Die Kladde - Irene Rickert - E-Book

Die Kladde E-Book

Irene Rickert

0,0

Beschreibung

Es handelt sich um das Tagebuch von Hilde, die mit ihrer Adoptivmutter in einem kleinen Dorf in Thüringen wohnt. Hilde ist fünfzehn, als sie beschließt, besondere Erlebnisse und Wünsche in ihrer Kladde festzuhalten. Es ist das Jahr 1985. Drei Jahrzehnte lang berichtet sie vom Auf und Ab ihrer Lebensstraße und schreibt über Veränderungen im ganz normalen Alltag. Sie schildert Familiengeheimnisse, erzählt über Freundschaften und von der Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die beiden Freundinnen,

Hannelore aus dem Saarland und Else aus Thüringen, kannten sich bereits seit der Evakuierung 1939.

Sie waren noch Kinder, und es war Krieg.

Später, beinahe zeitgleich, haben sie geheiratet; die Hannelore den Hans und die Else den Paul.

Der Kontakt blieb bestehen, und im Laufe der Zeit lernten sich auch ihre Ehemänner immer besser kennen.

Durch den Bau der Mauer in den Sechzigern wurden ihre gegenseitigen Besuche jedoch abrupt abgebrochen.

Daraufhin begann man sich Briefe zu schreiben und gegenseitig Päckchen zu schicken.

Dann geschah das Unfassbare …

Denn es gibt etwas, das Grenzen überwindet, etwas, welches selbst Stacheldrahtzäune durchbrechen kann …

