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1906, ein Jahr nach der Novellensammlung 'Naturgewalten', erschien 'Einer Mutter Sohn'. Auch dieser Roman hat seinen Ausgangspunkt in der Landschaft der Eifel, in der kargen Weite des Hohen Venn, die Clara Viebig eindrucksvoll zu schildern weiß. Die Geschichte, die im wesentlichen in Berlin spielt, handelt von einem gut situierten Ehepaar, das keine Kinder haben kann und deshalb einen Jungen adoptiert. Es ist allerdings mehr ein 'Kaufen' des fremden Kindes, und die leibliche Mutter, eine Witwe, gibt es nur her, um mit dem Geld die Not ihrer anderen Kinder zu lindern. In einer ärmlichen Kate im Venn wird dieser Verkauf ausgehandelt, und es ist, als wollte nicht nur die Mutter ihr Kind lieber behalten. Auch das Hohe Venn mit seinen Nebelfetzen und seinen stürmischen Winden scheint sich dagegen zu sträuben, daß der Junge fortgebracht, daß dem Venn etwas genommen werden soll. Und es keimt der Zweifel auf, ob diese Reise dem Kleinen letztlich das Glück bringen wird, das seine neuen Eltern ihm von Herzen wünschen.'Über den Scheitel des großen Venns kroch der kleine Wagen. Die Winde wollten ihn hinunterblasen wie ein winziges Käferchen. Immer wütender stießen sie gegen das Gefährt, kläfften und heulten wie mit Wolfsgeheul, winselten um seine Räder, schnauften um seine Wände; stemmten sich vorn ihm entgegen und zerrten von hinten wie mit gierigen Zähnen daran: weg mit dem hier. Und weg auch mit denen, die darinnen saßen!
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Seitenzahl: 475
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Clara Viebig
Einer Mutter Sohn
Rhein-Mosel-Verlag
1
Sie waren ein schöngeistig veranlagtes Ehepaar, und da sie das Geld hatten, künstlerische Neigungen zu pflegen, schriftstellerte er ein wenig, und sie malte. Sie spielten auch vierhändig und sangen Duette, wenigstens hatten sie es in der ersten Zeit ihrer Ehe getan; jetzt besuchten sie um so fleißiger Konzerte und die Oper. Überall, wohin sie kamen, gefielen sie; sie besaßen Freunde, man nannte sie ›charmante Leute‹, und doch fehlte ihnen etwas zum Glück – sie hatten keine Kinder.
Und sie würden wohl auch keine mehr bekommen, waren sie doch nun schon über die Zeit hinaus verheiratet, in der einem die Kinder geboren werden.
In unbewachten Augenblicken, wenn er in seinem Bureau am Schreibtisch saß, besonders aber, wenn er auf seinen Ritten, die er, teils seiner Gesundheit wegen, teils noch aus Liebhaberei von der Kavalleristenzeit her, in die weitere Umgebung Berlins machte, märkische Dörfer passierte, wo auf sandigen Straßen Scharen von kleinen Flachsköpfen sich tummeln, seufzte er wohl und zog die Stirn in Falten. Aber er ließ es seine Frau nicht merken, daß er etwas vermißte, denn er liebte sie.
Sie aber konnte sich nicht so beherrschen; je höher die Zahl der Ehejahre stieg, desto nervöser wurde sie. Ohne Grund war sie zuweilen gereizt gegen ihren Mann; über die Geburtsanzeigen in der Zeitung sah sie mit einer gewissen Scheu beharrlich weg, und fiel doch einmal ihr Blick auf: ›Die glückliche Geburt eines Knaben zeigen hocherfreut an‹ und so weiter, legte sie hastig das Blatt hin.
Früher hatte Käte Schlieben allerlei niedliche Kindersachen gestrickt, gehäkelt, genäht, – sie war ordentlich berühmt wegen der Zierlichkeit ihrer mit blau und rosa Band ausgeputzten Erstlingsjäckchen, jede ihrer jungverheirateten Bekannten erbat von ihr solch ein Wunderwerk – nun hatte sie diese Art von Handarbeit aufgegeben. Sie hoffte nicht mehr. Was half es ihr, daß sie ihre Zeigefinger in die winzigen Ärmelchen des Erstlingsjäckchens steckte und, es vor sich hinhaltend, dieses mit träumerischem Blick lange, lange ansah?! Es machte ihr nur Pein.
Und die Pein war doppelt fühlbar in jenen grauen Tagen, die ohne Grund plötzlich da sind, die auf leisen Sohlen auch mitten im Sonnenschein gehuscht kommen. Dann lag sie auf dem Ruhebett in ihrem mit allem Geschmack wahrhaft künstlerisch ausgestatteten Zimmer und kniff die Augen zu – von der Straße herauf, von der Promenade unter den Kastanienbäumen, stieg ein Ruf auf, hell, durchdringend, jauchzend wie segelnder Schwalben Schrei. Sie hielt sich die Ohren zu vor diesem Schrei, der weiter drang als jeder andre Ton, der sich pfeilschnell hinauf in den Äther schwang und hoch und selig sich wiegte. Sie konnte so etwas nicht hören. Das wurde krankhaft.
Ach, wenn sie nun beide alt waren, schwer aufnahmefähig, zu müde, um sich die Anregung zu holen, wer würde ihnen die dann ins Haus bringen?! Wer würde ihnen etwas zutragen von all dem da draußen? Ihnen mit seiner Frische, mit der Freudigkeit, die die Zwanzig umhüllt wie ein köstliches Gewand, die wie Wärme und Sonne von faltenlosen Stirnen strahlt, einen Hauch der Jugend wiedergeben, die ihnen nach den Gesetzen der Zeit schon entschwunden war?! Wer würde sich begeistern an dem, was sie einst begeistert hatte und das sie nun wiederum genossen, als wäre es auch ihnen neu?! Wer würde mit seinem Lachen Haus und Garten füllen, mit jenem sorglosen Lachen, das so ansteckend wirkt?! Wer würde sie mit warmen Lippen küssen und sie froh machen mit seiner Zärtlichkeit?! Wer würde sie auf seinen Schwingen mittragen, so daß sie nicht fühlten, daß sie müde waren?!
Ach, den Kinderlosen blüht keine zweite Jugend! Niemand würde das Erbe antreten, das sie hinterließen an Schönheitsfreude, an Schönheitssinn, an Begeisterung für Kunst und Künstler, niemand würde ein pietätvoller Hüter sein all jener hundert Sachen und Sächelchen, die sie mit Geschmack und Sammlerfreude in den Räumen ihrer Wohnung zusammengetragen hatten. Ach, und niemand würde, wenn jene letzte schwere Stunde kommt, vor der alle bangen, mit liebenden Händen die erkaltende Hand festhalten wollen: »Vater, Mutter, geht nicht! Noch nicht!« – O Gott, o Gott, solch liebende Hände würden ihnen nicht die Augen zudrücken – – –!
Wenn jetzt Schlieben aus dem Kontor nach Hause kam – er war Mitinhaber einer großen Handelsfirma, die sein Großvater einst begründet und sein Vater zu hohem Ansehen gebracht hatte –, fand er das liebenswürdige Gesicht seiner Frau oft rotfleckig, den ganzen zarten Teint durch anhaltendes Weinen zerstört. Und der Mund zwang sich nur zum Lächeln, und in den schönen braunen Augen lauerte es wie Trübsinn.
Der Hausarzt zuckte die Achseln: die gute Frau war eben nervös, sie hatte zuviel Zeit zum Grübeln, war zu sehr sich selbst überlassen!
Um dies zu ändern, schied der besorgte Ehemann für unbegrenzte Zeit aus dem Geschäft aus: seine Sozien machten das ja auch ebensogut ohne ihn, der Arzt hatte recht, er mußte sich mehr seiner Frau widmen, sie waren ja beide so allein, so ganz und gar aufeinander angewiesen!
Man beschloß, auf Reisen zu gehen; es war ja durchaus kein Zwang da, zu Hause zu bleiben. Die schöne Wohnung gab man auf; die Möbel, die ganze kostbare Einrichtung kam zum Spediteur. Wenn es einem gefiel, konnte man nun Jahre fortbleiben, Eindrücke sammeln, sich zerstreuen, Käte würde in schönen Gegenden landschaftern, und er, Schlieben, nun, wenn ihm die gewohnte Arbeit fehlte, konnte er ja leicht in schriftstellerischer Tätigkeit Ersatz finden!
Sie reisten nach Italien und Korsika, noch weiter, nach Ägypten und Griechenland; sie sahen das schottische Hochland, Schweden und Norwegen, unendlich viel Herrliches.
Dankbar drückte Käte ihrem Paul die Hand; sie schwelgte. Ihr empfängliches Gemüt begeisterte sich, und ihr nicht ganz unbedeutendes Maltalent fühlte sich auf einmal mächtig angeregt. Ach, all das malen können, auf der Leinwand festhalten, was an Farbenglut und Stimmungszauber sich dem entzückten Auge enthüllte!
