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Der vorliegende Band enthält Kurzgeschichten, in denen sich auf vielfältigste Weise Alltag und Traum widerspiegeln. Hierbei spannt sich der thematische Bogen von Charakterstudien und Momentaufnahmen, welche die Bedeutung scheinbar selbstverständlicher Dinge und Handlungen hinterfragen, über fantastisch-mysteriöse Begebenheiten, die vor allem das Unheimliche in den eigenen vier Wänden umfassen, bis hin zu Adaptionen griechischer Mythologie, vom luftig leichten, humoristischen bis schwermütig philosophischen Spiel auf der Tastatur menschlicher Sehnsüchte.
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Seitenzahl: 74
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Alltagsporträts
Das Fenster
Eine kleine Schwäche
Das breite Grinsen
Bleibende Gegenwart
Heimatlos
Das Café
Nur die Familie
Spiegel-, Zerr- und Scheinbilder
Das Loch
Die Anstalt
Das Spielzeug
Der Keller
Traumzyklus
Wenn ich sterbe, stirbst auch du
Der Übermensch
Das Nicht-Bild
Der Anschlag
Die Straße
Das Kind
Todeszelle
Der Stein
Labyrinth
Der Mittelpunkt
Pygmalion
Die Fahrt
Ich sehe sie. Wie sie mit zwei Einkaufsbeuteln in der linken, einem Stock in der rechten Hand auf gekrümmten Beinen in Richtung Stadtzentrum wackelt. Sie trägt noch immer ihren dunkelblauen Rock und die hellblaue Strickjacke. Ab und zu bleibt sie stehen, um den Neuigkeiten alter Bekannter zu lauschen. Ihre großen, feuchten Augen blicken aufmerksam und tragen doch eine stete, tiefe Traurigkeit in sich. Eine Traurigkeit, die mir Angst macht.
Da! Der graue Sims. Mein linker Fuß stößt sich ab. Schnell umfassen meine Hände den warmen, roten Backstein vorm Fenster. Schnell klopft die rechte Faust gegen die Scheibe, die in einem Lachen birst.
Warum bin ich vorbeigegangen?
Drei Blöcke Umdrehen. Drei Blöcke Winken. Drei Blöcke ungelenkes Kreisen einer faltigen, starken Hand. Jedes Mal die Freude, sie noch zu sehen und ihr doch immer ferner zu sein.
Sie macht Heringssalat mit Fischrogen und bäckt Eierkuchen. Hauchdünn, auf beiden Seiten gut gebräunt. Die besten der Welt! Keiner kann das. Keiner wollte es je lernen. Ich sehe nicht zu, wie sie in die Pfanne kommen. Ich will sie nur umdrehen. Viele hat sie davon gemacht. Nicht einmal drei Personen hätten die an einem Tage essen können. Mit Speck fängt man Mäuse!
Jedes Klopfen ein Lächeln. Jedes Klopfen ein Eis. Sie geht mit mir ins Kino. In den Zirkus. In den Zoo. Ich laufe, laufe, laufe und sehe, sehe alles. Sie sitzt, döst und isst Kekse aus einer Tüte, die meine Finger nur zu gut kennen. Sie schläft in Gesellschaft. Als könne sie nicht ohne schlafen. Ich schlafe nicht. Ich träume.
Jedes Klopfen eine Münze. Ich mag das Geld nicht. Ich liebe kleine Ausflüge auf wackligen Beinen und die große, schwere Hand, die ich vom Sims erreiche. Manchmal hält sie mich, wenn ich aufs Schuppendach klettere und nach heruntergefallenen Haselnüssen suche. Die teilen wir uns dann.
