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Unglaublich, dass es außerhalb unserer Erde Menschen und Schicksale gibt, von denen wir nicht die leisteste Ahnung haben. Das Leben von Gitta verlief stets in geordneten Bahnen - bis zu ihrer Entführung. Plötzlich befindet sie sich auf einer sonderbaren Reise durch unterirdische Schluchten, wo bedrohliche Steine regieren und ihr nach dem Leben trachten. In den weiten Sphären des Universums begegnet sie seltsamen Wesen, findet aber auch neue Freunde. Doch Gitta möchte wieder nach Hause. Kann eine kleine Wolke ihr helfen auf dem Weg zurück zur Erde? Es bleibt spannend. Erst die nächste Generation kommt einem Geheimnis auf die Spur, welches sich in den Genen verbirgt. Empfohlen ab 12 Jahren.
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Seitenzahl: 223
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Eine sonderbare Reise durch Zeit und Raum
Das Leben von Gitta verlief stets in geordneten Bahnen - bis zu ihrer Entführung
Plötzlich befindet sie sich auf einer Reise durch mystische Sphären im unendlichen Universum
Wo wird dieser gefährliche Weg enden? Kann eine kleine Wolke sie befreien?
Etappe I: 0001
zuhause
Etappe II: 0010
bei den Steinen
LEA
Etappe III: 0011
in der grünen Oase
Etappe IV: 0100
am Wasser
Etappe V: 0101
bei Freunden
Etappe VI: 0110
die Zerstörung
Etappe VII: 0111
auf der Flucht
Etappe VIII: 1000
in der Schwerelosigkeit
Etappe IX: 1001
zurück zur Erde
Fortsetzung
Die nächste Generation
ER HATTE DIE ZEIT ANGEHALTEN
Eigentlich war Gitta ganz normal - mittelmäßig eben - so wie die meisten Menschen. Im Grunde war alles an ihr mittelmäßig, mittelgroß, mittelschwer. Sie war gerade volljährig geworden, Ihr mittellanges Haar war mittelblond und umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit hellem Teint. Im Sommer zeigten sich ein paar verlorene Sommersprossen um die Nase herum. Ihre schulischen Leistungen waren, wie sollte es auch anders sein, durchschnittlich, obwohl - eher mittelmäßig - mit Tendenz nach unten, doch es reichte, um in jedem Jahr in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden. Und so wie es aussah, würde sie in diesem Jahr ihr Abitur schaffen. Einige ihrer Mitschülerinnen kannte sie seit ewigen Zeiten, ein paar sogar noch aus dem Kindergarten, wie das oft so ist in einer Kleinstadt. Demzufolge ging sie ziemlich gerne zur Schule. Zuhause lief ebenfalls alles gleichbleibend normal, jeden Tag dasselbe Programm. Gitta fand das gut so, denn es war äußerst bequem, und das tägliche Einerlei sorgte für eine gewisse Beständigkeit. Veränderungen jedweder Art waren ihr nämlich zuwider, und daher gefiel es ihr ganz und gar nicht, dass ihre Eltern das Anwesen von Opa und Oma am Stadtrand verkaufen wollten. Gitta verband ihre schönsten Erinnerungen mit diesem Haus und dem kleinen Wäldchen, welches dazu gehörte, hatte sie doch einen Großteil ihrer Kindheit dort verbracht. Jedoch in den letzten Wochen waren ihre Eltern oft unterwegs, weil sie mit der Räumung eben dieses Anwesens beschäftigt waren. Seit dem Tod von Opa vor zwei Jahren stand die Villa leer und sollte nun endlich verkauft werden. Allerdings lag hier der Haken, denn auch ihrer Mama fiel es nicht leicht, sich von dem alten Gebäude zu trennen. Da man das Haus aber nicht ewig leer stehen lassen wollte, hatte sich die Familie nun schweren Herzens entschieden, die Immobilie zu verkaufen. Die nächste Schwierigkeit war, passable Interessenten zu finden, wobei sich das „passable“ weniger auf den Kaufpreis als auf die Person des Käufers bezog, denn Mama wollte ihr Elternhaus keineswegs in ungeeignete Hände abgeben.
