Eine neue Welt - Henrike Runge - E-Book

Eine neue Welt E-Book

Henrike Runge

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Beschreibung

Eigentlich wollten die Halbgeschwister Jade und Fenris nur einen kurzen Spaziergang durch den Wald machen. Doch als sie dabei versehentlich in eine Parallelwelt stolpern, verändern sich ihre Leben schlagartig. Ohne zu wissen, wie sie zurück in ihre Heimat gelangen können, bleibt ihnen nichts Anderes übrig als sich mithilfe einer eigensinnigen Kriegerprinzessin und deren besten Freund in dieser fremden magischen Welt zurechtzufinden. Doch Jade erfährt schnell, dass diese Welt eine dunkle Vergangenheit hat und auch jetzt nicht alles so schön ist, wie es zu sein scheint.

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Chronik einer Kriegerkönigin

von Henrike Runge

Chronik einer Kriegerkönigin

Eine neue Welt

von Henrike Runge

Inhaltsverzeichnis

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Prolog

Jade

Azuka

Jade

Azuka

Jade

Jade

Jade

Azuka

Jade

Jade

Azuka

Jade

Jade

Jade

Azuka

Jade

Azuka

Azuka

Jade

Jade

Cain

Jade

Azuka

Azuka

Jade

Cain

Azuka

Jade

Cain

Jade

Epilog

Urheberrechte

Chronik einer Kriegerkönigin

Cover

Titelblatt

Prolog

Epilog

Urheberrechte

Chronik einer Kriegerkönigin

Cover

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Prolog

„Wir sollten das öfter machen“, seufzte ich.

Aus meinem Satz hörte man beides raus, Wehmut und Zufriedenheit.

„Was?“, fragte mein Halbbruder hinter mir. „Sinnlos im Wald rumlaufen?!“

Ich schnaubte. „Das nennt man spazieren gehen, du Depp.“

Außerdem musste er gar nicht erst so tun, als wüsste er nicht, was ich meinte. Seit er im Ausland lebte, sahen wir uns so selten… Es war schön, Zeit mit ihm zu verbringen. Fenris und ich hatten uns immer gut verstanden. Klar, er war mein großer Bruder und wie das bei Geschwistern eben war, hatten wir uns auch ab und zu mal gestritten, aber meiner Meinung nach hatten wir ein außergewöhnlich gutes Verhältnis zueinander.

Als er vor drei Jahren weggezogen war, hatte mir das echt zugesetzt. Er war immer derjenige gewesen, dem ich meine Probleme vorgeheult hatte und der mich dann unterstützt hatte. Tja, und mit einem Mal war diese wichtige Stütze in meinem Leben einfach weg gewesen.

Oder zumindest fast weg.

„Glaub mir, ich würde öfter kommen, wenn ich könnte“, sagte Fen jetzt. „Aber der Weg ist nicht gerade kurz, Benzin ist verdammt teuer und nur übers Wochenende lohnt sich’s nicht…“

„Ich weiß“, seufzte ich. Dann drehte ich mich zu ihm um und rang mir ein Lächeln ab. „Ist aber schön, dass es diese Woche geklappt hat.“

Seine braunen Augen glitzerten belustigt, als er mir ein Grinsen schenkte. „Meine kleine Schwester wird doch nur einmal achtzehn. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen!“

Ich verdrehte meine Augen. Vollidiot.

Aber er hatte ja nicht ganz unrecht. Und dass er gestern unangemeldet an meinem achtzehnten Geburtstag vor der Tür gestanden hatte, war das beste Geschenk von allen gewesen.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich gefeiert“, entgegnete ich.

„Damit ich mitansehen darf, wie meine Schwester abgefüllt und von irgendwelchen Möchtegern-Stechern angebaggert wird?“ Er schenkte mir einen zweifelnden Blick. „Nein, danke, bin ganz froh, dass ich das nicht erleben musste.“

Ehm…

Seufzend drehte ich mich um und setzte mich wieder in Bewegung. „Keine Sorge, da bin ich ein hoffnungsloser Fall…“

Ich hatte nie jemanden geküsst, weil ich ihn mochte, kein einziges Date gehabt und erst recht keinen Freund.

Geschweige denn Sex… Meine einzige Erfahrung mit einem Jungen war vor drei Jahren ein Kuss während des Flaschendrehens auf einer Klassenfahrt gewesen.

„Tatsächlich?“ Irgendwie klang Fen etwas überrascht. So als könnte er nicht glauben, dass ich gänzlich unerfahren war.

Wow, ich wusste gar nicht, dass er in dieser Hinsicht dermaßen an mich geglaubt hatte. Nur musste ich ihn da leider enttäuschen.

Aber ich war ja erst achtzehn, also konnte das alles ja noch werden. Ich sollte mir selber nicht so viel Druck machen, auch wenn ich zugeben musste, dass ich gerne mal eine Beziehung hätte… Ich wollte dieses Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Wärme spüren.

Aber ich hatte achtzehn Jahre ohne es überlebt, also konnte ich auch noch ein bisschen länger darauf warten.

Plötzlich spürte ich etwas Nasses auf meiner Nasenspitze.

„Fängt es jetzt wirklich an zu regnen?!“, stieß ich sofort aus.

Nach drei weiteren Tropfen konnte ich meine eigene Frage mit Ja beantworten.

„Jup…“, bestätigte auch Fen meine Vermutung. „Lass uns was suchen, wo wir uns unterstellen können, bevor der Regen komplett durch das Blätterdach kommt.“

Das war eine ausgesprochen gute Idee. Fenris und ich streunten ein bisschen durch die Baumstämme, kamen an einem kleinen Teich vorbei und schließlich zu einem sichtbar alten Gemäuer… Um ehrlich zu sein, sah das Ding aus wie eine Ruine. Ich hatte keine Ahnung, was das mal für ein Gebäude gewesen sein sollte, die Überreste der Mauern waren nicht sonderlich aufschlussreich.

Aber es schien noch betretbar zu sein. Und zumindest der vordere Teil war überdacht. Zielstrebig ging ich auf die alte morsche Holztür zu. Sie kratzte nur schwerfällig über den Boden und ließ sich auch nicht gänzlich öffnen, doch es reichte dazu aus, um reinzugehen. Ich merkte, dass direkt hinter der Tür nur eine steinerne Treppe war, die augenblicklich nach unten führte. War das nicht eine etwas komische Raumaufteilung? Ich hatte sowas auf jeden Fall noch nie gesehen… Normalerweise kam doch zumindest erst ein Gang, bevor man an eine Treppe kam. Oder?

Naja, war ja auch egal. Ich ging ein paar der Stufen runter, damit Fen ebenfalls ins Trockene kommen konnte. Scheiße, hier wurde es schlagartig stockfinster. Ja gut, hätte ich mir denken können… Scheinbar war der Großteil des Gebäudes unterirdisch und Fenster gab es hier dann logischerweise nicht.

Aber ich war ja nicht komplett dumm, also nahm ich mein Smartphone aus der hinteren Hosentasche, um ein bisschen Licht zu haben.

Ich leuchtete in den Gang hinein und mir klappte non-charmant der Mund auf. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber auf jeden Fall nicht das. Der Gang, in dem Fenris und ich standen, teilte sich wenige Meter weiter in vier unterschiedliche neue Gänge auf. Das war… wie ein Labyrinth.

Automatisch ging ich zu jeder einzelnen Abknickung und leuchtete hinein. Nicht eine einzige endete in einem Raum oder so… Es waren nur Gänge.

Was zur Hölle war das für ein Gebäude gewesen?!

„Jade?“, hörte ich hinter mir die Stimme meines Halbbruders.

Doch ich reagierte gar nicht darauf. Ich war neugierig… Ich wollte wissen, was es mit diesem labyrinthartigen Bau auf sich hatte.