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Für Julius

Mittwoch, 4. Dezember 1985

Mittwoch, 25. Dezember 1985

Mittwoch, 1. Januar 1986

Mittwoch, 14. Februar 1986

Mittwoch, 30. April 1986

Mittwoch, 2. Juli 1986

Mittwoch, den 9. Juli 1986

Mittwoch, 29. März 1989

Mittwoch, 5. April 1989

Mittwoch, 24. Mai 1989

Mittwoch, 31. Mai 1989

Mittwoch, 19. Juli 1989

Mittwoch, 26. Juli 1989

Mittwoch, 2. August 1989

Montag, 7. August 1989

Dienstag, 8. August 1989

Mittwoch, 16. August 1989

Mittwoch, 30. August 1989

Mittwoch, 20. September 1989

Mittwoch, 1. November 1989

Samstag, 11. November 1989

Montag, 13. November 1989

Mittwoch, 28. Februar 1990

Donnerstag, 1. März 1990

Mittwoch, 11. April 1990

Montag, 16. April 1990

Mittwoch, 18. April 1990

Mittwoch, 25. April 1990

Mittwoch, 4. Juli 1990

Mittwoch, 5. September 1990

Mittwoch, 24. Oktober 1990

Mittwoch, 7. November 1990

Mittwoch, 30. Januar 1991

Mittwoch, 29. Mai 1991

Mittwoch, 20. November 1991

Mittwoch, 18. Dezember 1991

Mittwoch, 22. Januar 1992

Mittwoch, 18. März 1992

Mittwoch, 1. April 1992

Mittwoch, 8. April 1992

Mittwoch, 20. Mai 1992

Mittwoch, 17. Juni 1992

Freitag, 19. Juni 1992

Sonntag, 21. Juni 1992

Mittwoch, 1. Juli 1992

Mittwoch, 9. Dezember 1992

Mittwoch, 6. Januar 1993

Mittwoch, 5. Mai 1993

Mittwoch, 16. Juni 1993

Mittwoch, 7. Juli 1993

Donnerstag, 8. Juli 1993

Freitag, 9. Juli 1993

Mittwoch, 18. August 1993

Mittwoch, 8. September 1993

Donnerstag, 30. September 1993

Mittwoch, 5. Januar 1994

Mittwoch, 23. März 1994

Mittwoch, 27. April 1994

Mittwoch, 11. Mai 1994

Mittwoch, 21. September 1994

Mittwoch, 15. Februar 1995

Mittwoch, 2. Oktober 1996

Mittwoch, 23. Oktober 1996

Mittwoch, 18. Dezember 1996

Mittwoch, 22. Januar 1997

Freitag, 24. Januar 1997

Mittwoch, 12. März 1997

Mittwoch, 21. Mai 1997

Mittwoch, 13. August 1997

Teil II: Was Bleibt

Mittwoch, 11. August 1999

Mittwoch, 10. November 1999

Mittwoch, 24. November 1999

Mittwoch, 29. Dezember 1999

Mittwoch, 5. Januar 2000

Mittwoch, 19. April 2000

Mittwoch, 21. Juni 2000

Mittwoch, 8. August 2001

Mittwoch, 19. Dezember 2001

Sonntag, 11. August 2002

Mittwoch, 14. August 2002

Mittwoch, 20. November 2002

Mittwoch, 25. Dezember 2002

Mittwoch, 16. April 2003

Mittwoch, 27. August 2003

Mittwoch, 8. Oktober 2003

Mittwoch, 17. Dezember 2003

Mittwoch, 7. Januar 2004

Mittwoch, 11. Februar 2004

Mittwoch 31. März 2004

Mittwoch, 7. April 2004

Mittwoch, 5. Mai 2004

Mittwoch, 19. Mai 2004

Montag, 24. Mai 2004

Mittwoch, 15. September 2004

Donnerstag, 16 September 2004

Mittwoch, 29. September 2004

Mittwoch, 13. Oktober 2004

Mittwoch, 17. November 2004

Mittwoch, 22. Dezember 2004

Mittwoch, 26. Januar 2005

Mittwoch, 23. Februar 1005

Mittwoch, 2. März 2005

Mittwoch, 23. März 2005

Mittwoch, 27. April 2005

Mittwoch, 4. Mai 2005

Mittwoch, 1. Juni 2005

Donnerstag, 2. Juni 2005

Freitag, 3. Juni 2005

Samstag, 4. Juni 2005

Freitag, der 10. Juni 2005

Samstag, 11. Juni 2005

Sonntag, 12. Juni 2005

Mittwoch, 20. Juli 2005

Mittwoch, 14. September 2005

Mittwoch, 14. Dezember 2005

Samstag, 31. Dezember 2005

Mittwoch, 25. Mai 2006

Mittwoch, 6. Dezember 2006

Mittwoch, 3. Januar 2007

Mittwoch, 23. Mai 2007

Mittwoch, 13. August 2008

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Mittwoch, 8. April 2009

Mittwoch, 3. Juni 2009

Mittwoch, 5. August 2009

Mittwoch, 16. September 2009

Mittwoch, 19. Januar 2011

Mittwoch, 16. Februar 2011

Mittwoch, 20. April 2011

Mittwoch, 15. Juni 2011

Mittwoch,13. Juli 2011

Montag, 8. August 2011

Mittwoch, 10. August 2011

Mittwoch, 10. Oktober 2011

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Mittwoch, 7. März 2012

Mittwoch, 1. August 2012

Mittwoch, 24. April 2013

Mittwoch, 18. September 2013

Mittwoch, 20. August 2014

Freitag, 21. November 2014

Mittwoch, 4. Februar 2015

Mittwoch, 6. Mai 2015

Mittwoch, 3. Juni 2015

Mittwoch, 1. Juli 2015

Mittwoch, 15. Juli 2015

Mittwoch, 9. September 2015

Dienstag, 15. November 2016

Mittwoch, 11. Januar 2017

EINLEITUNG

Die 15-jährige Hilde stieg auf den Hocker und spähte durch die Dachluke. Nebelschwaden lagen tief über der Hecke, welche das Gemüsebeet vom Blumengarten abgrenzte.

Grau, grau und nochmal grau.

Sie seufzte: „Mehr November als heute geht nicht!“

Daraufhin entzündete sie die erste Kerze des Adventskranzes.

Der Wohlgeruch der Bienenwachskerze mischte sich mit dem frischen Tannenduft. Eigentlich war heute noch gar nicht richtig Advent, sondern erst in drei Tagen.

„Was soll’s? Drei Tage hin oder her; Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden."

Es gab ohnehin schon zu viele Vorschriften, welche in der Kanzlei, in der sie als Lehrling arbeitete, zu beachten waren.

Noch einmal schweifte ihr Blick hinaus in den Garten. Dann zog sie das Verdunkelungsrollo des kleinen Dachfensters herab, und sogleich tauchte die Kerze den gemütlichen Raum in ein warmes Licht.

Grauer November - Totenmonat, sagten die Alten.

Hilde träumte sich ihre Welt gerne bunt, manchmal sogar an ihrem Arbeitsplatz. Die Jahreszeiten, und die einzelnen Monate stellte sie sich dann in schillernden Farben vor: Der Mai ist grün, der Juni gelb, Juli rot und der August - vielleicht lila.

Der Januar meist frostig silbern, doch der Februar blau - wegen der Fastnacht - März? Hm, braun wahrscheinlich, wenn der Schnee die braune Erde freigibt. Im April blühen die rosa Kirschbäume.

Während Hilde sich diesen Phantasiegebilden hingab wurde sie schläfrig.

Auf dem Tisch lag die schwarze Kladde, niegelnagelneu.

Schon seit geraumer Zeit hegte sie den bitterbösen Verdacht, dass ihre Mama heimlich in ihrem alten Tagebuch herumschnüffelte. Deshalb hatte Hilde sämtliche dicht bekritzelte Seiten des abgegriffenen Buches herausgerissen und somit ihre gesamten Kindheitserinnerungen ein für alle Mal vernichtet. Zwischen die leeren Buchseiten legte sie daraufhin nur ein einziges zusammengefaltetes Blatt mit den Worten: „Jetzt bist du aber reingefallen“.

Dieser Satz löste eine eigenartige Reaktion aus, ganz anders als beabsichtigt. Mama lachte sie aus und versuchte nicht einmal ihren Spott zu verbergen. Mehr noch, nachmittags reichte sie diesen Zettel über den Gartenzaun hinweg in der Nachbarschaft des 800-Seelen-Dorfes herum.

So stolz war sie auf ihr einfallsreiches Töchterchen!

Daraufhin hatte sich Hilde die Kladde gekauft, eine Arbeitsmappe, wie sie auch für die Berufsschule benötigt wurde. Das Interesse für Schulsachen hielt sich bei ihrer Mama nämlich stets in Grenzen.

Demzufolge würden ihre Geheimnisse in der Kladde gut aufgehoben sein.

Nun lag dieses schwarze Ding vor ihr und wartete auf neue Erlebnisse. Es sollte ihre ganz eigene Geschichte werden: Die Geschichte der Hilde Ottermann.

Nachdem diese unbeschriebenen weißen Seiten jedoch so neu und unschuldig vor ihr auf dem Schreibtisch lagen, wusste sie nicht, womit sie eigentlich anfangen sollte …

* * * * *

Alle Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden.

Nicht erfunden ist nur eine alte Kladde mit dem Brief vom 30. Mai 1942 von Julius - meinem Papa.

Alle Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden.

Nicht erfunden ist nur eine alte Kladde mit dem Brief vom 30. Mai 1942 von Julius - meinem Papa.

TEIL I

FÜR JULIUS

Mittwoch, 4. Dezember 1985

„Selbst die weiteste Reise beginnt mit einem ersten Schritt.“

Irgend so ein schlauer Kopf soll sich dies ausgedacht haben. Und weil ich auch schlau sein möchte - logisch - werde ich direkt und sofort und gleich und auf der Stelle diesen ersten Schritt machen - ich meine mit dem Schreiben beginnen, also einfach mal los marschieren.

Wohin? Null Ahnung. Irgendwohin ins Nirgendwo, doch darüber will ich mir jetzt keine grauen Haare wachsen lassen. Viel lieber lasse ich mich überraschen. Schließlich soll mein Weg spannend bleiben - abenteuerlich, denn irgendwo und irgendwann muss es doch noch irgendetwas anderes geben, als diese öde Langweiligkeit des kleinen Dorfes, in dem ich wohne.

Leider wird der Anfang meiner Geschichte, sozusagen dieser erster Schritt, eine blöde Schulgeschichte sein, doch ich bin ganz sicher: Da kommt noch was; da muss einfach mehr kommen. Die aufregendsten Dinge werde ich noch erleben, obwohl es im Augenblick nicht danach aussieht.

