Einführung in die Ideologietheorie - Jan Rehmann - E-Book

Einführung in die Ideologietheorie E-Book

Jan Rehmann

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Beschreibung

Wie erklärt man, dass der Neoliberalismus auch von Klassen und Gruppen unterstützt wird, die er mit seiner anti-sozialen Politik schwächt und verarmt? Wie gelingt es einem Backlash-Konservatismus, an den Ressentiments der Subalternen gegen "die da oben" anzuknüpfen und sie zugleich gegen Linke, Gewerkschaften und Marginalisierte zu mobilisieren? Der Begriff der Ideologietheorie steht für eine Neufundierung historisch-materialistischer Ideologieforschung, die sich sowohl gegen die Reduktion von Ideologien aufs Ökonomische als auch gegen bloße Ideologiekritik eines "verkehrten Bewusstseins" abgrenzt. Ideologietheorie fragt nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen und zumeist unbewussten Funktions- und Wirkungsweisen des Ideologischen, das sie in seiner "Materialität" untersucht, als Ensemble von Apparaten, Intellektuellen, Ritualen und Praxisformen. Jan Rehmann rekonstruiert unterschiedliche Stränge der Ideologietheorie – von Marx zu Adorno/Horkheimer, von Gramsci zu Stuart Hall, von Althusser zu Foucault, von Bourdieu zu W.F. Haug – und prüft ihre Tauglichkeit für die Analyse gegenwärtiger Ideologien.

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Jan Rehmann

 

Einführung in die Ideologietheorie

Argument

Das Buch entstand mit freundlicher Unterstützung des Berliner Instituts für kritische Theorie.

 

Für Brigitte

 

Dank für Lektorat und Kritik an: Thomas Barfuss, Mario Candeias, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Christina Kaindl, Juha Koivisto, Ines Langemeyer und Tilman Reitz.

Für technische Hilfe Dank an Elske Bechthold.

 

© Argument Verlag 2008/2022

www.argument.de

Umschlagbild: Michelangelo Caravaggio Narziss (1594 –1596)

ISBN 978-3-86754-820-5 (E-Book)

ISBN 978-3-88619-337-0 (Buch)

Inhalt

 

Einleitung

 

1. Eine verwickelte Vorgeschichte: Die »idéologistes« und Napoleon
1.1 »Ideologie« als naturwissenschaftlich exakte Ideenwissenschaft
1.2 Eine post-jakobinische Staatsideologie
1.3 Der negative Ideologiebegriff Napoleons

 

2. Ideologiekritik und Ideologietheorie bei Marx und Engels
2.1 Vom »verkehrten Bewusstsein« zur »idealistischen Superstruktur« der Klassengesellschaft
2.1.1 Die »Camera obscura« und ihre Kritiker
2.1.2 Ein naiver Sinnesempirismus?
2.1.3 Exkurs zur Religionskritik des jungen Marx
2.1.4 Die Camera obscura als Metapher für eine »idealistische Superstruktur«
2.1.5 »Herrschende Gedanken« und »konzeptive Ideologen«
2.2 Die Fetisch-Analysen in der Kritik der politischen Ökonomie
2.2.1 Von der Religions- zur Fetischismuskritik
2.2.2 Von der Ideologiekritik zur Kritik »objektiver Gedankenformen«
2.2.3 Die Lohnform und das »wahre Eden« der Menschenrechte
2.2.4 Kapitalfetisch, »trinitarische Formel« und »Religion des Alltagslebens«
2.2.5 Der »stumme Zwang« ökonomischer Herrschaft als Ideologie?
2.2.6 Ideologie und Wissenschaft – das Beispiel der »Vulgärökonomie«
2.2.7 »Warenästhetik« als ideologisches Glücksversprechen
2.3 Eine »neutrale« Ideologiekonzeption bei Marx?
2.4 Engels’ Konzeption der »ideologischen Mächte«

 

3. Der Ideologiebegriff bei Lenin und im »Marxismus-Leninismus«
3.1 Die Zurückdrängung des kritischen Ideologiebegriffs
3.2 Lenin: Bürgerliche oder sozialistische Ideologie
3.3 Lenins operativer Ideologiebegriff
3.4 Ideologie in der »marxistisch-leninistischen« Staatsphilosophie
3.5 ›Ideologische Verhältnisse‹ in der DDR-Philosophie
3.6 Besichtigung eines ML-Aktualisierungsversuchs (Erich Hahn)

 

4. Ideologie bei Georg Lukács und in der Frankfurter Schule
4.1 Georg Lukács: Ideologie als Verdinglichung
4.2 Horkheimer/Adornos Kritik der »Kulturindustrie«
4.3 Preisgabe des Ideologiebegriffs?
4.4 Ideologie als »Räderwerk der unausweichlichen Praxis«
4.5 Ideologie als »instrumentelle Vernunft« und »Identitätsdenken«
4.6 Habermas’ positive Umwertung des Ideologischen

 

5. Ideologie, Alltagsverstand und Hegemonie bei Gramsci
5.1 Eine Weichenstellung in der Übersetzung
5.2 Gramscis kritischer Ideologiebegriff
5.3 Kritik des Alltagsverstands als Ideologiekritik
5.4 Gramscis Konzept der »organischen Ideologie«
5.5 ›Ideologie‹ als Übergangskategorie zur Hegemonietheorie
5.6 Korporatismus-Kritik und Fordismus-Analyse
5.7 Das Projekt einer hegemonietheoretisch gestützten Ideologiekritik

 

6. Ideologische Staatsapparate und Subjektion bei Althusser
6.1 Das Verhältnis zu Gramsci: Inspirationen und Distanzierungen
6.2 Die Theorie der »ideologischen Staatsapparate« (ISA)
6.3 Einwände gegen Althussers »Funktionalismus«
6.4 »Ideologie im Allgemeinen« und Subjektkonstitution
6.5 Die Herleitung des »Imaginären« von Spinoza und Lacan
6.6 Lacans Ontologisierung von Entfremdung und Unterwerfung
6.7 Können die Subjekte der Anrufung auch widersprechen?

 

7. ›Feld‹, ›Habitus‹ und ›symbolische Gewalt‹ bei Bourdieu
7.1 Die Entwicklung des Feld-Begriffs aus der Deutschen Ideologie
7.2 Soll man den »Apparat« durch das »Feld« ersetzen?
7.3 Ideologie, symbolische Gewalt, Habitus – ein begrifflicher Entwirrungsversuch
7.4 Ein Beitrag zur Weiterentwicklung von Althussers Anrufungsmodell
7.5 Ein neuer Sozialdeterminismus?

 

8. Von der Althusser-Schule zu Poststrukturalismus und Postmoderne
8.1 Diskurstheoretische Modifikationen der Ideologietheorie durch Michel Pêcheux
8.2 Die post-marxistische Wende von Laclau und Mouffe
8.3 Stuart Halls Brückenschlag zwischen neo-gramscianischer Hegemonietheorie und Diskursanalyse
8.4 Michel Foucaults Weg von der Ideologie- zur Machttheorie
8.4.1 Die Auflösung des althusserschen Ideologiebegriffs ins »Wissen«
8.4.2 Die Übernahme des nietzscheanischen »Fiktionalismus«
8.4.3 Die Einführung eines neo-nietzscheanischen Machtbegriffs
8.4.4 »Dispositive« ideologischer Vergesellschaftung
8.5 »Poststrukturalismus« und »Postmoderne«

 

9. Ideologiekritik mit einer Theorie des Ideologischen als Hinterland: das »Projekt Ideologietheorie« (PIT)
9.1 Wiederaufnahme des kritischen Ideologiebegriffs von Marx und Engels
9.2 Das Ideologische in der Kreuzung von Klassen, Staatsentstehung und Patriarchat
9.3 Spannungsfelder zwischen ideologischer Fremdvergesellschaftung und horizontaler Selbstvergesellschaftung
9.4 Dialektik des Ideologischen: Kompromissbildung, Komplementarität, antagonistische Anrufung des Gemeinwesens
9.5 Faschistische Modifikationen des Ideologischen
9.6 Ausrottungspolitiken und Kirchenkampf im NS-Staat
9.7 Weitere Materialstudien

 

10. Friedrich A. Hayek – symptomale Lektüre eines neoliberalen Grundlagentexts
10.1 Erste Sondierungen
10.2 Der Frontalangriff auf »soziale Gerechtigkeit«
10.3 Die Gnadenordnung des »Katallaxie-Spiels«
10.4 Die »negative« Gerechtigkeit und ihre Unzuständigkeit fürs Ganze
10.5 Die religiöse Unterwerfungsstruktur des Marktradikalismus
10.6 Ein symptomaler Widerspruch zwischen Marktschicksal und Leistungsmobilisierung
10.7 Staat und Freiheit: Der neoliberale Diskurs ist von seinem Gegenteil durchkreuzt

 

11. Streifzug durchs ideologische Dispositiv des Neoliberalismus
11.1 Der Aktualisierungsbedarf fordistisch geprägter Ideologietheorien
11.2 Neoliberalismus ohne Hegemonie?
11.3 Prekarisierung und Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse
11.4 Wechselnde Blockbildungen des Neoliberalismus
11.5 Befreiungsversprechen und Fremdbestimmung im Neoliberalismus

 

12. Die uneingelösten Versprechen des späten Foucault und der »Gouvernementalitäts-Studien« – eine ideologietheoretische Re-Interpretation
12.1 Foucaults Frage nach der Vermittlung von Herrschaftstechniken und Selbsttechniken
12.2 Der rätselhafte Inhalt des Gouvernementalitätsbegriffs
12.3 Einfühlung in neoliberale Ideologien oder kritische Widerspruchsanalyse?
12.4 Eine fatale Gleichsetzung von Subjektivierung und Unterwerfung
12.5 Drei Thesen zur Re-Interpretation der »Gouvernementalitäts-Studien«
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Anmerkungen

Einleitung

I.