Am Morgen schon zog die Eifrige mit ihren Malsachen aus, ob’s nun auf dem Felsen von Capri, am blauen Bosporus oder im gelben Sand der Wüste, ob’s angesichts der schroffen Zacken der Fjorde oder in den Rosengärten der Riviera war. Ihr zartes Gesicht verbrannte; selbst auf ihre Hände, die sie sonst sorgfältig gepflegt hatte, achtete sie nicht mehr. Das Fieber der Betätigung hatte sie erfaßt. Gott sei Dank, jetzt konnte sie etwas schaffen! Das klägliche Gefühl eines nutzlosen Lebens war nicht mehr da, nicht mehr das peinigende Bewußtsein: dein Leben hört auf mit dem Augenblick, in dem deine Augen sich schließen, da ist nichts von dir, was dich überdauert! Jetzt hinterließ sie doch wenigstens etwas Selbstgeborenes – wenn’s auch nur ein Bild war. Die Werke mehrten sich; eine ganze Menge von Rollen bemalter Leinwand schleppte man nun schon mit sich herum. Es hatte Schlieben anfänglich große Freude gemacht, seine Käte so eifrig zu sehen. Galant trug er ihr Feldstuhl und Staffelei nach und verlor nicht die Geduld, Stunden und Stunden bei ihrer Arbeit zugegen zu sein. Er lag im spärlichen Schatten einer Palme und folgte, über sein Buch wegblickend, den Bewegungen ihres Pinsels. Welch ein Glück, daß sie so viel Befriedigung in ihrer Kunst fand! Wenn es auch für ihn ein wenig ermüdend war, so untätig umherzuliegen – nein, er durfte doch kein Wort sagen, hatte er ihr doch nichts, gar nichts, als Ersatz zu bieten!
Und er seufzte. Das war derselbe Seufzer, der ihm entfahren war, wenn auf den sandigen Straßen der Mark die unzähligen Flachsköpfe spielten, derselbe Seufzer, den ihm die Sonntage entlockten, an denen er das ganze städtische Proletariat – Mann und Weib und Kinder, Kinder, Kinder, – hatte nach dem Tiergarten wallen sehen. Ja, schon recht – ein wenig nervös fuhr er sich über die Stirn – jener Schriftsteller hatte schon recht – welcher war es doch gleich? – der da einmal irgendwo sagte: ›Warum heiratet der Mann? Nur um Kinder zu haben, Erben seines Leibes, seines Blutes. Kinder denen er weitergeben kann, was in ihm ist an Wünschen, Hoffnungen und auch an Errungenschaften; Kinder, die von ihm abstammen wie die Schößlinge von einem Baum, Kinder, die dem Menschen ein Fortleben in Ewigkeit ermöglichen.‹ So allein war das Leben nach dem Tode aufzufassen – das ewige Leben! Die Auferstehung des Fleisches, die die Kirche verheißt, war zu verstehen als das Sicherneuern der eignen Persönlichkeit in folgenden Geschlechtern. Ach, es war doch etwas Großes, etwas unbeschreiblich Beruhigendes in solchem Fortleben!
»Grübelst du?« fragte Frau Käte. Sie hatte für einen Augenblick von ihrer Staffelei aufgesehen.
»Was – wie – sagtest du was, mein Herz?« Erschrocken fuhr er auf, wie ein auf verbotenem Wege Schweifender.
Sie lachte über seine Zerstreutheit: die wurde ja immer schlimmer! Woran dachte er nur? Geschäfte – sicher nicht! Aber vielleicht wollte er eine Novelle schreiben, einen Roman? Warum sollte er’s nicht einmal damit versuchen?! Das war doch etwas andres, als kleine Reiseplaudereinen an die ›Vossische‹ oder an die ›Frankfurter Zeitung‹ schicken! Und es würde ihm schon glücken; Leute, die nicht halb die Bildung hatten, nicht halb das Wissen, nicht halb das ästhetische Feingefühl wie er, schrieben doch ganz lesbare Bücher!
Sie redete heiter auf ihn ein, aber er schüttelte mit einer gewissen Resignation den Kopf: ach was, Romane, Schriftstellern überhaupt! Und er dachte: da sagt man immer, ein Werk ist wie ein Kind – aber, wohlverstanden, nur ein echtes, großes Werk –, das, was er und seine Frau schufen, waren das Werke in diesem Sinne, Werke, die Ewigkeitsbestand in sich trugen?! Er fand plötzlich an ihrem Bild, das er gestern noch galant bewundert hatte, heute streng zu tadeln.
Sie war ganz erschrocken darüber: warum war er nur heute so gereizt? Wurde er am Ende gar nervös? Ja, es war augenscheinlich, die laue Luft des Südens taugte ihm nicht, er sah abgespannt aus, so müde in den Mienen. Da half nichts, ihr Mann war ihr doch lieber als ihr Bild, sofort würde sie abbrechen!
Und so geschah es denn auch, sie reisten ab, reisten von einem Ort zum andern, von einem Hotel zu andern, an den Seen entlang, über die Grenze, bis sie auf einer Schweizer Alpenhöhe längere Rast machten.
Statt unter einer Palme lag er hier nun wieder im Schatten einer Tanne – seine Frau malte – und er folgte über das aufgeschlagene Buch weg mit den Blicken den Bewegungen ihres Pinsels.
Sie malte emsig, hatte sie doch ein reizendes Motiv entdeckt: diese grüne Alpenmatte mit einem Blumenflor, bunter denn bunt, mit den sonnbeglänzten Rücken der braunen Kühe, war anmutvoll wie der Paradiesgarten am ersten Schöpfungstag! Im Eifer des Sehens hatte sie den breitrandigen Schutzhut nach hinten geschoben, die warme Sommersonne sengte ungehindert goldene Tüpfchen auf ihre zarten Wangen und den schmalen Sattel der feinen Nase. Den Pinsel, den sie ins Grüne ihrer Palette getaucht hatte, hielt sie prüfend gegen das Grün der Matte und blinzelte mit halb geschlossenen Augen, ob die Farbe auch stimmte.
Da schreckte ein Laut sie auf – halb war’s ein Murren des Unwillens über die Störung, halb ein Brummen des Beifalls – ihr Mann hatte sich aufgerichtet und blickte auf ein paar Kinder, die sich ihnen lautlos genähert hatten. Sie boten Alpenrosen zum Kauf an, das Mädchen hatte ein Körbchen davon voll, der Junge trug seinen Strauß in der Hand.
Waren das wunderhübsche Geschöpfe, das Mädchen so blauäugig sanft, der Junge ein Erzschelm! Der Frau schwoll das Herz; sie kaufte den Kindern all ihre Alpenrosen ab, gab ihnen sogar mehr dafür, als sie forderten.
Das war den kleinen Schweizern so recht ein Glück – noch mehr bekommen, als man fordert?! Vor Freude eröteten sie, und als die fremde Dame sie liebreich ausfragte, fingen sie freimütig an zu plaudern.
Die Kinder mußte sie malen, die waren zu entzückend, die waren ja tausendmal schöner als die schönste Landschaft!
Schlieben sah es mit einer seltsamen Unruhe, daß seine Frau die Kinder malte; erst das größere Mädchen, dann den kleinen Buben. Mit welcher Hartnäckigkeit hing ihr Blick an dem runden Knabengesicht! In ihren Augen war Glanz, sie schien nie müde zu werden, machte nur Pause, wenn die Kinder nicht mehr Geduld hatten. All ihr Denken drehte sich um diese Malerei: Würden die Kinder auch heute kommen? War die Beleuchtung gut? Um Gottes willen, es würde doch kein Unwetter werden, das die Kinder abhielt?! Nichts anderes hatte Interesse für sie. Das war eine große Hingabe. Und doch wurden es schlechte Bilder; die Züge ähnlich, aber keine Spur der Kindesseele darin. Er sah es klar: Die Kinderlose kann nicht Kinder malen!
Arme Frau! Mit einem Gefühle tiefen Mitleids sah er ihren Bemühungen zu. Wurde ihr Gesicht nicht mütterlich weich, lieblich rund, wenn sie sich zu den Kindern neigte? Der Typus der Madonna – und doch waren dieser Frau Kinder versagt – – –!
Nein, er konnte sich dies nicht länger mehr mit ansehen, es machte ihn krank! Unwirsch hieß Schlieben die Kinder nach Hause gehen. Die Bilder waren fertig, wozu noch länger daran herumpinseln, das machte sie nicht besser, im Gegenteil – – –!
An diesem Abend weinte Käte so, wie sie zu Hause geweint hatte. Und sie zürnte ihrem Manne: warum ließ er ihr nicht diese Freude?! Warum hieß es so plötzlich: abreisen?! Sie kannte ihn gar nicht wieder – waren die Kinder nicht lieb, entzückend, störten sie ihn denn?!
»Ja«, sagte er nur. Es war ein harter, trockener Klang in seiner Stimme – ein so mühsames ›Ja‹ –, sie hob das Gesicht aus dem Taschentuch, in das sie hineingeweint hatte, und sah zu ihm hin. Er stand am Fenster des teppichbelegten Hotelzimmers, die Hände auf die Fensterbrüstung gestützt und die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. So sah er stumm in die große Landschaft, in der Berggipfel voll abendsonnenfrohen Firns von ewiger Unvergänglichkeit redeten. Wie kniff er die Lippen, wie nervös zuckte sein Schnurrbart!