Meine Laune ist leider im Keller und das nur wegen Lehrer Sturhahn. Weil ich aber nicht an dieser Kröte, die mir seit heute Morgen im Halse steckt, ersticken will, muss ich zuallererst diesen Ärger loswerden. Da kommt mir mein neues Tagebuch gerade recht.

Ich hasse diesen Mann. Der ist ja so gemein. Das Schlimmste ist: Im Grunde kann ich rein gar nichts gegen ihn unternehmen. Wie bitteschön soll man sich gegen einen Lehrer wehren? Ihn verhauen? Haha! Was bleibt mir also anderes übrig, als im Schein meiner halbmondförmigen Kinderlampe - genau wie der Mond, der auch nur noch mit halber Kraft durch mein Fenster scheint, meine grässliche Wut auf Papier zu kritzeln, pardon, niederzuschreiben und abzuheften in meiner neuen schönen Kladde.

Ich kann nicht schlafen. Dabei wird in aller Herrgottsfrühe wieder der schreckliche Wecker rasseln. Seit meiner Kinderzeit schon glotzt mich seine Fratze an - voll dreist.

Zum Erzählen ist niemand da. Hier oben bin ich meistens allein. Außerdem, wen interessieren schon meine mickrigen Erlebnisse? Selbst Mama bemüht sich selten die steile Stiege zu mir hinauf, obwohl - wenn ich ehrlich bin, ist mir das meistens ganz recht.

Eigentlich wollte ich die erste Seite meines Tagebuches mit etwas besonders Schönem schmücken, zum Beispiel mit einer schmachtenden Liebesgeschichte - eigentlich! Pech gehabt, liebe Hilde! Nun geht es leider in eine ganz andere, in eine total verkehrte Richtung.

Sturhahn, also wenn man schon so einen Namen hat, unser Fachlehrer für bürgerliches Recht, ist der Ober-Blödmann. Fast ausgerastet bin ich heute wegen dem. Selbst jetzt noch geistert er mir im Kopf herum, das heißt, ich werde rasend, wenn ich nur an ihn denke. Immerhin gut, dass ich endlich wieder ein Tagebuch habe, das zum Glück aber nicht so aussieht wie ein Tagebuch. Gut gemacht liebe Hilde - prima.

Der Ordnung halber muss ich noch erwähnen, dass ich mich im ersten Lehrjahr befinde und die Rechtsfachklasse in Gotha besuche, falls ich es je vergessen haben sollte, wenn ich einmal alt und grau bin. Könnte doch sein. Deshalb will ich alles ganz genau aufschreiben, denn ich bin ein ordnungsliebender Mensch und möchte, dass es meine Kinder irgendwann lesen. Ich will nämlich unbedingt welche kriegen, Kinder meine ich, mindestens zwei Stück, aber nur Mädchen, und eins davon soll Vivian heißen. Davon träume ich oft, manchmal sogar während des Unterrichtes. Ich weiß auch schon ganz genau, wie ich meine Kinder erziehen werde: Nie und nimmer werde ich sie anlügen und mich niemals so gekünstelt und geheimnisvoll verhalten, wie das manche Eltern tun. Ich glaube, das ist das Wichtigste. Außerdem werde ich von morgens bis abends mit ihnen spielen, und solange sie klein sind, dürfen sie jede Nacht in meinem Bett schlafen. Ach, das wäre schön! Selber alt zu sein kann ich mir allerdings überhaupt nicht vorstellen.

Herr Sturhahn ist alt - uralt so wie der aussieht mit den gelben verknitterten Falten und den schmalzigen Haarsträhnen, welche ihm über den Nacken bis auf den Hemdkragen hängen. Doch das Schlimmste ist seine monotone Stimme und die entsetzlich einschläfernde Art, wenn er versucht uns Rechtslehre und Prozessrecht beizubringen. In Wirklichkeit ist er gar kein richtiger Lehrer, sondern war Bürovorsteher in einer Berliner Kanzlei. Jetzt ist er im Ruhestand. Niemand kann den leiden und ich schon mal gar nicht. Doch leider sitzt er am längeren Hebel sozusagen und kann mir schlechte Zensuren verpassen.

Gestern hat er mich ganz fürchterlich blamiert und dies vor versammelter Klasse. Das werde ich ihm nie verzeihen.

„Wer dies auf die Tafel geschmiert hat, der wischt es auch wieder weg.“

Durch die dicken Gläser eines randlosen Kassengestells traf mich der giftige Blick seiner kurzsichtigen Augen. Wenn Blicke töten könnten, wär ich auf der Stelle tot umgefallen.

Daraufhin musste ich mein Kunstwerk solange mit dem nassen Schwamm bearbeiten bis die Tafel wieder pieksauber war. Wie peinlich!

Dabei wollte ich doch nur die kleine Pause zwischen Prozessrecht und Kostenrecht überbrücken. Deshalb hab ich die Flemm gemalt, so wie ich sie mir halt vorstelle. Ich kritzele nämlich gern, mit Vorliebe hässliche Gesichter, manchmal während des Unterrichtes. Dann geht die Zeit schneller rum. Das ist doch nichts Schlimmes!

Kein Mensch in ganz Thüringen kennt diesen Begriff: Flemm.

Das ist eine Redensart von drüben. Lustig, gell!

Zum ersten Mal hab ich das in einem der Briefe gelesen, die wir ab und zu von der Familie Weber kriegen. Diese Familie besteht eigentlich nur aus Hansi Weber und seiner zweiten Frau Ursula, doch die nennt jeder bloß Ulla. Die Hannelore, seine erste Frau ist tot, doch darüber spricht die Mama nicht mehr.

Damals hatte sie den Ausdruck „Freitod“ benutzt - allein schon das Wort, wie schrecklich, als sie mir, entsetzlich umständlich und mit gruseligen Umschreibungen, davon erzählt hat. Ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, doch ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mir die Ohren zugehalten hatte, weil ich es nicht hören wollte.

Ich habe diese Person sowieso nicht gekannt, doch Mama hat immer wieder davon angefangen und mich damit genervt. Sie hat die Frau wohl richtig gern gehabt.

