfasst und sichergestellt“ werden sollten.32 Françoise Ferrand starb 1805 in Angoulême. Ihre Kinder, Enkel und Urenkel sind es – die Nachkommenschaft Marie Aymards in weiblicher Linie –, die in den Teilen dieses Buches, die sich mit dem 19. Jahrhundert befassen, die Hauptrolle spielen.

Für die Existenz von Marie Aymards drittem überlebendem Kind, François Ferrand, gibt es so gut wie überhaupt keine Belege. Im Jahr 1742 wurde er getauft, und in der Vollmachtsurkunde, mit der nach dem verloren geglaubten Vermögen geforscht werden sollte, ist er als eines von Maries fünf minderjährigen Kindern aufgeführt; 1763 unterzeichnete er den Ehevertrag seines Bruders Gabriel, nicht jedoch den seiner Schwester im Jahr darauf.33 Zwei Jahre später jedoch, 1766, muss er sich noch in Angoulême aufgehalten haben, denn er war bei der Taufe von Gabriel und Marie Adelaides drittem Sohn anwesend; der (allerdings abwesende) Pate des Kindes war dessen Onkel mütterlicherseits – sein „Oheim“ also –, und François fungierte als dessen offizieller Stellvertreter mit dem Vermerk: „François Ferrand, auch ein Onkel“.34 An diesem Punkt endet die Überlieferung zu François’ Lebensweg (oder enden doch zumindest diejenigen überlieferten Dokumente, die ich bislang habe aufspüren können). Durchaus möglich, dass François mit jenem „François Ferand“ identisch war, der nicht allzu weit von den Allemands und den Ferrands wohnte und in einer Steuerliste für das Jahr 1763 als „Hausbedienter“ des Wirtes vom Cheval Blanc genannt wird; jener Gastwirt hatte, zusammen mit seiner Frau Wirtin, zu den Unterzeichneten auf Françoises Heiratsvertrag gehört.35 Doch wenn man sich auf Familienforschungs-Websites im Internet umsieht, findet man dort rund 19 000 (neunzehntausend!) Einträge oder Stammbäume für Personen mit dem Namen „François Ferrand“, und keiner von ihnen ist mit dem Diener vom Cheval Blanc oder mit Marie Aymards Sohn identisch.36

Das vierte überlebende Kind Marie Aymards, Mathurin Ferrand, hat bei seinem Verschwinden in der Tiefe der Zeit sogar noch weniger Spuren hinterlassen. Zwar wurde er 1743 getauft, und sein Name taucht, wie der seiner Geschwister, in der Vollmachtsurkunde von 1764 auf; aber das war es dann auch schon beinahe.37 Auch er unterzeichnete 1763 den Ehevertrag seines Bruders – in einer eher unsicheren Handschrift –, nicht jedoch den seiner Schwester aus dem Jahr darauf.38 Weder in den Steuerlisten noch in den kirchlichen Gemeinderegistern findet man ihn, noch – mit Stand von heute, der ja morgen schon wieder der von gestern sein wird – auf den Websites der Genealogen. Auf zweien der Listen „flüchtiger Burschen“, die zur Zeit der Angoulêmer Milizlotterie von 1758 aufgestellt wurden, taucht ein gewisser „Tourangeau“ auf, seines Zeichens abgängiger Lehrling eines Messerschmieds. Tourangeau – „der Tourainer“ – war ja auch der Spitzname von Marie Aymards Ehemann gewesen, und es ist möglich, dass auch Mathurin Ferrand so genannt wurde und seine Erscheinung in der historischen Überlieferung gerade deshalb so flüchtig ist, weil er selbst auf der Flucht war.39 Jedenfalls stellt er das eine, äußerst fragmentarische Extrem der Überlieferungslage zu einzelnen historischen Existenzen in Angoulême dar; sein ältester Bruder, der Archivar, steht am entgegengesetzten Ende der Skala.