Und draußen regnete es ja grade eh, also konnte ich mich doch ruhig hier umschauen, oder? Intuitiv entschied ich mich für einen von den Gängen und folgte ihm einfach mal.

„Jade?!“ Fenris stolperte mir hinterher. „Was zum Teufel machst du?!“

„Ich sehe mich nur um“, beruhigte ich ihn, ohne stehen zu bleiben oder langsamer zu werden.

Das Licht meines Handys enthüllte ein paar mehr Spinnenweben als mir lieb war… Ich hasste Spinnen, aber konnte mich zusammenreißen. Ich meine, ich konnte die Netze ja sehen, ich musste nur darauf achten, nicht direkt reinzulaufen. Das bekam ich hin.

Hoffentlich.

Ich bog immer mal wieder intuitiv ab. Ich hatte keinen Plan und auch keine Taktik, ich machte grade einfach das, worauf ich Lust hatte. Und Fen folgte mir. Er war zwar offensichtlich absolut nicht begeistert, aber was sollte er denn sonst tun? Ihm blieb gar nichts Anderes übrig als bei mir zu bleiben.

Natürlich verstand ich ihn auch irgendwo… Ich meine, ich hatte überhaupt keinen Überblick, ich wusste nicht, wie wir zurück zum Eingang kamen. Aber mein Gott, raus kam man immer irgendwie.

Nach einer ganzen Weile bogen wir in einen Gang ein, der aus diesen Katakomben rauszuführen schien. Wie ich bereits gesagt hatte: Raus kam man immer irgendwie.

Ich lief die letzten paar Meter bis zum Ausgang, dann blieb ich abrupt stehen. Meine Beine stoppten, ohne dass ich es beabsichtigt hätte… Merkwürdig.

Zögernd, aber dennoch neugierig, trat ich hinaus in das kühle Licht des Mondes. Fen blieb dicht hinter mir… Er wollte mich nicht alleine lassen.

Wir fanden uns auf einer kleinen Lichtung wieder. Eigentlich wäre sie kreisrund, wenn da nicht diese Bergkette hinter uns wäre, aus deren Höhle wir gerade gekommen waren. Während Fenris ein paar Schritte hinaus auf die Lichtung ging und kritisch die Laubbäume betrachtete, die uns umgaben, drehte ich mich zu dem Höhleneingang um.

Ich sah nichts darin. Nichts, außer einer – scheinbar – alles verschlingenden Dunkelheit. Es war ein beunruhigender Anblick.

Wow, und da war ich gerade eben, ohne auch nur ansatzweise zu zögern, einfach so rein gerannt?!

Ich ließ meinen Blick die steile Felswand hochwandern… Okay, das sah doch nicht aus wie eine Bergkette, eher wie die Wand einer Schlucht. Ich suchte, aber ich fand keinen Weg, der hinauf führen würde. Das Ganze machte auf mich den Anschein einer unüberwindbaren Mauer… Fast so wie der Rand der Welt.

„Wo sind wir hier?“, stellte ich endlich die Frage, von der ich wusste, dass sie auch meinem Halbbruder im Kopf herumschwirrte, während ich mich wieder zu ihm umdrehte.

„Ich hab keine Ahnung“, erwiderte er langsam.

Dann waren wir ja immerhin schon zu zweit…

Jade

Die Lichtung selbst sah unglaublich friedlich aus. Sie war still, so als würde jedes Lebewesen – außer Fen und mir – hier schlafen. Der abnehmende Mond am sternenklaren Himmel schenkte dem Ort ein angenehmes Licht. Klar, es war dunkel… Warte mal! Dunkel?! Fen und ich waren am Nachmittag spazieren gegangen, wie konnte es denn jetzt dunkel sein?! Doch das war es. Es musste sogar mitten in der Nacht sein.

Okay, ich wurde wohl verrückt… Das war doch nicht möglich. Wir hätten stundenlang durch die Gänge irren müssen.

Intelligent, wie ich eben war, sah ich auf das Display meines Handys. Es zeigte 16:34 Uhr an, kein Empfang.

Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ganz und gar nicht.

Ich war verwirrt.

Wo waren wir hier nur gelandet?

Plötzlich hörten Fen und ich links von uns ein Knacksen. Da kam irgendjemand. Wieder wusste ich nicht genau, warum ich so handelte, doch ich legte sofort meinen Zeigefinger auf meine Lippen und deutete meinem Bruder still zu sein. Und er gehorchte.

„Soll ich dich sicher nicht weiter begleiten?“, hörten wir eine männliche Stimme aus der Richtung, aus der auch das Knacksen gekommen war.

„Nein“, erwiderte ein Mädchen. „Ich kann auf mich aufpassen.“

Kurz war es totenstill… Ich traute mich fast nicht, zu atmen. Fen schien auch damit beschäftigt zu sein, sich wie eine Statue zu verhalten, und es herrschte nicht einmal ein laues Lüftchen, das die Blätter zum Rascheln bringen könnte.

„So war das nicht gemeint“, brach der Junge schließlich das Schweigen.

„Ich weiß“, sagte das Mädchen sofort. „Und du weißt, wie ich das meinte.“

„Ja, schon gut“, gab er nach.

Dann wurde es wieder still. Fen und ich wechselten einen Blick. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck absolut nicht deuten. Ich selbst war immer noch ziemlich verwirrt, mittlerweile aber auch unsicher. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir nicht hier sein durften…

Keine Ahnung, ich hatte bei allem hier gerade einfach ein ganz komisches Gefühl.

Allein die Tatsache, dass es hier mitten in der Nacht war, beunruhigte mich. Hier wurde die gleiche Sprache gesprochen wie bei mir zuhause. Wenn der Gang uns in eine andere Zeitzone geführt hätte, hätten wir auch das Land verlassen müssen. Und dann hätte sich die Sprache geändert… Es ergab also keinen Sinn.

Gut, dass uns ein Labyrinth, in dem wir uns höchstens zwanzig Minuten lang aufgehalten hatten, in eine andere Zeitzone oder in ein anderes Land brachte, war genauso unrealistisch, aber ich versuchte ja nur, eine logische Erklärung für all das hier zu finden.

Ich konnte nur leider nicht.

Ein Rascheln brachte mich zurück in diese unwirkliche Wirklichkeit.

Da kam jemand auf uns zu.

Fen und ich starrten auf die Stelle, wo jeden Augenblick jemand aus den Baumreihen kommen musste. Eine kurze Weile lang sahen wir nichts, dann erkannte ich langsam eine Gestalt, die vorsichtig die Lichtung betrat.

Sie blieb abrupt stehen, als sie Fen und mich erblickte.

Das Mädchen war recht klein und zierlich gebaut. Ihr Gesicht lag im Schatten einer großen Kapuze. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, den sie sich wohl nur übergeworfen hatte. Er war offen und er zeigte viel von dem Körper des Mädchens. Sie war… nicht sehr bekleidet. Ihre nackte Haut wurde lediglich von einer kurzen schwarzen Stoffhose und einer schwarzen Stoffbahn, die über ihren Brüsten lag, verdeckt.

Ich versuchte, ihren Körper nicht allzu lange anzustarren, und wandte meinen Blick wieder ihrem verhüllten Gesicht zu. Aus der Kapuze fielen ein paar schwarze Strähnen, die – wenn mich das nächtliche Mondlicht nicht täuschte – einen bläulichen Schimmer innehatten.

„Wer seid ihr?“, fragte sie, nachdem sie Fenris und mich scheinbar ausführlich genug gemustert hatte.

Ihre Stimme zitterte nicht. Sie war klar und laut, trotzdem klang sie irgendwie alarmiert.