Hannelore und sie waren etwa im gleichen Alter. Während des Krieges, als viele Saarländer nach Thüringen evakuiert wurden, kamen ein paar Familien auch in unser Dorf. Die Erwachsenen haben meistens auf den Äckern gearbeitet, während die Kinder im Hof und auf den Feldern spielen durften. Dies weiß ich alles von den Erzählungen meiner Eltern. Mama sagte: „Als die Osters zum ersten Mal nach hierher kamen, waren Hannelore und ich gerade mal fünf Jahre alt. Klar, dass wir Kinder auf Anhieb beste Freundinnen wurden. Ich habe sie immer „Osterhase“ genannt.“

Später, nach dem Krieg, ist Mama manchmal mit der Bahn ins Saarland gefahren. Damals soll es noch ganz normal gewesen sein, in die BRD zu reisen. Sie war auch zu Hannelores Hochzeit mit dem Hansi eingeladen. Das war, bevor ich auf der Welt war, denn da gab es noch keine Grenze. Eines Tages, es war kurz vor Weihnachten, kam ich aus der Schule und merkte, dass Mama ganz verweinte Augen hatte. Da hat sie mir gesagt, dass sich die Hannelore das Leben genommen hätte. Da ich die Frau nur von den Fotos her kannte, wollte ich das gar nicht so genau wissen.

Ein paar Jahre später hat der Hansi wieder geheiratet und seine Flitterwochen hier auf unserem Hof verbracht. Das würde ich nie machen. Wenn ich mal heirate, will ich bestimmt nicht in so nem öden Kaff Urlaub machen. Ich würde ans Meer fahren - aber an ein richtiges Meer und nicht an die popelige Ostsee. Ich möchte einmal hohe Wellen sehen, so wie in den amerikanischen Filmen und in den Ozean springen!

Ein Traum!

Wahrscheinlich kamen die beiden damals nur deshalb zu Besuch, weil Hansi uns seine neue Frau Ulla vorstellen wollte. Die ist übrigens sehr lustig und noch ziemlich jung, und der Hansi war schwer verliebt in sie wie ein jugendlicher Kaiser.

Jedenfalls haben wir in den zwei Wochen, als die beiden hier waren, mehr gelacht als sonst im ganzen Jahr. Außerdem: Besuch finde ich immer schön. Dann ist wenigstens mal was los. Mama hat jeden Tag ein Festessen für unsere Gäste veranstaltet. Sonst leben wir meist ziemlich bescheiden.

„Ich hann die Flemm“, sagte Ulla, wenn ihr etwas nicht in den Kram passte. Damit brachte sie mich jedes Mal zum Wiehern. Bestimmt hatte sie diesen Ausdruck deshalb so oft benutzt, denn tatsächlich bedeutet die Flemm haben drüben nix Gutes. So ganz genau weiß ich es nicht, kann auch sein: keine Lust zu haben - auf Nichts, oder sowas ähnliches.

Aus diesem Grunde wollte ich den Mädchen in der Klasse einfach mal zeigen, wie die Flemm in gemalt aussieht, also wie ich sie mir vorstelle. Ist leider gründlich in die Hose gegangen.

Webers wohnen am Ende einer Straße direkt am Waldrand in einem Haus, welches bereits von Hannelores Großeltern erbaut wurde, bestimmt noch im vorigen Jahrhundert. Ich kenne das rote Backsteinhaus von Bildern. Das Dorf heißt Holzweiler - nee Quatsch, Hülzweiler.

Würd schrecklich gern mal dahin fahren, einfach mal weg von hier. Doch das geht ja leider nicht.

Jedes Jahr zur Adventszeit und auch zu Ostern bekommen wir ein Geschenk-Paket von den Webers. Hansi hat diese Sitte nach dem Tod seiner Schwiegereltern fortgesetzt. Finde ich toll, richtig nett von dem! Meistens sind Süßigkeiten in den Schachteln verpackt, Kakao, auch Kaffee und so’n Zeug. Mama steht voll auf Kaffee, denn der ist schwer zu kriegen in der DDR. Manchmal schicken auch wir ein Päckchen ins Saarland, allerdings mit anderen Sachen, Bettwäsche zum Beispiel oder Handtücher. Mama hatte mal ne selbstgemachte Knackwurst eingepackt und um die Weihnachtszeit herum einen frisch gebackenen Thüringer Christstollen, obwohl das verboten ist. Man könnte ja schlimme Sachen darin verstecken, doch damit nimmt es Mama nicht so genau.

„Geschenksendung - keine Handelsware“ schreibt sie stets in Großbuchstaben neben die Adresse. Das wäre Vorschrift. Darin ist sie komischerweise ganz penibel. Aber wir sind nicht die einzigen hier im Dorf, die Verbindungen nach drüben haben. Auch Doros Eltern haben noch eine Kontaktfamilie im Saarland.

Doch zurück zu meinem Gemälde: Ich habe also versucht dieser besagten Flemm ein Gesicht zu geben und sie unter dem allgemeinen Gejohle der Klasse auf die große Schultafel gemalt: schiefes grünliches Gesicht, halbgeschlossene Augen hinter einer randlosen Brille, schräg nach unten gezogene Mundwinkel, Hängeohren. Der Wahnsinn! Die Ähnlichkeit mit Sturhahn war unverkennbar, total gelungen. Dann habe ich mit gelblicher Kreide den überlangen Ohren ein wenig Farbe gegeben. Wir haben uns gebogen vor Lachen.

Außer natürlich Fräulein Doro Salzmann. Die meinte, mit solchen Aktionen würde ich gerne angeben. Das stimmt nicht. Es ist der blanke Neid, der aus meiner Freundin spricht. Sie kann nämlich überhaupt nicht malen.

Gerade als ich dabei war den Hinterkopf mit ein paar dürftigen Haarsträhnen zu schmücken, kam Sturhahn rein, sah das Gemälde und kriegte einen seiner bekannten Wutausbrüche. Na, ja, den Rest habe ich bereits erzählt. So, jetzt ist das mal gesagt, ich meine aufgeschrieben.

Mir hat mein großer Bruder das Zeichnen beigebracht als er noch bei uns gewohnt hat. Erhard ist ein richtiger Künstler. Er ist schon alt, zwölf Jahre älter als ich. Schade, dass er nicht mehr hier wohnt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Eigentlich ist meine Freundin Doro ganz nett, obwohl - eher fett, als nett, haha. Na ja, sie kann nix dafür. Die Arme wird zuhause voll gemästet. Bei Salzmanns geht’s deftig zu. Erst vor zwei Wochen haben die wieder ein Schwein geschlachtet. Hausschlachtung!