Andere Aufregungen gab es nicht. Einzig Hero, der Hund von Nachbar Björn, regte ihre Mama dermaßen auf, dass sie ihn nur noch „Kläffer“ nannte. Angeblich störte Kläffer permanent ihre Nachtruhe. Er musste für so manches kleine Missgeschick herhalten und war somit der Sündenbock, wenn mal das Essen angebrannt war, weil Mama beim Kochen unausgeschlafen und demzufolge schlecht gelaunt war. Dies war aber zum Glück nicht allzu oft der Fall, und so konnte Gitta sich meistens ungestört ihrer eigenen kleinen Welt widmen. Nicht einmal ein Scheidungskind war sie, so wie Karl-Heinz, der jedes Wochenende zu seinem Vater an die Küste musste. Karl-Heinz hasste seinen Vater. Gittas Eltern allerdings waren ganz normal verheiratet und lebten seit beinahe zwanzig Jahren zusammen ohne besondere Ereignisse, ohne Skandale. Außerdem genoss Gitta die Vorzüge eines Einzelkindes.
Ihre beste Freundin Malena besuchte die gleiche Klasse wie sie. Malena war vor ein paar Jahren mit ihren Eltern aus Schweden gekommen und wohnte in der gleichen Straße wie Gitta.
Und dann gab es noch die pummelige Doreen, von der man morgens vor Unterrichtsbeginn noch schnell wunderbar die Hausaufgaben abschreiben konnte, denn Doreen war Klassenbeste. Dies war überaus praktisch, und obwohl Doreen als Streberin verschrien war, hatte keiner den Mumm, sich ernsthaft mit ihr anzulegen. Gitta war also rundum zufrieden mit der Schule, mit ihrem vertrauten Elternhaus und mit dem Leben im Allgemeinen. Sie musste sich keine Sorgen machen, denn wie es nach dem Abitur beruflich weitergehen sollte, das war in ihrer Vorstellung noch weit weg. Am liebsten wäre es ihr sowieso, alles würde immer so bleiben wie es war, denn sie fand es ganz angenehm und gemütlich in dem stillen Haus irgendwo in der Mitte von Deutschland in einer verkehrsberuhigten Zone.
Doch dann kam Hella in die Klasse, strohblond und dünn wie eine Fahnenstange. Sie war einen Kopf größer als Gitta und überragte auch die meisten der anderen. Keiner wusste so recht wo sie herkam, denn sie erzählte bizarre Geschichten und kramte stets neue Versionen ihrer Vergangenheit hervor. Eines Tages war sie einfach da, und mit ihr zog das Chaos ein in den bis dahin streng geregelten Schulbetrieb.
Die Veränderung vollzog sich anfangs schleichend wie eine Katze, die sich unmerklich heranpirscht, doch kontinuierlich wie der Gong der Wanduhr im Treppenhaus. Es war unglaublich. Hella, die meisten nannten sie nur „die Neue“, andere titulierten sie als „die Verrückte“, war stets präsent und machte immerzu auf sich aufmerksam, egal ob während des Unterrichtes, auf dem Pausenhof, an der Bushaltestelle oder in der Stadt. Sie erweckte den Anschein, an den unterschiedlichsten Plätzen gleichzeitig aufzutauchen, völlig unerwartet. Auf einmal war sie da. Das konnte unmöglich mit rechten Dingen zugehen. Als Wiederholerin, wie sie sich gern selbst bezeichnete, hatte Hella schon weitaus mehr erlebt als die anderen in der Klasse. Damit brüstete sie sich, gab sich recht erwachsen, mitunter altklug, wusste immer alles besser und drängte sich ungefragt in den Mittelpunkt. Durch die Art und Weise, sich fortwährend ins Zentrum des Geschehens zu bringen, gelang es ihr, absonderliche Schilderungen aus einer vorgetäuschten Vergangenheit so überzeugend darzustellen, dass man hätte glauben mögen, sie existiere bereits seit hunderten von Jahren und hätte irgendwo in finsteren Klüften oder Gewölben gehaust. Selbst den Lehrpersonen gegenüber fühlte sie sich himmelhoch überlegen. Unangenehmen Fragen wich sie gekonnt aus und flüchtete sich schon mal in Widersprüche, weil sie sich offenbar nicht alle Lügengeschichten merken konnte, die sie verbreitete.
