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Haben Sie sich schon länger vorgenommen, mal wieder laufen zu gehen, nur der innere Schweinehund lässt es nicht zu? Oder treibt ihnen allein der Gedanke an regelmäßige Bewegung schon den Angstschweiß auf die Stirn? Oder haben Sie Spaß am Laufen und wollen abseits vom durchgestylten Hochleistungssport neue Inputs gewinnen? Der leidenschaftliche Läufer Markus Teni berichtet von seinen über Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen und der Bedeutung von Bewegung generell. Dabei gibt er hilfreiche Tipps zur Ausrüstung, dem Training, der Ernährung und zeigt auf, wie leicht sich das Laufen in unseren oft schon zur Gänze ausgefüllten Alltag integrieren lässt und dass es letztlich egal ist, ob sie mit brandneuen, teuren Laufschuhen, schweren Bergschuhen oder barfuß laufen. Hauptsache, Sie fühlen sich gut damit. Darüber hinaus erklärt er, wie es gelingen kann, sich abseits des Wettkampfgedankens und ohne ständig auf der Jagd nach Bestzeiten zu sein, genügend zu motivieren, und wie sich das Laufen positiv auf Körper und Geist auswirkt. Durch dieses Buch schaffen Sie es: Werden Sie Ihr eigener Coach!
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Seitenzahl: 313
MARKUS TENI
Mit Bewegung zumehr Gesundheit undWohlbefinden
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1. Auflage 2022
© 2022 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Bild Cover: © Shutterstock/sutadimages
eISBN 978-3-99100-347-2
Einleitung
Wie konnte es so weit kommen?
Die Anfänge des Laufens
Der richtige Laufstil
Gesundheitliche Aspekte
Motivation und Training
Ernährung
Schlaf
Ausrüstung
Bewegungstier Mensch – Der geborene Läufer!
Und jetzt?
Die Kardinalstugenden des Läufers
Quellenverzeichnis
Autorenbiografie
Schon wieder ein neues Laufbuch? Ist denn nicht schon längst alles über dieses Thema geschrieben worden? Gibt es etwa neue, bahnbrechende Erkenntnisse diesbezüglich?
Eines gleich vorweg: Dies ist kein Buch von einem Profisportler, gespickt mit Geschichten aus der Welt des Spitzensports und umfangreichen Trainingsplänen, die für „Normalsterbliche“ in den meisten Fällen sowieso nicht zu bewältigen sind.
Das Material hat sich über einen längeren Zeitraum angesammelt und war zunächst nur dazu gedacht, mir das Laufen durch Wissen (und nicht Glauben) auf allen möglichen Gebieten zu vereinfachen. Die Idee, ein Buch über das Laufen zu schreiben, ist über die letzten Jahre langsam gewachsen. Auslöser war vor allem, dass der Wettkampf- und Leistungsgedanke die Freude an der Bewegung immer mehr zu ersticken droht. Alles und jedes muss genauestens gemessen und abgestimmt werden, Platzierungen und neuen Bestzeiten ist alles unterzuordnen. Auch Freizeitläufer sind sehr oft von diesem Leistungsdenken infiziert, dabei ist es doch unerheblich, ob man bei einem x-beliebigen Stadtmarathon den 5834. oder 6172. Platz belegt. Auf Außenstehende wirkt diese Art von Verbissenheit oft abschreckend und alles andere als motivierend, selbst einmal die Laufschuhe zu schnüren. Ansprechen möchte ich neben Läufern genau die Personen, die sich nicht oder nur ungenügend bewegen. Die zu viel Gewicht auf die Waage bringen, die eigentlich keine Zeit zum Laufen haben, für die Sport und Bewegung mit schlechten Erfahrungen aus der Kindheit zusammenhängen. Etwa den Jungen, der im Sportunterricht gehänselt wurde, weil er zu klein und dünn war. Oder das Mädchen, das ob seiner Leibesfülle gerade mal so eine Runde um den Sportplatz geschafft hat. An all diese Menschen, die Bewegung und vor allem das Laufen meist mit Widerwillen, Zwang, Anstrengung, Schmerzen und Scham in Verbindung bringen, wendet sich dieses Buch. Es geht überhaupt nicht darum, einen Marathon nach dem anderen zu absolvieren und sich bis an die Leistungsgrenze zu quälen, um immer zu den Besten zu gehören. Es geht darum, Bewegung wieder als etwas ganz Natürliches anzusehen, Spaß und Freude am Laufen zu haben und einfach sein Bestes zu geben. Die oft demütigenden Erlebnisse aus Kindheitsund Jugendtagen abzulegen und selbst zu erfahren, dass Bewegung nicht nur einigen wenigen Auserwählten vorbehalten ist, sondern sich jeder einigermaßen gesunde Mensch aufraffen kann. Und es geht vor allem auch darum, unseren Kindern ein positives Vorbild in puncto Bewegung zu sein und ihnen zu zeigen, dass ein gesunder und leistungsfähiger Körper mehr als ein Statussymbol ist.
Ich hatte weder die nötige Zeit noch das Geld, um jeden Aspekt des Laufens genauestens zu beleuchten und niederzuschreiben. Auch konnte ich nicht um die halbe Welt fliegen, um bekannte Spitzenläufer, Wissenschaftler, Sportpsychologen und Trainer zu befragen, oder um mit den San in Namibia auf die Jagd zu gehen oder von den Tarahumara in Mexiko in ihre Lauftechnik eingeführt zu werden. So habe ich aus der (vermeintlichen) Not eine Tugend gemacht und nur auf jene Informationen zurückgegriffen, welche auch dem Großteil der Bevölkerung frei zugänglich sind: Bücher, das Internet und persönliche Erfahrungen. Trotz dieser Einschränkung habe ich beim Schreiben und Recherchieren die Erfahrung gemacht, dass sich heutzutage ein riesiger Wissensschatz auf allen möglichen Gebieten angehäuft hat. Wer will, kann sich auch als Normalsterblicher mit durchaus brauchbaren Daten und Fakten versorgen.
Viele werden sich jetzt fragen: Was kann der mir Neues erzählen, was ich nicht schon weiß? Welche Referenzen hat er vorzuweisen? Von dem Typen habe ich ja überhaupt noch nie etwas gehört. Ich bin der kleine, schmächtige Junge, dem niemand je zugetraut hätte, jemals freiwillig auch nur ein paar Kilometer zu laufen, geschweige denn einen Marathon oder Traillauf zu bewältigen. Der ob seiner durchaus vorhandenen sportlichen Ambitionen von seinem Umfeld eher belächelt und demotiviert wurde, anstatt unterstützt und ermuntert zu werden oder Wege aufgezeigt zu bekommen, die er selbst gehen kann. Der eine oder andere hat vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht und wird sich darin womöglich auch wiedererkennen.