Schlachtfest, das ist das Größte bei denen, ungefähr so, als wäre Ostern und Weihnachten an einem Tag. Dann ist die ganze Großfamilie am Wursteln. Blutwurst wird gemacht und in Därme gefüllt - voll eklig. Thüringer Knackwurst, Sülze und ich weiß nicht was wird fabriziert. Jedenfalls stinkt danach die ganze Gasse nach Fett und Gedärmen. Ich hasse diesen abscheulichen Geruch, geh der Sache meistens aus dem Weg. Außer der Doro habe ich sonst keine richtige Freundin, Freund schon mal gar nicht. Doro kann ja nichts dafür, dass ihre Eltern alle naselang ein Schwein schlachten.

Bei mir daheim ist nicht viel los. Mama ist Schneiderin und oft in ihrer Nähstube hinter der Küche. Da bin ich auch ganz gern, denn ich finde das Durcheinander von Stoffresten irgendwie gemütlich Außerdem liebe ich das Surren der Nähmaschine.

Übrigens, daheim: das ist Bufleben, so heißt das Kaff. „Da liegt der Hund begraben“, sagte Erhard immer. Erhard ist nicht mein richtiger, sondern mein Adoptivbruder. Vor sieben Jahren, genau am ersten April ist er abgehauen, nach Berlin, Ost-Berlin, versteht sich. Zum „Rübermachen“ war er sicher zu feige.

Ab und zu schreibt er, meistens nichtssagende Karten mit Ansichten aus der Großstadt. Ein paar Mal war er hier, aber seine Besuche sind stets kurz, viel zu kurz. Als ich noch klein war, hat er oft mit mir gespielt. Später hat er mir viel über den Sternenhimmel erzählt und versucht, mir die Geheimnisse des Universums zu erklären. Voll atemberaubend fand ich seine Geschichten über Ufos und Außerirdische. Er besaß eine Menge Bücher zu diesem Thema und wusste unglaubliche Dinge zu berichten. Manchmal haben wir uns auch unsere nächtlichen Träume erzählt, und dann stellten wir fest, dass wir oft die gleichen Träume vom Fliegen hatten.

Seit er fort ist kann ich nicht mehr fliegen.

Der Paul ist richtig geflüchtet, viel früher schon. Republikflucht? Angeblich! Da war ich noch klein, bin gerade eingeschult worden. Damals war das noch nicht so schwierig wie heute, ich meine, von hier abzuhauen.

Paul war mein Erziehungsberechtigter, die Else natürlich auch - ist es immer noch - leider, denn manchmal kann sie ganz schön gemein sein - und dann auch wieder nicht. Wie soll ich das nur erklären? Ich weiß halt nie, wo ich bei ihr dran bin. Doch seit Papa weg ist, habe ich sonst keine Familie mehr. Kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als der Traktor, mit dem Papa immer das Tierfutter zu den großen Ställen der Kolchose brachte, eines Abends nicht zurück gekommen ist - und an die Warterei danach - tagelang. Wir wussten ja nie: kommt er wieder, oder kommt er nicht mehr.

Er kam nie zurück.

“Verschollen“ sagt Else, wenn sie von ihm spricht; aber das passiert nicht mehr oft.

So traurig ich auch damals gewesen bin, geweint habe ich nicht, und darauf bin ich heute noch stolz. Ich kann es nämlich überhaupt nicht leiden, wenn jemand weint und dann noch in der Öffentlichkeit. Außerdem, Jammern macht eine Sache nur schlimmer. Damals wusste ich noch nicht, dass ich ein Adoptiertes bin und dass meine Eltern gar nicht meine richtigen Eltern sind. Später erst hat mir Else davon erzählt, viel zu spät, wie ich finde. Seitdem sage ich nicht mehr gerne „Mama“ zu ihr, sondern nenne ich sie am liebsten bei ihrem Vornamen.

Mit der Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl, dass Paul damals weniger aus politischen als aus privaten Gründen abgehauen ist. Nix wie weg von seiner Else wollte der. Warum, das wissen die Engel im Himmel. Ich jedenfalls habe keinen Schimmer.

Besonders liebevoll sind die beiden nicht miteinander umgegangen. Sie haben sich oft gestritten, doch kriegte ich kaum mit, über was. Als ich noch klein war, fand ich das total normal, doch später konnte ich bei anderen Familien beobachten, wie schön es sein kann, wenn sich die Eltern richtig lieb haben und sich nicht andauernd zanken.

Ich vermisse Papa immer noch, nenne ihn heimlich „Pauli“, aber keiner weiß, wo er sich jetzt aufhält. Nach der Scheidung hätte er angeblich nichts mehr von sich hören lassen, sagt Else. Von ihr erfahre ich überhaupt nichts. Was habe ich nicht alles schon versucht, sie gelöchert ohne Ende, doch sie redet nicht mehr von ihm. Schluss, aus, Ende.

Nach meiner Ausbildung werde ich nicht hier bleiben. Ich will auf jeden Fall raus aus dem Dorf, am liebsten in eine große Stadt, vielleicht nach Ost-Berlin zu Erhard.

Aber oh je, das dauert ja noch Ewigkeiten.

Hoffentlich kriegen wir im nächsten Jahr einen anderen Klassenlehrer, denn der blöde Herr Sturhahn bringt es fertig und gibt mir eine Fünf auf dem Zeugnis. Damit schafft er es womöglich, mich durch die Prüfung rasseln zu lassen, und ich fürchte, das möchte der gerne. Der mag mich nicht leiden.

Ganz anders ist Lehrer Mücke. Eigentlich heißt er „Herr Fuß“. Wir schwärmen alle für den, denn er ist ja sowas von hübsch. Wir nennen ihn „Herr Mücke“ oder „Mückenfuß“, weil er jeden Tag eine Fliege um den Hals trägt. Unsere Buben, sie sind in der Minderheit, denn es sind nur vier in der Klasse, ärgern ihn ständig. Die sind eifersüchtig, weil wir Mädchen diesen Lehrer anhimmeln. Neulich trugen alle vier morgens eine Fliege um den Hals. Als Mückenfuß erschien, haben sie, wie auf Kommando, die Fliege schief nach unten gezogen. Da wurde der arme Lehrer richtig verlegen und ganz rot im Gesicht - voll süß!