Aber warum? Bei Gitta jedenfalls war der Vorwitz geweckt, und sie wollte unbedingt herausfinden, was Hella zu verbergen hatte, denn bei ihr war so gar nichts alltäglich oder mittelmäßig. Im Gegenteil, wie ein unsichtbarer Schleier umwehte sie etwas Mystisches. Einmal in ihrem Bann, war es gar nicht leicht, wieder von ihr loszukommen. Es war wie Zauberei, denn es gelang Hella fast immer, ihr Gegenüber auszuquetschen um irgendwelche geheimen Informationen zu erfahren - die mitunter gar nicht vorhanden waren.
Selbst das Lehrpersonal blieb nicht verschont von ihren bizarren Geschichten. Dazu kam, dass sie andauernd den Unterricht durch Fragen über angebliche Besonderheiten des Lebens störte. Für manche Pädagogen wirkte schon ihre pure Anwesenheit wie ein rotes Tuch und einige nahmen sprichwörtlich Reißaus, sobald sie unverhofft irgendwo auftauchte.
Nicht so Gitta; sie fand „die Neue“ faszinierend und suchte demzufolge ständig ihre Nähe. Hellas absonderlichste Flunkereien fielen bei ihr auf fruchtbaren Boden und eröffneten ihr völlig neue Welten. Sie konnte zwar nicht begreifen, was das Besondere an der neuen Schülerin war, was sie so sehr anzog, machte sich aber darüber keinerlei Gedanken. Hella war anders als die anderen, und das allein war Grund genug, sich zu ihr hingezogen zu fühlen. Und außerdem eröffnete ihr Hella den Zugang zu einem Kosmos, von dem sie bislang nichts geahnt hatte. Überdies fühlte sie sich überaus geschmeichelt, wenn Hella sich manchmal sogar nach dem Unterricht noch mit ihr treffen wollte. Darauf war sie so stolz, dass sie sogar ihre langjährige Freundschaft mit Malena vernachlässigte. Der Wandel vollzog sich unmerklich, so dass sie anfangs gar nicht merkte, wie gefährlich der Verlauf dieser Richtung für sie werden könnte. Jedoch, die neue Art der Freundschaft verfestigte sich von Tag zu Tag, und innerhalb kurzer Zeit hatte Hella es geschafft, ihr bisheriges Tun und Lassen komplett auf den Kopf zu stellen. Schneller als Gitta es für möglich gehalten hätte, war es um den Frieden ihrer heilen Welt geschehen, und sie war ihrer neuen Freundin mit Haut und Haaren verfallen.
An einem der folgenden Tage - eigentlich ein ganz normaler Tag so wie viele andere vorher, unspektakulär, mittelmäßig - lag bereits in der Frühe ein süßlicher Geruch in der Luft. Der Tag schien anders zu verlaufen als gewohnt.
Gittas Eltern hatten für den Abend ein sogenanntes Familiengespräch angekündigt, weil sie laut ihrem Papa nun „reif und volljährig“ war. Gitta kannte diese Gespräche, die in früheren Jahren meistens in einem großen Spaß endeten. Später bekamen diese Familienabende stets einen besonders feierlichen Anstrich. Ihre Ungeduld aber auch die Vorfreude konnte sie daher kaum verbergen, zumal ihre Eltern diesmal äußerst geheimnisvoll taten. Sie vermutete, dass es sich um die alte Villa ihrer Großeltern handeln würde. Womöglich hatte man einen geeigneten Käufer gefunden. Eigentlich schade, fand Gitta, denn sie hatte insgeheim gehofft, eines Tages einmal selbst in dem geliebten Haus zu wohnen. Sie vermisste immer noch den großen Garten mit den vielen Bäumen, auf denen es sich wunderbar klettern ließ.