Ihre Wohnung ist einfach. Zwei Zimmer, eine Küche mit einem großen Tisch, der den ganzen Raum ausfüllt. Dahinter eine kleine Räucherkammer, in der ich einen Schatz vermute. Sie teilt sich das Bad mit den Nachbarn. Deswegen wäscht sie sich manchmal lieber in einer Schüssel in der Küche. Sie hat nicht viele Sachen. Doch was sie trägt, trägt sie gern. Sie sagt, sie braucht nicht mehr und steckt zwei Bonbontüten in meinen Rucksack. Aus einem Kofferradio dudelt Musik.
Ständig lauert sie auf Klopfzeichen. Fenster sind bei ihr wie Türen. Ihre Bekannten erkenne ich schon an der Art, wie sie ans Glas schlagen. Sie alle drücken die große, offene Hand. Nicht jeder drückt sie gleich. Hände sind blind.
Ich habe so getan, als hätte ich sie nicht gesehen.
Ich habe Angst, wenn ich allein nach Hause komme. Nein, ich fürchte mich nicht vor der Wohnung, nur vor dem Dunkel hinter der Tür.
Manchmal ist es anders. Die Luft trägt einen beruhigenden Geruch. Sie ist hier. Nein, sie war hier. Alles finster und die Meerschweine geben keinen Laut von sich. Kein Pfeifen und Quieken. Das konnte nur eines heißen: Sie hatte einen großen Futterbeutel dagelassen. Der reichte glatt für drei bis vier Tage! Sie hatte ihn gepflückt. Sie pflückt nicht gern, weil sie sich nicht gut bücken kann. Ich pflücke auch nicht gern. Und ich bin nicht da gewesen.
Niemand saß auf der Couch, raschelte in Tüten gefüllt mit Anisplätzchen, klapperte mit dem Gebiss oder schlief ein und fing an zu schnarchen, während ich meine Schularbeiten erledigen musste. Das Gras würde eine halbe Woche reichen! Sie hatte gewartet. Zehn Minuten, eine halbe Stunde vielleicht. Drei Tage ohne große, tiefe Augen. Ich füttere und mache meine Hausaufgaben.
Ich gehe nicht gern hinein, nicht gern um die Ecke, hinter der ich mich versteckte, als die Zeit noch ewig war. Ich erschrecke sie nicht mehr mit lautem Lachen. Ich erstaune sie mit leisem Lächeln.
Das Fenster umrahmt ihren Kopf, der stets den Gesprächen der Straße zugewandt ist. Sie lauscht jetzt fremdem Lachen. Ich gehe weiter. Auf der anderen Straßenseite. Drehe mich nicht um. Hat sie mich gesehen? Ich laufe. Keine Zeit! Keine Zeit. Hat sie? Ich weiß es nicht. Ich traue mich nicht. Der Blick ist mir zu tief.
Selten sehe ich sie noch. Doch immer nur ihren Rücken und die leicht rötliche Dauerwelle. Wie sie meinen Augen entschwinden, verblassen in der Herbstsonne, die auf den Asphalt scheint, im Wind, der die letzten Blätter im Rinnstein davonbläst, die Straße hinunter, drei Blöcke und um die Ecke.
Sie sitzt in der Ecke, ruhig, lächelnd. Sie beobachtet, wartet darauf, angesprochen zu werden. Sie kommen nie alleine, sind mindestens zu zweit. Eigentlich mag sie sie. Sie sind stets freundlich, wollen mit ihr spielen. Es stört sie nicht, dass sie immer die Rolle annehmen muss, die keiner haben will. Sie wollen sie glauben machen, es sei die beste. Und sie will es glauben.
Sie ist klein, kleiner als die anderen. Sie weiß, dass sie häufig nicht dem folgen kann, was sie ihr sagen. Deshalb lächelt sie so oft. Das scheint sie zu beruhigen. Manchmal betrügen sie sie. Das sagen die Kindergärtnerinnen. Sie kann nicht sagen, warum sie sich immer und immer wieder dazu verleiten lässt, dumme Dinge zu tun, warum sie ihre Bonbons gegen glatte Kieselsteine eintauscht oder sich einreden lässt, Rot sei Grün. Sie verschenkt eben gern ihre Sachen und sie mag die Stimmen anderer. Es ist der Klang der Beachtung.