Sie schlich zu ihm hin und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Was fehlt dir?« fragte sie leise. »Entbehrst du die Arbeit – ja, die Arbeit, nicht wahr? Ich fürchtete es schon. Es wird dir langweilig, du mußt wieder in Tätigkeit. Ich versprech dir’s, ich will verständig sein – nie mehr klagen – nur bleibe jetzt noch ein bißchen hier, nur noch drei Wochen – zwei Wochen!«
Er blieb stumm.
»Nur noch zehn – acht – sechs Tage! Auch das nicht mal?!« Sie sagte es schmerzlich enttäuscht, er hatte verneinend den Kopf geschüttelt. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals: »Ach, dann wenigstens zwei Tage noch!«
Sie schluchzte auf, ihre Arme lösten sich von seinem Halse – zwei Tage mußte er doch zugeben!
Ihre Stimme schnitt ihn durchs Herz; so hatte er sie noch nie bitten hören, aber er stemmte sich gegen die Nachgiebigkeit, die ihn beschleichen wollte: nur keine Sentimentalität! Es war besser, hier rasch abzubrechen, viel besser für sie!
»Wir reisen morgen !«
Und als sie ihn ansah mit weitgeöffeten, schreckensstarren Augen, tief erbleicht, da entfuhr es ihm, ohne daß er es sagen wollte, herausgelockt von einer Bitterkeit, deren er nicht mehr Meister wurde: »Sie sind ja doch nicht dein!«
2
Und sie reisten ab. Aber es war, als sei mit der smaragdgrünen Alpenmatte, auf der sie die lieblichen Kinder gemalt hatte, der Frau auch jede Freudigkeit entschwunden. Da war wieder ganz der alte nervöse Zug in ihrem Gesicht, die Mundwinkel senkten sich ein wenig abwärts, und sie war leicht geneigt, zu weinen. Mit einer förmlichen Angst beobachtete Schlieben seine Frau: ach, war denn nun wirklich alles umsonst gewesen, das Aufgeben seiner Tätigkeit, dieses ganze lange, abspannende, planlose Herumreisen?! Hatte die alte, trübe Stimmung sie wieder gepackt?!
Wenn er sie so lässig dasitzen sah, die Hände unbeschäftigt im Schoß, überkam es ihn wie Wut: warum tat sie nichts, warum malte sie denn nicht? Es brauchte doch nicht gerade auf jener verwünschten Alpenwiese zu sein! War es denn nicht auch hier schön?!
Sie hatten sich im Schwarzwald niedergelassen; aber von Tag zu Tag hoffte er vergebens, daß eines der grünen stillen Waldtäler sie reizen würde, ihre Malsachen hervorzusuchen, oder eins der bräunlichen Schwarzwaldmädchen mit dem Kirschenhut und dem riesigen, roten Regenschirm, wie Vautier sie gemalt hat. Sie hatte keine Lust, ordentlich eine Art Scheu, den Pinsel wieder anzufassen.
Er machte sich im geheimen bittere Vorwürfe: wäre es nicht besser gewesen, ihr die Freude zu lassen, nicht dazwischen zu fahren?! Und doch – einmal hätte die Sache ein Ende nehmen müssen, und je länger sie angedauert hätte, desto schwerer wäre die Trennung gewesen! Das stand nun fest, mit dem Spätherbst wollten sie wieder nach Berlin heimkehren. Er hielt es beim besten Willen nicht länger mehr so aus; des Umherziehens von Hotel zu Hotel, des Bummelns durch die Welt, das keine andre Frucht zeitigte, als ab und zu mal ein kleines Feuilleton, eine Reiseplauderei über ein noch weniger bekanntes Stückchen Erde, war er herzlich müde. Er sehnte sich wieder nach einer eigenen Häuslichkeit, verlangte brennend nach der geschäftlichen Tätigkeit, die, solange er darinnen war, ihn oft als eine Fessel und so nüchtern gedeucht hatte. Aber Käte – – – –! Wenn er daran dachte, daß sie nun wieder viele Stunden einsam zu Hause verbringen würde, sich ganz auf sich und Lektüre beschränkend, denn, übersensitiv wie sie war, fand sie wenig Gefallen am Umgang mit anderen Frauen, dann überkam ihn Hoffnungslosigkeit. Da würden wieder dieselben trüben Augen sein, dieses gleiche, melancholische Lächeln, die alten gereizten Stimmungen, unter denen das ganze Haus litt, sie selber am meisten.
Und er betrachtete sich selber wie anklagend; er ging sein ganzes Leben zurück: hatte er etwas verbrochen, daß ihm kein Sohn beschieden war, keine Tochter?! Ja, wenn Käte ein Kind hätte, dann wäre alles gut, sie wäre vollauf beschäftigt, ausgefüllt durch dieses Wesen, um das sich Elternliebe, hoffnungsvoll und hoffnungsberechtigt, in ewig erneutem Kreise dreht!
Beide Eheleute quälten sich, denn der Frau Gedankenwanderungen endeten erst recht immer an diesem einen Punkte. Jetzt, nachdem sie von jenen lieben Kindern geschieden war, von diesem, ach, viel zu kurzen Sommerglück, schien es ihr erst ganz klar geworden zu sein, was sie entbehrte – hatte es nicht vorher nur wie eine schmerzliche Ahnung auf ihr gelastet?! Aber jetzt, jetzt war die grausam deutliche Gewißheit da: alles, was man sonst in der Welt ›Glück‹ nennt, ist nichts gegen den Kuß eines Kindes, gegen sein Lächeln, sein Schmiegen in der Mutter Schoß!
Sie hatte die Kinder auf der Matte beim Kommen und Gehen immer zärtlich geküßt, nun sehnte sie sich nach diesen Küssen. Ihres Mannes Kuß ersetzte ihr diese nicht; sie war nun bald fünfzehn Jahre verheiratet, der Kuß war keine Sensation mehr, er war zu einer Gewohnheit geworden. Aber der Kuß von Kinderlippen, die so frisch, so unberührt, so scheu doch so zutraulich sind, der war ihr etwas ganz Neues gewesen, etwas unendlich Süßes. Ein Glücksgefühl hatte ihre Seele dabei durchrieselt, zugleich mit dem physischen Behagen, ihren Mund in diese duftig-weichen und doch so prallen Wangen versenken zu können, die von Gesundheit und Jugend flaumig behaucht waren wie die Bäckchen eines Pfirsichs. Immer wieder irrte ihre Sehnsucht zu der Alpenmatte zurück; und diese ihre ungestillte Sehnsucht vergrößerte das Erlebnis, umgab die Gestalten, die so flüchtig in ihrem Leben aufgetaucht waren, mit dem ganzen Glorienschein zärtlicher Erinnerung. Ihre unbeschäftigten Gedanken spannen lange Fäden. Wie sie sich nach den Kleinen sehnte, so würden sie sich auch nach ihr sehnen, weinend würden sie über die Matte irren, und das reiche Geldgeschenk, das sie für jedes von ihnen beim Wirt des Hotels hinterlassen – hatte sie doch fortgemußt, ohne ihnen Adieu zu sagen –, würde sie nicht trösten, vor der Tür würden sie stehen und nach den Fenstern hinaufäugen, aus denen ihre Freundin ihnen so oft gewinkt hatte. Nein, das konnte sie Paul nicht verzeihen, daß er so wenig Verständnis gezeigt hatte für ihr Empfinden!
Der Aufenthalt im Schwarzwald, dessen sammetige Wiesenhänge zu sehr an die Mattten der Schweiz erinnerten, von dessen Aussichtspunkten man an hellen Tagen zur Alpenkette hinüberblicken konnte, wurde beiden Schliebens zur Qual. Es trieb sie fort; die dunklen Tannen, dieser grüne, tiefe Wald wurde ihnen zu eintönig. Sollten sie es nicht einmal mit einem Seebad versuchen? Das Meer ist alle Tage neu. Und die Saison für die See war auch da; schon wehte der Wind über Stoppelfelder, als sie in die Ebene hinabfuhren.
Sie wählten ein belgisches Seebad, eines, in dem man Toilette macht und ein ganz internationales Publikum täglich etwas Neues zu sehen bietet. Sie empfanden es beide: viel zu lange waren sie in stillen Gebirgseinsamkeiten gewesen!
An den ersten Tagen machte ihnen das bunte Treiben Spaß, aber dann waren sie, zwischen die sich in letzter Zeit etwas wie eine trennende Wand hatte schieben wollen, beide plötzlich ganz einig: hier dieses Auf und Ab von Männern, die Gecken glichen, von Frauen, die, wenn sie der Demimonde nicht angehörten, diese doch mit Erfolg kopierten, war nichts für sie! Nur fort!
