HINTERMDEICHHAUS - Irene Rickert - E-Book

HINTERMDEICHHAUS E-Book

Irene Rickert

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt in Braunlage. Nach dem plötzlichen Unfalltod seiner Mama ist für den 9-jährigen Toby nichts mehr wie es war. Gegen seinen Willen und unter lautem Protest wird er aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen und muss mit seinem Vater, einem Ostfriesen, in dessen Heimat an die Nordsee ziehen. In Cuxhaven plagt ihn das Heimweh nach seinem Freund und nach den geliebten Wäldern derart, dass er eines Tages davonläuft und sich in ein gefährliches Abenteuer stürzt. Zum Glück hat er die Ausreißerin Nele dabei. Auf dieser abenteuerlichen Reise kommt Toby seinem heimlichen Berufswunsch, ein Polizist zu werden, ziemlich nahe. Wieder zurück am Wattenmeer erfährt er die größte Überraschung seines Lebens.

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Weit ist der Weg

vom Harz bis nach

Ostfriesland.

Der neunjährige Toby

muss ihn sogar

zweimal gehen

um anzukommen im

HINTERMDEICHHAUS

im HDH

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viretes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

ERSTES KAPITEL

„Wattenmeer ist gut“! Krachend, wie eckige Pflastersteine, so prasselten die knappen Worte auf den neunjährigen Buben hernieder. Sie bohrten sich durch seinen Kopf und drohten ihn zu erdrücken. Jedenfalls empfand es Toby so, und er wusste nur zu genau: da gab es kein Entrinnen. „Morgen geht‘s los!“ Dieser Befehlston, den sich sein Vater angewöhnt hatte, hallte ihm noch im Ohr, als er aus unruhigem Schlaf aufwachte. Ein Silberstreif über den dunklen Tannen tauchte den kleinen Raum in ein gespenstisches Licht. Außer der provisorischen Matratze, die auf dem Boden lag, war das ehemalige Kinderzimmer leer - ratzekahl. Selbst die Gardinen der beiden Fenster waren bereits abgehangen. Noch etwas schläfrig schaute Toby durch die trüben Butzenscheiben. Sein Blick streifte über die roten Ziegeldächer des vertrauten Städtchens und folgte der unheilverkündenden Wolke, die sich gemächlich über den Häusern auszubreiten begann. Er überlegte. Wahrscheinlich hatte ihn der Tumult der tanzenden Hexen geweckt. Es war der 1. Mai 2010, Samstag. Im Kurpark war um diese frühe Morgenstunde zwar Ruhe eingekehrt, aber immer noch zogen kleine Gruppen von Nachzüglern vom Wurmberg herunter und verbreiteten mehr Lärm als nötig. Walpurgisnacht, die gehörte nun mal zum Harz, genauso wie er und sein Freund Florian zusammengehörten. Toby liebte solche Vergleiche und er musste heimlich in sich hinein kichern. Braunlage, ein kleines verschlafenes Kurstädtchen, das war sein Zuhause. Hier lebte er zusammen mit seinen Eltern Ludwig und Lore - bisher. Eine eingewurzelte Harzer Familie, doch der Schein dieser heilen Welt war trügerisch. Er vermisste das helle Lachen seiner Mama - und Ludwig, na, das war eben Ludwig, ein starrköpfiger Querkopf, vor dem man sich in Acht nehmen musste, wenn er schlechte Laune hatte. Leider hatte dieser in letzter Zeit nur noch schlechte Laune, die unterstrichen wurde von einem üblen Geruch nach Tabak und Bier. Am liebsten verbrachte Toby daher die Nachmittage in Königskrug in der Familie von Florian. Im Sommer fuhr er mit dem Fahrrad die vertraute Straße hinauf - seit neuestem besaß er ein Rad mit einem kleinen Elektromotor - und bei schlechtem Wetter konnte man auch den Schulbus benutzen. Es war einfach unvorstellbar, nicht mehr hier zu wohnen. Nie wieder könnte er dann mit seinem besten Freund durch die Wälder stromern, vom Hochsitz aus wunderliche Kobolde beobachten und sich die dazugehörenden Schauergeschichten erzählen, oder sich einfach nur aus purem Vergnügen auf dem feuchten Waldboden herumwälzen.

Doch nicht nur der Frieden dieser Familie war mit einem Male zerstört, nein, die Veränderung war tiefgreifender; und es sollte alles noch viel grässlicher kommen.