Während ich überlegte, wie ich diese Frage am besten beantworten konnte, hatte mein Halbbruder sich schon für eine Strategie entschieden. Er stellte ihr eine Gegenfrage:

„Wer bist du?“

Sicher verstand ich sein Handeln. Er wollte Zeit schinden, sehen, wie sie antworten würde, wissen, mit wem er es zu tun hatte, und vor allem nichts Falsches sagen. Dennoch versuchte ich jetzt, ihn durch meine Blicke zu töten. Denn wenn mein Gefühl, dass wir gar nicht hier sein durften, mich nicht täuschte, rettete uns seine dämliche und leicht provozierende Gegenfrage auch nicht.

Aber gut, jetzt hatte er sie schon gestellt und jetzt wollte auch ich wissen, wie sie antwortete.

Doch das Mädchen sagte nichts. Sie kam langsam ein paar Schritte auf uns zu, bis sie nur noch ungefähr zwei Meter von uns entfernt war, hob ihre Hände an den Rand ihrer Kapuze und enthüllte dann vollkommen ruhig ihr Gesicht in einer einzigen eleganten Bewegung.

Und ich merkte selbst, dass sich meine Augen vor Überraschung ein kleines Stück weiteten. Hoffentlich war diese Reaktion so minimal gewesen, dass das Mädchen sie nicht bemerkt hatte.

Der Grund für meine Reaktion? Ihre Haare. Zumindest in erster Linie. Sie war überhaupt nicht schwarzhaarig. Zumindest nicht vollständig. Ihr Ansatz war blond. Und dieses helle Blond währte ungefähr bis auf die Höhe ihrer Augen, wo es dann nahtlos in ein dunkles glänzendes Blau überging. Das Blau setzte sich fort und wurde stetig dunkler, bis es in schwarzen Spitzen endete.

Okay, es gab zwei Möglichkeiten: Entweder kam sie frisch von einem außergewöhnlich guten Friseur oder – und das glaubte ich irgendwie mehr – das war tatsächlich ihre natürliche Haarfarbe. Ich weiß auch nicht, aber ich weigerte mich, zu glauben, dass es irgendein menschliches Wesen schaffte, so perfekte und natürlich wirkende Übergänge hinzukriegen.

Der zweite Grund für meine Reaktion war ihr Gesicht.

Sie war wirklich hübsch.

Sie hatte eine helle Haut, fast ebenso helle Lippen, dunkle Augenbrauen und eine Nase, für die so manche Frau töten würde. Ihre linke Augenbraue war ein Stück höher als ihre rechte, ihre glatten Haare waren leicht zerzaust und struppig. Doch es passte zu ihr und ihre Schönheit litt keineswegs darunter.

Nur die Farbe ihrer Augen erkannte ich in der Dunkelheit nicht.

Während Fen und ich sie nur stumm anstarrten, hielt sie meinem Blick mühelos stand. Ich hatte keine Ahnung, warum sie sich für meinen Halbbruder kaum interessierte. Er war es ja schließlich gewesen, der ihr die Gegenfrage gestellt hatte. Doch sie schien meine Wenigkeit für wichtiger zu halten.

„Ihr seid Menschen“, stellte sie fest.

„Ach, was du nicht sagst…“, hörte ich das sarkastische Murmeln meines Bruders.

Wenn er es nicht getan hätte, hätte ich wahrscheinlich ähnlich reagiert. Natürlich waren wir Menschen, was sollten wir denn sonst sein? Aliens?

Hm… Vielleicht war sie hier ja das Alien… Das war ein beunruhigender Gedanke, vor allem weil er mir gerade gar nicht mal so unrealistisch erschien. Es wäre zumindest nicht merkwürdiger als alles andere, was ich gerade erlebt hatte.

Sie sah langsam zu Fenris, auf einmal zeichnete sich ein leicht schadenfreudiges Lächeln auf ihren Lippen ab. „Und ihr habt keine Ahnung, wo ihr seid.“

Das Lächeln, das mein Bruder erwiderte, war offensichtlich falsch. „Vielleicht wärst du ja so freundlich uns aufzuklären…“

Ihr Blick verfinsterte sich. Mein Bruder musste sie reizen…

„Oder wir verschwinden einfach wieder“, versuchte ich, sie zu beschwichtigen, und deutete hinter mich, wo der Höhleneingang sein musste.

Sie sah augenblicklich zu mir. „Probiert es und ihr werdet sterben.“

Es schwang keinerlei Emotion in ihrer Stimme mit, sie klang vollkommen sachlich. Das war keine Drohung gewesen… Das war eine Warnung.

„Wie meinst du das?“, hakte ich, ohne zu zögern, nach.

Ich war beunruhigt, doch ich wollte nicht sofort in Panik verfallen.

„Ihr habt eure Welt verlassen…“, begann sie.

„Bitte was?!“, unterbrach Fen das Mädchen.

„Ich würde es ja erklären, wenn du mich ausreden lassen würdest!“, fuhr sie ihn an. Dann entspannte sie sich wieder und ihre Gesichtszüge wurden weicher. „Ihr habt gerade einen Übergang in die Andere Welt entdeckt…“ Das war der Punkt, an dem ich ihr gerne ins Wort gefallen wäre und sie gefragt hätte, ob sie das ernst meinte, doch ich hielt mich zurück, damit sie weitersprechen konnte. „… und ihr hattet unglaubliches Glück, heil hier anzukommen. Nachdem man vor ungefähr sechs Jahrhunderten entschieden hat, die Welten voneinander zu trennen, wurden die Übergänge mit Fallen versehen. Es gab nur wenige Personen, die sicher zwischen der Anderen und der Menschenwelt wechseln konnten, doch die sind mittlerweile alle tot.“ Irgendwie erstaunte es mich, wie unbekümmert sie das sagte… „Und es ist uns verboten, die Menschenwelt zu betreten, so wie es den Menschen verboten ist, in die Andere Welt zu kommen.“ Sie pausierte kurz. „Und genau das ist das Problem…“

„Wir sind verbotenerweise in die Andere Welt gekommen und es ist schwierig, sie wieder zu verlassen“, benannte ich das Problem.

„Schwierig?“ Sie hob eine Augenbraue. „So gut wie unmöglich. Ich will euch nicht anlügen, es sieht nicht so aus, als würdet ihr jemals wieder nach Hause kommen.“

Ehm… Was?! Ich… Ich sollte nie wieder nach Hause kommen? Das hieß ja… Ich würde meine Eltern nie wieder sehen, ich würde niemanden, den ich kannte, jemals wieder sehen.

Mein Leben war vorbei.

Schlagartig fühlte ich mich ganz taub… Ich war gerade irgendwie nicht mehr existent.

„Und du verarscht uns nicht?“, fragte mein Bruder langsam.

„Sehe ich so aus?“, fragte sie leicht entnervt zurück.

„Nein“, beantwortete ich tonlos ihre Frage. „Leider nicht.“ Ich wünschte, sie würde uns anlügen. Aber irgendwie wusste ich, dass sie das nicht tat. Sie sagte die Wahrheit, Fen und ich waren hier gefangen. Und nicht nur das. Wir waren hier gefangen, obwohl wir nicht einmal hier sein durften.

Warum war ich nur so kopflos durch dieses beschissene Labyrinth gerannt?! Wenn ich doch wenigstens noch wüsste, wann ich wo abgebogen war, dann könnten wir zurück. Dann würden wir in keine dieser Fallen laufen. Aber ich hatte keine Ahnung mehr, wo wir längs gegangen waren…

Ich konnte uns nicht zurückführen.

Scheiße.

„Was machen wir jetzt?“, wollte Fenris nun wissen.