Genau darum geht es mir. Hier schreibt nicht der Überläufer, der beim Berlinmarathon auf den neuen Weltrekord losgeht oder sich monatelang akribisch auf den Badwater Ultramarathon vorbereitet, sondern der Typ von nebenan, berufstätig, Familienvater, mit allen damit verbundenen Verpflichtungen und dementsprechend wenig Zeit für ein minutengenau gesteuertes Trainingsprogramm. Jemand, der Regenerationsphasen eigentlich nur aus den schlauen Laufbüchern kennt, da nach der Laufeinheit schon der nächste berufliche oder private Termin wartet. Ich bin ein durchschnittlicher Läufer, mein Kilometerschnitt ist durchschnittlich, mein Trainingsaufwand ist durchschnittlich, meine Marathonzeiten sind durchschnittlich. Wo mir allerdings nur wenige das Wasser reichen können, ist meine Motivation zum Laufen. Ich bewege mich einfach unheimlich gerne, darin bin ich mindestens intergalaktischer Vize-Meister.
Außerdem bin ich jemand, dem die Aufrüstung in einer Sportart, die das Natürlichste darstellt, was der Mensch machen kann, unglaublich auf die Nerven geht. Das immer Höher, Schneller, Weiter in Verbindung mit der immer umfangreicher und teurer werdenden Ausrüstung, den neuesten Erkenntnissen aus der Ernährungslehre mit den daraus abgeleiteten – und sich oft widersprechenden – Diätempfehlungen, das Feilen an Sekunden für den nächsten Lauf (egal ob Volkslauf, Marathon oder nur für die nächste Trainingseinheit), noch ausgeklügeltere Trainingspläne und immer irrwitzigere Laufveranstaltungen.
Ich möchte den Blick auf einen Aspekt des Laufens lenken, der in unserer schnelllebigen Zeit westlicher Prägung beinahe vollständig verloren gegangen ist. Das Laufen sollte wieder den Stellenwert bekommen, der ihm zusteht. Eine unglaublich harmonische und effektive Bewegung ohne modischen Schnickschnack, ohne Trainingspläne, ohne peinlichst ausgetüftelte Wettkampfernährung und ohne Schuhe, die für unsere Füße nur bedingt geeignet sind. Läufer sollten keine elitäre Gemeinschaft bilden, in die der Zutritt erst nach Vorlage von Kilometerzeiten, Platzierungen und brandneuer Ausrüstung gewährt wird, sondern ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, wo jeder willkommen ist, unabhängig von Alter, Leistungsniveau und sozialem Status.
Laufen – vor allem der Langstreckenlauf – ist heute, wo schon so vieles vermessen, kartografiert und gezähmt ist, oder aber auch so teuer, dass der Normalbürger davon wirklich nur träumen kann, das klassische Abenteuer für Jedermann. Laufen reißt uns aus dem Alltagstrott, vertreibt die Monotonie unserer geregelten Tage, lässt uns erhaben und groß denken und macht uns für diese paar Stunden zuverlässig zum Helden unserer eigenen, ganz persönlichen (kleinen oder großen) Abenteuergeschichte.
Bei meinen Recherchen für dieses Buch und den Selbstversuchen hat sich eine Erkenntnis wie ein roter Faden durchgezogen: Glauben Sie nichts, was vermeintliche Fachleute, Verkäufer, Werbestrategen, Ernährungspäpste, Laufgurus und selbst Profiläufer Ihnen erzählen – besonders dann nicht, wenn Geld im Spiel ist. Denken Sie selbst nach, machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen, vertrauen Sie wieder Ihrer eigenen Urteilsfähigkeit. Kurz gesagt, übernehmen Sie selbst Verantwortung für Ihr Tun.
Alles, was wir im Laufe unseres Lebens tun, hat Auswirkungen. Und zwar nicht nur auf einen selbst. Wieviel Sie laufen, beeinflusst Ihren Körper und Geist – und dadurch auch die Beziehungen zu anderen Menschen. Wo Sie laufen und wie Sie dorthin kommen, was Sie essen und trinken, was Sie anziehen, welche zusätzliche Ausrüstung Sie kaufen und verwenden – all das wirkt nicht nur auf Sie ein, sondern durch ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren im Endeffekt auch auf andere Menschen und schlussendlich auf das Ökosystem Erde. Der Langstreckenlauf ist zwar die klassische Sportart für Solisten und Eigenbrötler, jedoch existiert niemand in einer Blase. Denn jedes Tun und Handeln hat Folgen, ist Anstoß und Auslöser für weitere Ereignisse.
Im vorliegenden Buch gibt es keine Trainingspläne, keine Vorgaben für Art und Dauer von Trainingseinheiten, keine unbedingt einzuhaltenden Kilometerzeiten, generell keine „Du-musst-mindestens-Vorgaben“ und vor allem keine strikten Regeln dafür, was einen „richtigen Läufer“ ausmacht. Ich möchte Sie dahingehend motivieren, nichts als gegeben hinzunehmen, selbst Fragen zu stellen und, wenn meine Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen für Sie schlüssig sind, diese anzuwenden. Sollten Sie zu anderen Ergebnissen kommen, ist das auch in Ordnung. Dieses Buch stellt in keiner Weise der Weisheit letzten Schluss dar, sondern ist eine persönliche Bestandsaufnahme nach heutigem, mir zugänglichem Wissensstand. Erfahrungsaustausch, Diskurs und Weiterentwicklung sind durchaus erwünscht, denn zu leben bedeutet ständige Bewegung. Und diese Bewegung ist nicht zwangsläufig eine Gerade. Natürlich übernehme ich die Verantwortung für alles, was ich geschrieben habe. Alle Angaben, Erläuterungen, Zitate, sowie die Bezüge auf die von mir verwendeten Quellen und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen habe ich nach bestem Wissen und Gewissen gemacht.
Wofür ich allerdings keine Haftung übernehme, ist das, was Sie ganz persönlich aus den vorliegenden Informationen machen. Dies liegt einzig und allein in Ihrer Verantwortung.