Die Stille in dem kleinen Raum war bedrückend und löste nach und nach eine immer stärker werdende seltsame Beklemmung in ihm aus.

Morgen! Morgen schon? Mit einem Male war er hellwach und schoss kerzengerade in die Höhe.

Morgen? Aber das war ja heute!

Ludwig hatte den Tag bestimmt und alles andere auch. „Wir müssen das Wochenende nutzen. In aller Frühe geht es los zum Wattenmeer, um halb sieben“, kurz und knapp, wie üblich, wie Pflastersteine eben, und Punkt, und damit war die Sache entschieden.

Er duldete keine Gegenreden, keine Diskussionen. Was er bestimmte, das war Gesetz, und er kapierte einfach nicht, dass Toby einen riesigen Bammel vor der neuerlichen Veränderung hatte. Für Florian war die Sache sowieso klar. „In meiner Familie ist auch Papp der Bestimmer“, sagte er und meinte, das wäre total okay. Er betonte oft „meine Familie“.

Der hat gut reden, fand Toby. Immerhin war Floris Papp bei der Polizei, sogar Kommissar auf der Dienststelle in Braunlage, für Toby der Traumberuf schlechthin. Bestimmen gehörte da eben zum Beruf. Außerdem hatte Flori noch seine Mamm -

Obwohl Florian schon zehn Jahre alt war, und eigentlich schlauer sein musste als er, fand Toby dies in seinem Fall überhaupt nicht „total okay“. Außerdem hatte er nur eine vage Vorstellung vom Meer, kannte es nur von Bildern oder aus dem Fernsehen. Er wusste nicht so recht, was er sich unter dem Begriff „Wattenmeer“ vorstellen sollte. Mit seinen gerade mal neun Jahren war er noch nicht aus dem Harz herausgekommen. Das Leben in dem kleinen gelben Haus am Ende der Straße war nie besonders aufregend, allerdings führte die Straße geradewegs in den Wald, und den Wald liebte er, dort war seine eigentliche Heimat.

Die Autowerkstatt, welche unmittelbar an den linken Giebel seines Elternhauses angrenzte, war das Reich von Ludwig. Sie wirkte etwas heruntergekommen. Wenn aber glänzend polierte Fahrzeuge davor aufgestellt waren, hinter deren Windschutzscheiben weiße Schilder prangten, auf denen man das Baujahr der Fahrzeuge ablesen konnte, die Erstzulassung, die PS-Zahl und vor allem den Kaufpreis, dann war sie ein echter Hingucker. Der Kaufpreis war das Wichtigste. Vor etwa einem Jahr hatte Ludwig erst mit dem Verkauf von Gebrauchtwagen begonnen, da sich dies für ihn angeblich lohnender darstellte, als aufreibende Reparaturen. Doch die Geschäfte liefen nicht gut, denn die Harzer Kunden waren sparsam und feilschten gern. Einige beharrten auf Sonderrabatten oder aber, was noch ärger war, sie baten um Ratenzahlungen. Und dann musste Ludwig Mahnungen schreiben, aber nein, das tat dann Lore, seine Mama.

Toby schloss die Augen und versuchte noch ein wenig zu schlafen, doch da kam wieder das gespenstische Bild von der Hand auf ihn zu - rot und grün - Lore war gestorben, mit dem Auto verunglückt. Auf der Rückfahrt von Königskrug, am dritten Februar - an seinem neunten Geburtstag - da ist es passiert. Dabei war es eine so schöne Geburtstagsfeier gewesen. In einer Pappschachtel hatte sich das schwarze Katerchen zusammengerollt, sein Geburtstagsgeschenk. Damit hatte Lore ihm seinen größten Wunsch erfüllt. Weil der Kater so klein war, musste natürlich ein imposanter Name her, und so nannte er ihn nach sorgfältiger Überlegung „Mister Jonathan“. Die abschüssige Straße war mit Schnee bedeckt, und dann hatten die Bremsen versagt. Lore konnte den Wagen nicht mehr zum Stehen bringen. Er rutschte weiter und weiter bis … zu dem entsetzlichen Knall. Toby saß hinten. Er hatte alles mit angesehen - alles - aber erinnern konnte er sich nur noch an die blutverschmierte Hand seiner Mama und an ihre grün lackierten Fingernägel.