Jetzt bin ich müde. Ich finde, für den Anfang habe ich ganz schön viel aufgeschrieben. Stelle fest: meine Kladde ist überaus praktisch. Allerdings ist nun die halbe Nacht vorbei.

Mittwoch, 25. Dezember 1985

Eine Karottenhose hat Mückenfuß nicht - Quatsch. Aber ich - große Freude - habe eine gekriegt.

Hat lang genug gedauert, doch endlich hab ich sie, meine Karottenhose, sogar mit Steg. Die sind jetzt voll in Mode. Ein paar Mädchen aus meiner Klasse tragen bereits so eine und geben fürchterlich damit an. Meine ist zwar handgenäht, doch das sieht man ihr nicht an. Hätte das nicht erwartet von der Else, ich meine, dass sie mir so ein schönes Weihnachtsgeschenk macht. Nähen kann sie, das muss man ihr lassen, kochen aber auch, richtig lecker. Ich bin froh, dass sie nicht so fettiges Zeug fabriziert wie Doros Mama. Nee, bei uns zuhause schmeckt es fast immer gut.

Jedoch ich wollte von meiner neuen Hose erzählen. Mama hat bestimmt heimlich daran gearbeitet, während ich in der Kanzlei war. Die Überraschung war umso größer, als ich sie am Heiligen Abend auspackten durfte.

Manchmal kann Mama richtig lieb sein.

Vielleicht hat sie ja mal darüber nachgedacht, dass ich Recht habe. „Immer nur für die anderen nähen für Geld, Geld, immer nur für Geld!“ habe ich ihr vorgeworfen. Ich glaube nämlich, dass sie nur ans Geldverdienen denkt. Klar, Geld ist wichtig, aber doch nicht alles.

Egal - heute ist Weihnachten, weiße Weihnachten sogar, und ich kann gar nicht einschlafen vor lauter Freudigkeit. Deshalb bin ich vorhin aufgestanden, um noch ein paar Wichtigkeiten in mein Tagebuch zu schreiben.

Es war ein wunderschöner Heiligabend, obwohl, Heiligabend ist immer schön!

„Immerschönchen“, hat Ronny mal die Doro gerufen, aber das war die reinste Veräppelung. Die ganze Klasse hat gekichert, doch Doro hat sich voll was darauf eingebildet.

Seitdem himmelt sie den Ronny an und dieser Drollo merkt das nicht einmal.

Apropos Doro, da muss ich grad ans Essen denken. Doro isst doch so gern. Gestern Abend gab es bei uns Kartoffelsalat und Würstchen - wimmer - und einen Haufen Gebäck - wimmer.

Das soll „wie immer“ heißen.

Ronny redet so. Wenn er „western“ sagt, heißt das: „wie gestern“. Er ist der Klassenclown. Mit seinen Sprüchen bringt er uns oft zum Brüllen. Seit Neuestem spricht er in einer Hühnersprache, die geht ungefähr so:

Ichichteficht findindefing dichichteficht zumumdefung Piependefeng.

Das soll heißen: „Ich finde dich zum Piepen“. Irgendwie finde ich den Ronny auch zum Piepen.

Sogar Apfelsinen hat Else für Weihnachten aufgetrieben.

Möchte wissen, wie sie das mal wieder geschafft hat.

Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes erzählen, etwas aus der Kanzlei: Der Herr Anwalt, mein Chef also, hat letzte Woche mit dem ganzen Büro eine Weihnachtsfeier im „Rauchfang“ gemacht - allerdings nicht freiwillig, denn diese Feier haben wir Mädchen ihm eingebrockt.

Das war so: Der Chef hatte sich vor unserem traditionellen Herbstausflug gedrückt. Eine absolute Gemeinheit, die nicht ungestraft bleiben durfte. Er weiß doch, wie sehr wir diese Ausflüge lieben, besonders seine Witze und Sprüche über den „Goldenen Oktober“ und den „Herbst als Färber.“ Keiner kann so spaßig erzählen wie er, und jedes Mal kriegen wir Bauchweh vor lauter Lachen, wenn er Episoden aus dem Gerichtssaal von sich gibt, dabei maßlos übertreibt und sich über seine Mandanten lustig macht. Dabei guckt er so furchtbar ernst und finster drein, dass man vor ihm Angst haben könnte, und nur wer ihn gut kennt, merkt sein Grinsen; das ist aber nur innwendich.

Einmal, so erzählte er, wär ein Angeklagter während der Hauptverhandlung aufgesprungen, um das Fenster aufzureißen. Dabei soll er gerufen haben: „Ich lasse die Gerechtigkeit rein.“

Bei Scheidungsfällen ist für uns besonders die obligatorische Frage nach dem Datum vom letzten ehelichen Verkehr interessant. Peinlich, wenn man im Diktat sitzt und alles mitschreiben muss. Dieses Datum könnte wichtig sein wegen der Schuldfrage. So genau weiß ich das aber nicht. Vielleicht macht sich der Chef auch nur einen Spaß mit solchen Fragen; das würd ich ihm voll zutrauen. Kann auch sein, dass ab diesem Zeitpunkt das sogenannte Trennungsjahr beginnt. Ist mir eigentlich auch egal, denn ich werde sowieso nie heiraten, und wenn man Kinder haben will, kann man die auch so kriegen. So ne Scheidung kostet nämlich einen Haufen Geld.

Freitags muss unsere Schreibkraft schon mal Überstunden machen, denn wenn der Chef so kurz vor dem Wochenende eine neue Ehesache gekriegt hat, macht er noch am gleichen Tag den Schriftsatz fürs Gericht fertig, obwohl er sich bei anderen Sachen durchaus Zeit lässt.

Warum? „Am Wochenende kommt der Einigmacher, da wollen wir uns doch zumindest die Prozess Gebühr sichern.“ Dem Anwalt geht es auch nur ums Geld.