Was passiert, wenn die religiöse Rechte in den USA moralische und familiäre »Werte« beschwört und damit der Republikanischen Partei zu Wahlsiegen verhilft? Wie erklärt man, dass sie sich in ihrem Kulturkampf gegen »Unmoral«, v.a. gegen gleichgeschlechtliche Ehen und abtreibende Mütter, auf bedeutende Teile der weißen Arbeiterklasse sowie der vom Abstieg bedrohten »Mittelklassen« stützen konnte? Thomas Frank hat in seinem Buch What’s the Matter with Kansas? ausführlich geschildert, wie es dem Backlash-Konservatismus gelang, an populare Ressentiments gegen die »da oben« anzuknüpfen und sie gegen eine »liberale Elite« zu wenden, die angeblich die Filmindustrie, die Medien, die Kultur beherrscht, Volvo fährt, Caffè-Latte schlürft, französischen Käse isst und sich einbildet, »uns«, dem arbeitenden amerikanischen Volk vorschreiben zu können, wie es zu leben hat (2004a, 5ff, 16f; 2004b, 641f). Eine zweite Frontstellung richtete sich gegen die Gewerkschaften, die den Arbeitern das Geld aus der Tasche ziehen, eine dritte gegen Sittenverfall und Drogenökonomie der v.a. als »schwarz« konstruierten Armen1, deren alleinstehende Teenage-Mütter als »welfare queens« den Sozialstaat betrügen. Diese komplementären Frontstellungen charakterisierten die kulturelle Hegemonie des Neokonservatismus unter Präsident Reagan und Bush sen. sowie nach der Clinton Ära unter Präsident G.W. Bush jr.

Natürlich wurden die ›Werte‹, in deren Namen die Wähler bei den Republikanern ihr Kreuz machten, nie wirklich umgesetzt: der ›unmoralische‹ Kommerz der Privatsender bleibt, die meisten Ehescheidungen gibt es in den konservativen Staaten des Südens, während das »liberale« Massachusetts, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat, die niedrigste Scheidungsrate aufweist. Das wirkliche Wahlergebnis bestand in weiteren Sozialkürzungen, Stellenabbau, Privatisierungen, neoliberaler Zersetzung des Gemeinwesens. »Ökonomisch gesehen sind die Republikaner die Partei des organisierten Geldes, doch wenn die Rede auf ›Werte‹ kommt, verwandeln sie sich in etwas sehr anderes und sehr Attraktives: eine Protest-Partei«, beobachtete Frank. Sie sind es, »die am überzeugendsten beanspruchen, für den kleinen Mann zu sprechen, und die sich über die Freveltaten entrüsten, die von hochnäsigen Aristokraten an Leuten aus dem einfachen Volk verübt werden« (2004b, 541f).

II.

Dass das von Frank beschriebene rechts-populistische Bündnis aus Neoliberalen, Neokonservativen und der religiösen Rechten schließlich selbst in die Krise gekommen ist, braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Wir nehmen den lang anhaltenden Erfolg des US-amerikanischen Neokonservatismus nur als Einstiegsbeispiel, um uns in einem ersten Versuch den Aufgabenstellungen einer materialistischen Ideologietheorie anzunähern.

Offenbar haben wir es hier mit einer eigentümlichen ideologischen Verkehrung zu tun. Das wirkliche »Oben« setzt nicht nur von oben seine neoliberalen Reformen durch, sondern kann auch als protestierende Bewegung von unten auftreten, teilweise sogar gegen die Auswirkungen der eigenen Politik. Dadurch, dass das »Oben«, die Welt des großen Geldes und Kapitals, glaubwürdig in Gestalt eines volkstümlichen »Unten« auftritt, gelingt es ihm, seine Klassenherrschaft als ›Hegemonie‹ über die Gesellschaft auszuüben. Hegemonie ist einer der Zentralbegriffe der Theorie Antonio Gramscis und besagt, dass die herrschende Klasse nicht nur herrscht, sondern auch ›führt‹, einen weitreichenden Konsens in der Bevölkerung erzeugt. Mit ihr verbinden sich zahlreiche Politiker, Juristen, Kulturschaffende, religiöse Moralisten und andere Intellektuelle (im weiten Sinne), die die herrschende Ideologie in eine fürs Volk überzeugende Sprache übersetzen. Während über die Grundlagen, Funktionsweisen und Auswirkungen der Klassenherrschaft selbst systematisch geschwiegen wird, wird der Volkszorn gegen die ›Herrschaft‹ der Bürokratie, der linksliberalen Medienvertreter, der Gewerkschaftsführungen, der abgehobenen Intellektuellen gerichtet.

Die Komponenten des herrschenden Blocks können sich ebenso ändern wie die zu bekämpfenden Gegner. In den »goldenen Jahren« des Fordismus, also ca. vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1970er Jahre, gehörten z.B. die Gewerkschaftsführungen zu einem beträchtlichen Teil zum herrschenden Machtblock; in bestimmten politischen Konstellationen kann sich die Polemik führender Politiker auch gegen bestimmte Fraktionen der herrschenden Klasse richten, z.B. gegen Hedge-Fonds und ›Coupon-Abschneider‹ des spekulativen Finanzkapitals; die deutschen Faschisten richteten ihren Antisemitismus in dreifacher Frontstellung gegen »jüdische« Arbeiterbewegung und Armut (die ›Bolschewisten‹ und armen ›Ostjuden‹), gegen die subversiv-entwurzelten ›jüdischen‹ Intellektuellen (Liberalismus) und gegen das ›jüdische Finanzkapital‹.

Die Aufgabe einer Ideologietheorie bestünde hier darin, analytische Instrumentarien zum Verständnis solcher ideologischer Verkehrungen und Konstruktionen zu entwickeln. Der Begriff hat sich erst in den 1970er Jahren v.a. im Anschluss an Louis Althusser eingebürgert und sollte eine mehrfache Abgrenzung markieren: zum einen von der im Marxismus weit verbreiteten Reduktion von Ideologien auf bloße Erscheinungen des Ökonomischen – eine Tendenz, die auch als »Ökonomismus« oder »Klassenreduktionismus« bezeichnet wird; zum anderen von Traditionen einer »Ideologiekritik«, die die Ideologie einseitig als falsches, verkehrtes Bewusstsein auffasst, um es vom Standpunkt eines »richtigen« zu kritisieren. Und schließlich von bürgerlichen »Legitimitätstheorien«, die im Gefolge von Max Weber bis hin zu Niklas Luhmann die Frage ideologischer Bindungsfähigkeit »sozialtechnologisch«, ausgehend von der Herrschaft und ihrer Selbstrechtfertigung stellen. So kann z.B. nach Luhmann, der an Webers Überlegungen zur »rationalen« Herrschaft anknüpft2, der Komplexität moderner Gesellschaften nur durch »Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen« Rechnung getragen werden. Nicht motivierte Überzeugungen seien erforderlich, sondern ein »motivfreies […] Akzeptieren« (1969, 32). Das passive Abnicken der von ›befugten‹ Experten gefällten Entscheidungen wird einverständig als Sachzwang dargestellt, die Möglichkeit einer Demokratisierung, einer Partizipation von unten kommt nicht ins Blickfeld. Zu Recht kritisiert Jürgen Habermas, Luhmann appelliere konservativ an die Eliten, ihre Entscheidung fürs Gemeinwesen »autonom«, ohne demokratische Einmischung zu treffen, und seine Legitimationstheorie laufe letztlich auf die neue Ideologie einer technokratischen Herrschaftslegitimation hinaus (Habermas/Luhmann 1971, 239ff, 269).

Der Bedarf nach Ideologietheorie ergab sich daraus, dass keine dieser Traditionen in der Lage war, die Stabilität der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates zu erklären, geschweige denn (sofern sie das überhaupt wollten), eine hegemoniefähige Strategie demokratisch-sozialistischer Transformationen zu entwickeln. Dem versuchen unterschiedliche ideologietheoretische Ansätze gerecht zu werden, indem sie nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen sowie den unbewussten Funktions- und Wirkungsweisen des Ideologischen fragen. Dabei richten sie den Blick auf dessen »Materialität«, d.h. seine Existenz als Ensemble von Apparaten, Intellektuellen, Ritualen und Praxisformen.

III.

Was besagen diese ersten Bestimmungsversuche für unser Eingangsbeispiel? Dass man den Erfolg der US-Rechten nicht hinreichend als »Ausdruck« der Ökonomie erklären kann, liegt auf der Hand. Es gibt zwar unbestreitbare ökonomische Gründe und Hintergründe für den Erfolg von Neoliberalismus und Neokonservatismus (z.B. die Krise von Fordismus und Keynesianismus in den 1970er Jahren), die auch bei einer ideologietheoretischen Analyse berücksichtigt werden müssen. Aber diese erklären noch nicht, warum Arbeiter und untere Mittelschichten einer Politik zustimmen, die durch Deregulierung, Privatisierung und Schwächung der Gewerkschaften ihre eigene gesellschaftliche Stellung unterminiert. Das ideologietheoretische Problem besteht gerade darin, zu begreifen, wie die Hinwendung zu bestimmten ideologischen Werten mit einem Verlust von kollektiver Handlungsfähigkeit und sozialer Absicherung einhergehen kann. Zentrales Thema der Ideologietheorie ist die freiwillige Einordnung in entfremdete Herrschaftsformen, die aktive Zustimmung zu einschränkenden Handlungsbedingungen.