Hellgrün war die Lieblingsfarbe von Lore und hellgrün war auch ihr Pullover, welchen sie an diesem Tag getragen hatte, lose über ihrer Lieblings-Jeans. Nach dem fürchterlichen Aufprall an dem Baum am Straßenrand war seine Kehle irgendwie zu. Er wollte schreien und konnte es nicht. Kein Ton kam ihm über die Lippen. Starr vor Schreck hatte er sich daraufhin tot gestellt. Warum? Vielleicht weil er den Anblick der Hand nicht ertragen konnte.

Endlos - irgendwann - Leute haben gesagt, er wäre bewusstlos gewesen - lag er in einem Rettungswagen der Klinik. Ludwig sagte nie, dass Lore tot sei, sondern immer nur dieses Wort „verunglückt“. Hörte sich auch irgendwie besser an - besser als tot.

Seit diesem entsetzlichen Tag redete sein Papa kaum noch mit ihm, und wenn, dann nur noch von dem Haus hinterm Deich, seinem Elternhaus. Toby hatte es noch nie gesehen. Es war bisher noch nie über dieses Haus gesprochen worden - bis jetzt - auf einmal?

Seit ewigen Zeiten war es vermietet und nun wollte Ludwig so schnell wie möglich selbst dort einziehen - viel zu schnell. Das Wattenmeer und der Deich gehörten eben dazu, zu dem Haus.

Das Bild von der blutverschmierten Hand und den grünen Fingernägeln an den leblosen Fingern ging dem Jungen nicht mehr aus dem Sinn. Besonders schlimm war es abends vorm Einschlafen - rot und grün - unheimlich! An manchen Abenden kam Mister Jonathan angeschlichen und kroch unter seine Bettdecke, um ihn zu trösten. Das konnte der Kater gut.

Toby räkelte sich auf seiner dünnen Matratze, doch er war kein wohliges Ausstrecken. Er rieb sich die brennenden Augen. Etwas stimmte nicht, aber was? Ein ungutes Gefühl machte sich breit, nahm mehr und mehr Besitz von ihm. Doch erst als beißender Brandgeruch durch die Ritzen drang, rannte er zum Seitenfenster und bemerkte dunkle Rauchschwaden, welche sich über dem Dach der Werkstatt aufgetürmt hatten. Er riss das Fenster weit auf und sah - Feuer - ein oder zwei lichterloh brennende Fahrzeuge im Hof!

„Ich bin tot!“ brüllte er, immer wieder „ich bin tot!“ Dieses Kinderspiel hatten sie erfunden, er und Florian, eine Art Versteckspiel, in welchem der Gefundene rufen musste „ich bin tot!“ Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Dies hier war bestimmt kein Spiel!

Er schrie, trotz des Qualmes, der sich allmählich im Zimmer ausbreitete und in seiner Kehle biss, doch niemand schien seine Hilferufe zu hören. Er hastete zur Zimmertür und sah, wie sich bereits züngelnde Flammen auf dem Treppenabsatz ausbreiteten. Jäh erfasste er die unmittelbare Gefahr, in welcher er sich befand und handelte rasch und für sein Alter sehr erwachsen. Nur fort von hier - raus -

Es gelang ihm, sich mit einem geübten Sprung aus dem breiten Fenster auf den knorrigen alten Baum im Vorgarten zu schwingen. Schon des Öfteren hatte er auf diese Weise das Haus verlassen. Doch mit dem Schreien konnte er gar nicht mehr aufhören. Wo war der Kater? Er lief ums Haus und rief „Mister Jonathan!“ wieder und immer wieder. Jedoch kein klägliches Miauen antwortete so wie sonst - nichts. Wo war Ludwig?

Noch nicht zurück von seiner nächtlichen Kneipentour? Oder hatte er sich aus Angst vor dem Feuer aus dem Staub gemacht?

Das sähe ihm aber gar nicht ähnlich. Ludwig und Angst - neiiin - das passte wirklich nicht zusammen. Doch wo konnte er sein? Hatte er selbst die Werkstatt angezündet um irgendwas zu verheimlichen? Aber was hatte er zu verbergen? Was?

Nachdem Toby der unmittelbaren Gefahr entronnen war, sauste er die Straße hinauf, so als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Und in der Tat, er fühlte sich verfolgt. Am Waldrand angekommen, schallte ihm von unten aus dem Ort die Sirene der freiwilligen Feuerwehr entgegen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Er lief bis zum Meiler und es kam ihm in den Sinn, dass er zum Köhlerfest im August gar nicht mehr hier wohnen würde, sondern hinterm Deich; „HINTERM DEICH!“ wie schrecklich!