Freilich könnte auch alles ganz anders sein, vermutete sie, doch sie stocherte im Dunkel. Deshalb löcherte sie ihren Papa solange, ihr den Grund für das Familiengespräch zu nennen, bis sie es endlich aufgab, denn sie fand lediglich heraus, dass es sich um eine - eigentlich - gute Nachricht handeln musste. „Ja, es gibt da etwas, das wichtig ist und das du wissen solltest“, war das Einzige, das sie ihm entlocken konnte. Ein Geheimnis? Gitta liebte Heimlichkeiten. Wenn Papa so verstohlen etwas andeutete, war das ziemlich vielversprechend. Er hatte sie noch nie enttäuscht. Papa war großartig. Dass er nicht mehr preisgab, fiel diesem sichtlich schwer, denn normalerweise konnte sie ihm jedes Geheimnis aus der Nase ziehen. Daher blieb ihr gar nichts anderes übrig, sie musste sich bis zum Abend gedulden, was ihr ganz und gar nicht leichtfiel. Jedenfalls, so viel stand fest, mit der Villa ihrer Großeltern hatte es sicherlich nichts zu tun.
Am Nachmittag nahm die gewohnte Harmonie ein abruptes Ende, ausgelöst durch einen lauten Knall. Was war das? Komischerweise fühlte Gitta weder Furcht noch Entsetzen, obwohl sie allein war, denn ihre Eltern hatten zum x-ten Mal mit dem Immobilienmakler einen Termin in der alten Villa vereinbart. Jedoch, woher kam dieses ohrenbetäubende Getöse? Eine Explosion? Ein Gewitter im Februar? Nie und nimmer. Es hörte sich an wie der Aufprall eines Steinbrockens. Selbst das Echo war noch schallend und nicht vergleichbar mit einem Donner. Ein- zweimal dröhnte es nach, dieser blanke Knall, doch unmittelbar danach machte sich eine gespenstische Stille breit.
Postwendend - wie fremdgesteuert - verließ Gitta daraufhin ihr Elternhaus und zog die Eingangstür hinter sich zu. Hella stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, so als hätte sie dort auf sie gewartet und winkte mit einem blauen Schal. Gitta freute sich sie zu sehen und lief ohne zu zögern auf Hella zu. In deren Dunstkreis angekommen verlor sie jegliches Zeitgefühl. „Komm“, Hella nickte leicht mit dem Kopf und streckte ihr die Hand entgegen. Gitta kicherte und ließ sich führen. Die frostige Februarluft blies ihr die Haare ins Gesicht und sie fühlte sich so leicht und frei wie ein frisch geschlüpftes Küken. Allerdings sollte sich dies bald ändern…
Anfangs führte der Weg mal nach links, mal nach rechts. Völlig arglos trabte sie an der Seite von Hella einfach drauf los. Sie kamen an der Tankstelle vorbei, wo es nicht nur Benzin, sondern auch ofenfrische Brötchen gab. Dann kam die Fasanenallee, und danach ging es weiter geradeaus. Im gleichmäßigen Takt setzte sie einen Fuß vor den anderen. Es ging so leicht, und es kam ihr vor, als ob sich ihre Beine ganz ohne eigenes Zutun bewegten. Später folgte eine Böschung, doch dann - urplötzlich - hörte diese Straße auf - war mit einem Mal zu Ende. Unvermittelt befanden sie sich auf einer Anhöhe, auf einem Damm, den Gitta zuvor noch nie gesehen hatte. Sie schaute sich um und musste feststellen: Ein Zurück war nicht mehr möglich, denn dies war keine sogenannte Sackgasse, auf der man problemlos hätte umkehren können. Stattdessen tat sich dahinter, von wo aus sie hergekommen waren, unerwartet ein Graben auf. Das muss man sich mal vorstellen! Es ging weder nach vorne noch zurück. Hella schien das überhaupt nicht zu kümmern, und so machte sich auch Gitta zunächst keine Sorgen. Als jedoch die Dämmerung hereinbrach, frischte der Wind auf, und sie begann zu frieren. Und just in diesem Moment war Hella verschwunden - weg, einfach fort, als hätte sie die Erde verschluckt.