„Mir vertrauen?“, schlug das Mädchen vor. „Wenn jemand erfährt, dass Menschen hier sind, seid ihr ebenfalls so gut wie tot. Ich kann euch beschützen.“

Fen schnaubte. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber wie willst du uns beschützen?!“

„Hast du `ne bessere Idee?!“, fuhr ich ihn an, bevor sie was sagen konnte. „Fen, wir kommen hier scheinbar nicht mehr weg, wenn die falschen Leute von uns erfahren, sind wir tot, und wir wussten bis gerade eben nicht mal, dass es eine andere Welt gibt. Uns bleibt wohl kaum etwas anderes übrig als ihr zu vertrauen.“

Er sah mich eine Weile lang stumm an, bis er schließlich nachgab und nickte. „Na gut, wenn du meinst.“

Klar, das Mädel war klein und zierlich und sah nicht sehr gefährlich aus, aber wenn sie sagte, dass sie uns helfen konnte, dann sollten wir das vielleicht einfach annehmen. Alleine würden wir nämlich höchstwahrscheinlich nicht klarkommen.

„Gut“, meldete sich das Mädchen wieder zu Wort. „Dann los, folgt mir.“

Wir zögerten beide.

Keiner von uns wollte hier weggehen. Auch wenn es jetzt schon kein Zurück mehr gab, würde es sich erst endgültig anfühlen, wenn ich mit ihr mitging. Selbst als Fen tief durchatmete und ihr dann langsam folgte, zögerte ich noch.

Ich sah noch ein letztes Mal zu dem dunklen Höhleneingang, bevor auch ich mich am Riemen riss und mit dem Mädchen die Lichtung verließ.

Irgendwie war das bittere Ironie.

Ich hatte immer ein neues Leben gewollt. Ich hasste meine Schule, ich wusste nicht, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte, ich hatte ja nicht einmal richtige Freunde, nur oberflächliche Bekanntschaften. Ich hätte alles dafür gegeben, dass sich etwas veränderte… dass ich endlich nicht mehr das Gefühl hatte, fehl am Platz zu sein. Doch in jeder meiner Tagträumereien waren auch meine Eltern dabei gewesen. Ich hatte nie in Erwägung gezogen, dass Veränderung dazu führen könnte, dass ich sie verlor.

Tja, ich hatte ein neues Leben gewollt… und das hatte ich jetzt bekommen.

Das Mädchen führte Fen und mich sicher durch die Baumreihen. Sie schien sich – trotz Dunkelheit – ziemlich gut auszukennen.

„Wer bist du jetzt eigentlich?“, fragte mein Bruder sie nach einer Weile erneut nach ihrem Namen.

„Azuka“, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. „Die erste ihres Namens, Kriegerprinzessin von Praeternaturalia.“

„Krieger?!“, wiederholte ich verdutzt.

„Prinzessin?!“, hakte Fen nach.

Also der Part mit der Prinzessin war mir nicht so suspekt, ich fragte mich gerade eher, ob sie lediglich Krieger befehligte oder ob sie selber eine Art Krieger war…

„Ja“, bestätigte sie beides nur, als sei es das Normalste der Welt.

Alles klar.

Das gab uns ja zumindest schon mal etwas Information…

Es gab hier Königshäuser… und Krieger… und eine Kriegerprinzessin, die nachts halbnackt durch die Gegend rannte.

Hm, irgendwie war mir diese Welt jetzt schon sympathisch.

„Und ihr?“, fragte Azuka nun.

„Fenris“, stellte mein Bruder sich vor. „Leider hab ich keinen royalen Titel…“

Wohl eher zum Glück…

„Ich bin Jade“, ergänzte ich. „Seine Halbschwester.“

Sie ließ das unkommentiert, scheinbar waren wir für sie weniger interessant als sie für uns. Gut, sie war eine Kriegerprinzessin, natürlich war sie interessanter als der durchschnittliche Mensch. Wenn sie denn überhaupt ein Mensch war.

„Wenn Menschen nicht in diese Welt dürfen…“, überlegte ich laut, „… wer lebt dann hier? Also… Was bist du?“

„Eine der Anderen.“ Sie schnaubte belustigt. „Kreativer Name, ich weiß. Aber so haben uns die Menschen genannt, als unsere Art entstanden ist.“ Sie pausierte kurz, bevor sie weitersprach. „Trotzdem passt er recht gut. Wir sind alle anders. Wir haben Fähigkeiten, von denen ihr nur träumen könnt…“

„Lol, ihr seid Superhelden“, fiel mein Bruder ihr ins Wort, wobei er irgendwie nicht dämlicher hätte klingen können.

„Helden?“, lachte Azuka freudlos auf. „Nein. Nein, mit Sicherheit nicht… Wir sind…“ Sie schien zu überlegen. „Scheiße, wie heißt das bei den Menschen nochmal?! Wie nennt man das, wenn man genetisch verändert wurde?“

„Mutation“, mutmaßte ich.

„Genau, wir sind Mutanten.“ Sie blieb stehen und drehte sich zu uns um. „Das wissen die meisten von uns nur nicht.“ Sie atmete hörbar aus. „Hört zu, die wenigsten der Anderen wissen, dass wir von Menschen abstammen. Wir waren alle mal Menschen, aber es gab schon immer Personen, die besser sein wollten als der gewöhnliche Durchschnitt. Eine hohe gesellschaftliche Stellung hat den Menschen irgendwann jedoch nicht mehr gereicht, also hat man ein paar wenige Leute damit beauftragt, eine Möglichkeit zu finden, sich körperlich besser zu machen. Man hat es geschafft, die Gene so zu verändern, dass man übermenschlich stark, schnell oder ausdauernd wurde… Irgendwann kamen dann die Fähigkeiten dazu.“ Sie verdrehte ihre Augen. „Und damit die Probleme. Die Menschen hielten uns für die Kinder des Teufels und begannen uns zu jagen. Also haben wir uns in diesen Teil der Welt zurückgezogen und vor sechshundert Jahren wurden die Übergänge gesperrt.“ Sie zuckte die Schultern. „Man hätte wissen müssen, dass es so endet, aber Menschen und Andere sind und bleiben dumm.“

Okay, der letzte Satz hatte etwas abgehoben geklungen… Aber da hackte ich jetzt lieber nicht drauf rum.

„Woher weißt du das alles?“, fragte ich also nur. Sie drehte sich wieder um und setzte den Marsch fort.

„Ich bin die Tochter eines Königs. Ich habe die Möglichkeit an Wissen zu kommen, das den meisten anderen verwehrt bleibt.“

Okay, klang einleuchtend. Dann hatten Königshäuser in dieser Welt wohl noch eine hohe Stellung… Und zwar nicht wie die Queen in England, sondern eher in mittelalterlicher Ungerechtigkeit.

Nun verließen wir den dunklen ruhigen Wald und traten auf einen gepflasterten Weg, der uns nach ein paar wenigen Metern ein Stück bergab führte. Der Weg führte zu einer kleinen Stadt… Es sah hier so anders aus als zuhause, doch trotzdem war es nichts Besonderes. Ich entdeckte nichts Magisches oder Ungewöhnliches, was ich in einer anderen Welt vielleicht erwartet hätte.

Andere Welt… Wir waren wirklich weg von zuhause. Das war kein abgedrehter Traum oder so. Nein, ich spürte die leicht unregelmäßigen Steine unter meinen Füßen, ich spürte den sachten Wind um meine Arme streicheln, ich sah diese hübsche kleine Stadt, die vor uns lag. Es war real.

Und wir waren hier gefangen.

Doch noch ließ ich diese Tatsache nicht so weit an mich heran, dass ich extrem reagieren würde. Mein Hirn hatte das noch gar nicht so weit verarbeitet. Das war typisch für mich… Im Moment fühlte ich mich völlig taub und funktionierte einfach. Die Panik kam später.

Zumindest meistens.

„Folgendes“, wandte Azuka sich plötzlich erneut an uns, ohne sich dabei zu uns umzudrehen. „Niemand darf euch sehen. Die meisten sind um diese Uhrzeit zwar nicht mehr unterwegs, doch ihr solltet trotzdem still sein und dicht hinter mir bleiben. Ich pass darauf auf, dass wir niemandem begegnen.“

Während Fen ihr in einem leisen Tonfall versicherte, dass wir uns daran halten sollten, ging ich ihr einfach weiterhin wortlos nach. Still sein konnte ich normalerweise recht gut. Aufgeregt war ich jetzt trotzdem.