Er schnaufte, doch es trieb ihn noch weiter in den Wald hinein - zu einem ganz bestimmten Baum: Florians Geheimnisbaum. Seinem Freund wollte er eine Nachricht übermitteln - unbedingt - Keine SMS, nein, eine ausgehöhlte Stelle im Stamm des Baumes war wesentlich besser geeignet für geheime Botschaften. Das hatten er und sein Freund mal in einem Indianerbuch gelesen.

Die Höhle, etwa zwei Meter über dem Waldboden, barg bereits etliche Geheimnisse, die ihr im Laufe der letzten Jahre anvertraut wurden. Toby hockte sich ins weiche Moos. Um diese frühe Morgenstunde waren noch keine Wanderer unterwegs, so dass er ungestört nachdenken konnte …Sein Notizheft trug er stets in seiner Hosentasche und einen stumpfen Bleistift auch. Schließlich kletterte er am Stamm des Baumes hinauf - das konnte er gut - und versteckte einen Zettel mit folgendem Wortlaut:

LUDWIG HAT DAS HAUS ABGEFACKELT!

ZWEITES KAPITEL

„Du kannst total bequem bei uns einrücken und erst mal in meinem Zimmer schlafen“, drängelte Florian ungeduldig. „Wenn das mit Ludwigs Feuerversicherung aber länger dauern sollte, ziehst du einfach ins Gästehaus. Da ist um diese Jahreszeit sowieso nicht viel los. Meine Mamm hat schon „ja“ gesagt.“ Florians Augen blitzten: „Freuste dich?“ Toby verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Feuerversicherung, häh? Was meinte Florian damit? Laut sagte er: „Erst mal abwarten bis Ludwig von der Polizei zurückkommt.“ Schon lange war es Tobys Wunsch, selbst einmal Polizist zu werden. Er überlegte. Sein Vater müsste längst hier sein - wenn alles okay wäre, aber …Wo blieb er nur solange? Von dem Zettel im Geheimnisbaum hatte er seinem Freund noch gar nichts erzählt und auch nicht von seiner großen Not, die er so zum Ausdruck bringen wollte. Flori würde ihn finden, und dann?

Dieser ließ nicht locker. „Wär doch voll cool, wenn du hierbleiben könntest. Ich weiß ein paar super neue Gespenstergeschichten! Seit der blöde Förster uns verboten hat im Dunkeln auf den Hochsitz zu klettern, ist es dort stinke-langweilig.

Gemeinheit! Gespenstergeschichten sind doch was für die Düsternis. Nur dann kann es so richtig schön schauerlich werden.“

Er drehte seine Augen nach hinten, so dass man nur noch das Weiße sehen konnte.

Keiner konnte das so gut wie er.

„Ich weiß nicht, ob Ludwig erlauben wird, dass ich hier bleiben kann.“ Toby zögerte. „Allerdings“, wieder machte er eine Pause, „in das verbrannte Haus bringen mich keine zehn Pferde mehr rein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort stinkt, wie - ichweißnichtwas - einfach bestialisch sag ich dir. Kein Mensch kann da schlafen.“ „Siehste“, stellte Florian in Siegerpose fest. Dabei stemmte er beide Hände in die Seiten und dann vollführte er einen Tanz, indem er wie irre von einem Bein auf das andere hüpfte. Bei seiner Körpergröße wies dieses Gehüpfe eine eigenartige Komik aus. „Vielleicht musste nu gar nicht mehr nach Cuxhaven“, frohlockte er, merkte jedoch gleich: das hätte er besser nicht gesagt.

Das Wort Cuxhaven bohrte sich dann auch wie ein spitzer Pfeil durch Tobys Brust.

Und wieder war dieses unselige Gefühl von Abschied da - vom Fortmüssen. Das plötzliche Läuten der Türglocke ließ die düstere Empfindung abrupt in nackte Angst umschlagen. Draußen stand Ludwig mit aufgebrachter Miene. Seine rötlichen Stoppelhaare strebten kühn in alle Richtungen. „Ich frag mich, warum du ein Handy hast“, polterte er los. „Äh - mein Handy! Ich glaube, das ist schon im Koffer“, kam es verzagt von Tobys Lippen. „Waaas? - Ich glaubs nicht! Es ist doch alles verbrannt, das Auto, der Koffer mit den Kleidern - alles!“ Ludwig rang nach Luft, doch erstaunlich schnell kriegte er sich wieder ein.