Alleine auf dem Hügel fühlte sich Gitta ziemlich verloren. Die Gegend um sie herum war gänzlich fremd. Wo war Hella? In ihrer Not rief sie nach ihr, lautstark und vernehmlich. In alle Richtungen hallte ihr Hilferuf. Sie lauschte. Vergeblich, denn außer ihrem eigenen Echo kam keine Antwort. Weder Hella noch irgend sonst wer schien sie zu hören. Und so bekam ihr unbegrenztes Vertrauen zu Hella erste Risse. Die Stille war beklemmend. Inzwischen war es dunkel geworden und das erschwerte die Orientierung. Schwarze Schatten warfen schemenhafte Gebilde durch die Atmosphäre und vermittelten etwas Gruseliges. Wo um Himmels Willen war sie hingeraten?
In ihrer Verzagtheit setzte sie sich auf einen runden Stein, den sie bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte, und wartete. Auf was? Auf den nächsten Morgen? Was würde der neue Tag bringen? Würde Hella zurückkommen? Womöglich wollte das Mädchen ihr nur Angst machen, einen Schrecken einjagen? Das wäre typisch für sie, ein Abenteuer. Doch, wenn dem so wäre, Gitta biss sich förmlich an diesem Gedanken fest - was für ein übler Scherz! Sie grübelte, verbiss sich immer mehr in ihren Groll - also zuzutrauen wäre es ihr. Sie musste es ihr heimzahlen, und obwohl ihr derartige Rachegefühle bisher vollkommen fremd waren, stiegen ihr Unmut und ihre Wut auf Hella stärker an, je länger sie darüber nachdachte. Ungeschoren durfte sie jedenfalls nicht davonkommen.
Die Minuten tröpfelten dahin, und in ihren anfänglichen Ärger mischten sich Beklemmung und Verzweiflung. Mittlerweile fand sie die ganze Situation alles andere als lustig. Was sollte sie tun? Nichts! Hatte sie überhaupt eine Wahl? Sicher war es das Gescheiteste, erst mal hier auf dem Hügel auszuharren, zu warten. Auf jeden Fall musste sie wach bleiben und daher versuchte sie mit aller Kraft ihre Augen offenzuhalten. Jedoch der Schlaf war stärker - der Schlaf ist immer stärker als der Wille - und irgendwann in dieser Nacht überfiel er sie mit solcher Macht, dass sie in sich zusammensank und alle Sorgen vergas. Doch das war nicht gut.
„Kannste zaubern?“ Der dünne Ton einer bekannten menschlichen Stimme bohrte sich durch Gittas Kopf bevor sie noch den Sinn der Frage erfassen konnte. Im Halbschlaf versuchte sie ihre Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer. Demzufolge verging eine ganze Weile bis sie feststellte: Es war heller Tag. Nach mehrmaligem Blinzeln erkannte sie im Gegenlicht die schmale Silhouette von Hella. Deren Augen funkelten vor Übermut. „Na, kannste nu hexen, oder nit? Könnt dir ja zeigen, wo´s lang geht.“
Blitzartig war Gitta hellwach, und alles war wieder präsent: der gestrige Tag, der laute Knall, der gemeinsame Weg, ihr Zorn, ihre Hilflosigkeit. Sie wollte sprechen, doch ihre Kehle schien ausgetrocknet. Sie wollte fragen: Wo sind wir? Sie wollte sagen: Ich will heim. Automatisch bewegte sie ihre Lippen, jedoch beim Formen der Worte lag ihre Zunge wie bleiern in der Mundhöhle. Ihr Unterkiefer war gefühllos wie nach einer lokalen Betäubungsspritze beim Zahnarzt. Hella kümmerte dies nicht, sondern lachte schallend - lachte sie aus - und reichte ihr einen Becher. Das Wasser darin schmeckte nach Salz und Himbeersaft. Unmittelbar nach dem ersten Schluck des kühlen Getränkes entspannten sich ihre Kiefermuskeln, und sie fand ihre Sprache wieder. Und was sagte sie: „Gut, schmeckt gut“, sagte sie und nichts weiter. Sie fühlte sich auf einmal pudelwohl. Unglaublich, aber ihr Ärger war verflogen; ihre Angst löste sich augenblicklich in Wohlgefallen auf. „Das ist Zauberwasser“, erklärte Hella. „Du musst langsam trinken, nicht alles auf einmal, sonst…“
„Du redest Müll“, sagte Gitta, und beendete damit diesen kurzen Dialog.