Dies ist mein Anliegen: Werden Sie Ihr eigener Trainer, Ernährungsberater und Motivationscoach.
„Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst!“
Albrecht Müller
Laufen bedeutet heute einen ungeheuren Aufwand. Von der richtigen (sprich modisch korrekten) Bekleidung, der Ernährung, dem Trinken über die Trainingsgestaltung und Steuerung, die Analyse des Fußes und den richtigen Schuh, Lauftests, bis hin zur Auswahl der Wettkämpfe (die sollten natürlich möglichst prestigeträchtig sein) für die nächste Laufsaison gleicht dieses selbst auferlegte Programm vieler Läufer eher einem kräftezehrenden Gewaltakt als einer sinnvollen und gesunden Freizeitbeschäftigung. Von Freude und Spaß ist oft keine Rede mehr.
Wie kann es sein, dass etwas so Natürliches und Freudebringendes (beobachten Sie einmal Kinder beim Spielen) wie das Laufen in etwas verwandelt wurde, das Vermarktung, Steuerung und ständig neue Trends benötigt?
Ich bin – so wie die meisten gesunden Menschen weltweit – ein leidenschaftlicher Läufer. Diese Liebe zum Laufen haben wir von Kindesbeinen an, viele Spiele drehen sich in der einen oder anderen Form ums Laufen. Kinder dosieren ihre Kräfte nicht, jedes Spiel wird mit voller Energie angegangen. Eigentlich paradox: Im Kindesalter versucht man ständig uns einzubremsen und zum Stillsitzen zu animieren, im Erwachsenenalter dagegen werden wir dauernd dazu angehalten, schneller zu machen und uns öfter aus unserem Sessel zu erheben.
Es ist nicht zu übersehen, dass die meisten Menschen zwar gerne laufen, jedoch nur bis zum Alter von ca. 10–12 Jahren. Dann beginnt etwas, was ich gerne als Wohlstandsdegeneration bezeichne: der unweigerliche körperliche Verfall ansonsten gesunder Kinder und Jugendlicher, hervorgerufen durch mangelnde Bewegung und übermäßige Ernährung. Das Endergebnis sind die heute um uns wandelnden Erwachsenen mit all den bekannten Zivilisationskrankheiten. Und das Eintrittsalter in diesen „Bewegungsunfähigkeitsklub“ wird immer weiter nach unten gesenkt.
In der Siedlung, in der ich als Kind mit meinen Eltern wohnte, war es eines meiner Lieblingsspiele, zahlreiche Runden um einen Komplex von drei Mietshäusern zu laufen. Es gab Start und Ziel, andere Läufer, Betreuer auf Fahrrädern und die, die mal nicht zum Laufen motiviert waren, übernahmen die Rolle der Zuschauer. Für jeden gab es eine Aufgabe. Alleine für die Planung konnten Stunden vergehen. Was mich abgesehen von der Einfachheit der damaligen Freizeitbeschäftigungen im Prä-Handy- und Computerspielzeitalter im Rückblick am meisten fasziniert, ist die Tatsache, dass Kinder einfach aus Spaß ein Rennen veranstalten. Und das nicht nur einmal. Die Distanzen, die wir damals freiwillig zurücklegten, waren auch nach heutigen Maßstäben durchaus beachtlich. Ein Turnlehrer müsste sich heute wohl so einige Kommentare besorgter Eltern anhören, wenn er die ihm anvertrauten Sprösslinge solche Distanzen (einige Kilometer) laufen lassen würde. Wir liefen damals des Öfteren aus einer Laune heraus auch schon mal direkt nach dem Mittagessen 20, 25 oder 30 Runden um diese drei Häuserblöcke. Ich habe die Strecke im Zuge der Recherche für dieses Buch vermessen und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen:
20 Runden zu je ca. 410 m ergeben eine Strecke von etwa 8 km, 30 Runden eine Strecke von ca. 12 km.
Und das von Kindern. Einfach so. An einem Nachmittag. Es war dann aber nicht so, dass wir anschließend darniederlagen und unsere Wunden leckten. Es gab noch so viele andere Spiele, die an so einem Nachmittag gespielt werden wollten: Abfangen, Fußball, Verstecken, Völkerball, … bis zum Sonnenuntergang. Und das war nur ein Nachmittag in der Woche. Wenn man im Vergleich dazu die heutige Freizeitgestaltung vieler Kinder sieht, könnte man heulen. Die viel propagierte tägliche Turnstunde in den Schulen (von der wir meilenweit entfernt sind) erscheint einem da wie blanker Hohn.
Heute erscheint der Aufwand für eine Laufeinheit aus der Erwachsenenperspektive sehr viel höher. Nach oder vor einem anstrengenden Arbeitstag möchte man eigentlich die Beine lieber hochlagern als diese zu bewegen. Ausziehen, anziehen, aufwärmen, der Lauf selbst, dehnen, ausziehen, duschen, wieder anziehen, ausreichend trinken, gesundes Essen. Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? Die Zweifel verstärken sich noch, wenn man völlig verschwitzt und ausgepumpt am milde lächelnden Nachbarn vorbeiläuft, der mit einem kühlen Bier auf seiner Terrasse sitzt. Nichts ist geblieben von der kindlichen Spontanität und der Begeisterung für die Bewegung. Wenn sich dann die ersten Wehwehchen und typischen Läuferverletzungen einstellen, wandern die knallbunten Laufschuhe meist für sehr lange Zeit in das unterste Fach des Schuhschranks. Wieso konnten wir die kindliche Freude am Laufen nicht konservieren und mit ins Erwachsenenleben retten?
Liegt es vielleicht daran, dass das Laufen eine kindliche Eigenheit ist? Eine spielerische Tätigkeit und somit eine vorübergehende Erscheinung? Oder daran, dass wir Menschen einfach nicht zum Laufen geboren sind – dies also nur eine weitere geschickte Marketingaktion der Sportartikelindustrie ist, um uns für gutes Geld Bekleidung, Schuhe und allen sonstigen Schnickschnack zu verkaufen, den wir gar nicht benötigen? Angesichts der großen Palette an läufertypischen Verletzungen keine unberechtigte Frage.