Schlieben machte den Vorschlag, jetzt endgültig die Reise aufzugeben und schon etwas früher nach Berlin zurückzukehren, aber davon wollte Käte nichts wissen. In ihr war eine geheime Angst vor Berlin – ach, wieder in die alten Verhältnisse zurückkehren?! Sie hatte sich bis jetzt gar nicht gefragt, was sie eigentlich von dieser langen Reisezeit erhofft hatte; aber sie hatte etwas erhofft – ja! Was?!
Ach, nun würde sie wieder so viel allein sein und nichts, nichts war da, was sie ganz erfüllte!
Nein, sie war noch nicht imstande, nach Berlin zurückzukehren! Sie sagte ihrem Manne, daß sie sich noch erholungsbedürftig fühle – gewiß war sie bleichblüchtig, blutarm! Längst hätte sie Schwalbach, Franzensbad, irgendein Stahlbad besuchen sollen – wer weiß, vielleicht wäre dann manches anders!
Er war nicht ungeduldig – wenigstens zeigte er es ihr nicht – denn ein tiefes Mitleid mit ihr begann in ihm zu wachsen. Natürlich wollte sie in ein Stahlbad; man hättte das längst versuchen sollen, versuchen müssen!
Der belgische Arzt schickte sie nach dem berühmten Spaa. Hoffnungsvoll kamen sie dort an. Bei ihr war die Hoffnung ganz echt. »Du sollst sehen«, sagte sie heiterer zu ihrem Mann, »hier wird’s mir gut tun. Ich habe so ein unbestimmtes Gefühl – nein, eigentlich das ganz bestimmte Gefühl, daß uns hier etwas Gutes widerfährt!«
Auch er hoffte; er zwang sich dazu, zu hoffen, ihr zuliebe. Oh, und es wäre ja schon genug, der Erfüllung genug, wenn die Eigenart der Landschaft ihr so viel Interesse abgewänne, daß sie die gänzlich vernachlässigte Malerei wieder aufnähme! Wie froh würde er schon darüber sein! Wenn sich der frühere Eifer zur Kunst wieder einstellte, so war das tausendmal heilbringender als die stärkste Eisenquelle Spaas.
Die Heide blühte, all die weiten Flächen des Hochlands waren rot, in Purpur versank die purpurne Sonne.
Es kam, wie er gehofft hatte; das heißt, zu malen fing sie nicht an, aber sie unternahm mit ihm Touren in die Ardennen und in die Eifel, zu Fuß und zu Wagen, und hatte Freude daran. Das Venn hatte es ihr angetan. Sie stand in ihrem lichten Kleid wie ein kleiner heller Punkt in dem ungeheuren Ernst der Landschaft, schirmte die Augen mit der Hand gegen die hier so unbehinderte, durch keinen Baum, keinen Berg gehemmte Sonnenaussicht und zog in tiefen Atemzügen die herbe, gläserne, noch von keinem Rauch menschlicher Wohnungen, kaum von Menschenodem versehrte Luft ein. Um sie blühte das Venn wie ein gleichfarbener Teppich, tief, ruhig, dem Auge ein wohltuendes Labsal; nur selten reckte sich dazwischen blauer Enzian und die leicht schaukelnde weiße Flocke des Wollgrases.
»O wie schön!« Das sagte sie mit tiefster Empfindung. Die Melancholie der Landschaft schmeichelte ihrer Stimmung. Da war kein bunter Ton, der sie störte, kein Durcheinander von Farben. Selbst die Sonne, die hier schöner untergeht als anderswo – so tief errötend, daß der ganze Himmel mit errötet, daß der schlängelnde Vennbach, von Moospolstern eingesäumt, jede Lache, jede wassergefüllte Torfgrube rotgolden widerstrahlt und das traurige Venn einen Mantel trägt voll leuchtender Herrlichkeit – selbst diese Sonne brachte keinen grell-heiteren Schein. Groß, würdevoll, eine ernste Siegerin nach ernstem Kampfe, zeigte sie ihr gewaltiges Riesenrund.
Mit großen tränenden Augen sah Käte in diese wunderbare Sonne, bis das letzte Strählchen, das letzte rosige Äderchen im Wolkengrau versiegt war: so ging sie sterben – der Himmel war tot –, aber am Morgen stand sie doch wieder da, eine ewig-unvergängliche, nie besiegte Hoffnung! Sollte, durfte da das Menschenherz nicht auch wieder schlagen, neu belebt, immer in Hoffnung?!
Nebel huschten übers Moor, verschleierte, unbeschreibbare, ungewisse Erscheinungen; ein Raunen ging vor dem Wind, ein Lispeln durch Kraut und Wollgras – es war Käte, als habe das Venn ihr etwas zu sagen. Was sagte es?! Ah, das war nicht umsonst, daß sie hier gehalten wurde, sich festgehalten fühlte wie mit starker und doch gütiger Hand!
Sie ging, gleichsam suchend, mit rascherem, elastischerem Schritt.
Schlieben war glücklich über das Gefallen, das seine Frau an der Gegend fand. Er konnte dieser Landschaft freilich keinen besonderen Geschmack abgewinnen – war es nicht reichlich öde, monoton und unfruchtbar hier? Aber gewiß, Stimmung, sehr viel Stimmung hatte die eigentümliche Szenerie – nun, und wenn sie sich darin behagte, war ihm die doch lieber als das Paradies!
Sie fuhren oft hinaus bis zur Baraque Michel, jenem einsamen Wirtshaus auf der Grenze von Belgien und Preußen, in dem die Grenzjäger ihren Wacholderschnaps trinken, wenn sie auf Schmuggler fahnden, und wo die Torfarbeiter ihre nebelfeuchten Kittel und durchnäßten Stiefel am stets brennenden Herdfeuer trocknen.
So viele Kreuze im Venn, so viele Verunglückte. Mit heimlichem Grausen hörte Käte die Erzählungen der Leute – das Venn, konnte das so furchtbar sein? – und sie fragte sie immer wieder von neuem aus. War’s möglich, jener Mann aus Xhoffraix, der nach Torfstreu gefahren, war hier versunken, mit Karren und Pferd, so dicht am Weg, und man hatte nie, nie wieder etwas von ihm zu Gesicht bekommen?! Und dort das Kreuz, so verwittert und schwarz, wie kam das mitten ins Moor?! Warum hatte sich nur der Handwerksbursche, der auf der Poststraße von Malmedy nach Eupen wandern wollte, so weit ab verlaufen? War es denn Nacht gewesen oder ein Schneetreiben, daß er nicht hatte sehen können, oder Kälte, grimmige Kälte, bei der ein Müder erfriert? Nichts von alledem; nur Nebel, plötzlicher Nebel, der so verwirrt, das man nicht mehr geradeaus weiß, noch rückwärts, weder links noch rechts, jegliche Richtung verliert, von der Straße abkommt und im Kreise umherrennt wie ein sinnlos verängstigtes armes Tier. Und alle die Nebel, die im Venn steigen, wenn’s Tageslicht auslischt, sind das die Seelen der Unbestatteten, die in zerfallenen Gewändern allnächtlich ihren durch keinen Segensspruch, durch kein Weihwasser geweihten Grüften entsteigen?!
Das war ein Märchen. Aber war’s nicht überhaupt hier wie im Märchen? So ganz anders als irgendwo sonst in der Welt, eigentlich häßlich und doch nicht häßlich, eigentlich nicht schön und doch so über alle Maßen schön?! Und sie selbst, war sie hier nicht eine ganz Andere, ging sie nicht erwartungsvoll, selig-verträumt, wie eine, die etwas Wunderbares erleben soll?! –
Es war in der sechsten Woche ihres Aufenthaltes in Spaa. Die Nächte waren schon winterkalt, die Tage aber noch sonnig. Es war immerhin eine weite Fahrt hinauf zur Baraque, auch für die kräftigen Ardennengäule, aber Mann und Frau waren heute doch wieder oben. Hieß es nun bald scheiden?! Ach ja – mit Wehmut mußte sich’s Käte eingestehen – es war sehr herbstlich, das Heidekraut verblüht, die Luft rauh; das in der Nacht schon gefroren gewesene Gras raschelte unter ihren Füßen. Man konnte winterliche Kleidung gebrauchen.
»Hu, wie kalt«, sagte fröstelnd Schlieben und schlug sich den Kragen des Überziehers in die Höhe. Er wollte seiner Frau ein Tuch um den Hals schlingen, aber sie wehrte sich dagegen: »Nein, nein!« Eiligen Schrittes lief sie vor ihm her durchs raschelnde Kraut. »Sieh nur!«
Es war ein weiter Ausblick, der sich ihnen bot, hier auf der höchsten Erhebung des Venns, die ein wackeliges Holztürmchen ziert. Die ganze große heidebewachsene Hochfläche lag vor ihnen, darauf ab und zu ein dunkelragendes Tannentrüppchen, das nur auf der dem Sturm abgekehrten Seite breitende Äste zeigte. Ängstlich geduckte Schonungen, kaum höher als das Kraut und nur durch die andre Farbe erkenntlich. Und hier und hier, und da und dort ein grauer Findlingsblock und ein zur Seite gewehtes Kreuz. Und eine Stille darüber im herbstlich bleichen Mittagslicht, als sei hier Gottesacker.