Daraufhin erst schaute sie sich genauer um und musste mit Erschrecken feststellen, dass sie sich dicht neben einer Felsenklippe befanden. Der Stein war nicht mehr da, war womöglich in den Abgrund gefallen. Sie blickte in eine tiefe Schlucht, die sich nur wenige Meter vor ihren Füßen auftat. Jählings fuhr ihr der Schreck in die Glieder, und sie trat hastig ein paar Schritte von der Böschung zurück.
Hella jedoch zeigte sich völlig ungerührt angesichts der in der Tiefe lauernden Gefahr. „Na, willste nu zaubern lernen oder nit?“ Ihre Unbekümmertheit war trotz dieser Notlage derart ansteckend, dass es ihr tatsächlich gelang, Gitta ein gequältes Lachen um die Mundwinkel zu verpassen. Diese verstand die Welt nicht mehr und konnte nur irritiert stammeln: „Äh, muss ich wohl“. Wieso besaß Hella eine solche Macht über sie?
Überdeutlich nahm sie ihre ausweglose Lage wahr. Sie saß in der Klemme, aus der sie sich alleine nicht befreien konnte, aber - eine Zauberin? Hella? Nein, das wäre kompletter Unsinn. Allerdings, eine Sache war glasklar: Hella hatte ihr diesen Schlamassel aufgebrummt. Sie war schuld an der Misere. Was führte sie im Schilde? Während Gitta noch darüber nachdachte, just in diesem Moment, wagte es Hella doch unverfroren von neuem, ihr den Becher zu reichen.
„Trink Zauberwasser!“.
„Neiiin!“ wie von Sinnen bohrte sich dieser Schrei einen Weg aus Gitta heraus, und während sich ihre Gedanken drehten wie ein Kreisel, steigerte sie sich nun derart in heftige Rage, dass sie aus einem Reflex heraus Hella den Becher mit voller Wucht aus der Hand schlug. Daraufhin zersprang dieser in zwei Teile und fiel in den Abgrund.
Und so nahm das Unheil seinen Lauf…
Während sie nämlich dem Becher hinterherschaute, sah sie sich selbst in den Abgrund stürzen. Immer tiefer sah sie sich fallen, und dieser Fall wollte nicht aufhören. Der Weg nach unten schien unendlich. Einerseits total unwirklich, nicht zu erklären, noch weniger es zu verstehen. Es hatte den Anschein, als ob fremde Mächte von ihrem Körper Besitz ergriffen hätten. Andererseits hörte sie ihre innere Stimme sagen: „Aber ich bin doch hier oben.“ Dessen ungeachtet musste sie mit ansehen, wie ihr Körper kleiner wurde und wie eine Marionette immer weiter abwärts fiel - bis er schließlich vor ihren eigenen Augen entschwand.
Und ihre innere Stimme wurde leiser bis auch sie verschwand.
Es war düster und feucht, und Gitta war allein. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das blaue Dämmerlicht. Als sie sich ängstlich umsah, fielen ihr zuerst die im Moos eingebetteten kugelförmigen Steine auf. Sie waren akkurat nach Größen geordnet; es waren etwa neun oder zehn, und sie befanden sich in einer geordneten Reihe, von klein nach groß.
Eine schleichende Bedrohung ging von ihnen aus, nicht zuletzt ausgelöst durch ihre auffallende Gleichmäßigkeit und besonders, weil sie den Anschein erweckten, miteinander verbunden zu sein. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch durchgängige Einkerbungen auf den Stirnseiten, die aussahen wie Augen welche bewirkten, dass Gitta sich permanent beobachtet fühlte.