Wir durften nicht gesehen werden…

Warum ging sie denn dann direkt auf eine Stadt zu?! Gab es denn keinen anderen ungefährlicheren Weg? Ich wollte da nicht hin! Aber ich musste ihr folgen.

Ohne sie wären Fenris und ich vollkommen verloren.

Es dauerte nicht lange, bis wir die ersten Steinhäuser erreichten. Soweit ich das im Dunklen erkennen konnte, waren sie alle aus einem hellen Stein erbaut worden. Viele von ihnen hatten eine kunstvoll verzierte Fassade oder einen hübschen Gebäudefries, auch wenn ich nicht sah, ob irgendetwas Bestimmtes dargestellt wurde. Im Tageslicht musste es hier wunderschön sein. Die Sonne brachte den hellen Stein mit Sicherheit zum Glänzen…

Mir viel erst nach einigen Metern und einigen Abbiegungen auf, dass es hier überhaupt keine Straßenlaternen oder so gab. Es war alles einfach völlig dunkel.

Aber da ich selber aus einem kleinen Kaff kam, in dem nur die Hauptstraße beleuchtet wurde, war ich diese Dunkelheit auch gewöhnt. Trotzdem verwunderte es mich etwas, dass hier nicht mal irgendwo eine Fackel hing.

Vielleicht mied sie auch bewusst das Licht und nahm nur unbeleuchtete Seitengassen, damit uns auch wirklich keiner bemerkte. Jedenfalls führte sie uns zügig durch die Stadt, scheinbar hatte sie es eilig. Und irgendwann verließen wir die Häuserreihen wieder… Wir waren auf der anderen Seite. Dann war der Weg durch die Stadt wohl einfach nur dem Umstand geschuldet, dass sie keinen großen Umweg machen wollte.

„Wir sind gleich da“, teilte sie uns mit, als sich in der Ferne langsam die Umrisse von ein paar Bäumen und Büschen abhoben.

Sah aus, als hätte sich da jemand einen natürlichen Sichtschutz angepflanzt. Anders konnte ich mir diese einsame Baumansammlung zumindest nicht erklären. Und tatsächlich bestätigte sich meine Vermutung, als wir weiterhin darauf zugingen. Denn es gab einen hölzernen Torbogen, der zu dem dahinterliegenden Grundstück führte. Genau dieses Grundstück war offenbar unser Ziel.

Gespannt darauf, was uns hier erwartete, schritt ich schnell durch den Torbogen. Und es war… süß. Ein schönes Plätzchen. Hier stand ein wunderschönes Häuschen, das anders als die Häuser in der Stadt nicht aus Stein war. Es war eine Holzhütte mit zwei Stockwerken, einer Veranda und einem Balkon. Der Garten war mit den verschiedensten Blumen bepflanzt worden, in deren Mitte die elegante Statue einer Frau thronte, welche ihre Hände gen Himmel streckte.

Die Statue passte hier eigentlich gar nicht rein. Ich meine, das Holzhaus war wunderschön, es wirkte wie ein idyllisches Wochenendhäuschen oder eine Ferienhütte, doch es hatte etwas Einfaches, Natürliches an sich… Und diese perfekt gearbeitete glänzende Statue schien eher in ein Museum zu gehören.

Doch ich hatte nicht wirklich Zeit, weiter darüber nachzudenken, da Azuka uns schnurstracks zu der hölzernen Eingangstür führte. Sie griff nach dem Türknauf und rüttelte daran… Doch die Tür war offenbar abgesperrt.

Sie stöhnte entnervt auf. „Natürlich.“

Anstatt sich darüber länger aufzuregen, fummelte sie kurz an ihrer Oberschenkeltasche herum, zog zwei dünne längliche silbern glänzende Stäbe hervor und kniete sich vor die Tür. Sie… Sie knackte das Schloss?

Einfach so?

Fen und ich wechselten einen äußerst verwirrten Blick. Gut, immerhin kam er sich hier gerade scheinbar genauso merkwürdig vor, wie ich es tat. Im Ernst, wir waren in einer anderen Welt und warteten darauf, dass eine Mutanten-Kriegerprinzessin die Tür zu einem Holzhaus aufbrach, das locker als Almhütte durchgehen könnte… So hatte ich mir diesen Tag irgendwie nicht vorgestellt.

Und innerhalb kürzester Zeit war die Tür offen.

Schlösser knacken beherrschte sie wohl ziemlich gut.

„Du brichst nicht das erste Mal irgendwo ein, was?“, zeigte auch Fenris sich beeindruckt.

„Ich perfektioniere alles, was ich lerne“, antwortete sie ernst. „Wenn ich es nicht richtig beherrsche, möchte ich es gar nicht können.“

Dann deutete sie Fen und mir, in das Haus zu gehen, und trat nach uns ein.

„Außerdem wird sich die Wut meines Vaters darüber, dass ich in sein Haus eingebrochen bin, in Grenzen halten“, fügte sie beiläufig hinzu. „Er wäre deutlich saurer darüber, dass ich mich rausgeschlichen hab und jetzt mitten in der Nacht durch Praeternaturalia laufe…“

Praeternaturalia… Stimmt, das hatte sie schon einmal gesagt. Das musste der Name der Stadt sein. Den sollte ich mir wohl lieber merken.

„Oh, die Hütte gehört deinem Vater?“, hakte Fen weiter nach.

Ihrem Vater… Also dem König von Praeternaturalia. „Ja, das ist sein Urlaubshaus“, antwortete Azuka.

Ich sah sie verunsichert an. „Sollten wir dann wirklich hier sein?“

Was, wenn er kam und uns bemerkte? Was, wenn er merkte, dass wir Menschen waren? Wäre er genauso hilfsbereit wie seine Tochter oder wäre das dann unser Ende?!

„Mach dir keine Sorgen“, entgegnete sie. „Er wird nichts davon mitkriegen, er war seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr hier.“

Oh mein Gott.

„Das tut mir sehr leid“, sprach ich ihr mein Beileid aus, während sie bereits weiter in die Dunkelheit des Hauses trat.

„Muss es nicht.“ Sie klang erschreckend gleichgültig und begann hinter einem großen Umriss, den ich intuitiv für eine Theke hielt, nach irgendetwas zu suchen. „Ich war zwei, als sie starb. Ich erinnere mich weder an sie noch an ihren Tod.“

Aber das war doch trotzdem schlimm. Wünschte sie sich denn nicht, dass sie mehr Zeit mit ihrer Mutter gehabt hätte? Verletzte es sie nicht, dass sie sich nicht einmal mehr an sie erinnern konnte?

„Jedenfalls haben sie sich dieses Haus eigentlich gekauft, um ruhige Tage abseits des Hofs verbringen zu können“, sprach Azuka einfach weiter, während ich sie noch schockiert anstarrte.

Dann hörte ich zwei kurze aufeinanderfolgende dumpfe Schläge, ein Licht flammte plötzlich auf und Azuka hob eine entzündete Kerze auf die Theke. Ja, sie stand tatsächlich in einer Art offenen Küche. Hinter ihr war eine hölzerne Schrankwand, vor ihr war die leere Arbeitsfläche, auf der nun die Kerze stand.

„Doch nachdem Mutter gestorben ist, bringt mein Vater es nicht mehr über sich, dieses Haus zu betreten“, fuhr sie fort. „Er lässt es trotzdem regelmäßig saubermachen und sorgt dafür, dass alles intakt bleibt. Irgendwann wird er es meinem Bruder schenken… Aber der kommt momentan auch nicht oft hierher, er feiert nur seine Geburtstage hier.“

Also stand es quasi leer. Dann waren wir hier wohl erstmal sicher. Dann würde uns hier glücklicherweise keiner finden. Okay, ich verstand, warum sie uns hierhergebracht hatte.