Das größte Ekel ist unser Bürovorsteher, der Herr Wetzel. Der ist richtig fies. Vorige Woche zum Beispiel, da passierte auf der Straße, direkt vor unserem Bürofenster, ein Autounfall. Und was macht dieser Wetzel? Stürzt sich Hals über Kopf aus der Tür und wedelt mit ner Vollmacht und nem ausgefüllten Honorarschein. „Ich habe alles gesehen. Ich bin ihr Zeuge“, brüllte er.

Gemein! Zum Glück standen die Leute so unter Schock, dass sie die Prozessvollmacht nicht unterschreiben wollten. Wär dem Wetzel egal gewesen wie der Fall ausgeht. Eigentlich geht’s dem aber nicht in erster Linie ums Geld, sondern er will sich beim Chef einschleimen. Hat’s bitter nötig, weil er oft zu spät ins Büro kommt, und dann noch mit ‘ner Alkoholfahne. Unser Chef andererseits ist auf ihn angewiesen, weil Wetzel sich beim Gebührenrecht auskennt wie kein zweiter, aber ich will gerade jetzt nicht an den blöden Wetzel denken. Heute ist Weihnachten, und ich bin immer noch ganz rappelig vor lauter Freude.

Jetzt bin ich ganz von meinem eigentlichen Thema abgekommen. Ich wollte doch aufschreiben, wie wir unseren Chef reingelegt hatten. Also, nach dem entgangenen Betriebsausflug hatten wir einen Zahlungsbefehl ausgefüllt, formvollendet auf einem Vordruck: „Büro Rechtsanwalt Otto gegen Rechtsanwalt Otto.“ Damit haben wir den Chef zur Zahlung von Schmerzensgeld für den entgangenen Ausflug verdonnert, zuzüglich Mahngebühr und Auslagen. Dieses Formular schummelten wir unter die normale Post in die Unterschriftenmappe und hofften, dass er es nicht merkt und blind unterschreibt. Meistens ist er nämlich zu faul, um die ganze Post durchzulesen. Nee - das stimmt auch nicht immer. Manchmal ist er übergenau, liest alles dreimal durch und sucht förmlich nach Fehlern. Man kann sich halt nie drauf verlassen. Es kommt immer auf seine Laune an.

Ein Beispiel von letzter Woche:

„Hiiilde!!!“ Wenn er so brüllt, ist er nicht mehr lustig. „Auftritt vor Gericht, das gibt es nicht“, schrie er, zerknüllte das Schreiben und warf es in hohem Bogen in den Papierkorb. „Einen Auftritt gibt es beim Theater. Bei Gericht heißt das Auftreten. Dann gibt es noch einen Abtritt. Weißt du wenigstens, was ein Abtritt ist?“

Das Gute an ihm ist allerdings, dass er nie nachtragend ist, vielleicht auch nur vergesslich. Jedenfalls hat er seinen eigenen Zahlungsbefehl unterschrieben - ungelesen.

Zum Piepen war das, aber er war uns überhaupt nicht böse. Im Gegenteil, er hat sich halb kaputt gelacht, und von dem so erstrittenen Geld ging er mit uns in den „Rauchfang“ essen.

Es ist schon halb drei und hier im Haus total still. Auch auf der Straße ist es ganz ruhig. Da fallen mir grad ein paar Zeilen von einem schönen Gedicht ein, welches wir mal in der Schule gelernt haben, darin kommt vor: „wie so weit und still die Welt“ - den Rest hab ich vergessen.

Stille Nacht, heilige Nacht

Mittwoch, 1. Januar 1986

Heilige Nacht? Nee, die Silvesternacht war nicht mehr heilig.

Mir ist jetzt noch übel. Was habe ich gekotzt!

Else mag nicht, wenn ich so rede und kritisiert mich dann andauernd. Dann kann sie einem schon mal den Nerv töten. Statt „kotzen“ soll ich „brechen“ sagen. Das würde sich feiner anhören. Unter „brechen“ stelle ich mir aber was ganz anderes vor: Blumen brechen zum Beispiel, oder Geschirr.

Mama! Ich habe nicht gebrochen, weder Blumen noch ne Blumenvase; ich habe gekotzt wie ein Reiher - lauter roten Likör!

In meinem ganzen Leben werde ich nie nie wieder keinen Kirschlikör mehr trinken, kann ihn nicht mal riechen, schon beim Denken daran - igitt, da schüttelt’s mich grad schon wieder! Wein ist was anderes. Wein ist fein, aber Likör ist kein Wein. Warum sagt mir das keiner?

Der war nämlich viel stärker als der Kirschwein, den Else selber macht, wenn wir in dem Jahr viele Sauerkirschen haben. Diesen darf ich immer probieren. Der ist sehr lecker. Aber dieser Likör von gestern Nacht war super süß, ja. Daher spürte ich die verheerende Wirkung erst nach einigen Gläsern. Da war es zu spät. Voll besoffen war ich - nicht betrunken - nee, das wäre die absolute Verniedlichung - besoffen, liebe Mama, besoffen war dein Kindchen!

Nie nie wieder werde ich so ein klebriges Zeug saufen.

Heute hatten wir Verwandtenbesuch zum Mittagessen. Ich hasse diese Muss-Tage, die Else eingeführt hat. Das sind die Tage, an denen man was machen muss, etwa Leute, die man gar nicht mag, einladen und „Post Neujahr“ sagen oder „Frohe Ostern“ wünschen zumBeispiel. Darauf legt Else besonderen, wie ich finde, abartigen Wert. Es gab Thüringer Klöße, wie immer, oder wimmer, wie Ronny sagen würde. Zum Glück hat Else gar nicht gemerkt, dass ich ihre Klöße mit der fettigen - igitt! Gänsebratensoße nicht angerührt hatte. Else hat die Gans vor zwei Tagen selbst geschlachtet, und ich (!) sollte ihr dabei zur Hand gehen. Hätte geheißen, dass ich das Vieh festzuhalten hatte, während sie ihm den Kopf abhaut. Das muss man sich mal vorstellen! Die Frieda war’s. Unsere Gänse haben nämlich Namen, die meisten jedenfalls. Und ausgerechnet Frieda musste dran glauben.

Ich hatte mich hinter der Laube versteckt, als sich Mama mit feuerrotem Gesicht und dem entsetzlichen Beil in der Hand auf den Weg zum Stall machte. Oh je, nur nicht mehr daran denken wie kurz danach die kopflose Gans weglaufen wollte, nicht jetzt.