Die ideologiekritische Bestimmung der Ideologie als falsches oder verkehrtes Bewusstsein scheint hier zunächst weiterzuführen. Irgendetwas muss doch ›fehlgeleitet‹ sein, wenn Menschen ihre Stimme für moralische und familiäre Werte abgeben und sich dafür Sozialkürzungen, Verarmung und schließlich sogar die weitere Zersetzung eben dieser Werte einhandeln. Allerdings besagt die Feststellung eines ›falschen‹ Bewusstseins noch nichts über sein Zustandekommen. Eine Theorie des Ideologischen beginnt, wo dessen gesellschaftliche Genesis, Funktionsnotwendigkeit, Wirkungsweise und Wirksamkeit in den Blick kommen. Auch die widersprüchliche Zusammensetzung von Ideologien wird durch die totalisierende Zuschreibung ihrer »Falschheit« eher verdeckt als erklärt. Der Begriff verführt leicht zu Entlarverei und zum dogmatischen Verkünden eines (vermeintlich) »richtigen« Standpunkts, ohne Berücksichtigung der auch in Ideologien und im Alltagsbewusstsein vorhandenen ›realistischen‹ Elemente. Er legt Haltungen nahe, die der Herausbildung von ›organischen Intellektuellen‹ (Gramsci) sozialer Bewegungen entgegenstehen. So sind z.B. auch konservative ›Familienwerte‹ trotz der offensichtlichen Heuchelei vieler ihrer Verkünder nicht einfach »falsch«, sondern repräsentieren, wie verzerrt auch immer, Sehnsüchte nach Zusammenhalt, Nähe und Zuverlässigkeit in einer zerrissenen Welt, nicht zuletzt bei vielen Verarmten und Destabilisierten, deren Lebenszusammenhänge zerbrochen oder prekär sind. »Family values« sind zu einem beträchtlichen Teil »aspirational values«, Sehnsuchts-Werte. In einem ähnlichen Sinn hat der junge Marx die Religion nicht einfach abgetan, sondern als »Seufzer der bedrängten Kreatur« verstanden (1/378). Stuart Hall zufolge ist die wichtigste Frage, die man an eine bindungs- und mobilisierungskräftige Ideologie stellen muss »nicht, was falsch an ihr ist, sondern was wahr an ihr ist«, nicht im Sinne von allgemeingültig oder wissenschaftlich wahr, sondern von »einleuchtend« (1989, 189).

Der Erfolg der religiösen Rechten wird zuweilen damit erklärt, dass die Zerstörung öffentlicher und gemeinsamer Räume im Neoliberalismus (Kommunikationszentren, Clubs, Bibliotheken) und die damit einhergehende Vereinzelung die Leute in Kirchen und Religionsgemeinschaften treibt, die oft als einzige Treffpunkte (neben dem Supermarkt) übrigbleiben. Damit übernehme die religiöse Illusion die Vorherrschaft und verhindere eine rationale Interessenwahrnehmung. Diese Erklärung ist bis zu einem bestimmten Grad plausibel. Aber es bleibt die Frage, warum die Kirchgänger solche Treffpunkte nicht nutzen, um sich über ihre ökonomischen, kommunalen und kulturellen Interessen zu verständigen. Dass Religion an sich dem nicht notwendig entgegenstehen muss, zeigen z.B. die Erfahrungen der lateinamerikanischen Basisgemeinden, in denen eine neue Art der Bibellektüre mit kritischer Gesellschaftsanalyse und der Formulierung von emanzipatorischen Alternativen verbunden wurde. Das Beispiel ist geeignet, um einen wichtigen Unterschied zwischen Ideologiekritik und Ideologietheorie zu verdeutlichen: Statt uns mit der Vorweg-Annahme zufriedenzugeben, dass Religion »verkehrtes Weltbewusstsein«, »Opium des Volks« (1/378) ist, benötigen wir offenbar eine konkrete Analyse der Kräfteverhältnisse im religiösen Feld als Teil der hegemonialen Kräfteverhältnisse in der Zivilgesellschaft. Auch darum geht es, wenn von relativer Eigengesetzlichkeit und eigener »Materialität« des Ideologischen die Rede ist.

IV.

Die ideologietheoretischen Einwände, die gegen ideologiekritische Entlarvungen »falschen Bewusstseins« vorgebracht worden sind, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: zum einen übersehen sie die materiellen Existenzformen des Ideologischen, seine Apparate, Intellektuellen und Praxisformen, die bestimmte ideologische Effekte auf Handlungs- und Denkweisen erzeugen; zum anderen tendiert ihre Orientierung aufs »Bewusstsein« dazu, die Bedeutung der unbewussten Funktionsweisen von ideologischen Formen und Praxen zu verfehlen; und drittens verdrängt das Bemühen, die Ideologie zu »widerlegen«, die Hauptaufgabe, ihre Wirkungsweise zu verstehen und ihrer »Macht über die Herzen« nachzuspüren, um ihr auf dieser Grundlage ihre Attraktionspunkte entwenden zu können.

Freilich unterstellen diese Kritiken zur deutlicheren Abgrenzung ihres eigenen Ansatzes häufig einen Begriff von »Ideologiekritik«, der eher die Schwachpunkte als die potenziellen Stärken anspricht. Kritik im ernsten, analytischen Sinn, wie sie von Marx entwickelt worden ist, bedeutet ja nicht Abfertigung von außen, sondern Begreifen des Gegenstands von seiner Konstitution her. In diesem Sinn wendet sich die Kritik des hegelschen Staatsrechts 1843 gegen eine »dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft«, statt die »innere Genesis« und »Notwendigkeit« des Gegenstandes aufzuzeigen (KHS, 1/296). Diesen Typus von Kritik, der sich in Abgrenzung zu Derridas Konzept der »Dekonstruktion« als ›rekonstruktiv‹ bezeichnen lässt, wird Marx dann mit methodischer Präzision vor allem in seinem Hauptwerk, der Kritik der Politischen Ökonomie, praktizieren.

Die vorgenommenen Grenzziehungen zwischen Kritik und Theorie der Ideologie sind also nicht so eindeutig, wie es zunächst aussah. Zum einen beanspruchen auch viele der als »ideologiekritisch« bezeichneten Ansätze, die gesellschaftlichen Konstitutions- und Wirksamkeitsbedingungen von Ideologien zu erfassen, z.B. mithilfe des marxschen Begriffs des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs sowie der durch ihn konstituierten »objektiven Gedankenformen« (K I, 23/90); zum anderen enthalten auch viele »ideologietheoretischen« Ansätze eine Komponente der Kritik, bei der sich freilich das Paradigma vom Wahr-falsch-Gegensatz zur Analyse der Wirkungsweise und zum Gegensatz von Herrschaftsreproduktion vs. Emanzipation verschoben hat. Mehr noch: Ideologietheorien ohne eine ideologiekritische Perspektive laufen Gefahr, sich funktionalistisch in einverständige Legitimationstheorien zurückzuverwandeln.

Die Abgrenzung zu »ideologiekritischen« Ansätzen sollte daher nicht verabsolutiert werden. Auch ist es nicht sinnvoll, zwischen Fragen der Herrschaft und Fragen der Wahrheit eine strikte Trennung zu errichten. Da Theorieentwicklungen sich häufig in Pendelbewegungen vollziehen, haben sich Ideologiekritik und Ideologietheorie weitgehend getrennt und gegeneinander entwickelt. Dies hing v.a. damit zusammen, dass die Althusser-Schule unter Berufung auf einen theoretischen »Antihumanismus« zentrale Begriffe der Ideologiekritik wie z.B. Entfremdung, Fetischismus, Verdinglichung grundsätzlich verworfen hat. Da ich die damit zusammenhängende Dichotomisierung von Ideologietheorie und Ideologiekritik für unfruchtbar halte, werde ich versuchen, die auseinandergetretenen Richtungen wieder miteinander in einen Dialog zu bringen. Ziel einer solchen Vermittlung ist die Erneuerung einer Ideologiekritik, die mit einer Theorie des Ideologischen als »begrifflichem Hinterland« operieren kann (Haug 1993, 21).

 

Zum Aufbau des Buches

 

Auch wenn die Althusser-Schule sich darin gefiel, mit dem Pathos des absolut Neuen aufzutreten, ist Ideologietheorie nicht so sehr als Neuerfindung, sondern eher als Umartikulation und Hervorhebung von Fragestellungen zu begreifen, die bereits in früheren Ideologiekonzepten in anderer Begrifflichkeit bearbeitet worden sind. Nach einer kurzen Auswertung der vor-marxschen Begriffsgeschichte, insbesondere bei Destutt de Tracy, der den Neologismus ›Ideologie‹ als Bezeichnung für eine exakte Wissenschaft der Ideen eingeführt hat, werde ich mich im 2. Kapitel auf unterschiedliche Verwendungsweisen bei Marx und Engels konzentrieren, die jeweils den Ausgangspunkt für auseinanderdriftende ideologietheoretische Schulen darstellten. Wichtig ist hier v.a. der Nachweis, dass Marx und Engels sich keineswegs auf eine Kritik »falschen Bewusstseins« beschränkten, sondern in verschiedenen Anläufen nach den wirklichen »Verkehrungen« in den gesellschaftlichen Verhältnissen suchten. Sie machten sie zunächst in der Teilung zwischen Hand- und Kopfarbeit fest, dann im Fetischcharakter der Ware und schließlich in einer abgehobenen Funktionsweise des Staates als der »ersten ideologischen Macht« (Engels). Auch wenn ihre Sprache streckenweise noch aus der Bewusstseinsphilosophie herrührt, mit der sie im Handgemenge sind, arbeiten sie durchgängig als Ideologietheoretiker, denen es darum geht, das entfremdete Funktionieren von Ideologien aus der »Selbstzerrissenheit« ihrer weltlichen Grundlage zu erklären.