„Und du feierst hier nicht?“, hakte Fen nach, auch wenn ich nicht verstand, warum das wichtig sein sollte.

Aber gut, vielleicht wollte er nur Smalltalk halten oder er versuchte, die gedrückte Stimmung zumindest etwas zu lockern. Keine Ahnung.

Sie lachte amüsiert auf. „Das würde mein Vater mir nie erlauben. Er vertraut mir nicht.“

Und sie fand das lustig? Ich wäre extrem angepisst und auch traurig, wenn meine Eltern mir misstrauen würden. Ich meine, man sollte seinen Kindern doch Vertrauen entgegenbringen. Auch wenn wir vielleicht alle mal Scheiße bauten… Aber diese Situation mit diesem Ferienhaus kam mir unfair vor.

„So, es ist verdammt spät und ich muss zurück, bevor jemand meine Abwesenheit bemerkt“, stellte Azuka fest. Sie trat wieder hinter der Theke hervor und sah erst Fen und dann mich eindringlich an. „Die Schlafzimmer sind oben.“ Ich folgte ihrer Hand, die zu der Treppe deutete, die wie ein Raumteiler etwas in das Zimmer hineinragte. „Das große Badezimmer auch.“ Ihre Hand huschte zurück zu der offenen Küche. „Wasserhahn, Gläser und normalerweise auch Kräutermischungen für Tee… Da müsst ihr in den Schränken schauen, ihr werdet es schon finden…“

„Stopp, wir können das Wasser direkt aus dem Hahn trinken?“, unterbrach mein Bruder sie skeptisch.

Oh, gute Frage, musste man das nicht vorher abkochen oder so? Ich meine, ich war – ehrlich gesagt – sogar etwas überrascht darüber, dass es hier fließendes Wasser gab.

Kurz blickte sie ihn nur ein wenig nachdenklich an, bis sie schließlich antwortete.

„Ja“, bestätigte sie und machte dann mit ihren knappen Erklärungen weiter. „Im Garten gibt es Apfelbäume, falls ihr noch Hunger habt. Ich sorge dafür, dass euch morgen Früh ein Freund von mir Essen und Kleindung bringt.“ Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Mehr kann ich im Moment nicht für euch tun.“

Naja, sie hatte uns nicht umgebracht oder an ihren Vater verraten, sie hatte uns ungesehen in ein Haus gebracht, in dem wir die Nacht verbringen konnten, und uns erklärt, wo wir hier überhaupt gelandet waren. Das war nicht gerade wenig… Sie hatte uns gerettet.

„Du hast sehr viel für uns getan“, zeigte Fenris, dass er das genauso wie ich sah. „Danke.“

Azuka schüttelte den Kopf. „Ihr habt nichts falsch gemacht. Ihr wolltet nicht in diese Welt kommen… Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas passiert.“ Sie stockte. „Ist auch egal, morgen Früh kommt mein Freund und dann sehen wir weiter.“ Sie nickte in meine Richtung. „Wenn du mir deine Kette mitgibst, kann ich sie ihm geben. Dann wisst ihr, dass es sich wirklich um meinen Freund handelt.“

Meine Kette?

Automatisch fasste ich an den kleinen silbernen Sternenanhänger, den ich so gut wie jeden Tag um meinen Hals trug. Ich gab diese Kette nie aus der Hand. Mein Bruder hatte sie mir geschenkt, als er ins Ausland gezogen war. Für den größten Teil des Jahres war diese Kette alles, was ich von Fen hatte.

Ich hatte immer Angst gehabt, sie zu verlieren.

Und sie jetzt wegzugeben, kam mir so falsch vor.

Aber ich verstand auch, warum Azuka gerade nach der Kette fragte. Sie war unauffällig genug, um als geheimes Zeichen dienen zu können. Und auch das Einzige, das Fen und ich ihr mitgeben könnten. Fen trug keinen Schmuck an seinem Körper und außer unseren Handys hatten wir nur unsere Kleidung dabei.

Ich musste ihr meine Kette überlassen.

Doch ich stand einfach nur wie angewurzelt da.

„Du bekommst sie morgen Früh zurück, versprochen“, versuchte Azuka mich zu beruhigen. „Und ich sag ihm, dass er gut darauf aufpassen soll. Aber ihr seid momentan in einer Situation, in der euch nicht die falschen Leute sehen sollten, also wäre es doch gut, wenn ihr ihn erkennt, nicht?“

Ja, schon.

Widerwillig öffnete ich den Verschluss meiner Kette und übergab Azuka das Schmuckstück. Sie würde schon dafür sorgen, dass meine Kette unversehrt zu mir zurückkehrte. Sie musste.

Azuka dankte mir mit einem kurzen Nicken, dann ging sie zur Haustür. „Schlaft gut“, verabschiedete sie sich.

Sie verließ die Hütte, schloss die Tür… und ließ Fenris und mich allein in einer uns unbekannten Welt zurück.

Und was taten wir jetzt? Langsam begann ich zu spüren, wie die Angst und die Verzweiflung meinen Körper mehr und mehr einnahmen. Noch war es nur dieses kleine unangenehme Gefühl, das sich nicht gänzlich ignorieren ließ, doch dabei würde es wohl nicht bleiben.

Denn jetzt, wo ich allein mit meinem Bruder in diesem verlassenen Haus stand, war mein Gehirn dazu in der Lage, das, was passiert war, zu begreifen.

Wir hatten unsere Welt verlassen und wir konnten nicht zurück. Mein altes Leben war vorbei. Das Leben meines Bruders war vorbei. Und das war allein meine Schuld.

Ich war schuld daran, dass wir hier gelandet waren. Wäre ich doch nur nicht durch dieses Labyrinth gegangen! Ich hätte uns umbringen können, wenn ich nur einmal falsch abgebogen wäre! Was… Was hatte ich nur getan?!

Ich hätte nie durch dieses blöde Labyrinth laufen sollen…

Aber ich hatte doch auch nicht wissen können, wozu das führte.

Ich hatte das doch alles nicht gewollt!

„Sollen wir versuchen zu schlafen?“, schlug Fen vor, während in meinem Kopf ein Gedanke den anderen jagte.

Schlafen? Ich konnte jetzt unmöglich schlafen… Aber was sollten wir denn sonst tun? Wir konnten doch nur auf diesen Freund von Azuka warten und darauf hoffen, dass die Prinzessin irgendeinen Plan für Fens und meine Zukunft hatte. Denn… wenn wir hier nicht mehr wegkamen, dann mussten wir uns hier ein Leben aufbauen.

Wir mussten uns anpassen. Und alleine konnten wir das unmöglich tun.

Nicht mehr wegkommen… Das hinterließ so ein schreckliches Gefühl in mir. Leere und Kälte. Ein Teil von mir, er war einfach weg. Nein, nicht nur ein Teil. Eigentlich war mein ganzes Ich einfach verschwunden. Meine Heimat, meine Familie, die wenigen Freunde, die ich gehabt hatte… Alles, was ich gekannt hatte, war weg.

Es war für mich unerreichbar geworden.

Jetzt hatte ich nur noch meinen Halbbruder.

Ich nickte langsam, um auf seinen Vorschlag einzugehen. Wir sollten versuchen zu schlafen.

Ich… Ich wollte nicht mehr wach sein. Ich wollte nur, dass das alles vorbei war. Nicht mehr denken, nichts mehr mitbekommen, einfach schlafen.

Wortlos folgte ich Fen, der die Kerze genommen hatte, die Treppe nach oben. Ich achtete nicht mal mehr auf meine Umgebung, es war mir egal. Ich tapste einfach nur stur meinem Bruder hinterher.

Gott sei Dank, hatte ich ihn noch!