Ich möchte Ihnen zeigen, dass wir Menschen die geborenen Läufer sind. Dass uns das Laufen im Blut liegt, ja unser Überleben als Spezies erst ermöglicht hat. Viele mögen jetzt ungläubig den Kopf schütteln, aber es lohnt sich, näher hinzusehen. Ich möchte Sie auf eine Reise mitnehmen von den Anfängen des modernen Menschen in den afrikanischen Savannen über die Fehlentwicklungen dieser wunderbaren Bewegungsart (die offiziell eine Sportart ist, sogar eine olympische) in den letzten Jahren und Jahrzehnten bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen, und wo wir durch die Rückbesinnung auf unsere natürlichen Anlagen und – weitaus wichtiger – die Änderung unserer Einstellung zum Laufen hoffentlich wieder dahin gelangen können, wo wir einmal waren: einfach zu laufen wie ein Kind! Voller Freude und Begeisterung – ohne Einschränkung durch Trainingspläne, Pulsfrequenz und unbedingt zu erreichende Kilometerzeiten.
Viele Jahre lang habe ich mit der zunehmenden Industrialisierung des Laufens gehadert, diese ist für mich fast ein Sakrileg. Für mich steht das Laufen an und für sich im Mittelpunkt, nicht das Getöse drumherum.
Außerdem interessierte mich schon immer folgende Frage: Wie ticken Läufer, die nicht nach Medaillen und Bestzeiten gieren, sondern das Laufen um seiner selbst willen betreiben – und trotzdem Höchstleistungen vollbringen? Warum tun sich Menschen wie eine alleinerziehende Mutter, der graumelierte Pensionist oder der überarbeitete Familienvater die für Außenstehende wie eine Tortur wirkende Herausforderung eines Marathons oder Traillaufes an? Was treibt Menschen an, dies freiwillig zu tun, obwohl sie es „nicht nötig hätten“, die dafür eigentlich keine Zeit haben, und deren Namen nie in einem Buch, einem Fernsehbericht oder einer Bestenliste aufscheinen werden? Was ist es, das diese Menschen zum Laufen animiert?
Ein weiterer Punkt erregte meine Aufmerksamkeit: die immer größere und unüberschaubare Anzahl von Laufschuhen, die jedes Jahr ein noch besseres Laufverhalten versprechen, zur Vermeidung typischer Laufverletzungen beitragen sollen, und, und, und. Irgendwie wollte mir das nicht einleuchten. Unter allen Läufern im Tierreich ist der Mensch die einzige Spezies, die zum Laufen spezielles Schuhwerk, künstliche Sohlen, benötigt. Wieso eigentlich? Abgesehen vom nicht zu leugnenden Schutzaspekt für unsere wohlstandsverweichlichten Füße: Was spricht dafür, während des Laufens spezielle Schuhe zu tragen? Was sind die Vor- und Nachteile?
Und zu guter Letzt: Warum ist das Laufen bei einem Großteil der Bevölkerung so unbeliebt? Selbst unter Läufern ist die Anzahl derer, die das Laufen als notwendiges Übel sehen („Ich muss etwas für meine Kondition tun, ich will abnehmen, mein Arzt hat mir das empfohlen, einmal im Leben musst du einen Marathon laufen!“) größer als die Gruppe derer, die das Laufen aus reiner Freude betreiben. Das die unter diesen Gründen abgespulten Kilometer oft kein Vergnügen sind, leuchtet wohl jedem ein, und die Läuferkarriere ist nach Erreichen des angepeilten Zieles meist auch schnell wieder vorbei. Oder auch schon vorher.
Diese Fragen waren für mich der Ausgangspunkt auf einer teilweise überraschenden, manchmal erschreckenden, oft erhellenden, hin und wieder auch amüsanten, jedoch immer interessanten Erkundungstour zu den (im wahrsten Sinne) Beweggründen menschlicher Laufleistungen.
„Bewegung ist die Ursache jeden Lebens.“
Leonardo da Vinci
Betrachtet man den Menschen im Vergleich zu Läufern im Tierreich, fällt eines sofort auf: Mit wenigen tierischen Läufern kann der Mensch bezüglich Tempo mithalten. Die schnellsten Menschen erreichen im Sprint gerade mal 44 km/h, ein Pferd kommt auf fast 70 km/h, Geparden liegen mit ca. 110 km/h unangefochten an der Spitze der Läuferpyramide. Usain Bolt erreichte bei seinem Weltrekordlauf im Jahr 2009 eine Höchstgeschwindigkeit von 44,72 km/h, die 100 m konnte er so in 9,58 Sekunden absolvieren.1 Jedoch könnte selbst ein gewöhnlicher Feldhase Herrn Bolt dabei ganz locker abhängen. Zudem wurde sein 100-m-Weltrekord inzwischen mindestens schon einmal unterboten, denn die US-Amerikanerin Sarah G. Pard lief im Jahr 2012 bei einem Trainingslauf eine inoffizielle 100-m-Fabelzeit von sage und schreibe 5,95 Sekunden.2 Anzumerken wäre allerdings, dass Sarah ein Gepardenweibchen ist und im Zoo von Cincinnati lebt. Bei tierischen Rekorden wie diesem muss man immer Folgendes bedenken: Man weiß nicht, ob das Gepardenweibchen alles gegeben hat oder für ihre Verhältnisse doch eher moderat gelaufen ist.
Bei einem Wettlauf würde der Mensch wohl abgeschlagen an letzter Stelle ins Ziel laufen. So oder ähnlich wird argumentiert, wenn man den Menschen als geborenen Läufer ins Spiel bringt. Doch alleine die Fragestellung ist irreführend. Welche Distanz soll denn gelaufen werden? Über kurze Strecken hat der Mensch meist keine Chance gegen seine tierischen Mitstreiter.
Die Domäne des Menschen ist der Langstreckenlauf, dafür sind wir geschaffen. Wir Menschen können selbst dann noch laufen, wenn fast kein Tier mehr dazu imstande ist. Denn nur wir Menschen dürfen zwei geniale Lauf-Geheimwaffen unser Eigen nennen: Erstens können Menschen effektiv am ganzen Körper schwitzen (im Gegensatz zu Säugetieren mit Fell überhitzen wir nicht so leicht) und zweitens ist der menschliche Einsatzwille ohnegleichen. Menschen treiben ihren Körper auch dann noch weiter, wenn dieser schon mit jeder Faser dagegen rebelliert. Mit wenigen Ausnahmen (etwa Wölfe oder Schlittenhunde) läuft kein Tier solch „verrückte“ Distanzen wie der Mensch. So gibt es in Werner Herzogs Film Happy People – der auch aus anderen Gründen sehenswert ist – eine Szene, in der ein Hund an einem einzigen Tag ca. 150 km neben seinem Besitzer auf einem Schneemobil her durch die verschneite Winterlandschaft Sibiriens läuft. Diese Art von „Verrücktheit“ ist wohl ansteckend.