Oh ja, sie beachten sie. Aus den Augenwinkeln überströmt ein Grinsen den schmächtigen Körper, den kommenden Spaß, der da so schüchtern auf seinen Händen sitzt und mit großen Augen wartet, hervorgelockt zu werden. Sie reden und sie kann sie nicht hören. Sie sieht nur das halbkreisförmige Auf und Ab der Lippen. Sie werden nett sein, so nett wie nie zuvor. Sie werden sie zum Lachen bringen. Sie wird lachen, doch sie wird nicht mit ihnen lachen. Sie wird nicht einmal wissen, warum sie lacht, warum sie lachen. Sie werden ihr eine Geschichte erzählen. Sie werden sie dazu bringen, etwas zu tun, was keiner von ihnen tun würde. Sie könnte einem fast leid tun, wenn es nicht so toll wäre, sie zu ärgern. Sie fällt doch immer wieder auf ihre süßen Worte herein. Ein nicht enden wollender Spaß!
Manchmal kommen ihnen Zweifel, ob sie wirklich nicht versteht, was da mit ihr geschieht. Manchmal haben sie das Gefühl, als errate sie ihre Gedanken, als durchschaue sie ihre Verachtung, als müsse sie gleich weinen. Doch sie sieht ihnen nur einen kurzen Moment in die Augen und fängt an zu lächeln. Dummheit ist nicht so leicht klein zu kriegen! Sie meinen es doch auch gar nicht böse! Sie lieben ihr kleines Spielzeug. Nein, sie ist viel besser als ein Spielzeug und deswegen hassen sie sie.
Sie beschwert sich nicht. Sie wirft ihnen nichts vor. Sie macht alles, was man ihr sagt. Sie wird morgen wieder in der Ecke sitzen und hoffen, dass jemand vorbeikommt und sie anlächelt. Und sie werden lächeln. Sie werden sie hassen, so, wie sie sich selbst hassen. Und … sie werden sie lieben.
Was ist in dem Schrank da auf der Bühne? – Der Goethe. – Warum kommt er nicht heraus? – Ihm fehlt die Nase. – Wo ist sie? – Weg. – Und was hat er jetzt da, wo die Nase war? – Ein Loch.
Jetzt wollte ich, dass der Goethe im Schrank blieb. Doch das Loch hätte ich schon gern gesehen. Es war einfach unglaublich! So, wie alle seine Geschichten. Er erzählt gerne Geschichten. Doch nur die, die nicht stimmen. Ich falle gern darauf herein. Immer wieder. Es macht Spaß, ihm zuzuhören, in seine verschmitzten Augen zu sehen, zu beobachten, wie sich sein Mund zu einem lachenden Grinsen verzieht.
Er kennt jeden, ist wie ein bunter Hund, weiß immer, wo es etwas Schönes gibt. Manchmal nimmt er mich mit zum Einkauf, um die Abgabebestimmungen zu umgehen, schließlich lieben wir beide Südfrüchte und andere Leckereien. Er kennt alle meine Lieblingsspielsachen. Er tauscht und sammelt. Ich freue mich über jede neue Überraschung, die er mir schenkt, auch ohne Geburtstag. Er ist der einzige Vater, der an Klassenfahrten teilnimmt. Ich habe keine Geschwister, aber ich habe einen Vater!
Ich wuchs. Und mit mir die Entfernung zu ihm. Er machte Fehler, die ich bemerkte, aber nicht sehen wollte. Er war kein Held. Wer ist das schon? Vielleicht waren wir uns auch einfach nur zu ähnlich. Ich war genervt, fand manchmal sogar Gefallen daran, ihn bis aufs Blut zu reizen. Ich war vierzehn.