Wenn ich vollkommen alleine hier hineingeraten wäre… Ich wäre verloren gewesen. Das hätte ich nicht gepackt! Schlimm genug, dass ich nicht zu meinen Eltern zurückkehren konnte.

Meine Eltern… Scheiße, sie würden sich solche Sorgen um Fen und mich machen! Sie hatten keine Ahnung, was uns passiert war. Sie könnten denken, dass wir verletzt waren oder entführt wurden oder… oder… Scheiße, sie wussten, dass Fenris und ich nie weglaufen würden. Sie mussten davon ausgehen, dass etwas Schlimmes passiert war!

Das durfte nicht wahr sein.

Wir mussten ihnen doch irgendwie zu verstehen geben können, dass es uns gut ging! Wir mussten doch irgendwie wieder Kontakt zu ihnen aufnehmen können! Ich…

„Möchtest du das Zimmer nehmen?“, riss Fen mich plötzlich aus meinen Gedanken.

Er hatte gleich die erste Tür aufgerissen, die uns im oberen Geschoss begegnet war. Und damit hatten wir das erste Schlafzimmer bereits gefunden. Das schummrige Licht der Kerze enthüllte nicht viel, doch der Raum hatte eine angenehme Größe und sein Herzstück war offenbar ein großes hölzernes Himmelbett. Es musste ein schönes Zimmer sein, doch die Schönheit konnte mich in diesem Moment nicht berühren.

Hier war ein Bett, alles andere war mir egal.

Ich wandte meinen Blick davon ab und sah Fenris flehend an. „Kann ich heute bei dir schlafen?“

Ich wollte nicht alleine sein. Alleine würde ich bestimmt vollkommen durchdrehen. Ich brauchte ihn!

„Klar“, antwortete er sofort.

Vielleicht fühlte er sich genauso wie ich, vielleicht sah man mir nur an, dass ich völlig verzweifelt war. Ich wusste es nicht. Aber ich war dankbar. Wie immer war er für mich da… und in meinem ganzen Leben hatte ich ihn noch nie so sehr gebraucht wie jetzt.

Wir hatten unsere Eltern verloren, auch wenn ihnen nichts zugestoßen war. Ich war in einer fremden Welt gefangen und würde sie nie wieder sehen…

Das war der Moment, in dem ich in Tränen ausbrach.

Es kam alles zusammen. Ich fühlte mich schuldig, schlecht, allein, verzweifelt… und doch leer. Schuldig, weil ich uns in diese Situation gebracht hatte. Schlecht, weil unsere Eltern krank vor Sorge sein mussten. Alleine, weil der Gedanke daran, dass ich sie nie wieder sehen würde, sich anfühlte, als würde jemand ein Messer in meinen Körper rammen. Verzweifelt, weil ich nicht wusste, wie ich ohne meine Eltern weitermachen sollte.

Sicher, wir hatten auch so unsere Probleme gehabt, aber ich liebte meine Familie. Das hatte ich immer getan. Im Großen und Ganzen hatten wir alle uns immer gut verstanden. Wir hatten uns immer umeinander gekümmert und ich hatte mich mit all meinen Problemen an meine Eltern wenden können.

Aber bis jetzt… Bis jetzt hatte ich nie realisiert, wie unglaublich wichtig sie mir waren.

Bis jetzt hatte ich immer daran gedacht, wie es denn einmal sein würde, wenn ich meine eigene Wohnung hatte. Ich hatte davon geträumt, mal alleine mit Freunden oder einem zukünftigen Partner in den Urlaub zu fahren. Ich hatte Silvester mit irgendwelchen Bekannten gefeiert, weil ich irgendwo dazugehören hatte wollen.

Dabei hatten meine Eltern mich immer so angenommen, wie ich war. Und ich wusste, dass das nicht selbstverständlich war. Ich hatte genug Leute kennengelernt, die ein schwieriges Verhältnis zu ihren Familienmitgliedern hatten.

Und nun hatte ich das Gefühl, dass ich das gute Verhältnis zu meinen Eltern nie richtig geschätzt hatte. Ich hatte die Zeit mit ihnen nicht geschätzt und nie wirklich gemerkt, wie viel Glück ich mit ihnen eigentlich hatte.

Und jetzt war es zu spät.

Jetzt hatte ich alles verloren.

Azuka

Sie wusste noch nicht so genau, was sie davon halten sollte, wie der heutige Tag sich entwickelt hatte.

Doch auf ihrem Weg zurück zum Schloss, zwei Menschen zu begegnen, war tatsächlich eine willkommene Abwechslung zu dem immergleichen langweiligen Alltag. Es war schön, dass endlich mal etwas Besonderes passierte. Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn dieses Besondere sie nicht alle umbringen könnte, aber Azuka ließ sich von solchen Umständen mittlerweile nicht mehr so leicht beeindrucken.

Sie würde schon dafür sorgen, dass Jades und Fenris‘ Herkunft geheim blieb.

Lügen und Manipulation… Zwei ihrer leichtesten Übungen. Sie machte sich absolut keine Sorgen darüber, dass irgendjemand dahinterkam, dass sie gerade Hochverrat beging. Normalerweise hätte sie Fenris und Jade sofort zu ihrem Vater bringen müssen, damit dieser sie in das autonome Gebiet der sieben Magier bringen konnte. Das war schließlich das Gesetz, das ein jeder Krieger zu befolgen hatte.

Doch weder Fenris noch Jade konnten etwas dafür, dass sie Menschen waren. Sie waren zufällig hier gelandet. Sie hatten rein gar nichts verbrochen. Man würde sie für etwas hinrichten, über das sie keine Kontrolle hatten.

Das wäre nicht gerecht.

Und Azuka verstand das besser als man meinen sollte. Auch ihre Existenz war ein Verstoß gegen ein Gesetz des obersten Kreises. Und auch sie konnte nichts dafür. Es waren ihre Gene, die sie schuldig machten… Ihre Fähigkeit.

Luca hatte natürlich das unverschämte Glück gehabt, die verbotene Fähigkeit nicht zu erben. Er wusste ja nicht einmal, dass Azuka diese hatte. Luca hatte immer dieses Glück. Er hatte ein unbeschwertes Leben gehabt, vor ihm lag eine strahlende Zukunft und es gab niemanden – wirklich niemanden – der ihm gegenüber schlecht eingestellt war.

Bei Azuka war das anders… Sie hatte eine verbotene Fähigkeit geerbt, die ihr das Leben kosten würde, wenn die falschen Personen davon erfuhren. Und sie wusste nicht einmal, von wem sie diese Fähigkeit hatte. Ihr Vater hatte es ihr nicht gesagt. Er hatte immer behauptet, dass es gar nicht möglich sein konnte, dass Azuka sie besaß. Doch genau das tat sie. Und damit nicht genug.

Es war nicht ihre einzige Fähigkeit.

Das Unmögliche war bei ihr einfach so aufgetreten: Sie besaß zwei unterschiedliche Fähigkeiten zur selben Zeit. Sie wusste nur nicht warum…

Doch das war es, was sie dazu veranlasst hatte, den fremden Menschen zu helfen. Sie kannte diese Ungerechtigkeit, für etwas büßen zu müssen, für das man nicht das Geringste konnte.

Sie wusste, wie es war, einen fundamentalen Teil seiner Identität verstecken zu müssen. Und sie hatte das alleine bewältigen müssen. Der Einzige, der wusste, dass sie die verbotene Fähigkeit besaß, war ihr Vater. Doch mehr als ihr zu sagen, dass sie diese unter allen Umständen vor jedem geheim halten müsse, hatte er nicht getan.

Mittlerweile konnte sie nicht einmal mehr sagen, ob sie ihm das je übel genommen hatte. Azuka hatte zwar das Gefühl, dass sie ihn früher dafür gehasst hatte, aber mit Sicherheit konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Man hatte das allein zu ihrem Problem gemacht, so war das halt schon immer gewesen.