Im 3. Kapitel wird nachgezeichnet, wie der kritische Ideologiebegriff von Marx und Engels sowohl bei Lenin als auch im »Marxismus-Leninismus« durch eine »neutrale« Interpretation zurückgedrängt wurde, die die Ideologie als klassenbedingte Weltanschauung fasste. Ich werde zu zeigen versuchen, dass die damit verbundene Aufspaltung in ›Materielles‹ und widergespiegeltes ›Ideelles‹ sowohl analytisch einen Rückschritt gegenüber der marxschen Praxisphilosophie bedeutete als auch politisch eng mit der Degeneration des Marxismus zu einer stalinistischen Staatsideologie verwoben war, von der sich die Ideologieforschung im sowjetischen Einflussbereich trotz bemerkenswerter Leistungen einzelner Wissenschaftler nicht befreien konnte. Das Kapitel endet mit der Diskussion eines Aktualisierungsversuchs der ML-Ideologienlehre durch Erich Hahn.

Georg Lukács hat die im Staatsmarxismus verdrängte kritische Ideologiekonzeption in einer Theorie »verdinglichten Bewusstseins« aufgenommen, mit der er die marxschen Analysen zum Warenfetischismus mit Max Webers Begriff »formaler Rationalisierung« zusammenschloss. Wie im 4. Kapitel deutlich wird, hat er dabei jedoch die »Verdinglichung« auf eine Weise totalisiert, dass Apparate und Intellektuelle nicht mehr erforderlich zu sein scheinen und die Kämpfe und Widersprüche in der Ideologie nicht mehr wahrgenommen werden können. Im »westlichen Marxismus« werden v.a. Adorno und Horkheimer diesen Ansatz übernehmen, dann aber 1954 nach ihrer Rückkehr aus dem US-Exil den Ideologiebegriff für veraltet erklären. Insgesamt hat die Kritische Theorie äußerst ertragreiche Diagnosen zur ideologischen Vergesellschaftung im Fordismus hervorgebracht, deren Radikalität in der zweiten und dritten Generation um Habermas und Honneth weitgehend zurückgenommen wurde.

Ähnlich wie bei Marx und Engels lassen sich auch bei Gramsci unterschiedliche Verwendungsweisen des Ideologiebegriffs feststellen. In der Sekundärliteratur wird v.a. ein ›positives‹ Ideologiekonzept rezipiert, das aber anders als beim ML nicht aufs Ideelle festgelegt ist, sondern sich auf die Hegemonialapparate in der Zivilgesellschaft bezieht. Letzteres markiert tatsächlich einen wichtigen Unterschied, aber die Herausstellung eines ›positiven‹ Ideologiebegriffs erfasst nur einen Teilausschnitt. Ich werde im 5. Kapitel den Stab in die andere Richtung biegen und zeigen, dass Gramsci parallel dazu an einem kritischen Ideologieverständnis festhält, das er in seiner Kritik des ›Alltagsverstands‹, der ›passiven Revolution‹ und der ›Subalternität‹ konkretisiert. Die Spezifik seines Ansatzes liegt in einer hegemonietheoretisch fundierten Ideologiekritik, die wirksam ins »Gefüge der Superstrukturen« eingreift.

Althussers Abwertung der Arbeiten Gramscis als »unsystematische« und »intuitive« Notizen verdeckt, dass sein Konzept »ideologischer Staatsapparate« (ISA) entscheidend von Gramscis Analysen der Zivilgesellschaft und der »Hegemonialapparate« zehrt. Anders als Gramsci tendiert Althusser jedoch dazu, die Vergesellschaftung von oben zu verabsolutieren und funktionalistisch zu schließen. Neu sind v.a. die Theorieelemente des ideologischen Subjekts, seiner freiwilligen Unterwerfung (assujettissement) und seines »Imaginären«, die Althusser aus der Psychoanalyse Jacques Lacans übernommen hat. Ich werde im 6. Kapitel die These entwickeln, dass er sich damit eine Anthropologie eingehandelt hat, die die Entfremdung wieder ins Wesen des Menschen verlegt und ihn als »animal idéologique« einer ewigen »Ideologie im Allgemeinen« unterstellt. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch einer historisch-materialistischen Theorie ideologischer Unterwerfung und deren Auslagerung in eine unhistorische Psychoanalyse ist einer der theoretischen Gründe für den Zerfall der Althusser-Schule.

Bourdieu hat in den 1990er Jahren den Begriff der Ideologie aufgegeben und durch den der »symbolischen Gewalt« ersetzt, ohne dass ersichtlich wäre, welcher Erkenntnisfortschritt mit der neuen Terminologie verbunden sein soll. Dennoch widme ich seinem Ansatz ein eigenes Kapitel, weil insbesondere seine Begriffe des »Feldes« und des »Habitus« ideologietheoretisch von Bedeutung sind: der Feldbegriff, den Bourdieu im Anschluss an die Deutsche Ideologie aus der Trennung von Hand- und Kopfarbeit entwickelt hat, ist zuweilen besser als der Apparatbegriff geeignet, dezentral strukturierte ideologische Bereiche zu erfassen; der Habitus-Begriff ist hilfreich, um die Verbindungen zwischen ideologischen Anrufungen und verfestigten Strukturen alltäglichen Handelns, Wahrnehmens und Denkens zu verstehen. Bei beiden Begriffen zeigen sich zudem überraschende Übereinstimmungen mit Bertolt Brecht, der seinen Feldbegriff ähnlich wie Bourdieu unter dem Einfluss des Psychologen Kurt Lewin entwickelt und den Begriff der Haltung (lat. habitus) als praxistheoretische Grundkategorie ausgearbeitet hat. Zu untersuchen ist abschließend, ob sich in Bourdieus Habitus-Begriff ein ähnlicher Sozialdeterminismus reproduziert, wie er ihn an Althusser kritisiert hat.

Das 8. Kapitel behandelt eine widersprüchliche Entwicklung, die auf der einen Seite die ideologietheoretischen Ansätze von Gramsci und Althusser weiter differenziert (z.B. Pêcheux und Hall), andererseits einen intellektuellen Hegemoniewechsel von der Althusser-Schule zur Postmoderne hervorbringt, in dessen Verlauf der Begriff der Ideologie sukzessive von denen des ›Wissens‹, des ›Diskurses‹ und der ›Macht‹ abgelöst wird. Am Beispiel Foucaults, Lyotards und Baudrillards wird deutlich, dass die postmoderne Wende nicht nur einen Rückschritt gegenüber dem Differenzierungsniveau der Ideologietheorie gebracht hat, sondern auch selbst zu einem Bestandteil neoliberaler Ideologie geworden ist. Andererseits werde ich an Foucaults Begriff des »Dispositivs« und seinem Interesse für Machttechnologien zeigen, wie einige der in diesem Übergang entwickelten Konzepte ideologietheoretisch re-interpretiert werden können.

Im 9. Kapitel geht es schließlich um das von W.F. Haug gegründete Projekt Ideologietheorie (PIT), in dem ich selbst von 1977 bis 1985 mitgearbeitet und in dessen Rahmen ich meine ersten Arbeiten veröffentlicht habe.3 Es ist offensichtlich, dass der dort entwickelte Ansatz auch die Konzeption des vorliegenden Buches beeinflusst hat. Tatsächlich sehe ich das nachhaltige Verdienst des PIT-Ansatzes darin, die auseinandergetretenen Traditionsstränge der Ideologiekritik und der Ideologietheorie auf neuer Grundlage wieder zusammengeführt zu haben: Ausgehend vom kritischen Ideologiebegriff bei Marx und Engels entwickelt das PIT eine Konzeption des ›Ideologischen‹ als entfremdeter Vergesellschaftung »von oben«. Aber diese wird nicht unmittelbar an »falschen« Bewusstseinsformen abgelesen, sondern – im Anschluss an Gramsci und Althusser – primär an den wirklichen Funktionsweisen der Hegemonialapparate, ideologischen Mächte und Praxisformen festgemacht.

Da der PIT-Ansatz in der deutschen Rezeption zuweilen mit Althussers Ideologietheorie zusammengeworfen wird (z.B. Hahn 2007, 87; Seppmann 2007, 164), sei auf zwei methodische Entscheidungen verwiesen, die es ihm ermöglichen, Althussers Funktionalismus zu vermeiden und zu überwinden: Zum einen beansprucht sein Konzept des Ideologischen nicht, das gesamte gesellschaftliche Handeln der Subjekte abzudecken, sondern bezeichnet die spezifische Dimension einer Vergesellschaftung »von oben«, die von anderen Vergesellschaftsdimensionen (wie der des »Kulturellen«, der »horizontalen Selbstvergesellschaftung« oder des »Proto-Ideologischen«) analytisch unterschieden wird. Die Subjekte werden also nicht darauf reduziert, ›Effekte‹ ideologischer Anrufungen zu sein, ihr Alltagsbewusstsein wird mit Gramsci als widersprüchlich zusammengesetzt begriffen. Zum anderen müssen Ideologien, um massenwirksam sein zu können, in ihre ›vertikale‹ Struktur auch ›horizontale‹, aufs Gemeinwesen bezogene Impulse einbauen, die von den Subjekten als die ›ihrigen‹ wiedererkannt werden. Insofern das Ideologische gegensätzliche Positionen kompromisshaft verdichtet, kann es auch von entgegengesetzten Standpunkten »antagonistisch reklamiert« werden. In solcher »Kompromissbildung« (Freud) hat die häufig beobachtete Mehrdeutigkeit von Ideologien ihre Grundlage. Entsprechend wird sich eine ideologietheoretisch fundierte Ideologiekritik v.a. dafür interessieren, wie die im Ideologischen repräsentierten Gemeinwesenfunktionen wieder herausgelöst und für die Entwicklung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zurückgewonnen werden können.