Mir wird schon wieder übel.

Bestimmt war Else erleichtert, dass ich heute nichts zu Mittag gegessen hatte. Womöglich hätte der Braten dann nicht ausgereicht für die vielen hungrigen Mäuler. Ich konnte beobachten, dass sie sich selbst nur Klöße mit einem Haufen Soße auf ihren Teller geschaufelt hatte, um das Fleisch den anderen zu überlassen.

Ihre Kusinen haben während des Essens ununterbrochen über Krankheiten gelabert. Doch was um alles in der Welt gehen mich die Krampfadern von Anita und die Fettleber der alten Tante Olga an. Richtig verwandt bin ich mit denen doch sowieso nicht.

Mittlerweile habe ich es aufgegeben, Else nach meinen leiblichen Eltern zu fragen. Auf eine Antwort kann ich womöglich warten bis ich schwarz werde, aber spätestens wenn ich volljährig bin werde ich mich auf die Suche machen. Ich habe sogar schon einen Plan, doch den behalte ich ganz alleine für mich. Nicht mal meinem Tagebuch werde ich diesen Plan anvertrauen. Man weiß ja nie. Zumindest kennenlernen muss ich meine richtigen Eltern, vor allem meine Mama. Irgendwo muss sie ja sein. Warum hat sie mich weggegeben? Denkt sie noch manchmal an mich? Sehe ich ihr ähnlich? Fragen über Fragen. Alles muss ich herauskriegen, alles. Wäre ich doch nur schon achtzehn.

Eigentlich wollte ich von gestern Nacht erzählen, von der Silvesterfeier in der Schenke. Unsere halbe Klasse war dort, doch mir wird gerade wieder schlecht.

Draußen ist es dunkel. Nur der Beinahe-Vollmond leuchtet durch die Dachluke auf mein Kopfkissen. Das mag ich, denn dann fühle ich mich nicht so allein. Ab und zu rede ich sogar mit dem Himmelskörper, und manchmal antwortet er mir, und dann bringt er mich dazu, meine Erlebnisse aufzuschreiben; weiß der Himmel, warum.

Das erzähl ich natürlich keinem, das ist mein Geheimnis. Gut, dass ich hierfür meine Kladde habe. Heute sagt er nichts, der da oben, er lächelt nur mit seinem schiefen Mund, oder - lacht er mich aus?

Nachdem ich nun ein paar Stunden fest geschlafen habe, geht es mir etwas besser, aber in die Jugendschenke bringen mich trotzdem keine zehn Pferde mehr und schon gar keine hundert Ronnys. Soll die Doro ohne mich dahin.

Die wird mich sowieso nicht vermissen.

Warum ist Ronny nicht gekommen? Er hatte es mir fest versprochen, mich sogar im Büro angerufen. Und ich habe ihm geglaubt. Ich Trottel hätte ihm womöglich alles geglaubt. Den ganzen Abend behielt ich die Eingangstür im Blick und jedes Mal wenn sie aufging, blieb mir beinahe das Herz stehen. Bis Mitternacht hab ich gewartet und dann - immer noch gehofft er käm auf einmal herein geschneit, würde mich in den Arm nehmen, sich für seine Verspätung entschuldigen - und küssen - küssen!

Wie kann man nur sooo blöd sein?

Nach dem Feuerwerk um Mitternacht kam Doro mit der entsetzlichen Flasche Kirschlikör. Den hatte sie ihrer Mama aus dem Vorratsschrank stibitzt. Schmeckte gut, schmeckte nach mehr! Doch davon wurde ich auf einmal so traurig, und irgendwann saß ich der dicken Wirtin auf dem Schoß und habe Rotz und Wasser geheult.

Danach wurde mir furchtbar flau im Magen und ich lief aus der stickigen Kneipe hinaus auf die Straße und rannte über ein hartgefrorenes Feld. Frag mich einer, wie ich heimgekommen bin. Ich weiß es nicht mehr, weiß nur noch, dass ich entsetzlich fror, denn ich hatte meinen Mantel vergessen.

Doro hat das nicht mitgekriegt, mich nicht einmal vermisst. So sehr war sie mit sich selbst beschäftigt, nee, mit dem Kerl, mit dem sie andauernd knutschte. Den kenne ich überhaupt nicht.

Doro hatte ihn an diesem Abend erst kennengelernt und nur noch Augen für ihn gehabt. Kann das ein Mensch verstehen? Ich nicht. Immerhin brachte sie mir heute Mittag meinen Mantel zurück; hat sich danach aber sehr schnell verdrückt.

Mir gefällt mein Zimmer hier oben. Am liebsten würde ich immer nur auf meinem Bett liegen und durchs Dachfenster zu den Sternen hinauf gucken. Der Himmel ist so weit weg.

Außer dem leisen Ticken der Uhren ist es sehr ruhig. Meine Wanduhr liebe ich besonders; sie ist ein Geschenk von meinem Bruder, und er hat selbst das Zifferblatt aufgemalt. In dieses Ticken mischt sich mein kleiner Fratzenwecker ein. Die beiden ergänzen sich in ihrem Ticke-Tack, und wenn die Tür auf ist, tickt die Uhr im Flur stets dazwischen, und dann höre ein ganz bestimmtes Wort - ganz deutlich. Es ist aber nicht immer dasselbe Wort. Im Moment ticken sie: Ham - pel - man, immer wieder. Manchmal sagen die Uhren noch was Blöderes wie zum Beispiel: Tief - kühl - truh oder Kir - schen - baum.

Morgen muss ich ins Büro, weil es um den Jahreswechsel herum keinen Urlaub gab.

Zum Glück sind aber noch Schulferien.

Mittwoch, 14. Februar 1986

Zack, bum, schon sind sie rum, die Schulferien.

Fasching ist auch schon rum, und in der Schule schreiben wir grässliche Klassenarbeiten, immer wieder den Fall: „Kling gegen Bim, Bum und Bam“, Lieblingsnamen von Sturhahn, passt zu dem.

„Ich bin dir eine Entschuldigung schuldig“, las ich auf meinem Heftdeckel - Ronny? Das war kurz nach den Winterferien. Als ich zurückblickte, sein Patz ist in der letzten Bank, hat er mich ganz zerknirscht angeschaut - sooo süß.