Als sie auf das Türmchen geklettert waren, sahen sie noch mehr. Sie sahen von der Hochfläche zu Tal: rundum eine blaue Weite, blau vom Dunkel der Wälder und vom Duft des Herbstes, und im schönen Blau langgestreckte Dörfer, die weißen Häuser halb verborgen hinter hohen Schutzhecken. Und hier, nach Belgien hinab, mit seinem grauen Dunst wie eine Wolke in der klaren, kristallhellen Herbstluft lagernd, das große Verviers, überragt von Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen.
Käte seufzte auf und schauderte unwillkürlich zusammen: ach, so nahe schon Alltäglichkeit? Rückte ihrer wunderbaren Märchenwelt das graue Leben schon näher und näher?!
Schlieben hüstelte; er fand es reichlich kühl hier oben. Sie stiegen vom Türmchen herunter, aber als er sie zur Baraque zurückführen wollte, widerstrebte sie: »Nein, noch nicht, noch nicht! Es läutet ja erst Mittag!«
Von der Kapelle Fischbach her, jenem schieferbekleideten, uralten Kirchlein, in dessen Turm man früher die große rote Laterne hißte, um dem im wilden Meer der Nebel schwimmenden Wanderer den rettenden Port zu weisen und unablässig die Glocke rührte, um – versagte das Auge – durchs Ohr den Irrenden zu retten, läutete es. Hell und durchdringend rief das Glöckchen in die Einsamkeit – der einzige Laut der großen Stille.
»Wie rührend ist dieser Klang!« Käte stand mit gefalteten Händen und sah schwimmenden Auges in die große Weite hinaus. Welch ein Zauberer wohnete in diesem Venn?! Er umspann die Seele, wie das zähe Gestrüpp der Heide und die kriechenden Ranken des Schlangenmooses den Fuß umstrickten. Wenn sie daran dachte, daß sie nun bald von hier scheiden mußte, fortgehen aus dieser ungeheuren Stille, die ein Geheimnis zu bergen schien, ein Wunderbares hegte im tiefen Schoß, krampfte ihr Herz sich zusammen in plötzlicher Angst: wie würde es nun mit ihr werden, was mit ihr geschehen?! Ihre suchende Seele stand wie ein Kind verlangend auf der Schwelle des Märchenlandes – sollte ihr denn keine Gabe werden?!
»Was war das?!« Mit einem halblauten Ruf des Erschreckens griff sie plötzlich den Arm ihres Mannes: »Hast du’s nicht auch gehört?«
Sie war ganz blaß geworden; mit groß aufgerissenen Augen stand sie da, sich unwillkürlich auf den Zehen hebend und den Hals reckend.
»Nun wieder! Hörst du’s?« Etwas wie das leise Wimmern eines Kindes war an ihr Ohr gedrungen.
Nein, er hatte nichts gehört: »Es werden wohl Menschen in der Nähe sein. Käte, wie du einen aber erschrecken kannst!« Ein wenig ärgerlich schüttelte er den Kopf. »Du weißt doch, jetzt sind alle Weiber und Kinder aus den Venndörfern draußen, um Preiselbeeren zu sammeln. Sonst haben sie ja nichts zu ernten. Sieh mal, jetzt sind die Beeren hochreif!« Er bückte sich und pflückte ein Stäudchen.
Wunderschön stand das Träubchen der tief korallenfarbenen Beeren gegen das glänzende Dunkelgrün der ovalen Blättchen. Aber auch Blüten waren noch am Stäudchen, kleine weiße, reine Blüten.
»Wie Myrte, genau wie Myrtenblüte« sagte sie und nahm ihm das Stäudchen aus der Hand. »Und die Blättchen sind auch gerade wie Myrtengrün!« Den Stengel zwischen den Fingern drehend, sah sie sinnend darauf nieder: »Die Myrte des Venns.« Und die kleine Blume entzückt an ihren Mund hebend, küßte sie sie.
»Weißt du noch – damals – an unserm Hochzeitsabend, weißt du noch? Du hast die Myrte aus meinem Kranz geküßt, und ich habe sie auch geküßt, und dann küßten wir uns. Damals – damals – oh, wie glücklich waren wir damals!« Sie sagte es sehr weich, wie verloren in einer süßen Erinnerung.
Er lächelte, und wie sie sich näher zu ihm neigte, unverwandt den verträumten Blick auf das grüne Stäudchen geheftet, zog er sie an sich und legte den Arm um sie. »Und sind wir heute nicht – nicht« – er wollte sagen ›nicht ebenso glücklich‹, aber er sagte nur: »nicht auch glücklich?«
Sie antwortete nicht, sie verharrte stumm. Aber dann, mit einer jähen Bewegung das glänzende Grün von sich schleudernd, wendete sie sich ab und lief fort von ihm, blindlings, weglos ins Venn hinein.
»Käte , was ist dir denn?!« Erschrocken hastete er hinter ihr her; sie lief so rasch, daß er sie nicht gleich einholen konnte. »Käte, du wirst noch hinstürzen! Aber so warte doch! Käte, was hast du?!«
Keine Antwort. Aber an den zuckenden Bewegungen ihrer Schulter sah er, daß sie heftig weinte. Ach, was war das nun wieder?! Bekümmert war sein Gesicht, als er hinter ihr drein rannte übers öde Venn. Sollte es denn nie besser mit ihr werden? Da sank einem ja wahrhaftig jeglicher Lebensmut! Es war auch eine Torheit gewesen, sie hierher zu bringen – geradezu eine Verrücktheit! Hier war ja keine Heiterkeit zu finden. Eine Trostlosigkeit lauerte in dieser unbegrenzten Weite, eine schreckhafte Härte in dieser herb duftenden Luft, eine unerträgliche Schwermut in dieser großen Stille!
Schlieben hörte nur das eigne erregte Atmen. Immer rascher lief er, eine heftige Angst um seine Frau erfaßte ihn plötzlich. Jetzt hatte er sie beinahe erreicht – schon streckte er die Hand aus, sie am flatternden Kleid zu haschen – da drehte sie sich um, warf sich ihm an die Brust und schluchzte: »Ach, hier ist beides: Blüte und Frucht! Aber unsre Myrte ist abgeblüht und hat nicht Frucht getragen – nicht Frucht – wir armen Leute!«
Also das – das war’s wieder?! Verwünscht! Er, der sonst so Gemäßigte, stampfte heftig mit dem Fuß auf; Zorn, Scham und ein gewisses Schmerzgefühl jagten ihm das Blut zu Kopfe. Da stand er nun in einer Öderei, hielt seine zum Erbarmen weinende Frau in den Armen und kam sich selber höchst kläglich vor.
»Sei nicht böse, sei nicht böse«, bat sie und drückte sich fester an ihn. »Siehst du, hier hatte ich gehofft – gewartet – ich weiß selbst nicht recht auf was, aber immer gewartet – und heute – eben ist ’s mir klar geworden: es war doch alles, alles umsonst! Laß mich weinen!«
Und sie weinte wie jemand, dem alle Hoffnung gestorben ist.
Was sollte er ihr sagen? Wie sie trösten? Er wagte kein Wort, strich ihr nur sacht übers heiße Gesicht und fühlte, wie auch ihn ein Gefühl beschlich, das er nicht immer die Kraft hatte, beiseite zu schieben.
So standen sie lange stumm, bis er, sich zusammennehmend, in einem Ton, der gleichgültig-ruhig zu klingen bemüht war, sagte: »Wir müssen zurückgehen, wir sind hier ganz in die Wildnis geraten. Komm, nimm meinen Arm! Du bist ermüdet, und wenn wir – – –«
»Still« unterbrach sie ihn und ließ hastig seinen Arm fahren. »Wieder wie vorhin! Es klagt was!«
Nun hörte er’s auch. Sie horchten beide: war das ein Tier? Oder die Stimme eines Kindes, eines ganz kleinen Kindes?!
»O Gott!« Weiter sagte Käte nichts, aber sie machte, kurz entschlossen, eine Wendung nach rechts und lief eilig, ohne acht zu haben, daß sie mehrmals stolperte im schier undurchdringlichen Beerengestrüpp, zu einer kleinen Bodensenkung hinunter.
Ihr feines Ohr hatte sie recht geführt. Da lag das Kind auf der Erde. Es hatte kein Kissen, keine Decke, war recht erbärmlich eingebündelt in einen alten, zerschlissenen Frauenrock. Sein Köpfchen, das dunkel behaart war, lag im bereiften Kraut; mit den großen, klaren Augen guckte es starr in die Helle, die zwischen Himmel und Venn flimmerte.
Da war kein Schleier, keine schützende Hülle; auch keine Mutter – nur das Venn.
Sie hatten sich doch getäuscht: es weinte nicht, es grahlte nur so vor sich hin, wie stillzufriedene Kinder zu tun pflegen. Seine kleinen Händchen, die nicht mit eingebündelt waren, hatten um sich gefaßt, einige der roten Beeren gegriffen und zerquetscht. Dann waren die Fäustchen zum hungrigen Mündchen gewandert; die Säuglingslippen waren betropft mit Beerensaft.