Die letzten drei Kapitel sind der Aufgabe gewidmet, die bisher erarbeiteten ideologietheoretischen Instrumentarien am weltweit hegemonialen Neoliberalismus zu erproben. Marx’ Fetischismuskritik und seine Überlegung zur bürgerlichen »Religion des Alltagslebens« gaben wichtige Hinweise, um zu verstehen, wie F.A. v. Hayek die anonyme Marktordnung zu einer prinzipiell unerkennbaren und unbeeinflussbaren religionsähnlichen Instanz erhebt, der die Subjekte sich bedingungslos unterzuordnen haben. Eine »symptomale Lektüre« (Althusser) seines Buches Die Illusion sozialer Gerechtigkeit zeigt Brüche im Text, die zugleich Einbruchstellen für einen latenten zweiten Textes darstellen: Was Hayek als »Dilemma« zwischen der erforderlichen Leistungsmotivation des Einzelnen und dem schicksalhaften ›Spiel‹-Charakter des Markts beschreibt, ist Symptom eines inneren Widerspruchs neoliberaler Ideologie, die die Subjekte einerseits im Namen der »Befreiung« von Tradition und Bürokratie mobilisiert und sie andererseits umso strikter der schicksalshaften Ordnung des Marktes unterordnet. Die zentralen Begriffe des Neoliberalismus sind permanent von ihrem Gegenteil durchkreuzt: ihre Staatskritik mündet in einen undemokratischen Despotismus, ihre ›Freiheit‹ erweist sich als Tugend der Unterwerfung unter vorgegebene Regeln.

Beim »Streifzug« durchs ideologische Dispositiv des Neoliberalismus (Kap. 11) wurde mir klar, wie sehr die im »sozialdemokratischen Zeitalter« der 1970er und 1980er Jahre entwickelten ideologietheoretischen Ansätze durch ihren Kontext des fordistischen Wohlfahrtsstaats geprägt waren. Sowohl Althussers Zentrierung des Ideologischen auf den »Staatsapparat« als auch die Orientierung des PIT an den ›klassischen‹ ideologischen Mächten (Staat, Recht, Religion usw.) reichen nicht aus, um die Bedeutung privater Thinktanks und transnationaler Netzwerke für die Hegemonie des Neoliberalismus zu erfassen. Wie W.F. Haug gezeigt hat, muss die Attraktivität des Neoliberalismus im Zusammenhang mit den hochtechnologischen Umwälzungen der Produktionsweise begriffen werden, aus denen er einen Großteil seiner Zustimmungspotenziale bezieht. Zu berücksichtigen sind auf der einen Seite die lähmenden Wirkungen von Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung bis in die »Mitte« der Gesellschaft hinein, auf der anderen Seite die immer wieder neu zutage tretende Fähigkeit der Neoliberalen, »Mitte-Oben«-Bündnisse herzustellen, die auch auf ausreichend große Gruppen der popularen Klassen ausstrahlen. Ein »passiver Konsens« kann vermutlich solange aufrechterhalten werden, als eine trag- und mehrheitsfähige linke Alternative noch nicht in Sicht ist. Aufgabe einer wirksam eingreifenden Ideologiekritik ist es, die nach wie vor attraktiven Befreiungsversprechen des Neoliberalismus aufzugreifen, mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden und gegen ihn zu wenden.

Das letzte Kapitel, das in modifizierter Form bereits veröffentlicht wurde (Rehmann 2007a), formuliert eine Kritik an den »Gouvernementalitäts-Studien«, die im Anschluss an Foucault beanspruchen, die neoliberalen Mobilisierungen eigenverantwortlicher Initiative angemessener analysieren zu können, als dies in einem »ideologiekritischen« Paradigma möglich wäre. Ausgangspunkt ist die in der Tat vielversprechende Ankündigung Foucaults, mit dem Begriff der ›Gouvernementalität‹ die Verzahnung von Herrschaftstechniken und Selbsttechniken zu untersuchen. Ich werde zu zeigen versuchen, dass gerade dieses Versprechen nicht eingelöst wird. Da weder Foucault selbst noch die »Gouvernementalitäts-Studien« die angedeutete Unterscheidung von Herrschaft und Macht, Fremd- und Selbstvergesellschaftung ernstnehmen, wird die neoliberale Aktivierungsrhetorik der Managementliteratur nur einfühlsam nacherzählt und theoretisch verdoppelt. Eine ideologietheoretische Re-Interpretation müsste die neoliberalen Selbsttätigkeits-Anrufungen im Zusammenhang mit den wirklichen Umbrüchen in der hochtechnologischen Produktionsweise wie auch mit den sozialen Spaltungen der Klassengesellschaft untersuchen: auch die Subjektionsstrategien selbst sind gespalten, und was im Kontext gut bezahlter und abgesicherter IT-Facharbeitsplätze als Subjekt-Effekt kreativer Eigenaktivität wirken mag, findet seine dunkle Kehrseite im »Schicksals-Effekt« (Bourdieu) der Prekarisierten und Marginalisierten.

 

*

 

Die oft als »poststrukturalistisch« bezeichnete Einsicht, dass Begriffe kein unveränderliches semantisches ›Wesen‹ haben, sondern in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen, gilt auch für den Ideologiebegriff. Auch wenn die Gewichtungen und Präferenzen des Autors deutlich werden sollten, kann und soll es nicht darum gehen, eine einzige Definition von Ideologie für ›gültig‹ zu erklären. Die vorliegende Einführung in die Ideologietheorie, die aus einem Artikel im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM) hervorgegangen ist (Rehmann 2004c), soll auch für diejenigen nützlich sein, die andere Schwerpunktsetzungen und Bewertungen vornehmen. In diesem Sinne habe ich mich bemüht, den Theorievergleich so anzulegen, dass die verschiedenen Ansätze sowohl in ihrer Eigenlogik nachvollziehbar sind als auch theoriesprachlich ineinander übersetzt werden können. Auch auf dem umstrittenen Feld der Ideologietheorie geht es im Sinne der bekannten Zapatista-Parole darum, eine »Welt« zugänglich machen, »in der viele Welten Platz haben«.

1. Eine verwickelte Vorgeschichte: Die »idéologistes« und Napoleon

Es gehört zu den grundlegenden Befunden der Ideologie- und Diskursforschung, dass Wortbedeutungen nicht ein für alle mal fixiert, sondern starken Änderungen unterworfen sind. Zuweilen können sie sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Dies trifft für die Ideologie selbst zu. Wird sie heute im allgemeinen Sprachgebrauch häufig als Gegenbegriff zu wissenschaftlich exakter Wirklichkeitsauffassung verwendet, wurde sie ursprünglich als Bezeichnung für eine Wissenschaft eingeführt. Sie wurde als Ideen-Wissenschaft (Ideo-logie) verstanden und stand damit der heutigen Bedeutung von Ideologie-Theorie näher als den von dieser zu untersuchenden Ideologien. Aber ähnlich wie bei anderen Begriffen mit der Endung -logie (z.B. Biologie, Ökologie) trat auch bei der Ideo-logie eine eigenartige Verschiebung ein, durch die sie nicht mehr das systematische Wissen über einen Gegenstand, sondern diesen selbst bezeichnete, nicht mehr die Analyse der Ideen, sondern die Ideengebäude.

1.1 »Ideologie« als naturwissenschaftlich exakte Ideenwissenschaft

Der Terminus »Ideologie« wurde 1796 von Destutt de Tracy als eine sprachliche Neuschöpfung in Analogie zur Onto-logie (Seins-Lehre) eingeführt. Er sollte eine analytische Wissenschaft bezeichnen, die nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften (v.a. der Physiologie) auf die Zerlegung der Ideen in elementare Bestandteile und – abgeleitet vom griechischen Wortsinn von eidos als visuelles Bild – auf die Erforschung der ihnen zugrunde liegenden Wahrnehmungen abzielte (Mémoire sur la faculté de penser, 1798, 324). Dem liegt in Anlehnung an Locke, Condillac und Cabanis die sensualistische Überzeugung zugrunde, dass die Empfindungen die einzige Quelle unserer Ideen sind.4 Gestützt auf das Bewegungsprinzip von D’Holbach und auf Spinozas Konzept der Handlungsfähigkeit (potentia agendi) sollte versucht werden, den Dualismus von Materialismus und Idealismus zu überwinden. Während Marx und Engels sich der Ideologieproblematik zunächst von der Seite des Idealismus annähern werden (vor allem in der Deutschen Ideologie), ist es bemerkenswert, dass die Ideologie in ihrem französischen Ursprung nicht unerheblich von Quellen des (mechanischen) Materialismus inspiriert war. Von Spinoza übernahm Destutt de Tracy die Ablehnung der Willensfreiheit, so dass die physiologischen und gesellschaftlichen Determinanten von Ideen, Gefühlen und Handlungen ins Zentrum rückten (vgl. Kennedy 1994, 29, 31; Goetz 1994, 58f, 61f). Im Gegensatz zur Metaphysik, deren Stelle sie beansprucht, soll die Ideologie naturwissenschaftlich exakt und praktisch nutzbar sein (Mémoire, 318).

Der neuen »Super-Wissenschaft« sind alle anderen Wissenschaften untergeordnet, deren Einheit sie herzustellen beansprucht (Kennedy 1994, 18, 25).5 Diese »Begründung aller Erkenntnisse, dieser in einem kontinuierlichen Diskurs manifestierte Ursprung ist die Ideologie«, bemerkt Michel Foucault (1971, 122). Sie bildet die Grundlage der Grammatik, der Logik, der Erziehung, der Moral und schließlich der größten Kunst, »die Gesellschaft so zu regeln, dass der Mensch von seinesgleichen möglichst viel Unterstützung und möglichst wenig Behinderung erfährt« (Mémoire, 287).6 Rationale Ableitung von Bedeutungen und Handlungszielen soll die sozialen Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft ausgleichen und vor allem über das Erziehungssystem dazu beitragen, ihre Klassenkämpfe in einer aufgeklärten repräsentativen Demokratie zu überwinden (Goetz 1994, 71).

1.2 Eine post-jakobinische Staatsideologie

Spätestens hier wird deutlich, dass die »Ideologie«, die als unparteiische und universalistische Grundlagenwissenschaft auftritt, auch als Ideologie im heutigen Sinn funktionieren soll, nämlich in der Funktion, die sozialen Gegensätze »rational« zu überwinden, ohne ihre gesellschaftlichen Grundlagen anzutasten: über eine Einwirkung auf Empfindungen und Ansichten, und »von oben«, v.a. durch ein zentralisiertes staatliches Erziehungswesen.7Diese französische, auf einen Zentralstaat orientierte Traditionslinie macht es nachvollziehbar, warum Althusser später die Schule als den dominierenden »ideologischen Staatsapparat« behandeln wird.

Es lohnt sich, einen Blick auf den politischen Kontext zu werfen. Die »Ideologie« entsteht in der nach-jakobinischen Phase der Französischen Revolution im Diskussionszusammenhang einer Gruppe französischer Gelehrter, der sog. »idéologistes«, die maßgeblich an der Gründung des Institut national, der École Normale Supérieure, der École Centrale und des Institut de France beteiligt waren. Destutt de Tracy war ein vermögender Grundbesitzer, der auf die Seite der Republikaner überwechselte. Aber von den Jakobinern wird er für 11 Monate eingesperrt, seine ersten Entwürfe zur Ideologie schreibt er in einer Gefängniszelle, aus der er nach dem Sturz der Jakobiner bei der Machtübernahme des Direktoriums befreit wird. Sein Ziel ist die Überwindung der »irrationalen« jakobinischen Schreckensherrschaft und die Sicherung einer »rationalen« bürgerlich-republikanischen Ordnung. In diesem Sinne führt er den Ideologiebegriff in die Debatten des Institut national ein, das 1795 nach dem »Thermidor« als staatlicher Zusammenschluss der führenden republikanischen Intellektuellen zur Reorganisation des Erziehungswesens ins Leben gerufen wurde. Die Ideologie ist post-revolutionär. Sie soll die Errungenschaften der Aufklärung und des Republikanismus in dem Moment staatlich institutionalisieren, als der Jakobinismus politisch geschlagen ist – ein Vorgang, den man mit Gramsci als eine »passive Revolution« analysieren könnte.8 Deneys zufolge ist sie als »ruhiges und gelehrtes Äquivalent« der aus der Revolution hervorgegangenen Institution konzipiert, deren Errungenschaften sie erhalten und deren plebejische Forderungen sie »evakuieren« soll (Deneys 1994, 109).9 Zur Zeit des Direktoriums wächst ihr der Status einer Staatsphilosophie zu, und auch nach der Herrschaft von Napoleon I. erlebt sie eine neue Karriere im liberalen Lager (ebd., 117f).

1.3 Der negative Ideologiebegriff Napoleons

Allerdings setzt während der Herrschaft von Napoleon I. ein Bedeutungswandel ein, der für die Begriffsgeschichte der Ideologie von großer Bedeutung ist. Die von dem Kreis um Destutt de Tracy eingeleitete »passive Revolution« des Wissenschafts- und Erziehungswesens konnte nur instabil und vorläufig sein. Nachdem der General Bonaparte die »idéologistes« zunächst unterstützt hatte, klagte er als Kaiser Napoleon die »phraseurs idéologues« an, durch rationalistische und naturrechtliche Abstraktionen die staatliche Autorität zu untergraben, das Volk der Religion und der heilsamen Illusionen zu berauben, die es zu seinem Glück benötigt, und es mit einer Souveränität zu umschmeicheln, die es gar nicht ausüben kann (vgl. Kennedy 1978, 189). Am Ende wird der Begriff zur »Waffe in der Hand eines Kaisers […], der verzweifelt darum [kämpft], seine Gegner zum Schweigen zu bringen und ein zusammenbrechendes Regime aufrechtzuerhalten« (Thompson 1990, 31). Alles Unglück unseres schönen Frankreichs muss man der Ideologie anlasten, heißt es 1812 nach der Niederlage gegen Russland: »dieser finsteren Metaphysik, die auf künstliche Weise nach den Grundlagen sucht, auf denen sie dann die Gesetze der Menschen errichten kann, anstatt diese Gesetze den Erkenntnissen des menschlichen Herzens und den Lektionen der Geschichte anzupassen« (zit. n. Corpus 26/27, 145).

Unter den Schlägen dieser vehementen Attacken verschiebt sich der Ideologiebegriff allmählich »von einer Bezeichnung für einen skeptischen wissenschaftlichen Rationalismus zu einer Bezeichnung für ein Feld abstrakter, zusammenhangsloser Ideen«, bemerkt Eagleton (2000, 85). Ein Nachhall dieser semantischen Verschiebung findet sich 1840/41 in der Doktorarbeit des 23-jährigen Marx, wenn er Epikur zuschreibt: »Nicht der Ideologie und der leeren Hypothesen hat unser Leben not, sondern des, dass wir ohne Verwirrung leben.« (40/300; MEGA I.1/53)

Kann man daraus schlussfolgern, wie Eagleton es tut (2000, 85, 93f), dass Marx und Engels die von Napoleon geprägte negative Bedeutung übernahmen und damit seine »lebhafte, pragmatische Verachtung für ›Ideologie‹, im Sinne eines fanatischen Idealismus [teilten]«? Dies scheint mir eine allzu lineare Erklärung zu sein, die die spezifisch neue Qualität unsichtbar macht. Zwar knüpfen sie an eine vorgefundene, von Napoleon geprägte Semantik an, aber ihr Standpunkt ist nicht der einer autokratischen Macht, die den Einspruch gegen sie als »Ideologie« abfertigt, sondern im Gegenteil: mit dem von ihnen entwickelten kritischen Ideologiebegriff rücken »Macht und Herrschaft […] mitsamt ihren wechselnden Strategien im Verhältnis zu den Ideen ins Bild. Was bisher selber unsichtbarer Blick war, muss sich im Blickfeld zeigen«, und deshalb hat erst diese »dritte Taufe« durch Marx den Ideologiebegriff »unauslöschlich ins Register von Grundbegriffen der Moderne eingeschrieben« (Haug 1993, 9).

Gegen die These einer linearen Verbindung spricht noch eine andere Beobachtung. Auch vom Ideologiebegriff der »idéologistes« lässt sich nämlich eine Verbindungslinie zu Marx und Engels ziehen: wie jenen geht es auch diesen um eine kritische Analyse der Ideen, ihrer Entstehungsbedingungen und Wirkungsweise, wobei sie allerdings nicht von der Physiologie, sondern vom »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ausgehen, wie es in der 6. Feuerbachthese heißt. Erst von diesem gesellschaftlichen »Ensemble« aus kann das »Wesen« des Menschen in seiner jeweiligen »konkreten Wirklichkeit« erschlossen werden (ThF, 3/6). Nicht an Tracy, sondern an Marx hat sich daher »die gesamte spätere Ideologiediskussion abgearbeitet«, bemerkt Hauck (1992, 8).

2. Ideologiekritik und Ideologietheorie bei Marx und Engels

Wer bei Marx und Engels einen expliziten und eindeutigen Ideologiebegriff sucht, wird enttäuscht. Sie entwickeln ihn nicht als systematisch ausgearbeiteten Grundbegriff, sondern gebrauchen ihn ad hoc und häufig im Handgemenge mit den Kontrahenten, mit denen sie polemisieren. Dies bedeutet keineswegs, dass er ohne theoretischen Wert ist, im Gegenteil.

Dass sie ihn in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich verwenden, hat dazu geführt, dass sich aus ihren Texten im Wesentlichen drei Hauptrichtungen ableiten konnten: eine v.a. von Georg Lukács und der Frankfurter Schule vertretene kritische Konzeption, die die Ideologie als »verkehrtes« oder »verdinglichtes« Bewusstsein interpretiert; eine v.a. von Lenin formulierte und im »Marxismus-Leninismus« weitergeführte »neutrale« Konzeption, die die Ideologie als Weltanschauung mit je spezifischem Klassencharakter fasst und in diesem Zusammenhang auch von einer »marxistischen Ideologie« spricht; und eine von Gramsci über Althusser bis zum »Projekt Ideologietheorie« (PIT) reichende Konzeption, die das Ideologische als Ensemble von Apparaten und Praxisformen versteht, die das Selbst- und Weltverhältnis der Individuen organisieren. Die drei Interpretationen sind nicht immer klar getrennt, sondern können sich auch überschneiden und kombinieren.

2.1 Vom »verkehrten Bewusstsein« zur »idealistischen Superstruktur« der Klassengesellschaft

Die Kritik der Ideologie als notwendig verkehrtem Bewusstsein kann sich auf zahlreiche Formulierungen stützen, in denen Marx und Engels (etwa im Blick auf Religion) von »verkehrtem Weltbewusstsein«, »selbständigem Reich in den Wolken«, »verdrehter Auffassung«, »auf den Kopf stellen« u.Ä. sprechen (z.B. 1/378; 3/6, 18, 26, 405, 539). Die Ideologie werde vom Denker mit einem »falschen Bewusstsein« vollzogen, dem die eigentlichen Triebkräfte entgehen, »sonst wäre es eben kein ideologischer Prozess«, meint Engels (39/97). Die Ideologen halten »ihre Ideologie sowohl für die erzeugende Kraft wie für den Zweck aller gesellschaftlichen Verhältnisse […], während sie nur ihr Ausdruck und Symptom ist« (DI, 3/405).

2.1.1 Die »Camera obscura« und ihre Kritiker

Eine solche Verkehrung ist gleichnishaft ins Bild einer »Camera obscura« gebracht: »Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.« (DI, 3/26) Um den ideologischen Verkehrungen der Bewusstseinsphilosophie zu begegnen, wollen Marx und Engels nicht von dem ausgehen, »was die Menschen sich einbilden«, sondern »vom wirklichen tätigen Menschen« und »aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses« darstellen. […] Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.« (26f)

Diese Bestimmungen sind von verschiedenen ideologietheoretischen Schulen vehement kritisiert worden. Das »Projekt Ideologietheorie« bemerkt, »an der Stelle des geforderten Entstehungsnachweises stehen hier mechanistische Metaphern (gemeint sind die soeben zitierten Ausdrücke »Reflexe« und »Echos«; JR), mit denen die Entstehung von Ideologien wie Religion oder Moral nicht zu beschreiben ist« (PIT 1979, 8). Stuart Hall zufolge sind Ausdrücke wie falsches Bewusstsein oder ideologische Verzerrung »hilflos«, da sie sowohl die Massen als auch die Kapitalisten »wie erklärte Deppen aussehen [lassen]« (1984, 105), während »wir«, die kritischen Intellektuellen, uns einbilden können, ohne Illusionen zu leben (1989, 186). Hall verbindet die Zurückweisung der Vorstellung eines »verkehrten« Bewusstseins mit der erkenntnistheoretischen Kritik an einer »empiristischen« Auffassung, der zufolge die »reale Welt« sich eigentlich unmittelbar in unser Bewusstsein einprägen würde (»Reflex«), wenn nicht ideologische Verkehrungen dazwischentreten würden (ebd., 185). Raymond Williams hält es für eine »objektivistische Phantasie«, zu glauben, die Bedingungen des wirklichen Lebens könnten »unabhängig von Sprache und historischen Berichten« gekannt werden. Es gab nicht zuerst das materielle gesellschaftliche Leben, und später dann das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein und seine Hervorbringungen sind immer, wenn auch in unterschiedlichen Formen, »Teil des materiellen gesellschaftlichen Prozesses selbst« (1977, 60). Eagleton meint, Marx und Engels auf einen naiven Sinnesempirismus festlegen zu können, der nicht begreift, dass es keinen wirklichen Lebensprozess ohne Interpretation gibt (2000, 91): »Was das Tier ›Mensch‹ ausmacht ist, dass es sich in einer Welt der Bedeutungen bewegt. Diese Bedeutungen sind konstitutiv für seine Tätigkeiten und nicht sekundär.« (88) In der Camera-obscura-Metapher leugneten Marx und Engels den aktiven, dynamischen Charakter des menschlichen Bewusstseins, indem sie es auf einen Apparat reduzierten, der »passiv Objekte der Außenwelt festhält« (92).

2.1.2 Ein naiver Sinnesempirismus?

Spätestens hier ließe sich freilich fragen, ob die Kritik Marxens Denken wirklich trifft. Kurz bevor er sich 1845 zusammen mit Engels an die Abfassung der Deutschen Ideologie macht, veröffentlicht er die Thesen über Feuerbach, in deren erster These er kritisiert, der bisherige Materialismus habe die »Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst […]; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv« (3/5). Demgegenüber hebt er als Errungenschaft des Idealismus hervor, er habe »die tätige Seite« entwickelt, freilich nur »abstrakt«, da er die »wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt« (ebd.). Sollte Marx tatsächlich im gleichen Jahr, in dem er proklamiert, den »alten Materialismus« durch einen »neuen«, von subjektiver Praxis ausgehenden Materialismus zu überwinden, auf die verabschiedete Position zurückfallen, indem er eine »passive« (und zugleich »verkehrte«) Widerspiegelung der Außenwelt durchs Bewusstsein behauptet? Und muss man ihn tatsächlich darüber belehren, dass der »wirkliche Lebensprozess«, von dem er auszugehen beansprucht, nicht ohne »Bewusstsein« und Bedeutungshandeln zu haben ist?

Beobachten wir die Schlüsselstelle, mit der die Deutsche Ideologie dem philosophischen Bewusstseinsdiskurs fünf »Momente« der sozialen Tätigkeit entgegenhält, die »vom Anbeginn der Geschichte an […] zugleich existiert haben und sich noch heute in der Geschichte geltend machen« (3/29): die Menschen müssen erstens die Mittel zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse erzeugen; dabei erzeugen sie zweitens auch neue Bedürfnisse; drittens erzeugen sie auch Nachkommen; viertens ist ihr Zusammenhang nicht nur »natürlich«, sondern bereits gesellschaftlich – Marx und Engels prägen hier einen umfassenden Produktionsbegriff, nämlich den der »Produktion des Lebens, des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung« (29); und fünftens geschehe dies alles mit »Bewusstsein«, das aber keineswegs als »reines« Bewusstsein aufzufassen sei:

»Der ›Geist‹ hat von vorneherein den Fluch an sich, mit der Materie ›behaftet‹ zu sein, die hier in der Form […] der Sprache auftritt. […] Die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein. […] Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt« (30f).

Von einer »objektivistischen Phantasie« menschlichen Lebens ohne Sprache und Bedeutungen kann hier also keine Rede sein. Es geht auch nicht um den Nachweis ihres »sekundären« Status. Sondern die Passage richtet sich gegen die idealistische Vorstellung eines »reinen« Bewusstseins und erinnert daran, dass das Bewusstsein seine »Sozialform« in der Sprache hat. Auf erstaunlich hellsichtige Weise nehmen Marx und Engels hier moderne sprachwissenschaftliche Ansätze vorweg, die den materiellen sowie gesellschaftlichen Charakter von Bedeutungen mit dem Begriff des »Diskurses« oder der »diskursiven Praxis« zu fassen versuchen.10

Wenn Marx und Engels die Bewusstseinsphilosophie kritisieren, geschieht dies also keineswegs mit dem Argument, das Bewusstsein gehöre nicht zur Lebenspraxis. Im Gegenteil, sie argumentieren, dass es nur als ihr integraler Teil und damit als gesellschaftliches zu begreifen ist. Nichts anderes ist gemeint, wenn es kurz vor der Camera-obscura-Passage heißt, die »Produktion von Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins« sei zunächst »unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens« (26). Der Sache nach geht es nicht um eine Hintanstellung des Bewusstseins hinter das »Leben«, sondern um eine Kritik der Bewusstseinsphilosophie, weil sie das Bewusstsein, um es als primäre Kraft darstellen zu können, aus dem praktischen Lebenszusammenhang herausreißt.

Gerade da, wo die Abgrenzung vom »ideologiekritischen« Marx ihre schwersten Geschütze auffährt, bei seiner angeblich zugrunde liegenden »naiv«-empiristischen Erkenntnistheorie, stützt sie sich auf einzelne polemische Umkehrungen des vorgefundenen Bewusstseinsdiskurs (z.B. »das Leben bestimmt das Bewusstsein«), verfehlt jedoch die anti-objektivistischen, praxisphilosophischen Stärken der Argumentation. Aber wie steht es mit dem »falschen«, »verkehrten« Bewusstsein, als das Marx die Ideologie bezeichnet? Ebenso wie »Reflex« und »Echo« legen solche Redeweisen nahe, es handele sich um ein luftiges Gebilde ohne eigene Materialität und Wirkungsweise. Es liegt auf der Hand, dass solche Vorab-Zuschreibungen einer vorurteilsfreien analytischen Rekonstruktion des Gegenstands im Wege stehen.

Dennoch ist es auch hier erforderlich, einen genaueren Blick auf die marxsche Argumentation zu werfen, um das vorgefundene Sprachmaterial und den spezifisch marxschen Eingriff in dieses voneinander zu unterscheiden. Bevor ich auf die Camera-obscura-Metapher zurückkomme, möchte ich mir die Religionsbestimmungen vornehmen, die der junge Marx 1843/44 in der Einleitung zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie entworfen hat. Sie geben das Muster ab, in dem er ein Jahr später in der Deutschen Ideologie die Ideologie bestimmen wird.

2.1.3 Exkurs zur Religionskritik des jungen Marx

Dass die Religion ein »verkehrtes Weltbewusstsein« ist (1/378), ist keineswegs ein neuer Gedanke. Marx hat ihn von Ludwig Feuerbachs Projektionstheorie übernommen, nach der das vielfach begrenzte Individuum das potenziell unbegrenzte Wesen der menschlichen Gattung in die Religion projiziert, wo es sich ihm als allmächtiger Gott, unendliche Gnade, grenzenlose Liebe darstellt. In Marxens zusammenfassender Formulierung ist die Religion »das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat«, sie ist »die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt« (ebd.). Gemeinsam ist Feuerbach und Marx die Perspektive, die in die Religion ausgelagerten Wünsche und Sehnsüchte wieder aus ihrer projizierten Form zurückzuholen und irdisch zu verwirklichen. Von Feuerbach unterscheidet Marx hier v.a., dass er die Entfremdung nicht mehr nur in allgemeinmenschlichen Kategorien artikuliert, sondern in der »verkehrten Welt« (ebd.) und damit in der Herrschaftsordnung der Klassengesellschaft verortet:

»Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.« (Ebd.)

Die Formulierung vom »Seufzer der bedrängten Kreatur« lässt sich über Feuerbach und den Mystiker Sebastian Frank bis zu Paulus zurückverfolgen, der im Römerbrief den »Glauben« an den Gekreuzigten inmitten erdrückender Hoffnungslosigkeit ansiedelte: das Geschaffene wurde der Nichtigkeit unterworfen, so dass es »seufzt und sich schmerzlich ängstigt bis jetzt, und auch wir selbst seufzen in uns selbst und warten auf […] die Erlösung unseres Leibes« (Röm 8, 20, 22f).11 Die Aufnahme dieser Traditionslinie macht deutlich, wie weit der junge Marx (wie auch schon Feuerbach) von einer bloßen Kritik »falschen Bewusstseins« entfernt ist. Das Interesse gilt vielmehr den in religiöser Form enthaltenen Sehnsuchts- und Protestimpulsen.

Bekanntlich folgt auf das Zitat unmittelbar die berühmte Bestimmung der Religion als »Opium des Volks« (1/378), was manche zu der Interpretation veranlasst hat, für Marx sei die Religion »einerseits« Seufzer, »andererseits« Opium. Dafür gibt es im Text jedoch keinen Hinweis. Plausibler scheint mir die Annahme, dass Marx beides in einer widersprüchlichen Einheit zusammendenkt: gerade weil die Religion (nur) »Seufzer der bedrängten Kreatur« und nicht eine aus wissenschaftlicher Analyse der Klassengesellschaft hervorgehende Strategie ist, wirkt sie als Volks-»Opium« und lähmt die Widerstandsfähigkeit der Proletarier. Die schroffe Entgegensetzung von »wissenschaftlich« fundierter Politik und »utopisch«-illusionärer Protestation ist eine Konstante in Marx’ Polemik gegen christliche Sozialisten – eine Einseitigkeit, die erst durch Ernst Blochs Verbindung von analytischem »Kältestrom« und »Wärmestrom« korrigiert wurde (Prinzip Hoffnung 1, GA 5, 240f).12 Von hier aus betrachtet legt das Opium-Zitat – entgegen der apodiktischen Formulierung von Marx – eine andere Schlussfolgerung nahe: auch religiös inspirierte Bewegungen können die illusorische und zugleich lähmende Eigenschaft religiösen »Opiums« überwinden, nämlich wenn es ihnen gelingt, den »Seufzer der bedrängten Kreatur« mit fundierter Kapitalismuskritik und bewusster Strategiebildung zu verbinden. Es liegt auf der Hand, dass die Dogmatisierung von ideologiekritischen Bestimmungen der Religion als »verkehrtes Weltbewusstsein« das Bündnis mit religiösen Befreiungsbewegungen erschwert hat.

Entscheidend in unserem Zusammenhang ist aber, dass der junge Marx die Fragestellung der Religionskritik entschieden hinter sich lässt (ohne ihre Ergebnisse in Frage zu stellen). Die Kritik der Religion sei in Deutschland »im wesentlichen beendigt«, heißt es schon im ersten Satz der Einleitung (1/378). Viele Interpreten haben übersehen, dass der Text sich in erster Linie an die junghegelianischen Religionskritiker wendet. Ihnen ruft Marx gleichsam zu, es sei höchste Zeit, von der »Kritik des Himmels« überzuwechseln zur »Kritik der Erde«, von der »Kritik der imaginären Blumen« zur Kritik der »Kette«, die sich unter ihnen verbirgt, von der Kritik des »Heiligenscheins« zur Kritik des »Jammertals«, von der Kritik der Theologie zur Kritik der Politik (378f). »Nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist«, hat die Philosophie die Aufgabe, »die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven« (379).

Der Appell artikuliert sich in der Sprache des junghegelianischen Adressaten. Neues und Altes sind ineinandergeschoben. Eine sorgfältige Textanalyse muss den Widerspruch berücksichtigen, dass Marx einerseits aus der herkömmlichen Religionskritik heraustritt, während er andererseits weiterhin ihre Sprache spricht. Zurückgewiesen wird v.a. der in der Religionskritik enthaltene Reduktionismus. In den Feuerbachthesen wendet Marx sich gegen die feuerbachsche Methode, »das religiöse Wesen in das menschliche Wesen« sowie »die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen«, und fordert stattdessen, die Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche »aus der Selbstzerrissenheit und [dem] Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären« (3/6). In einer methodischen Anmerkung im Kapital heißt es schließlich, materialistisch und wissenschaftlich sei nicht die Reduktion der Religion auf einen »irdischen Kern«, sondern einzig ihre Entwicklung »aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen« (K I, 23/393 A).

Einerseits die Terminologie der feuerbachschen Religionskritik, andererseits ein religionstheoretischer Terrainwechsel aufs Gebiet einer Analyse der Widersprüche der Gesellschaft, ihrer »Selbstzerrissenheit« – könnte es sein, dass die Bestimmungen zur Ideologie in der Deutschen Ideologie in einem ähnlichen Widerspruch befangen sind? Die Parallele liegt nahe, da Marx seine Ideologiekritik aus der Religionskritik entwickelt und dabei die Kategorien der »Verkehrung« von der Religion auf die Ideologie überträgt. Wäre es möglich, dass auch hier durch die herkömmliche ideologiekritische Terminologie des »falschen Bewusstseins« verborgen bleibt, dass Marx und Engels ein neues, für eine materialistische Ideologietheorie relevantes Terrain betreten?

2.1.4 Die Camera obscura als Metapher für eine »idealistische Superstruktur«

Der Kontext der Camera obscura zeigt, dass Althussers Behauptung, Marx habe die Ideologie als »reinen Traum, leer und nichtig« (ISA 132; SLR 294f), als »leeren Reflex« und bloße »Bewusstseinsform« (forme-conscience) verstanden (EphP 1, 496f), den »historischen Lebensprozess« ausklammert, auf den es hier ankommt: die »Verkehrung« der Ideologie, ihr Auf-dem-Kopf-Stehen wird im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Teilung von materieller und geistiger Arbeit behandelt. Denn erst kraft dieser »kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen«, erst jetzt kommt es »zur Bildung der ›reinen‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral« (3/31), die, abgetrennt von den Verhältnissen, von spezifischen Intellektuellengruppen »als Beruf, d.h. als Geschäft« betrieben werden (363; vgl. 405, 539f). So sei der Geschichtsidealismus der Historiker v.a. in Deutschland zu rekonstruieren »aus dem Zusammenhang mit der Illusion der Ideologen überhaupt, […] die sich ganz einfach erklärt aus ihrer praktischen Lebensstellung, ihrem Geschäft und der Teilung der Arbeit« (49f). Was die Verkehrung des Bewusstseins ermöglicht und hervorbringt, ist die wirkliche Ablösung, Verselbständigung und Überordnung intellektueller Tätigkeiten im Verhältnis zur gesellschaftlichen Produktion.13

Wo im Zusammenhang mit der Religionskritik noch allgemein von der »Selbstzerrissenheit« der Gesellschaft die Rede war, rückt jetzt eine konkrete und zugleich einschneidende Spaltung ins Blickfeld. Nicht ein »verkehrtes Bewusstsein« kennzeichnet nun die Herausbildung der Religion aus der Magie und der Naturmystik der vorstaatlichen Gesellschaften, sondern die Entstehung einer spezialisierten Priesterschaft, die von körperlicher Arbeit freigestellt ist. »Erste Form der Ideologen, Pfaffen«, schreibt Marx an den Rand der von Engels verfassten Passage: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt.« (3/31)

Man muss sich klarmachen, dass Marx und Engels hier nicht eine »horizontale« Ausfächerung von Tätigkeitsarten im Blick haben, sondern eine scharfe »vertikale« Gesellschaftsspaltung. »Mit der Teilung der Arbeit [ist] die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben, […] dass die geistige und materielle Tätigkeit, dass der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen.« (3/32) Für die Deutsche Ideologie fällt die Trennung von materieller und geistiger Arbeit sowohl mit dem Privateigentum zusammen – beides seien »identische Ausdrücke«, einmal in Bezug auf die Tätigkeit, einmal in Bezug auf das Produkt der Tätigkeit –, als auch mit der Entstehung gegensätzlicher Klassen und schließlich mit der Herausbildung des Staates als »illusorischer Gemeinschaftlichkeit« (33). Damit haben Marx und Engels, statt in einer naiven »Ideologiekritik« befangen zu sein, einen ideologietheoretischen Terrainwechsel vollzogen, bei dem das Ideologische als materielle gesellschaftliche Anordnung gefasst wird.

Von hier aus gesehen wird deutlich, dass die Camera obscura nicht so sehr als Metapher für »falsches Bewusstsein«, sondern für eine »idealistische Superstruktur« der Klassengesellschaft (36) zu verstehen ist, die der Kopfarbeit der Ideologen eine privilegierte Sphäre zuweist. Es ist symptomatisch für den Übergang vom Bewusstseinsdiskurs zu einer historisch-materialistischen Ideologietheorie, dass die Deutsche Ideologie eine Bezeichnung für einen Philosophietyp (»idealistisch«) mit der Bezeichnung für einen materiellen »Überbau« (»Superstruktur«) verkoppelt – später wird Marx in den Theorien über den Mehrwert