Und sie hatte sich nie einen Fehler geleistet. Keiner hatte je von dieser verbotenen Fähigkeit erfahren… Sie hatte keine Hilfe gebraucht und normalerweise war sie immer ganz glücklich darüber, wenn sie etwas alleine schaffte.

Außerdem war es vollkommen egal, ob sie es ihrem Vater je übel genommen hatte, sie hatten nach wie vor genug andere Probleme miteinander.

Wenn er wüsste, dass sie sich nachts schon wieder umhertrieb… Das Drama wäre es ihr beinahe wert. Es wäre amüsant zu sehen, wie er darum kämpfen würde, seine Fassung zu behalten. Er würde ihr wieder den gleichen Vortrag darüber halten, dass es sich für eine Prinzessin nicht gehörte, sich mitten in der Nacht mit irgendwelchen Leuten zu treffen oder in einer Schenke zu sitzen.

Ach, wenn es sie doch nur interessieren würde, was sich für eine Prinzessin gehörte… Aber es war ihr egal. Sie hatte keine Lust mehr darauf, dass jeder meinte, ihr sagen zu können, wie sie sich zu verhalten hatte. Egal, was sie tat, irgendjemand störte sich eh daran.

Und so hatte es aufgehört, sie zu kümmern.

Sie entschuldigte sich auch nicht mehr für etwaiges Fehlverhalten, sie wurde nicht verlegen, sie fühlte sich auch nicht unsicher. Sie war durch mit solchen Emotionen.

Früher – als sie noch versucht hatte perfekt zu sein – war die Angst zu versagen und etwas falsch zu machen ihr ständiger Begleiter gewesen. Mit der Akzeptanz, dass sie für so ziemlich jeden außer der Krieger Praeternaturalias ein einziger Fehler war, war auch die Gleichgültigkeit gekommen. Die Krieger standen hinter ihr, mehr brauchte sie nicht.

Nicht mehr.

Sie mochte diese Unabhängigkeit, diese emotionale Distanz von anderen Personen. Vielleicht machte sie das zu einer kalten egozentrischen Frau, doch es ließ zu, dass sie sich auf die wichtigen Dinge in ihrem Leben konzentrieren konnte. Sie wurde nicht von den Problemen anderer Leute abgelenkt.

Sie hatte kaum noch Angst, verlassen zu werden… denn es gab kaum noch Personen, die sie verlassen könnten. Außer Vincent und Castiel hatte sie keine emotionalen Bindungen. Es gab nur noch die beiden.

Und bei Castiel… Bei Castiel hatte sie keine Angst davor, dass er sie verließ. Nein, sie wusste bereits, dass ihre Wege sich in Zukunft trennen würden. Sie liebte diesen Mann zwar, aber seit einiger Zeit stritten sie sich regelmäßig. Auch heute Nacht war ihre gemeinsame Zeit nicht wirklich entspannt gewesen.

Wenn er wollte, dass sie eine Zukunft hatten, dann musste er in der Öffentlichkeit dazu stehen, dass er ihr Partner war. Doch das tat er nicht. Er sagte immer, er wäre noch nicht so weit. Aber Azuka glaubte nicht daran, dass er jemals so weit sein würde. Castiel wollte nicht öffentlich um sie werben.

Das verstand sie auch. Cas war nicht gerade ein beliebtes Mitglied der Gesellschaft und erst recht niemand, den man an der Seite einer Prinzessin vermuten würde. Eine richtige, offizielle Beziehung würde kompliziert werden, doch sie wollte nicht ihr Leben lang eine Affäre haben müssen.

Wenn er nicht zu ihr stand, dann würde sie es irgendwann beenden.

Es war nur noch eine Frage der Zeit.

Vince hingegen… Ja, bei Vincent hatte sie Angst, dass er irgendwann genug von ihr hatte. Sie hatte eine furchtbare Angst davor, dass ihre Freundschaft ihm irgendwann zuwider wurde.

Doch sie vertraute ihm.

Und so redete sie sich ununterbrochen ein, dass er immer bei ihr bleiben würde. Er war ihr bester Freund und er würde sie nie im Stich lassen.

Sie musste daran glauben.

Außerdem wollte sie verhindern, dass er etwas von ihrer Unsicherheit bemerkte. Er sollte sich nicht so fühlen als würde sie ihm misstrauen oder als müsse er seine Freundschaft zu ihr wieder und wieder beweisen. Nein, es war ihr Problem, dass sie diese Angst hatte, und er sollte nicht davon beeinflusst werden.

Er hatte eh schon genug mit ihr zu tun.

Als neuestes Beispiel könnte man da jetzt den bevorstehenden Hochverrat anführen, den sie gerade plante. Vince musste da mitmachen, ob er wollte oder nicht. Wohl eher nicht…

Doch er hatte einen Sinn für Gerechtigkeit, also würde er es bestimmt verstehen, dass sie Jade und Fenris nicht hinrichten lassen wollte. Über den Hochverrat würde er zwar trotzdem nicht erfreut sein, doch er würde helfen so gut er konnte. Alles andere war nicht wichtig.

Unbemerkt schlich sie sich an einen bestimmten Teil der Schlossmauer.

Früher hatte es einen anderen Weg gegeben, durch den sie nachts aus dem Schloss hatte verschwinden können. In jedem Schloss gab es einen Geheimgang, durch den sich die Königsfamilie in Sicherheit bringen konnte, sollte es irgendwelche Eindringlinge geben. Und wenn man irgendwo raus kam, dann kam man auch wieder rein.

Der Geheimgang hatte es ihr anfangs ermöglicht, die Mauern des Schlosses einfach hinter sich zu lassen…

Aber dumm, wie sie damals gewesen war, hatte sie nicht daran gedacht, dass ihr Vater schnell darauf kommen würde, dass sie den Geheimgang nutzte. Sie war nur ein paar Mal nachts abgehauen, bis er das Ende des Ganges unter dauerhafte Bewachung gestellt hatte.

Also hatte sie sich einen anderen Weg suchen müssen. Und den hatte sie schnell gefunden.

Die Mauern eines Kriegerschlosses wurden selbstverständlich bewacht. Und auch wenn sie ausgesprochen gut darin war, sich einigermaßen lautlos fortzubewegen, würde irgendeine der Wachen sie sicher bemerken.

Wie gut, dass es diesen einen Teil gab, der nicht bewacht wurde. Jeder, der versuchen würde, auf diesen Weg einzudringen, wäre tot, bevor er auch nur einen Schritt auf das Gelände setzen könnte.

Aber sie war ja nicht jeder…

Die Schlossmauer war hoch. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie selber von eher geringer Statur war. Anders als beim Rest der Mauer befand sich hier jedoch ein kleiner Holzverschlag, unter dem der Mist nur auf seine Abholung wartete. Dass man hier etwas gebaut hatte, auf das man klettern konnte, war äußerst ungewöhnlich. Normalerweise hielt man Mauern so glatt wie möglich, damit niemand sie erklimmen konnte.

Aber wie bereits gesagt: Dieser Weg glich eigentlich einem Selbstmord.

„Ey lome“, murmelte sie vor sich hin, während sie vorsichtig auf das Dach des Verschlags kletterte.

Sie sprach nur leise, doch für sie war es laut genug. Sie würden Azuka hören.

Das Überwinden der Mauer war mittlerweile ein leichtes für sie. Sie hatte es oft genug getan. Trotzdem war sie vorsichtig, sie wollte schließlich keinen Lärm verursachen. Niemand sollte sie erwischen.

Sobald sie auf der Mauer saß, hatte sie es eigentlich schon geschafft. Runter half man ihr.

Assaults großer blauer Kopf erhob sich ein Stück, als er sie endlich sehen konnte. Er hatte bereits auf sie gewartet…