Im alten Ägypten schickten die Pharaonen Landvermesser aus, die das Herrschaftsgebiet am Nil dadurch vermaßen, indem sie es durchliefen.3 Im Inkareich versorgten Botenläufer die oft weit auseinanderliegenden Städte mit Informationen. Vor der Erfindung des Autos war Gehen und Laufen in allen Teilen der Erde völlig normal. Selbst als Pferd und Wagen genutzt wurden, bewegten sich die meisten Menschen immer noch zu Fuß fort. Die Menschen gingen zur Arbeit aufs Feld oder in den Wald, wanderten in die größeren Dörfer und Städte, um Waren zu kaufen und zu verkaufen. Man besuchte Verwandte, ging in die Kirche oder begab sich – per pedes – auf Pilgerreise.
Frühe Reisende und Naturforscher berichteten von Eingeborenen in der Kalahari, die große Antilopen bis zur völligen Erschöpfung jagten, von den Aborigines in Australien, die oft wochen- oder monatelang im Outback unterwegs waren, oder von Läufern der Hopi, die in Arizona schier unglaubliche Distanzen (von ihrem Siedlungsgebiet im Nordosten Arizonas an den Pazifischen Ozean; das sind mehrere hundert Kilometer – one way) unter sengender Sonne zurücklegten. Waren das einfach fantastische Erzählungen von Ethno-Romantikern oder kühl kalkulierte Übertreibungen, um Werbung in eigener Sache zu machen, indem man eine tolle Geschichte zum Besten gab? Oder steckt in diesen Erzählungen doch ein wenig mehr als ein Körnchen Wahrheit?
Leider ist es uns heute nicht mehr möglich, funktionierende Stammeskulturen von Naturvölkern zu beobachten, um von ihnen zu lernen. Denn der Kontakt mit modernen Gesellschaften war bis dato für alle Naturvölker eine Katastrophe. Im Namen von Entwicklung und Fortschritt erleiden indigene Völker (Das lateinische Wort „indigenus“ bedeutet „eingeboren“ oder „einheimisch“.) Unterdrückung und Gewalt in allen nur erdenklichen Formen sowie Vertreibung von ihrem Land. Nicht nur in der Vergangenheit – auch heute ist das noch so. Das mögen viele Zeitgenossen nicht glauben, leben wir doch in solch aufgeklärten, zivilisierten Zeiten. Die sogenannten Buschleute oder San sind jenes indigene Volk, das mich seit Kindertagen fasziniert. Bevor ich die Geschichte dieses außergewöhnlichen Volkes ein wenig näher betrachten will und außerdem ihren besonderen Zugang zum Laufen vorstelle, lasse ich einen ihrer Vertreter zu Wort kommen. In seinen eigenen Worten schildert er das heutige „moderne“ Leben der San:
Was für eine Art von Entwicklung ist das, wenn die Menschen ein kürzeres Leben als zuvor haben? Sie infizieren sich mit HIV/AIDS. Unsere Kinder werden in der Schule geschlagen und wollen nicht mehr hingehen. Manche werden zu Prostituierten. Sie dürfen nicht jagen. Sie prügeln sich, weil ihnen langweilig ist, und sie betrinken sich. Sie fangen an, Selbstmord zu begehen. Wir haben das noch nie zuvor gesehen. Ist das Entwicklung?
Roy Sesana, San, Botswana4
Im Süden Afrikas leben heute noch die Nachfahren jener Ureinwohner, die bei uns landläufig als „Buschmänner“ bekannt sind. Der heute gebräuchliche Oberbegriff für diese ethnischen Gruppen lautet San. Doch auch diese Bezeichnungen wurden von den ehemaligen Kolonialherren erfunden. Sie selbst nennen sich Kua, abgeleitet von ihrer „Klicksprache“, dem Kek.5 Zur besseren Lesbarkeit verwende ich hier allerdings die geläufigen Begriffe San und Buschmänner/Buschleute, da diese (zumindest in Europa) keine abwertenden Begriffe mehr sind.
Die San sind das Ergebnis einer jahrtausendealten Anpassung an ihre Umwelt, das perfekte Beispiel für ein Leben mit der Natur. Dieses Volk gilt als Ursprung unseres genetischen Stammbaums und gibt uns einen Einblick in das Leben der Menschheit vor ca. 20.000 Jahren. Auf den ersten Blick erscheinen diese Menschen zart und zerbrechlich, doch der Schein trügt uns wohlgenährte moderne Zivilisationsmenschen. Diese schlanken, feingliedrigen Menschen mit den freundlichen und aufgeweckten Gesichtern gehör(t)en zum zähesten und ausdauerndsten Menschentypus, den die Evolution wohl je hervorgebracht hat. Die modernen Sinnbilder für Ausdauer, Kraft und Geschicklichkeit, unsere Sportstars, hochdekorierten Elitesoldaten diverser Spezialeinheiten oder knallharte Survivalspezialisten, die sich medienwirksam filmen lassen, wie sie „mutterseelenalleine“ die entlegensten Ecken unseres Planeten durchstreifen, keiner könnte es in ihrem angestammten Lebensraum mit den kleinen, flinken Menschen aus dem Süden Afrikas aufnehmen. Es existiert eine ganze Reihe unwirtlicher Orte auf unserem Heimatplaneten Erde. Würde es eine Rangliste diesbezüglich geben, die Kalahari (das Verbreitungsgebiet der San) würde wohl einen Spitzenplatz darauf einnehmen. Hier herrschen Temperaturen, die tagsüber auf bis zu 45° Celsius steigen und nachts bis unter den Gefrierpunkt fallen können.6 Die Kalahari ist eine Halbwüste mit 8-10-monatigen Trockenperioden im Jahr. Wasserstellen sind selten, die Möglichkeiten für landwirtschaftliche Nutzung gelinde gesagt stark eingeschränkt, dafür gibt es jede Menge Raubtiere und Giftschlangen.7 Und dennoch leben die San hier seit Urzeiten. Glücklich und zufrieden, wie es scheint, obwohl das Leben sicher hart und entbehrungsreich ist.