Beim genaueren Hinsehen stellte sie fest, dass es sich bei diesen Zeichen um bestimmte Ziffern handelte, welche eigentlich nur von einer menschlichen Hand stammen konnten. Gitta mochte keine Zahlen. Eine war besonders deutlich zu erkennen. Es war die 1000. Der größte Stein am Ende der Reihe trug die Ziffer 1010. Zahlen nach dem Dualsystem? Gitta hasste Binärzahlen. Hatte da jemand die Steine nummeriert? Aber wer? Es sah nicht danach aus, als ob jemals ein menschliches Wesen diese Schlucht betreten hätte. Und wenn doch? Was konnten das für Wesen sein? Gitta vermochte diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Vorsichtig, meist auf allen Vieren, bewegte sie sich weiter und kam zu einem eigenartigen Busch, der blaue Beeren trug. Sie streckte ihre Hand nach diesen Früchten aus - berührte sie, aber es waren gar keine Früchte, sondern winzige Kugeln - aus Stein. Plötzlich vernahm sie ein Rascheln, eine Bewegung aus dem Unterholz. Der größte Kollos, der mit der Nummer 1010, hatte sich verselbständigt und rollte geradewegs auf sie zu. Entsetzt schrie Gitta auf, doch ebenso gut hätte sie sich in dieser unwirtlichen Gegend einen Kaffee bestellen können; der Effekt blieb derselbe: Niemand konnte sie hören.
Währenddessen kam ihr das Urgestein bedrohlich nahe. Unablässig rollte es ihr entgegen, und das mysteriöse Grollen aus seinem Inneren hörte sich beängstigend an. Was sollte sie tun? Vielmehr, was konnte sie tun? Ihrem ersten Impuls folgend davonlaufen. Sie sah sich flüchtig um. Hinter ihr breitete sich eine ausgetretene Gasse aus, einladend zwar, doch wohin führte diese? Gitta war vorsichtig geworden. Sollte sie nicht besser versuchen, erst mal den Kollos aufzuhalten, zur Not mit ihren bloßen Händen? Vielleicht konnte sie es sogar schaffen, ihm ein adäquates Hindernis in den Weg zu legen, eine Barriere aufschichten aus den ungehobelten Brettern, welche große Flächen des Bodens bedeckten.
Sie hatte allerdings nur einen einzigen Versuch. Sollte dieser schiefgehen, wäre es für den großen Stein ein Leichtes, sie zu zermalmen und dem Boden gleich zu machen. Die Ziffern auf diesem grimassenhaften Gesicht wirkten alles andere als freundlich.
Mittlerweile war der Stein ihr gefährlich nah gekommen, und das Gemurmel aus seinem Inneren wurde immer deutlicher: „re-gie-ren-re-a-gie-ren-re-gie-ren-re-a-gie-ren“ schallte es.
Zum Nachdenken blieb nun wirklich keine Zeit mehr. Dagegen weitete sich ihre Angst - ihre verdammte Angst - zur Panik aus und blockierte ihr gesamtes Denken und somit jedwede Entscheidung. Lediglich ihre Beine hatte Gitta noch unter Kontrolle, und daher konnte sie gar nichts anderes tun als davonzulaufen, nur weit weg von diesen schrecklichen Kolossen. Weder nach rechts noch nach links schauend, rannte sie, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Außer Atem hielt sie erst nach einer ganzen Weile inne, als sie nämlich feststellte, dass der Pfad unmerklich schmaler geworden war.
Wo führte der hin?
Das Gewirr von Sträuchern wurde dichter, und ein Gebüsch am Ende dieses Weges schien nahezu undurchdringlich. Die steinharten blauen Beeren der Sträucher lagen überall auf dem Moosboden verstreut. Aus der Ferne vernahm sie dumpfes Grollen. Es hörte nicht auf, im Gegenteil, es wurde wieder lauter. Kein Zweifel, es kam näher. Aber es hörte sich nicht mehr nur nach einem Stein an, denn es hallte mittlerweile in verschiedenen Tonarten. Ein ganzer Berg von Steinen war in Bewegung. Wie eine graue Lawine bahnte sich dieser Haufen einen Weg durch das Dickicht und ließ den Boden unter sich erzittern, langsam zwar, aber unaufhaltsam. In ihrer Not verkroch sich Gitta schließlich unter dem Gestrüpp. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht, so wie früher, als sie noch klein war. Wenn sie sich verstecken wollte, drückte sie ganz fest ihre Augen zu. Nun bedeckte sie sich mit den Zweigen aus dem Unterholz und hoffte insgeheim, dass die Steine sie hier nicht finden würden. Sie überlegte. Wo war sie hingeraten? An einen Ort wo Steine regierten? Böse Steine! Können Steine das? Regieren?