Marguerite Ferrand, Marie Aymards fünftes überlebendes Kind, ist allerdings fast genauso unsichtbar. Sie wurde 1744 getauft und ist auf der Vollmachtsurkunde von 1764 genannt (wenn auch als ein Nachtrag am Rand der Seite).40 Im Jahr 1767 war sie die Taufpatin des ältesten Sohns von Françoise und Etienne, 1768 übernahm sie dieselbe Rolle bei der Taufe von Gabriels viertem Sohn. Im Begräbnisvermerk für Françoises kleine Tochter aus dem Jahr 1767 ist sie als einzige Zeugin genannt: als „Margerite Ferrante“, so ihre unsichere, vielleicht vor Trauer wacklige Unterschrift im Register.41 Doch auch in diesem Fall war das schon alles. In der Online-Welt der Profi-Genealogen und Hobby-Ahnenforscher gibt es fast genauso viele Stammbäume für „Marguerite Ferrand“ wie für „François Ferrand“, aber keiner von denen, die ich bislang gesehen habe, hat irgendetwas mit der Familie von Marie Aymard zu tun. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es zahlreiche Gründe, aus denen man durch das Raster der historischen Aufzeichnungen fallen konnte: indem man etwa „nur“ eine Hausangestellte war; oder mittellos; oder auf der Flucht; oder nicht signierfähig, sodass man seinen Namen in keinem Register hinterlassen konnte; oder nicht verheiratet (oder kinderlos und damit der Möglichkeit beraubt, in deren Stammbäumen und Abstammungstafeln die Zeitläufte zu überdauern). Bislang gibt es keinerlei Hinweise darauf, was das Schicksal Marie Aymards drei mittleren Kindern François, Mathurin und Marguerite vorherbestimmt hatte – sofern von Schicksal und Bestimmung denn überhaupt die Rede sein kann. „Es ist nie angenehm, ‚ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen‘ sagen zu müssen“, schrieb Marc Bloch, aber ebenso unangenehm ist es – wenn auch auf eine andere Weise –, wenn man weiß, dass man es vielleicht eines Tages wissen könnte!42

Marie Aymards jüngster Nachkomme, Jean-Baptiste Ferrand (oder schlicht Jean Ferrand), war das einzige ihrer sechs Kinder, dessen Leben von den großen Umwälzungen seiner Zeit auf das Heftigste erfasst wurde – und das einzige, von dem wir auf der Grundlage sicherer Belege wissen können, dass es Frankreich jemals verlassen hat. Der kleine Jean-Baptiste wurde 1749 getauft – wie sollte es anders sein, bei diesem Namen – und unterzeichnete im Alter von fünfzehn Jahren den Ehevertrag seiner Schwester Françoise in einer sicheren, selbstbewussten Handschrift.43 Im Jahr 1774 heiratete er Elizabeth Boutoute, die Tochter eines Topfschmieds; in der Familie seiner Braut bestanden, wie in seiner eigenen, Verbindungen in die ferne, weite Welt der französischen Kolonien; er selbst wird in den Quellen als Uhrmacher bezeichnet.44 Elizabeth und Jean-Baptiste bekamen vier Kinder, von denen eines früh starb.45 Zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem Tod ihres Sohnes im Jahr 1777 verließ die Familie Frankreich und übersiedelte nach Saint-Domingue, wo sie bis zu den dramatischen Tagen der Haitianischen Revolution leben sollten. Jean-Baptiste betrieb ein Ladengeschäft in Cap-Français (auch schlicht „Le Cap“ genannt, das heutige Cap-Haitien), in dem er Kaffeekannen und Ölfläschchen feilbot; seiner späteren Erinnerung zufolge besaß er in jener Zeit fünfzehn „Negersklaven“.46 Bis spätestens 1795 waren er und seine Familie jedoch als mittellose Revolutionsflüchtlinge nach Angoulême zurückgekehrt; Jean-Baptiste selbst starb 1831 in Paris in „bitterer Armut“.47

Auf der Insel Grenada