Die San sind sogenannte Wildbeuter, sie leben vom Sammeln und Jagen – dies ist zugleich die älteste Wirtschaftsform des Menschen. Seit der neolithischen Revolution schrumpft der Anteil der Jäger und Sammler kontinuierlich. Waren es um 1500 n. Chr. ca. noch ein Prozent der Weltbevölkerung, so sind es heute gerade noch 0,001 % – Tendenz fallend.6 Wildbeuterpopulationen kommen nur noch in sogenannten Extremregionen unseres Planeten (wie den polaren Eiswüsten, den Dürregebieten Inneraustraliens, den Regenwäldern Afrikas und Südamerikas und eben der Kalahari im Süden Afrikas) vor, entweder lebten sie ursprünglich dort oder sie wurden dorthin verdrängt. Aber selbst in diesen entlegenen Gebieten ist ihr Überleben bedroht. Die Abholzung der Wälder, der Abbau von Bodenschätzen oder auch die mit extremem Aufwand betriebene landwirtschaftliche Nutzung, wie z. B. extensive Weidewirtschaft in der Kalahari, bringen diese letzten Jäger- und Sammlerkulturen immer mehr in Bedrängnis. Die längste Zeit ihres Bestehens lebten die San in der Halbwüsten- und Savannenregion unabhängig und mit nur gelegentlichen Kontakten zu anderen Ethnien (wie etwa bodenbauenden und viehzüchtenden Bantugruppen und Europäern). Dies änderte sich allerdings mit der europäischen Kolonialisierung vor ca. 150 Jahren. Die Bodenbauern verdrängten diese Wildbeuterkultur mehr und mehr, bis hin zur fast vollständigen Auslöschung.
Wie schon eingangs erwähnt, überleben die wenigsten indigenen Kulturen den Kontakt mit unserer modernen Lebensweise. Es besteht nur die Möglichkeit zwischen Auslöschung oder vollständiger Anpassung. Die San haben ersteren Weg gewählt – bzw. ließ man ihnen keine andere Wahl. Eine Kultur, die der unseren so diametral gegenübersteht, wollte man wohl nicht weiter gewähren lassen. Die San setzten in ihrer Entwicklungsgeschichte auf viele oft hoch spezialisierte Fertigkeiten und Kenntnisse und sehr wenig auf Technik. Dennoch scheint das Leben dieser „primitiven“ Wildbeuterkultur weniger mühselig und zeitaufwendig als unsere moderne Vierzigstundenwochen-Zivilisation zu sein. So reichen durchschnittlich vier Stunden täglich für die Arbeit der Frauen und etwa drei Stunden für die der Männer. Aber was machen die San mit all der übrigen Zeit?
Genau das, was uns Lebensberater, Psychologen, Lifestylemagazine und Therapeuten aller Couleur immer raten: Gespräche führen, Freunde treffen, Zeit mit den eigenen Kindern verbringen, singen, ausgiebig schlafen. Solche Wilde aber auch …
Bekannt sind die San heute nicht zuletzt wegen ihrer beeindruckenden Laufleistungen, die sie bei ihren Hetzjagden immer wieder unter Beweis stellten. Sogar die Regierung Botswanas wollte sich dieses Talent vor etlichen Jahren zunutze machen. Der Plan war, die Buschmänner als olympische Teilnehmer für Botswana bei Laufbewerben antreten zu lassen. Doch wie so oft standen sich die Interessen unserer modernen Welt und die Lebensweise der San im Wege. Die Erfolge im Training blieben trotz der enormen Ausdauerfähigkeiten der San … sagen wir mal … überschaubar. Die San wollten nicht einsehen, warum sie immer nur geradeaus laufen sollten. Beim Lauf entlang einer Bahnstrecke bogen sie etwa immer wieder von dieser ab und liefen in die Wüste hinaus. Auch liefen sie keinen Marathon zu Ende. Sie blieben meist wenige Kilometer vor Ende einfach stehen – aber nicht, weil sie erschöpft gewesen wären. Nein, sie konnten einfach keinen Sinn darin erkennen zu laufen, ohne ein Beutetier zu verfolgen.8 Dies ist ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen unserer Gesellschaft und der Welt der San. Während die einen auf der Jagd nach Geld, Macht und Anerkennung sind, jagen die anderen, um sich selbst und ihre Familien zu ernähren. Selbst die moderne Sportbekleidung war für diese Menschen ein Gräuel, vor allem die modernen Laufschuhe verursachten den leichtfüßigen Barfußläufern Schmerzen.8
All diesen Versuchen der Vereinnahmung ist eines gemein: Sie hatten für die San meist keine Verbesserung ihrer Lebenssituation zur Folge. Das Überleben der Buschleute heutzutage scheint nur mit sogenanntem sanften Tourismus möglich, andere Möglichkeiten scheinen aktuell nicht realisierbar (oder erwünscht) zu sein. Die San machen sich zwar gut auf Hochglanzprospekten für Touristen, doch in Wirklichkeit hat kein Staat im südlichen Afrika ein Interesse daran, dass steinzeitliche Jäger und Sammler ohne Kontrolle frei durch ihre Lande streifen. Allerdings besteht hier die nicht unberechtigte Befürchtung, dass man ein „Buschmann-Disneyland“ schafft, welches wieder nur auf die Bedürfnisse der zahlenden Touristen abgestimmt ist. Ob und wie man dieses Problem lösen kann/will, wird sich (diesmal hoffentlich zum Vorteil der San) zeigen.
Für die San war die Jagd nicht nur die Hauptnahrungsquelle, sondern auch ein Ritual, welches tief in ihrer Kultur verankert ist. Diese Hetzjagden, die den Männern vorbehalten sind, nennen die San auch The Great Dance. Im gleichnamigen Dokumentarfilm begleiten die Anthropologen Craig und Damon Foster eine Gruppe von San durch die Kalahari. In beeindruckenden Aufnahmen, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, kann man diese Menschen in ihrem natürlichen Umfeld beobachten. Vor allem die Aufnahmen des Fährtenlesens und der Ausdauerjagd sind grandiose Zeugnisse menschlicher Anpassungs- und Überlebensfähigkeiten.