Sie war nahezu sicher, dass Hella hinter dem Geschehen stecken musste. Hella, immer wieder Hella! Sie spukte ihr im Kopf herum, und sie konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Was wusste sie überhaupt von ihr? Nicht viel. Wurde sie von Hella entführt? Warum? Sie hatte ihr doch nichts Böses getan. Hatte Hella einen Köder ausgelegt und sie als Opfer ausgesucht? Sollte sie ausgeforscht werden, manipuliert, und dann zu fragwürdigen Handlungen angestiftet werden?
Ach, sowas gab es doch nur in Filmen.
Warum um alles in der Welt hatte sie sich ausgerechnet mit diesem Mädchen angefreundet? War es das prickelnde Abenteuer, welches sie anlockte in einer heilen, wenn auch ausgesprochen eintönigen Welt? Warum ist sie blindlings in diese Falle hineingetappt? Wo war Hella jetzt? In ihrer unbequemen Stellung richteten sich ihre Augen unwillkürlich nach oben, dorthin von wo sie unbewusst Hilfe erhoffte – vielleicht. Und in der Tat, was sie dort oben zu sehen bekam, war trotz ihrer grässlichen Lage ein ganz klein wenig tröstlich. Sie sah nämlich eine schwarze Wolke und eine weiße Wolke friedlich nebeneinander schweben. Und das war das Letzte, das Gitta an jenem Tag gesehen hatte.
Die weiße Wolke war immer noch dort, als Gitta irgendwann später - ihr Zeitgefühl hatte ihr gänzlich den Dienst versagt - ihre Augen wieder öffnete. Nur kleiner war sie geworden diese Wolke - und durchsichtig - und anders als am Anfang. Wenn man genau hinsah, konnte man nebulöse Gebilde erkennen, die aussahen wie Buchstaben?
Hauptsache keine Zahlen mehr, schoss es ihr durch den Kopf, und allein dies war Grund genug, sich ein kleines bisschen besser zu fühlen. Allerdings währte dieser Zustand nur flüchtig - und auch die Wolke verflüchtigte sich zusehends.
Gitta blickte sich um und musste zuerst ein paar Mal blinzeln, denn es war hell geworden. Es musste also irgendwo eine Öffnung, einen Ausgang aus diesem Labyrinth geben. Eigentlich hatte sich nichts verändert, bis… ja bis auf die Steine. Die waren verschwunden, einfach weg. Gitta lauschte. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören; kein Grollen mehr, nichts. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Mittlerweile hielt sie beinahe alles für möglich, und sie begann an sich selbst zu zweifeln. Vor ihren Füßen bedeckten mehrere kantige Bretter aus rohem Holz den unebenen Boden, und die sahen so neu und sauber aus, als wären sie erst vor kurzer Zeit hier abgelegt worden. Ihr Vorwitz verlieh ihr die nötige Kraft, und es gelang ihr, diese ein wenig zur Seite zu schieben. Das kostete zwar einige Mühe, denn sie waren ziemlich schwer, aber nach und nach gelang es. Zuerst fiel ihr nichts Besonderes auf, doch als sie sich an dem Moos darunter zu schaffen machte, gab dieses plötzlich ein Stück weit nach. Ihr Blick fiel auf eine unterirdische Höhle. Sie tastete sich vorsichtig weiter nach unten, und bereits nach wenigen Metern gelang es ihr, sich durch den Eingang zu zwängen. Plötzlich ging es ganz leicht, wie von selbst, und im bläulichen Halbdunkel nahm sie drei Stufen einer unebenen Treppe wahr, die in ein Felsengestein gehauen war. Darunter führten zwei breite Gänge in verschiedene Richtungen, einer nach links und einer nach rechts. Allerdings waren beide Verläufe mit zum Teil glitschigen Steinen gespickt. Was sollte sie tun?