»So allein?!« Käte war in die Knie gesunken, ihre Hände umfaßten zitternd das Bündel. »Um Gottes willen, das arme Kind! Oh. wie reizend es ist! Sieh’ nur Paul! Wie kommt es hierher? Es wird erfrieren! Verhungern! Ruf’ mal Paul! Das arme Würmchen! Wenn jetzt die Mutter käme, der würde ich es aber gehörig sagen – es ist schändlich, das hilflose Wesen so liegen zu lassen! Rufe – laut – lauter!«
Er rief, er schrie: »He, holla! Ist niemand da?«
Keine Stimme antwortete, kein Mensch kam. So still lag das Venn, als sei es eine ausgestorbene, längst vergessene Welt.
»Es kommt niemand«, flüsterte Käte ganz leise, und es war Angst und zugleich zitterndes Frohlocken in ihrer Stimme. »Die Mutter kümmert sich nicht – wer weiß, wo die hin ist?! Ob sie kommt?!« Spähend sah sie umher, reckte den Kopf nach allen Seiten, um ihn dann mit einem Seufzer der Befriedigung wieder auf das Kind herabzuneigen.
Was gehörte dazu für ein unverzeihlicher Leichtsinn – nein, was für eine unsagbare Rohheit, solch ein Würmchen hier preiszugeben! Wenn sie nun ein paar Stunden, nur eine Stunde später gekommen wären?! Da konnte es bereits von eine Schlange gebissen, am Ende gar von einem Wolf zerissen worden sein!
Nun mußte Schlieben doch lachen, obgleich ihn ein leises Mißvergnügen beschlichen hatte beim Anblick ihrer Exaltation. »Nein, mein Kind, Gifftschlangen gibt es hier nicht, und Wölfe auch nicht mehr, da kannst du dich beruhigen. Aber wenn die Nebel erst steigen, so hätten die genügt!«
»Oh –!« Schaudernd preßte Käte den Findling an sich. Sie kauerte jetzt auf den Hacken und hielt das Kind im Schoß. Ihr Zeigefinger kitzelte schäkernd unter dem kleinen Kinn; sie streichelte die rosigen Bäckchen, das flaumige Köpfchen, erschöpfte sich in Liebkosungen und Schmeichelnamen, aber unverwandt sah das Kind mit den großen, dunklen und doch so hellen Augen in die flimmernde Helle. Es lächelte nicht, es weinte aber auch nicht; es schenkte den Fremden gar keine Beachtung.
»Glaubst du, daß man’s mit Absicht hier ausgesetzt hat?« fragte Käte plötzlich und machte die Augen weit auf. Eine heiße Blutwelle schoß ihr zu Kopf. »Oh, dann – dann« sie tat einen zitternden Atemzug und preßte das Kind an sich, als möchte sie es nicht wieder lassen.
»Die Sache wird sich schon irgendwie aufklären«, sagte Schlieben ablenkend. »Die Mutter wird schon kommen!«
»Siehst du sie – siehst du sie?« forschte sie fast ängstlich.
»Nein!«
»Nein!« Sie wiederholte es erleichtert und lächelte dann. Ihr Auge und Ohr gehörte nun ganz dem hilflosen Wesen. »Wo ist das liebe Kindchen – ei, wo ist es denn?! Lach’ doch mal! Sieh’ mich doch mal an mit deinen großen Guckaugen! O du liebes Geschöpf, o du süßes Kind!« Sie tändelte mit ihm und preßte Küsse auf seine Händchen, ohne zu achten, daß sie schmutzig waren.
»Was machen wir nun?!« fragte der Mann betreten. »Wir können es nicht hier liegen lassen. Selbstverständlich nehmen wir’s mit!« Die zarte Frau hatte plötzlich etwas sehr Energisches. »Glaubst du, ich werde das Kind im Stich lassen?!« Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten.
Mit einer gewissen Scheu sah Schlieben seine Frau an: wie war sie schön in diesem Augenblick! Schön, gesund, glücklich! So hatte er sie lange nicht gesehen. Nicht mehr, seit er sie als selige Braut in die Arme geschlossen hatte! Ihre Brust hob und senkte sich rasch unter bebenden Atemzügen, und an dieser Brust lag das Kind, und zu Füßen blühte die Myrte des Venns.
Eine seltsame Bewegung überkam ihn; aber er wendete sich ab: was ging sie das fremde Kind an?! Und doch gestand er zögernd zu: »Freilich hierlassen können wir’s nicht! Weißt du was? Wir wollen es bis zur Baraque mitnehmen. Gib her, ich will es tragen!«
Aber sie wollte es selber tragen, sie ließ sich nur von ihm auf die Füße helfen. »So – so – komm, mein liebes Kindchen!« Behutsam hob sie den Fuß zum ersten Schritt – da bannte ein Ruf sie an die Stelle.
»Heela!«
Eine rauhe Stimme hatte das gerufen. Und nun kam ein Weib auf sie zu: die Gestalt im flatternden Rock hob sich groß und scharf ab von dem sie umflutenden lichten Äther.
Woher kam die so plötzlich? Dort, hinter dem Erdwall her, den man bei der Torfgrube ausgeworfen hatte! Sie war auf allen Vieren gekrochen und hatte Beeren gepflückt; ein fast gefüllter Eimer hing ihr am Arm, und in der Rechten trug sie das hölzerne Maß und den großen, knöchernen Pferdekamm, mit dem die Beeren abgestreift werden.
Das war die Mutter! Ein tiefer Schreck befiel Käte, sie wurde blaß.
Auch Schlieben war betroffen; aber dann atmete er erleichtert auf: so war’s entschieden die beste Lösung! Natürlich, man hätte es sich ja gleich denken können, wie sollte das Kind wohl ganz allein ins öde Venn kommen?! Die Mutter hatte Beeren gepflückt und es derweilen hier niedergelegt!
Die Frau schien ihnen übrigens gar nicht Dank zu wissen, daß sie sich während ihrer Abwesenheit des Kindes so freundlich angenommen hatten. Mit einer ziemlich unsanften Bewegung nahmen die starkknochigen Arme das Kind der Dame ab. Mißtrauisch musterte der Blick des Weibes die Fremden.
»Ist es Ihr Kind?« fragte Schlieben. Es hätte der Frage nicht bedurft: das waren ganz dieselben dunklen Augen, nur daß sie bei dem Kinde glanzvoller waren, noch nicht vom Staube des Lebens getrübt, wie bei der Mutter.
Die Frau gab keine Antwort. Erst als Schlieben nochmals fragte: »Sind Sie die Mutter?« und zugleich in die Tasche griff, fand sie es der Mühe wert, kurz zu nicken: »C’est l’ mi’n!«[1] Ihr Gesicht blieb finster, ganz ohne Stolz oder Freude.
Mit einem gewissen empörten Staunen sah es Käte. Wie gleichgültig das Weib war! Hielt sie nicht das Kind, als wäre es ihr eine überflüssige Last?! Ein Neid kam sie an, ein quälender Neid, und zugleich ein heftiger Unwille: die da verdiente wahrhaftig das Kind nicht! Aus dem Arm hätte sie ihr’s reißen mögen. Wie roh das Gesicht war, grob die Züge, hart der Ausdruck! Die konnte einem ja ordentlich Angst machen mit ihrem finsteren Blick. Nur jetzt – leuchtete etwas darin auf; aha, sie sah das Geldstück, das Paul aus seiner Börse genommen hatte!
Pfui, wie gierig jetzt der Blick wurde!
Die Beerenzüchterin streckte die Hand aus – da war ein großes, blankes Silberstück – und als es ihr nun gereicht war, als sie’s hielt, atmete sie tief; ihre braunen Finger schlossen sich fest darum.
»Merci!« Ein Lächeln huschte flüchtig über das unfreundliche Gesicht, dessen Mundwinkel verdrossen hingen; die Stumpfheit des Ausdrucks belebte sich für Augenblicke. Und dann – das unförmig eingebündelte Kind auf einem Arm, am andern den schweren Eimer – schickte sie sich an, davonzutrotten.
Jetzt sah man erst, wie armselig ihr Rock war, er hatte Flicken in allen Farben und Größen. In den Zöpfen, die verfilzt und unordentlich unter dem buntbetupften Kattuntuch vorhingen, hafteten dürre Heide und Tannennadeln; sie ging in alten schwergenagelten Männerschuhen. Man wußte nicht, war sie schon bejahrt oder noch jung; der starke Leib, die schlaffen Brüste entstellten sie, aber daß ihr Gesicht einmal nicht unschön gewesen sein mußte, das sah man noch. Das Kleine glich ihr.