Der Anthropologe Louis Liebenberg geht sogar so weit zu sagen, dass unsere Fähigkeit zum Langstreckenlauf es unserem Gehirn erst ermöglichte, sich so zu entwickeln, wie es heute beschaffen ist. Das Spurenlesen auf der Erde ist an und für sich schon eine sehr beeindruckende Fähigkeit. (Versuchen Sie doch einmal in unseren heimischen Wäldern der Spur eines x-beliebigen Tieres so lange zu folgen, bis Sie es erblicken.) Doch die nächsthöhere Stufe ist das Spurenlesen ohne Spuren. Liebenberg nennt das „spekulatives Jagen“. Dabei versetzt sich der Jäger in das Beutetier hinein, versucht somit, dessen zukünftiges Handeln vorwegzunehmen und kommt damit zum Jagderfolg.
Vorausdenken, nicht in der Gegenwart verharren, abstraktes Denken, Visualisieren, Empathie – alles Fähigkeiten, die wir heute als grundlegend voraussetzen. Das Spurenlesen war sozusagen die erste Wissenschaft des Menschen. Der Dreh- und Angelpunkt all dessen war die spekulative Jagd, das Hetzen der Beute bis zur totalen Erschöpfung, das Laufen. Warum Liebenberg das so genau weiß? Er hatte das Privileg, von einigen der letzten noch traditionell lebenden San lernen zu können bzw. zu dürfen. Liebenbergs zahlreiche Aufenthalte mit den San in der Kalahari machten ihn zu einem Experten im Fährtenlesen, er lernte dort quasi von der Pieke auf das Überleben in der freien Natur.
Die erste Ausdauerjagd, an der Liebenberg teilnahm, versetzte ihn zunächst in ungläubiges Erstaunen. Er kannte mittlerweile die Jagd mit Pfeil und Bogen, bei der sich die San an ihre Beute heranschlichen und aus kurzer Distanz einen meist vergifteten Pfeil abschossen. Dass die San in der sengenden Hitze beim Anblick einiger Kudu-Antilopen plötzlich zu laufen begannen, erschien ihm völlig abwegig. Doch die San belehrten ihn eines Besseren. Über Stunden verfolgten sie die Herde, trieben sie in die Sonne zurück, wenn sie sich im Schatten abkühlen wollten, und ließen den Tieren keine Verschnaufpause. Die San isolierten schließlich ein Tier aus der Herde und hetzten es solange weiter, bis es schließlich kurz vor dem Kollabieren war und nicht mehr weiterlaufen konnte. Derart erschöpft konnten die San das Tier aus kürzester Distanz relativ gefahrlos erlegen.9
Warum entwickelte der Mensch die Fähigkeit zum Langstreckenlauf? Was war der Vorteil gegenüber anderen möglichen Entwicklungen, z. B. hin zu größeren Muskeln (= mehr Kraft)? Im Vergleich zu uns Mitteleuropäern sind die San klein, beinahe zart. Dennoch vermögen sie eine große Antilope bis zur Erschöpfung zu jagen. Und eine ausgewachsene Große Kudu-Antilope kann immerhin über 300 kg wiegen.
Was alle Lebewesen in freier Wildbahn praktizieren ist das Energiesparen. Das bedeutet auch, für die Nahrungsbeschaffung so effizient wie möglich vorzugehen. Die Ausdauerjagd war offensichtlich eine Methode, die anderen Arten der Nahrungsbeschaffung (etwa der Jagd mit Pfeil und Bogen) mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Durchschnittlich dauerte es drei bis fünf Stunden, bis ein Beutetier überhitzte und zusammenbrach. Der im Vergleich zu anderen Säugetieren etwas eigenwillige Körperbau prädestiniert den Menschen zum Laufen. Der aufrechte Gang reduziert die Sonneneinstrahlung auf den Körper. Statt eines Fells hat er viele Schweißdrüsen am ganzen Körper, um ihn effektiv zu kühlen. Genetische Anpassungen zur Optimierung des Energiestoffwechsels sowie stärker durchblutete Beinmuskeln taten ihr Übriges.10 Selbst der Nachteil, dass der Kopf beim aufrechten Gang ständig der Sonne ausgesetzt ist, wird durch das dichte Kopfhaar abgemildert. Der Langstreckenlauf war offensichtlich eine der Möglichkeiten für den frühen Menschen, mit möglichst wenig Energieaufwand zum gewünschten Ergebnis (Nahrung, Wasser, Flucht, Zurücklegen großer Entfernungen) zu kommen. Kaum zu glauben, wenn man heutzutage die erschöpften Gesichter der meisten Menschen nach längerer körperlicher Betätigung betrachtet.
Wir begehen hier natürlich einen Fehler und gehen von unserer jetzigen Situation aus, in der wir die meiste Zeit sitzen (sei es im Büro, zuhause oder in einem Restaurant, Kino, Theater, etc.) und längere Strecken prinzipiell mit dem Auto zurücklegen. Der Alltag unserer Vorfahren unterschied sich davon grundsätzlich, Bewegung und körperliche Arbeit gehörten zum Alltag. Kilometerlange Märsche und Läufe waren an der Tagesordnung, um sich ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen, vor Feinden zu fliehen oder Kontakt zwischen einzelnen Sippen/Stämmen zu halten. Das Laufen/Gehen/Wandern war damals so alltäglich wie unsere heutige Fahrt zum Supermarkt oder ins Büro.
Betrachtet man die San in ihrem natürlichen Umfeld, so sieht man die Vorfahren des modernen Menschen vor sich. Drahtige kleine Gestalten, die jederzeit zu einem Marathonlauf starten konnten, wenn die Situation es erforderte. Ohne spezielle Laufbekleidung, ohne Trinkrucksack und ohne spezielle Laufschuhe (die teilweise verwendeten Leder- oder Bastsandalen würde kein moderner Läufer auch nur in Erwägung ziehen). Damals gab es auch noch keine asphaltierten oder geschotterten Straßen. Die wenigen Wege (oder eher Trampelpfade), die es gab, wurden von keiner Straßenmeisterei sauber gehalten. Der Untergrund, auf dem unsere Vorfahren liefen, war nach heutiger Läuferphilosophie ein Alptraum. Ständig wechselndes Gelände, Steine, Äste, hohes Gras, Sand, etc. – neue Bestzeiten wären so schwer zu verwirklichen. Doch unsere Vorfahren mussten ohnehin mit diesen Gegebenheiten zurechtkommen. War da die wechselnde Beschaffenheit des Untergrundes wirklich ein Nachteil? Stimulierte dies nicht eher die verschiedensten Muskelgruppen in den Beinen, stärkte zusätzlich Sehnen und Bänder und war somit ein wirksamer Schutz gegen Verletzungen und einseitige Überbelastungen? Wirksamer als moderne Laufschuhe es je könnten?