„Egal“, brummelte, „zum Glück bin ich gut versichert.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Heute ist es sowieso zu spät für die Abreise. Von mir aus bleib über Nacht bei dem Langen.“ Damit meinte er Florian. Toby schaute an sich herab. Diesen alten Jogginganzug hatte er bereits letzte Nacht zum Schlafen an. Ludwig bemerkte den Blick und meinte gnädig:

„Du braucht wohl ein paar neue Sachen. Aber morgen, morgen geht es los!“

Schon war er wieder da, dieser Befehlston, den der Junge so sehr hasste, noch mehr als den Deutschunterricht bei Lehrer Sorge.

Nach den bedrohlich hervorgebrachten Worten drehte er sich um und ließ den kleinen Kerl mit hängenden Schultern im zugigen Hausflur stehen. Florian, der dieses Gespräch heimlich belauscht hatte, kam sogleich aus der Küche gefegt. „Du kannst ein paar Klamotten von mir kriegen“, meinte er gutherzig.

Ein Blick in den Garderobenspiegel entlockte den beiden jedoch ein schallendes Gelächter. Unterschiedlicher hätten sie aber auch nicht sein können. Florian, lang und dünn, war mehr als einen Kopf größer als Toby, der seinen Babyspeck noch nicht ganz abgelegt hatte.

„Wir können ja mal probieren, Modenschau zu machen, so wie die im Fernsehen“, griente er. „Kannst dich heute Abend als Gespenst verkleiden, huhuhu, dann krieg ich aber das Grausen, doch meinem neuen Baumgeist wirst du bestimmt gefallen“.

„Baumgeist - häh?“ „Zeig ich dir, versprochen, aber nur, wenn du keine Angst hast. Der wütet nämlich ganz böse unten am Hang und erschreckt die Leute. Wenn es dunkel wird, starrt er manchmal voll in unser Fenster hinein. Unheimlich! Und ein Riesenmaul hat er - größer als ein Krokodil …“

Ungeduldig warteten die zwei Buben nun auf die Dämmerung, und als sie endlich lauernd am offenen Fenster standen, zischte Florian plötzlich ganz aufgeregt: „Siehst du das aufgerissene Maul? Fein gruselig, gell - so als wollte es jeden Moment zubeißen. Sogar seine Nase wackelt. Und guck mal, wie sich das Gewand bewegt, hin und her mit dem Wind. Walle, walle, es kommt auf uns zu - huhu!“ Seine Stimme ging in ein kaum hörbares Flüstern über. „Spürst du schon, wie dir eine Gänsehaut über den Rücken läuft?“

Toby war mal wieder tief beeindruckt. Sein Freund hatte ihm nicht zu viel versprochen.

„Und die seltsame Spitze auf seinem Kopf sieht beinahe aus wie ein grüner Papierhut“, flüsterte er. Schließlich wollte er auch ein bisschen zu dem langen wallenden Gespenst beisteuern. Jedoch, so richtig bei der Sache war er heute nicht.

Das war ja auch kein Wunder.

Er war müde und wollte schlafen, doch ein andauerndes „tropf - tropf - tropf“ ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. „Was ist das für ein Geräusch?“, fragte er. Sofort saß Florian kerzengerade. „Ach, nur das grasgrüne Spukgespenst aus unserer Wasserleitung“, gab er betont gleichgültig zur Antwort. Und dann: „dreh bloß den Hahn nicht auf, denn ist es einmal heraus gezischt, lässt es sich kaum wieder einfangen. Es ist furchtbar klebrig und harzig, und überall da, wo es hängen bleibt, stinkt es nachher nach Kotze, brrrr.“

Nach diesen Worten schielte er zu Toby herüber, doch der hatte bereits seine Augen geschlossen. Trotzdem fabulierte er weiter: „Immer will es unter die Bettdecke, und dann drückt es dir die Luft zum Atmen ab, und dann …“

Er stockte, denn Toby war nun fest eingeschlafen. „Mist, verdammter Mist“, sagte er laut. Er war enttäuscht.

Dies sollte doch erst der Anfang der Gespenstergeschichte sein. Und morgen, dachte er, morgen ist es zu spät. Dann ist Toby fort …

„Wir müssen über Goslar fahren. Dort treffe ich mich mit dem Versicherungsfritzen.“ Und mit einem Seitenblick auf Toby: „He, hörst du mir überhaupt zu?“ Wie ein Häufchen Elend kauerte dieser auf dem Beifahrersitz und schluchzte. Bereits am Frühstückstisch war es dem kleinen Kerl nicht gelungen, sein kummervolles Gesicht zu verbergen. Er bemühte sich zwar, den Kloß in seiner Kehle mit ein paar Bissen des Schokobrötchens hinunter zu würgen, aber als von draußen das bekannte Motorengeräusch ertönte, war es mit seiner Fassung endgültig vorbei. Er brüllte wie am Spieß und musste letztlich mit Gewalt in den Wagen geschoben werden. Mister Jonathan war nicht mehr da, auch nicht im Auto, und so brachen seine Tränen noch heftiger aus ihm heraus und rannen ihm unaufhörlich über die Wangen. Er weinte und jammerte zum Steinerweichen und wusste doch, dass es ihm nichts nutzen würde. Er ahnte es, diese Abreise beendete alles, was ihm bisher wichtig gewesen war.

Florian nutzte die allgemeine Aufregung, die auch seine Familie erfasst hatte, um heute die Schule zu schwänzen. Als der metallic-blaue Kombi um die Ecke gebraust war, klemmte er sich seinen Schulranzen über die Schulter und verschwand in dem nahegelegenen Waldstück. Er wollte allein sein, musste nachdenken. Schließlich fand er sich am Fuße des Geheimnisbaumes wieder.

Mechanisch, wie von alleine, schob sich seine Hand in das Versteck und wie selbstverständlich zog sie das zusammengeknüllte Papier heraus. Es war wie immer.

Aber als er die hastig dahin gekritzelten Worte las, kriegte er einen gehörigen Schrecken.

LUDWIG HAT DAS HAUS ABGEFACKELT!

„Nein! Niemals!“ entfuhr es ihm. Er überlegte. Weshalb hätte Ludwig das tun sollen und warum hatte Toby ihm nichts von diesem ungeheuerlichen Verdacht erzählt? Jetzt konnte er ihn nicht mehr fragen. Er war fort. Allerdings glaubte er seinen Freund gut genug zu kennen, um zu begreifen, dass dieser sich seiner Sache schon sehr sicher sein musste, wenn er eine solche Behauptung aufstellte. Aber warum? Er konnte es nicht verstehen. Und was sollte er jetzt machen? Er musste doch irgendwas tun. Die Polizei einschalten? Seinen Papp? Besser nicht.

Fragen über Fragen.

DRITTES KAPITEL

In Goslar angekommen, lenkte Ludwig das Auto zielsicher auf einen belebten Parkplatz in der Nähe des Domplatzes. Während der Fahrt, die etwa eine halbe Stunde gedauert hatte, hatte er seinen Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet. Kein Wort des Trostes verlor er an den Buben. Tobys Weinen war irgendwann in ein leises jämmerliches Wimmern übergegangen. Mit den Worten „ich bin gleich wieder da“, verschwand Ludwig hastig in einem der Bürohäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Als er nach einer Weile zurückkam, blieb sein Gesichtsausdruck unverändert steinern. Nun startete er richtig durch, doch von der weiteren Fahrt bekam der Junge nicht allzu viel mit. Seine Augen hatten sich erneut verschleiert, nachdem er bemerkt hatte, dass Ludwig die Autobahn Richtung Bremen ansteuert. „Bremen“ - da war doch was. Richtig, es gab die Bremer Stadtmusikanten. Lore hatte ihm das Märchen vorgelesen, als er noch klein war. Er nannte seine Mama meistens Lore.

Also, ein Hahn, ein Esel, eine Gans, oder war es eine Katze? Egal. Sie sind alle nach Bremen abgehauen. Ist das eine Metapher, fragte er sich, oder habe ich das wieder falsch verstanden. Deutschlehrer Sorge war sein Hasslehrer, der solch schwierige Begriffe nie richtig erklären konnte. Der Junge guckte aus dem Seitenfenster. Die Landschaft um ihn herum hatte sich verändert. Trostloser hätte die Gegend nicht sein können.

Kein Berg war zu sehen, nicht mal ein Hügel; Wälder: Fehlanzeige - Öde - blöde, eben - eben.

Normalerweise liebte er solche Wortspiele und vertrieb sich damit gerne die Zeit, meistens in der Schule - im Deutschunterricht.