»Ein hübsches Kind haben Sie«, sagte Schlieben. Seiner Frau zuliebe fing er noch einmal die Unterhaltung mit der Unzugänglichen an. »Wie alt ist der Knabe?«
Die Beerensucherin schüttelte den Kopf und sah teilnahmslos am Frager vorbei. Mit der war wirklich nichts anzufangen, die war ja entsetzlich stupide! Schon wollte Schlieben sie endgültig gehen lassen, aber Käte drängte sich an seinen Arm und raunte ihm zu: »Frage sie, wo sie wohnt! Wo sie wohnt – hörst du?!«
»He, wo wohnen Sie denn, gute Frau?«
Sie schüttelte wiederum stumm den Kopf.
»Ich meine, wo sind Sie her? Aus welchem Dorf?«
»Je ne co’pré nay«[2], sagte sie kurz. Aber dann zugänglicher werdend – vielleicht, daß sie noch ein zweites Almosen erhoffte – hub sie in weinerlich klagendem Ton an: »Ne n’ava nay de pan et tat d’s e’fa’ts«[3]
»Sie sind wohl Wallonin?«
»Ay[4] – Longfaye!« Und sie hob den Arm und zeigte in eine Richtung, in der man nichts sah als Himmel und Venn.
Longfaye war ein sehr armes Venndorf; Schlieben wußte das und wollte noch einmal die Tasche greifen, aber er fühlte sich von Käte zurückgehalten: »Nein, der da nicht – der Frau nicht – du mußt es dem Gemeindevorsteher übergeben, für das Kind, für das arme Kind!«
Sie tuschelte sehr leise und aufgeregt schnell.
Das Weib konnte unmöglich etwas verstanden haben, aber der Blick der schwarzen Augen flog blitzschnell von dem Herrn zu der Dame und blieb voll Mißtrauen auf der feinen Städterin haften: wenn die ihr doch nichts geben wollte, was sollte sie sich dann noch länger ausfragen lassen; was wollte die von ihr?! Mit einem kaum merklichen Kopfnicken und einem knapp herausgestoßenen »Adieu« wandte sich die Wallonin ab. Gelassen, aber weitausholenden Schritts entfernte sie sich übers Venn; rasch kam sie vorwärts, ihre Gestalt wurde kleiner und kleiner, die Mißfarbe ihres ärmlichen Rocks war bald nicht mehr kenntlich im farblosen Venn.
Die Sonne war verschwunden mit dem Kind; plötzlich war alles grau.
Regungslos stand Käte und sah in die Richtung von Longfaye. Sie stand, bis ein Frösteln sie zusammenschauern ließ, und hing sich dann schwer an den Arm ihres Mannes; als sei sie auf einmal müde geworden, so ging sie stumm mit schleppenden Füßen der Baraque zu. –
Nebel begann den hellen Mittag zu verschleiern. Feuchtkalte Luft, die empfindlicher näßt als Regen, machte die Kleider klamm. In dichten Schwärmen flogen die Stechmücken der Sümpfe zu Tür und Fenstern der Baraque herein; drinnen brannte ein schwelendes Torffeuer, mit dünnen Tannenreisern zu lodernder Glut entfacht, und die Fliegen klebten sich an Herdwand und Decke – nein, sie wollten noch nicht sterben!
Der Herbst war da, Sonne und Wärme dem Venn entschwunden, jetzt tat man gut daran, zu fliehen.
Aber draußen, ganz in der Öde, überm höchsten Punkt des Venns, kreiste ein einsamer Bussard und stieß seinen durchdringenden, sieghaften Wildlingsschrei aus; dem war wohl hier, im Sommer wie im Winter, der wollte nicht fort von hier.
3
Der Gemeindevorsteher des kleinen Venndorfs war einigermaßen verwundert und verlegen, als so feine Herrschaften bei ihm vorfuhren und ihn zu sprechen wünschten. Durch die Jauche seines Hofes, die ihm bis an die Knie spritzte, ging er ihnen entgegen. Er wußte nicht, wo er sie hineinführen sollte, denn drinnen waren die Ferkel und das Kälbchen, und die alte Sau wälzte sich vor der Tür.
So gingen sie mit ihm auf der stillen Dorfstraße, von der die wenigen Gehöfte noch abseits liegen, auf und ab, während der Wagen langsam in tief ausgefahrenen Geleisen hinter ihnen dreinholperte.
Käte war blaß, ihren Augen sah man’s an, daß sie wenig Schlaf gefunden hatten. Jedoch sie lächelte, und eine erwartungsvoll-freudige Spannung war in ihren Zügen, sprach aus ihrem Schritt; immer war sie den andern ein wenig voraus.
Schliebens Gesicht war sehr ernst. War es nicht eine große Unbedachtsamkeit, eine grenzenlose Übereilung, die er jetzt beging, seiner Frau zuliebe?! Wenn es nicht zum Guten ausschlug?!
Es war eine böse Nacht gewesen. Seltsam stumm und wie geistesabwesend hatte er gestern Käte von der Baraque nach Hause gebracht, sie hatte nichts gegessen, und, große Ermüdung vorgebend, sich früh zur Ruhe gelegt. Aber als er, ein paar Stunden später, sein Lager aufsuchte, fand er sie noch nicht eingeschlafen. Sie saß aufrecht im Bett, ihr schönes Haar, das sie zur Nacht in zwei Zöpfe flocht, hing ihr lang herunter und gab ihr so das Aussehen einer ganz jungen Frau. Aus verstörten Augen sah sie ihn seltsam verlangend an, und dann schlang sie beide Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter.
Sie war so eigentümlich gewesen, so weich und doch so heftig, er hatte sie besorgt gefragt, ob ihr etwas fehle, aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn in stummer Liebkosung stets umfaßt.
Er glaubte sie endlich eingeschlafen – sie schlief auch, aber nur kurze Zeit – da war sie mit lautem Schrei wieder erwacht: sie hatte geträumt, so lebhaft geträumt – oh, wenn er wüßte, was sie geträumt hatte! Geträumt – geträumt –! Sie seufzte und warf sich und lachte dann leise in sich hinein.
Er merkte wohl, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, das sie ihm gern sagen wollte, und das sie sich doch nicht recht zu sagen traute. So fragte er sie.
Da hatte sie es ihm denn gestanden, stockend, schüchtern und doch mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erschreckte: es war das Kind, an das sie immerfort dachte, immerfort denken mußte – ach wenn sie das hätte! Das wollte sie haben, mußte sie haben! Die Frau hatte ja noch so viele Kinder, und sie – sie hatte keins! Und sie würde doch so glücklich mit ihm sein, ja, unsäglich glücklich!
Im Dunkel der Nacht, durch kein Wort von ihm unterbrochen, durch keine Bewegung – er hatte ganz still gelegen, fast wie gelähmt vor Überraschung, die doch nicht ganz eine Überraschung mehr war – hatte sie sich immer mehr gesteigert: was war ihr ganzes Leben? Eine immerwährende Sehnsucht! Alles, was er ihr an Liebe tat, konnte ihr doch das eine nicht ersetzen: ein Kind, ein Kind!
»Lieber, guter Mann, schlag’s mir nicht ab! Mach’ mich glücklich! So froh wird keine andre Mutter auf Erden sein – geliebter Mann, gib mir das Kind!« Ihre Tränen flossen, ihre Arme umklammertem ihn, ihre Küsse überschauerten sein Gesicht.
»Aber warum gerade dieses Kind?! Und so schnell entschlossen – das ist doch keine Kleinigkeit – man muß sich das erst sehr reiflich überlegen!«
Er hatte Einwendungen gemacht, Ausflüchte, aber sie hatte für alles schlagfertige Antworten bereit: was noch lange überlegen? Man würde doch zu keinem andern Resultat kommen! Und wie er nur denken konnte, daß die Frau das Kind vielleicht nicht geben würde? Wenn sie’s nicht liebte, gab sie’s gern, und wenn sie es liebte, würde sie es erst recht gern geben und Gott danken, es so gut versorgt zu wissen.
»Aber der Vater, Vater, wer weiß, ob der damit einverstanden ist?!«
»Ach, der Vater! Wenn die Mutter es gibt, der Vater sicherlich! Ein Brotesser weniger ist bei so armen Leuten immer ein Glück. Das arme Kind, es wird vielleicht sterben aus Mangel an Nahrung, während es bei uns so gut« – sie unterbrach sich – »ist es nicht wie eine Fügung, daß gerade wir ins Venn kommen, gerade wir es finden mußten?«
Er fühlte, daß sie ihn beredete, und er sträubte sich innerlich dagegen: nein, wenn sie sich denn schon von ihrem Gefühl so fortreißen ließ – sie war eben eine Frau –, so mußte er doch, als Mann, den Verstand über das Gefühl setzten!
Und er hatte ihr alle Bedenken aufgezählt, wieder und wieder, und als letztes ihr gesagt: »Du ahnst gar nicht, in welchen Zwiespalt du dich selber bringst! Wenn nun die Neigung, die du für das Kind zu empfinden glaubst, nicht standhält?! Wenn es sich dir nicht symphatisch entwickelt?! Bedenke, es ist und bleibt immer das angenommene Kind!«
Aber da war sie zornig aufgefahren: »Wie kannst du so etwas sagen?! Glaubst du, ich bin engherzig?! Eigen geboren oder angenommen, das ist ganz gleich, denn es wird mir angeboren durch die Erziehung. Ich werde es mir erziehen. Das ›Ausdemselbenblutsein‹ macht’s doch nicht! Bloß weil ich’s geboren habe, darum soll ich ein Kind lieben?! O nein! Ich liebe das Kind, weil – weil – nun weil es so ganz auf mich angewiesen ist, weil es so klein ist, so unschuldig, weil es unendlich süß sein muß, wenn so ein hilfloses Geschöpfchen die Ärmchen nach einem ausstreckt!« Und sie breitete die Arme aus und schloß sie denn an ihre Brust, als hielte sie so schon ein Kind am Herzen. »Du bist ein Mann, du verstehst das eben nicht. Aber du willst mich doch so gerne glücklich machen – mach’ mich jetzt glücklich! Lieber, geliebter Mann, du wirst ja so rasch vergessen, daß er nicht unser Eigengeborener ist, es bald gar nicht anders mehr wissen. ›Vater, Mutter‹ wird er zu uns sagen – und wir werden Vater, Mutter sein.«
Wenn sie recht hätte! Von einer seltsamen Empfindung durchrieselt, schwieg er. Und warum sollte sie nicht recht haben?! Ein Kind, daß man vom ersten Lebensjahre an ganz auf seine Weise erzieht, das man vollständig auslöst aus den Verhältnissen in denen es geboren worden ist, das nicht anders weiß, als daß es seiner jetzigen Eltern Kind ist, das da denken lernt mit ihrem Denken und fühlen mit ihrem Fühlen, das kann nichts Fremdes mehr haben. Das wird ein Teil des ureigensten Ichs, wird einem so lieb und teuer, als hätte man’s selber gezeugt!
Vor des Mannes Herzen stiegen Bilder auf, deren Anblick er nicht mehr erhofft, nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Er sah sein lächelndes Weib, auf dessen Schoß ein lächelndes Kind; sah sich selber lächeln und fühlte einen nie gekannten Stolz bei dem kindlich-zärtlichen Lallen: ›Va-ter!‹ Ja, Käte hatte schon recht, was man sonst Glück nennt, ist nichts gegen dieses Glück. Nur ein Vater, eine Mutter wissen, was Freude ist!
Er küßte seine Käte, und dieser Kuß war schon halbe Zustimmung, das hatte sie gefühlt.
»Laß uns morgen hinfahren, morgen, gleich früh!« bat sie, unterdrückten Jubel im Ton.
Er bemühte sich, gelassen zu bleiben: nein erst mußte man die Sache, nach eigner, reiflicher Überlegung, in Berlin mit dem Anwalt und auch mit sonstigen Vertrauensleuten besprechen!
Darüber geriet sie außer sich; halb schmollte sie, halb lachte sie ihn aus: war denn dies hier Geschäftssache? Was ging den Anwalt und andere Leute ihre tiefste, persönlichste Herzenssache an?! Niemand war darum zu befragen, niemand sollte sich da hineinmischen! Kein Mensch durfte ahnen, woher das Kindchen kam, von wem es abstammte! Sie, sie waren seine Eltern, sie kamen für es auf, sie waren sein Anfang und die Bürgen für seine Zukunft – ihr Werk, ganz ihr Werk war dieses Kind!
»Morgen holen wir es gleich! Je eher es aus dem Schmutz und der Verkommenheit herauskommt, desto besser – nicht wahr, Paul?« Sie ließ ihn gar nicht mehr zu Worte kommen, sie überschüttete ihn in sprudelnder Lebendigkeit mit Plänen und Vorschlägen; und ihr Überschwang schwemmte seine Bedenken mit fort.
Man kann auch zu bedenklich sein, zu übertrieben vorsichtig und sich so jede Lebensfreude verbittern, das sagte er sich. Was taten sie denn Außergewöhnliches? Sie hoben nur etwas auf, was ihnen vor die Füße gelegt worden war; sie gehorchten so einem Wink des Schicksals. Und da waren wirklich auch gar keine Schwierigkeiten. Wenn sie’s selber nicht verrieten, würde niemand die Herkunft des Kindes erfahren, und hier wiederum würde nicht groß Nachfrage nach dessen Verbleib sein. Es war ein namen-, ein heimatloses Etwas, das sie an sich nahmen und aus dem sie machten, was sie daraus machen wollten. Später, wenn man das Alter dazu hatte, adoptierte man dann den Kleinen in aller Form und legte so auch in Akten fest, was man im Herzen längst getan hatte. Jetzt galt es nur noch, den Gemeindevorsteher von Longfaye aufzusuchen und mit seiner Unterstützung die Abtretung seitens der Eltern zu erlangen!
Als Schlieben zu einem Entschluß gekommen war, plagte ihn gleiche Unruhe wie seine Frau. Diese stöhnte: wenn es doch erst morgen wäre! Wenn ihr nun jemand zuvorkäme, wenn das Kind nicht mehr da wäre morgen?! Sie warf sich rastlos hin und her in Ungeduld und Bangigkeit. Aber auch Schlieben wälzte sich schlaflos von einer Seite zur andern. Ob das Kind auch gesund war?! Einen Augenblick überlegte er besorgt, ob es nicht geraten sei, den Badearzt von Spaa ins Vertrauen zu ziehen – der könnte mitfahren und den Kleinen vorerst untersuchen – aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder: das Kind sah ja so kräftig aus! Er rief sich die derben Fäustchen zurück, den klaren Blick der blanken Augen – auf nacktem Boden, bei Kälte und Wind, ohne Schutz hatte es gelegen – es mußte eine Kernnatur haben. Darüber konnte man ruhig sein. –
Es war noch sehr früh am Morgen gewesen, als das Ehepaar sich aufgerafft hatte – müde, wie zerschlagen an allen Gliedern – aber von einer Art fröhlicher Entschlossenheit getrieben.
Käte lief im Hotezimmer hin und her, so geschäftig, so freudig erregt wie jemand, der einen lieben Gast erwartet. Sie war sicher, daß sie das Kind gleich mit herbringen würden. Jedenfalls wollte sie anfangen, die Koffer zu packen, denn wenn man das Kind hatte, dann nur nach Hause, so schnell als möglich nach Hause! »Das Hotel ist nichts für solch einen kleinen Liebling. Der mußte sein Kinderzimmer haben, einen freundlichen Raum mit geblümten Gardinen – nur dunkle nebenbei zum Vorziehen, um das Licht beim Schlafen zu dämpfen. – Sonst alles hell, leicht und luftig. Und eine Babykommode muß darin stehen mit den vielen Fläschchen und Näpfchen, und sein Badewännchen, sein Bettchen mit den weißen Mullvorhängen, hinter denen man ihn liegen sehen kann mit roten Bäckchen, die Fäustchen am Kopf, und fest schlummern!«
Sie war so jugendlich, so liebenswürdig in ihrer erwartungsvollen Freude, daß sie ihren Mann entzückte. Schien nicht der Sonnenschein, auf den er so lange vergeblich geharrt hatte, jetzt kommen zu wollen?! Er ging schon dem Kind vorher, fiel heiter verklärend auf dessen Weg. –
Die Eheleute waren beide bewegt, als sie gen Longfaye fuhren. Einen bequemen Landauer mit schließbarem Verdeck hatte sie heute genommen statt des leichten Zweisitzers, in dem sie sonst ihre Touren zu machen pflegten. Es könnte auf dem Rückweg zu kalt für den Kleinen werden! Decken und Mäntel und Tücher waren eingepackt, eine ganze Auswahl.
Schlieben hatte sich mit seinen Papieren versehen; man würde wohl kaum einen Ausweis von ihm verlangen, aber der Sicherheit halber, um einer etwa dadurch entstehenden Verzögerung vorzubeugen, steckte er sie ein. Man hatte ihm den Gemeindevorsteher von Longfaye als einen verständigen Mann genannt, so würde sich denn alles glatt abwickeln.
Wie die Ebereschen zu seiten der Straße unter der herbstlichen Last roter Beeren ihre Kronen senkten, so senkten sich auch die Häupter der beiden Menschen unter einer Flut von hoffnungsvollen Gedanken. Rasch flogen die Bäumchen am rollenden Wagen vorbei, rasch alle Etappen des Lebens am bewegten Gemüt. Fünfzehn Ehejahre – lange Jahre, wenn man wartet – erst mit Zuversicht, dann mit Geduld, dann mit Zaghaftigkeit, dann mit Sehnsucht – mit Sehnsucht, die von Jahr zu Jahr heimlicher wird, und in der Heimlichkeit immer brennender! Nun war die Erfüllung nah, freilich anders, als liebende Gatten sie sich ausmalen; aber doch eine Erfüllung.
Unabweislich kam der Frau das alte Bibelwort in den Sinn: ›Und als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn‹ – oh, dieses Kind aus der Fremde, aus dem Unbekannten, aus dem Land, das nicht Acker noch Früchte hat und nicht gesegnet ist mit reichen Ernten, dieses Kind war eine Gabe des Himmels, ein Geschenk seiner Güte! Sie beugte ihr Haupt wie gesegnet, des Dankes voll.