Aus diesem Grund raten viele Trainer Athleten aller Sportarten zu Abwechslung im Training, um sie möglichst lange frei von Verletzungen zu halten. Unsere Vorfahren waren keine reinen Läufer, sie waren – wie man heute sagen würde – perfekte Allrounder. Sie mussten nicht nur laufen, sondern z. B. auch springen, klettern, graben oder unterschiedlichste Lasten tragen. Ihr ganzer Körper – und nicht nur einzelne Körperpartien – war durchtrainiert, angepasst an ein Leben in der Natur – oder besser gesagt, von und mit der Natur. Diese Fähigkeiten hatten ausnahmslos alle heute bekannten Naturvölker ebenso. Das war auch das Geheimnis ihres Erfolges – Anpassung und Bewegung.
Der Körper eines modernen Durchschnittsmenschen in der westlichen Welt ist verglichen mit diesen Athleten der Vorzeit nur noch ein Schatten seiner selbst. Langstreckenläufer wie etwa Haile Gebrselassie, Scott Jurek oder Paula Radcliffe legen noch beeindruckend Zeugnis von dieser außergewöhnlichen Lauffähigkeit des Menschen ab. Doch der Großteil der Bevölkerung kann von Laufleistungen jenseits der 10-km-Marke nur träumen (gesund und munter wohlgemerkt). Vor allem die Bewohner größerer Städte können schon froh sein, den Einkauf am Wochenende ohne gröbere Verletzungen zu überstehen, wenn ihr Auto nicht nahe genug am Eingang parkt.
Aber die körperliche Nicht-Leistungsfähigkeit ist nur das eine Problem. Der Geist des modernen Menschen sieht oft überhaupt keine Veranlassung dazu „wie ein Blöder in der Gegend herumzulaufen“. Wozu das Ganze? Unserer Nahrung brauchen wir nicht mehr nachzulaufen – ganz im Gegenteil.
Sehr gerne wird das Beispiel von James Fixx, dem amerikanischen Laufguru, der beim Laufen einem Herzinfarkt erlag, als Beweis dafür gebracht, dass Laufen weder sinnvoll noch gesund ist. Was soll man auch von jemandem halten, der angeblich topfit ist, das Laufen als Allheilmittel schlechthin propagiert, und dann selbst im Alter von 52 Jahren beim Joggen auf einer Landstraße stirbt. Nun, einerseits war Fixx familiär vorbelastet (sein Vater erlitt mit nur 35 Jahren einen Herzinfarkt und verstarb mit 43 Jahren an einem weiteren), andererseits hatte er vor seiner Laufkarriere ca. 28 kg Übergewicht und rauchte zu seiner „besten“ Zeit zwei Packungen Zigaretten täglich. Obwohl er eine radikale Umstellung seines Lebenswandels vornahm – er hörte mit dem Rauchen auf, nahm ab, achtete auf seine Ernährung und begann zu laufen – waren die bereits angerichteten Schäden an seiner Gesundheit wohl zu groß. Fixx wusste wahrscheinlich um seinen Gesundheitszustand, deshalb lehnte er auch alle medizinischen Tests kategorisch ab. Das Laufen war also vermeintlich der Sargnagel von Fixx.11/12 Meiner Meinung nach hat es sein Leben jedoch um einige Jahre verlängert. Denn Bewegung ist das Um und Auf, um sowohl körperlich als auch geistig gesund und leistungsfähig zu bleiben (mehr dazu in Kapitel 3).
Sind unsere heutigen Laufschuhe – abgesehen von der nicht zu leugnenden Schutzfunktion für unsere mittlerweile sehr verletzbaren Fußsohlen – einfach die logische Weiterentwicklung für den menschlichen Läufer? Oder kann der moderne Mensch ohne diese gar nicht mehr laufen? Wenn unsere Vorfahren ohne spezielle Schuhe zurechtkamen, können wir – mit entsprechendem Training – das auch wieder?
Vor nicht allzu langer Zeit war es Usus, dass Laufschuhe stark gedämpft waren (meist durch Gel- oder Kunststoffpolster in der Sohle), und der Fuß stabilisiert werden „musste“. Heute lässt man den Füßen zum Glück wieder viel mehr Freiheit, indem man den natürlichen Bewegungsablauf nicht zu stark einschränkt. Vor allem das Verhindern der Pronation (das natürliche Nach-innen-Kippen des Fußes)13/18 war lange Zeit das Lieblingsbetätigungsfeld der Schuhhersteller. Legionen von Läufern wurde eine Fußfehlstellung attestiert, wo gar keine war. Pronationsstützen, Einlagen und Co. malträtierten so unnötigerweise manchen gesunden Läuferfuß. Die heute deutlich weniger „verhindernden“ Laufschuhe ermöglichen mehr Fußfreiheit und dadurch auch einen anderen Laufstil. Dem natürlichen und individuell unterschiedlichen Bewegungsablauf eines jeden Läufers wird so viel besser Rechnung getragen.
Kommt der moderne Läufer in stark gedämpften Laufschuhen meist mit der Ferse zuerst auf und rollt dann über den ganzen Fuß ab, ist beim Barfußlaufen der erste Berührungspunkt mit dem Boden der Mittelfuß oder der Ballen, mit dem man sich auch wieder abstößt.
Ist das ein Anachronismus, oder lohnt es sich doch, diesen Laufstil näher zu betrachten? Sehen wir uns die verschiedenen Laufstile einmal näher an:
Durch moderne Laufschuhe ist dies der bis dato am weitesten verbreitete Laufstil. Dabei landet der Läufer zuerst auf der Ferse, rollt über den ganzen Fuß ab, und stößt sich mit dem Vorfuß wieder ab.
Vorteil: schont die Wadenmuskulatur, „Landgewinn“ am Boden durch die Abrollbewegung
Nachteil: starke Belastung der Knie- und Fußgelenke
Dabei landet der Läufer mit der Sohle und stößt sich mit dem Vorfuß wieder ab.
Vorteil: sehr ökonomischer Laufstil, schont die Knie
Nachteil: Überlastung der Fußaußenkante möglich
Dabei landet der Läufer mit dem Ballen zuerst und drückt sich mit diesem auch wieder ab. Die Ferse hat zu keiner Zeit Bodenkontakt.
Vorteil: sehr kräftiger Laufstil, vor allem auf kurzen Laufstrecken und bergauf; hohes Lauftempo möglich
Nachteil: