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Die systemische Therapie entstand als eigenständiger Ansatz der Psychotherapie zu Anfang der achtziger Jahre als Weiterentwicklung der Familientherapie. Ihre Methoden und Techniken werden jedoch längst auch von anderen therapeutischen Schulen und in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen eingesetzt. Dieser Einführungsband fasst die wesentlichen Grundlagen der systemischen Therapie auf prägnante und verständliche Weise zusammen. Der Autor beschreibt zunächst die biologischen, neurowissenschaftlichen, soziologischen und systemtheoretischen Voraussetzungen systemischen Denkens. Im zweiten Teil werden die Grundlagen der therapeutischen Praxis vorgestellt, die sich aus dem systemischen Denken ableiten. "Ich finde, dies ist ein Buch, das in vielfältigen Kontexten verwendet werden kann: In der Lehre an Hochschulen, in den Ausbildungs- und Fortbildungsgängen der Weiterbildungsinstitute, für die eigene persönliche Weiterbildung als systemische Fachkraft und für die Diskussion um die konzeptionelle Fundierung und Weiterentwicklung systemischer Praxis im psychosozialen Feld." Wolf Ritscher/KONTEXT Der Autor gehört zur ersten Generation systemischer Therapeuten und ist der Verfasser mehrerer Grundlagenwerke zur systemischen Therapie.
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Seitenzahl: 160
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Kurt Ludewig
Vierte Auflage, 2021
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Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: Beltz Graphische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Vierte Auflage, 2021
ISBN 978-3-89670-700-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8347-1 (ePUB)
© 2005, 2021 Carl-Auer-Systeme Verlag
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Vorwort
Teil I: Systemisches Denken
1.Was heißt „systemisch“?
1.1Systemisch denken
1.2Systemische Praxis
2.Denkvoraussetzungen systemischen Denkens
2.1Biologische Voraussetzungen
2.2Soziologische Voraussetzungen
3.Entwurf eines „Menschenbilds“ – Das systemische Prinzip
4.Systemisches Denken und Psychotherapie – Zur Geschichte ihrer Kopplung
4.1Geschichte
4.2Differenzierungen
Teil II: Klinische Theorie
5.Grundlagen
5.1Elemente
5.2Das „Therapeutendilemma“
5.3Problem – Anliegen – Auftrag – Vertrag
6.Konzepte
6.1Problem
6.2Diagnostik
6.3Ziele
6.4Therapeutische Beziehung
6.5Intervention
7.Methodischer Rahmen
7.1Kriterien
7.210 + 1 Leitsätze/Leitfragen
7.3Techniken
8.Versorgung
8.1Hilfe und Fürsorge
8.2Wirkprinzipien und Ergebnisse
Literatur
Über den Autor
Systemische Therapie versteht sich als eigenständiger Ansatz der Psychotherapie mit eigener Theorie und Praxis. „Systemisch“ hat hier nur beiläufig mit dem zu tun, was traditionell unter systemischer Therapie in der Medizin verstanden wird. Dort wird dieser Begriff zur Unterscheidung von fokalen Therapien verwendet. In der Psychotherapie aber deutet „systemisch“ auf einen speziellen, in einer bestimmten Denkweise – dem systemischen Denken – verankerten Ansatz hin. „Systemisch“ kennzeichnet hier ein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitetes allgemeines Verständnis von Mensch und Welt. Dieses Verständnis hat sich in den unterschiedlichsten Wissenschaften gleichzeitig entwickelt und wird dort jeweils mit Begriffen wie Systemtheorie, Selbstorganisation, Kybernetik, Autopoiese, Synergetik, Konstruktivismus bezeichnet. Im Unterschied zu analytischen Vorgehensweisen zielt dieses Denken darauf, mit Komplexität möglichst wenig reduktionistisch umzugehen. Systeme, also komplexe Gegenstände, werden zur Grundlage des Beobachtens und Denkens gemacht. Dabei sind Beobachter diejenigen, die Systeme durch Beobachten konstituieren. Beobachter sind daher Ausgangpunkt und Instrument bei der Auseinandersetzung mit den Welten, die sie als Produkt ihres Beobachtens erzeugen.
Die heutige systemische Therapie gibt es meiner Zeitrechnung nach erst seit Anfang der 1980er-Jahre. Im Jahr 2005, in dem dieses Buch verfasst wird, ist sie nicht einmal ein Vierteljahrhundert alt. Als wohl jüngste Form der Psychotherapie ist sie gewissermaßen die legitime Tochter ihrer Vorgängerin, der Familientherapie, und sie kann als ihre Weiterentwicklung angesehen werden. Das „Geburtsjahr“ der eigentlichen systemischen Therapie lege ich auf das Jahr 1981. In diesem Jahr begann eine konzeptionelle Entwicklung, die weit über die damals eher verstreuten und zuweilen widersprüchlichen Konzepte der Familientherapie hinausging und der familientherapeutischen Praxis erstmals eine kohärente theoretische Begründung gegeben hat. Man hatte begonnen, neuere Konzepte aus unterschiedlichen Wissensgebieten zu übernehmen, insbesondere systemwissenschaftliche und konstruktivistische Positionen wie das Autopoiese-Konzept und die Kognitionstheorie nach Humberto Maturana, die Kybernetik 2. Ordnung nach Heinz von Foerster, den radikalen Konstruktivismus nach Ernst von Glasersfeld und die soziale Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Dies alles half nicht nur, den theoretischen Rahmen zu erweitern und zu festigen, sondern darüber hinaus die Familientherapie von dem allzu engen Korsett des eigenen Settings zu befreien. Durch ihre Einschränkung auf die Arbeit nur mit Familien hatte sie sich zu eng eingeschnürt und zugleich jede erweiternde Eigenentwicklung konzeptionell erschwert.
Durch Bezugnahme auf biologische Konzepte zur menschlichen Autonomie und Selbstorganisation erfuhr der Diskurs über Psychotherapie eine theoretische Erweiterung mit weit reichenden Konsequenzen. Die daraus abgeleitete biologische Epistemologie (Erkenntnistheorie) legte die Bausteine für ein „neues“ Verständnis menschlicher Interaktionen und so auch der Entstehung leidvoller menschlicher Probleme und ihrer Psychotherapie. Der Psychotherapie war es nun möglich, sich von der seit dem 19. Jahrhundert bestehenden zu engen Anlehnung an naturwissenschaftliche und medizinische Konzepte abzulösen. Die mögliche Alternative, sich an die akademische Psychologie des 20. Jahrhunderts anzukoppeln, hatte sich wegen der allzu positivistischen Orientierung dieser Disziplin als wenig sinnvoll erwiesen.
Im „Mutterland“ der Familientherapie, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, stieß diese neue Entwicklung nur teilweise auf Gegenliebe. Die etablierte Familientherapie bediente sich strukturalistischer Ideen und sollte nicht destabilisiert werden. In Europa hingegen, besonders im nördlichen Europa, stießen diese neuen Gedanken auf starkes Interesse. Sie sollten von da an einen wichtigen Einfluss auf die weitere theoretische und konzeptionelle Entwicklung der systemischen Therapie haben. Außer der Umfokussierung auf biologische Aspekte erfuhr hier die systemische Therapie unter Verwendung der sozialen Systemtheorie nach Niklas Luhmann eine deutliche Verankerung im Bereich des Sozialen.
Dennoch gibt es bei alledem keine systemische Therapie, auf die man sich verbindlich beziehen könnte. Es gibt vielmehr eine zunehmende Zahl unterschiedlicher Richtungen, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden und doch im Hinblick auf übergeordnete Begründungen ausreichend ähnlich sind. Diese Gemeinsamkeiten finden sich im Wesentlichen im (meta)theoretischen Überbau, vor allem im Verweis auf konstruktivistische und systemtheoretische Denkvoraussetzungen. Ein Denken unter solchen Voraussetzungen beruht auf einer Pluralität von Sichtweisen und kann daher keine Einheitlichkeit vorschreiben. Deshalb ist in der systemischen Therapie schon aus theorieimmanenten Gründen unausweichlich, mit Vielfalt zu rechnen. In diesem Sinne geht die Auswahl und Interpretation der in diesem Band behandelten Themen auf mein Verständnis zurück – dafür übernehme ich ausdrücklich die Verantwortung. Dennoch und zur Beruhigung der schon an dieser Stelle eventuell verunsicherten Leserinnen und Leser möchte ich anfügen, dass mein Verständnis von systemischer Therapie durchaus im Einklang steht mit dem state of the art im In- und Ausland. Darüber hinaus deckt sich die hier vertretene Auslegung weitgehend mit dem Positionspapier, mit dem sich der deutsche Dachverband Systemische Gesellschaft eine theoretische Plattform gegeben hat. Etwaige Unterschiede betreffen meistens nur Detailfragen.
Die vorliegende Einführung beansprucht naturgemäß nicht, eine vollständige Übersicht des aktuellen Wissenstands unter Einbeziehung der gesamten, mittlerweile beträchtlich angewachsenen Fachliteratur zu sein. Sie kann nur bei den ersten Schritten in das Thema hinein behilflich sein. Dennoch wird sie bedacht sein, die behandelten Themen nicht durch überzogene Vereinfachungen zu verfälschen. Diejenigen, die es präziser oder ausführlicher haben wollen, seien zunächst auf das anhängige Literaturverzeichnis verwiesen, welches zu jedem Abschnitt neue, vertiefende und weiterführende Literatur benennt. Sie seien darüber hinaus unter anderem auf mein 1992 erschienenes und nach wie vor aktuelles Buch Systemische Therapie sowie auf meinen 2002 erschienenen, ergänzenden Band Leitmotive systemischer Therapie verwiesen. Zudem möchte ich hier anmerken, dass ich die immer wieder in deutschsprachigen Texten aufkommende Gender-Frage aus stilistischen und pragmatischen Gründen ganz und gar übersehen und mich traditionell an die maskuline als generische Form halten werde. Ich hoffe auf Nachsicht.
Zum Schluss eines Vorworts sollte üblicherweise eine Danksagung stehen. So schön und erbauend es ist, sich öffentlich bedanken zu können, verzichte ich hier auf persönliche Anerkennungen. Es sind zu viele Menschen, die mich in den letzten 30 Jahren in dieser oder jener Form direkt oder indirekt beeinflusst haben. Da eine Auswahl zu treffen ohnehin unfair wäre, beschränke ich mich darauf, Danke zu sagen. Gemeint sind die vielen Patientinnen, Patienten und ihre Familienangehörigen, meine Kolleginnen und Kollegen, Lehrerinnen und Lehrer sowie meine Freundinnen und Freunde, die meinen professionellen Weg begleitet und befruchtet haben. Last but not at all least danke ich meinen Lebensgefährtinnen zweier Lebensphasen, Raili und Angelika, die mir jeweils auf liebevolle Weise den „Rücken frei gehalten haben“, sowie meinen Kindern Sonia, Matthias und Philipp für ihre Liebe und menschliche Unterstützung.
Kurt LudewigAugust 2005
Der erste Teil dieses Bandes befasst sich mit dem theoretischen Rahmen, den die systemische Therapie als theoretische Begründung bzw. „Metatheorie“ verwendet: dem systemischen Denken. Der zweite Teil geht dann auf die Grundlagen der Praxis ein. Im Folgenden wird zunächst erläutert, was hier unter „systemisch“ zu verstehen sein wird. In der Folge werden die Kernvoraussetzungen aus Biologie und Soziologie erörtert, die dem systemischen Denken zugrunde liegen. Danach wird ein mit diesem Denken übereinstimmendes „Menschenbild“ erarbeitet und davon ein anthropologisch begründetes „systemisches Prinzip“ abgeleitet. Diesen ersten Teil schließt ein kurzer Abriss über die historische Entwicklung der systemischen Therapie von ihren Anfängen in den Familientherapien bis in die Vielfalt der heutigen Ansätze ab.
Im Kontext der Psychotherapie gibt es auf die Frage, was unter „systemisch“ zu verstehen sei, wohl mindestens so viele Antworten, wie es Gruppen gibt, die dieses Konzept verwenden. Das Spektrum der Definitionen erstreckt sich von einem diffusen Bezug auf Ganzheiten und Systemkonzepte bis hin zu einem elaborierten wissenschaftlichen Programm unter Einbeziehung von erkenntnis- und systemtheoretischen Positionen. In der systemischen Therapie wird „systemisches Denken“ als Kürzel für verschiedene Denkansätze aus den Systemwissenschaften verwendet.
Als Adjektiv von System hat „systemisch“ eine zunächst sehr allgemeine Bedeutung, die, für sich genommen, kommunikativ wenig brauchbar ist, zumal sie sich undifferenziert auf alles bezieht, was mit „System“ zu tun hat. Eine bedeutungsvolle Verwendung dieses Adjektivs erfordert zum einen eine präzise Bestimmung des Systembegriffs und zum anderen eine genau Angabe des Denkhintergrunds, vor dem es verwendet wird. Ohne diese Präzisierungen geht man das Risiko ein, entweder jeden Diskurs über mehr als ein Individuum schon zu einem „systemischen“ zu machen oder den Begriff unnötig zu verwässern.
Systemisches Denken macht sich Grundfragen menschlicher Existenz zum Gegenstand und versucht, diese unter Rückgriff auf systemwissenschaftliche Erkenntnisse zu beantworten. Diese Fragen betreffen im theoretischen Bereich die Probleme des Erkennens und Seins, also Fragen der Epistemologie und Ontologie, und, daran geknüpft, auch der Ethik. Auf der praktischen Ebene geht es dabei unter anderem um Fragen der Politik, Ökologie, Moral und, nicht zuletzt, der Therapie. Im allgemeinsten Sinne bezeichnet systemisches Denken eine Denkkultur, die auf eigenen Interpretationen menschlichen Lebens und Erkennens aufbaut und, damit übereinstimmend, Folgerungen für die Praxis ableitet.
Das Hauptziel systemwissenschaftlichen Denkens ist es, mit komplexen Phänomenen gegenstandsgerecht umzugehen. Folgt man dem Bielefelder Soziologen und Schüler Luhmanns, Helmut Willke (1982), lässt sich sagen, dass Systemtheorien im Wesentlichen von „organisierter Komplexität“ – also von Systemen bzw. System-Umwelt-Verhältnissen – handeln. Unter Theoretikern der systemischen Therapie dürfte trotz der vielen Wandlungen in den letzten Jahrzehnten eine weitgehende Einigung darüber herrschen, dass eine systemische Praxis zum Hauptanliegen hat, mit Komplexität schonend umzugehen. Man leistet, mit den Worten des Heidelberger Psychosomatikers und Pioniers der systemischen Therapie in Deutschland, Helm Stierlin (1983), komplexitätserhaltende Komplexitätsreduktion. Diese gewiss zungenbrecherische Formel weist bereits auf die zwei Wissensgebiete hin, auf die systemisches Denken zurückgreift: explizit auf Systemtheorie als Wissenschaft von Komplexität und implizit auf die Prozesse, die Systeme als „organisierte Komplexität“ hervorbringen, nämlich auf die Prozesse des Beobachtens. Systemisches Denken steht gewissermaßen auf zwei Säulen, einer erkenntnistheoretischen und einer systembezogenen. Die meines Erachtens bestgelungene Illustration dieses Zusammenhangs zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Beobachter und Kommunikation, zwischen Linearität und Rückbezüglichkeit stellt der Cartoon des österreichischen Systemikers, Hannes Brandau, in Abbildung 1 dar.
Abb. 1: Die Wirklichkeit der Wirklichkeit oder: Die zwei Säulen systemischen Denkens (aus: Hannes Brandau, Supervision aus systemischer Sicht, © Otto Müller Verlag, Salzburg 1996, 3. Aufl.)
Dieser Cartoon stellt zum einen die „Eingeschlossenheit“ des Lebewesens in seiner eigenen Biologie mit all den unvermeidlichen Folgen für Kognition und Wirklichkeit dar, zum anderen die unauflösliche „Eingebundenheit“ des Menschen in soziale Interaktionen und Kommunikation. Diesen konstitutiven Doppelcharakter menschlichen Seins als zugleich biologisches Individuum und sprachliches Sozialwesen formulierte der österreichische Physiker und Erkenntnistheoretiker, Heinz von Foerster (1985), als das komplementäre Verhältnis von Selbstständigkeit und Einbezogenheit. Beobachter sind als lebende Organismen autonom und unausweichlich selbst-ständig, zugleich aber als beobachtende Organismen immer Teil ihrer Beobachtungswelt, also einbezogen. Auf eine Kurzformel gebracht: cogitamus ergo sumus. Auf diese Thematik kommen wir noch einmal und ausführlicher im nächsten Abschnitt zurück.
Was macht systemisches Denken aus? Dieses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasch expandierende Denken steht im Einklang mit Auffassungen, die in der Geschichte des Denkens seit der griechischen Antike immer wieder aufgetreten sind, im Bereich aber der herrschenden Naturwissenschaften bis vor kurzem wenig Beachtung erhielten. Erst im 20. Jahrhundert findet dieses Denken Eingang in die Naturwissenschaften und wird seitdem vor allem von Biologen und Physikern vorangetrieben.
In kognitionstheoretischer Perspektive lässt sich der Kern dieses Denkens unter Rückgriff auf den chilenischen Neurobiologen und Anthropologen Humberto Maturana wie folgt zusammenfassen:
Das operational und funktional geschlossene Nervensystem des Menschen unterscheidet nicht zwischen internen und externen Auslösern; Wahrnehmung und Illusion, innerer und äußerer Reiz sind für das Nervensystem im Prinzip nicht unterscheidbar.
Menschliches Erkennen ist als biologisches Phänomen nicht durch die Objekte der Außenwelt, sondern durch die Struktur des Organismus determiniert:
man sieht, was man sieht
.
Menschliche Erkenntnis ist als Leistung des Organismus grundsätzlich subjektgebunden und damit unübertragbar.
Mit Blick auf kommunikationstheoretische Belange lässt sich ergänzen:
Der Gehalt kommunizierter Erkenntnisse richtet sich nach der biologischen Struktur des Adressaten und nicht nach ihrem Inhalt:
man hört und versteht, was man hört und versteht
.
Neben den erwähnten kognitionstheoretischen Grundlagen gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt, der schon an dieser einleitenden Stelle eingeführt werden soll. Es handelt sich um eine Haltung, die das Denken und Handeln zur Bescheidenheit mahnt. Dadurch soll jene häufige Verirrung des Denkens vermieden werden, die Humberto Maturana in der Einleitung zum Buch Der Baum der Erkenntnis (Maturana y Varela 1984, dt. 1987) die „Versuchung der Gewissheit“ genannt hat. Zum einen bietet systemisches Denken keine Gewissheiten, auf die man sich beziehen könnte, um den Wahrheitsgehalt der eigenen Aussagen endgültig zu belegen, zum anderen beschränkt sich dieses Denken bewusst auf die Ergebnisse menschlichen Beobachtens, ohne auf darüber hinausgehende metaphysische Letztbegründungen zurückzugreifen. Systemisches Denken mahnt uns in diesem Sinne, „bei dem eigenen Leisten zu bleiben“ und so im Hinblick auf den zeitüberdauernden Wert unserer Aussagen Bescheidenheit zu üben.
Diese Mahnung trifft im besonderen Maße auf Angehörige helfender Berufe. Egal ob als Psychologe, Arzt oder Sozialarbeiter neigen wir angesichts einer Situation, die uns bedrohlich erscheint und uns unumgänglich zum Handeln auffordert, unsere Entscheidungen normativ zu begründen und so zu tun, als wären sie indiskutabel. Ein solches Vorgehen schützt zwar den Helfer vor eventuell nagenden Zweifeln und Selbstvorwürfen, es birgt jedoch die Gefahr, dem betroffenen Hilfeempfänger jede Alternative zu nehmen. Sich gegen Behauptungen aus professionellem, „berufenem“ Munde zur Wehr zu setzen erfordert viel Selbstbewusstsein, und daran mangelt es unseren Anvertrauten häufig. Das Anliegen eines systemisch orientierten Helfers dürfte sein, trotz aller notwendigen Handlungsfähigkeit dennoch eine Haltung bescheidenen Wissens zu bewahren. Dies kann ihm zwar den Handlungsdruck nicht ersparen, es kann aber ihm und seinen Anvertrauten helfen, genügend offen für Alternativen zu bleiben. Angesichts von Handlungsdruck bietet sich an, nach Möglichkeit eine Position des Sowohl-als-auch einzunehmen, die sowohl für selbstkritische Abwägung offen als auch bereit ist, Handlung und Verantwortungsübernahme zu ermöglichen.
Systemisches Denken bietet der Psychotherapie einen Denkrahmen, innerhalb dessen die Probleme, die sich im menschlichen und zwischenmenschlichen Leben ergeben, verstanden und so Möglichkeiten zu ihrer Überwindung erarbeitet werden können. Systemische Therapie hat sich mittlerweile weltweit, speziell aber in den meisten Ländern Europas und Amerikas etabliert und wird fast überall wissenschaftlich, professionell und daher auch gesetzlich anerkannt. „Systemisch“ wurde dieser Ansatz zu Beginn der 1980er-Jahre, als er mit dem erklärten Ziel entstand, die Möglichkeiten des systemischen Denkens für die Psychotherapie in Theorie und Praxis zu sondieren und eventuell fruchtbar zu machen. In den zweieinhalb Jahrzehnten seit Beginn dieses Projekts sind neben einer ansehnlichen Praxis der Psychotherapie als systemischer Einzelpsychotherapie, Paartherapie, Familientherapie und Gruppentherapie systemische Ansätze auch in anderen Bereichen erarbeitet worden, unter anderem in Beratung, Supervision, Pädagogik und Organisationsentwicklung. Zusammengefasst kann man von einer „systemischen Praxis“ sprechen. Einige dieser Entwicklungen werden im zweiten Teil dieses Buches thematisiert. Einen prägnanten Überblick über Definition, konzeptionelle Probleme und Lösungen systemischer Praxis bietet Abbildung 2.
Abb. 2: Grundlagen systemischer Praxis: Definition, Probleme, Lösungen
Die in Abbildung 2 vorgelegte Definition von systemischer Praxis deckt sich zwar zum großen Teil mit Definitionen aus anderen Schulen, ihre Besonderheit liegt jedoch in den drei kursiv markierten Worten in der ersten Zeile von Absatz 1: Nutzung systemischen Denkens. Diese drei Worte verweisen auf den speziellen Denkhintergrund, vor dem diese Praxis geplant, durchgeführt, reflektiert und bewertet wird. Der Gegenstand einer systemischen Theorie der Praxis wird hier anhand der drei wichtigen konzeptionellen Probleme zusammengefasst, die diese Theorie zu lösen hat, um eine in sich kohärente Form zu finden. Diese sind:
Die biologische Autonomie des Menschen; sie macht ihn für bestimmende Interventionen aus der Außenwelt unzugänglich.
Die Rückwirkung der eigenen normativen Konstrukte auf den Menschen; sie stimmt gegenüber medizinisch begründeten Forderungen nach ätiologisch begründeter, exakter Diagnostik und kausaler Therapie skeptisch.
Das Verständnis von Kommunikation als offenem, jederzeit veränderbarem Prozess; es erfordert ein verändertes Konzept von psychosozialer Hilfestellung, ohne auf Störungs- und Heilungskonzepte zurückzugreifen.
Diese drei Aspekte folgen unmittelbar auf das Prinzip der Strukturdeterminiertheit von Systemen (vgl. 1.2.1, Stichwort „Autopoiese“). Beim Bewahren der eigenen Struktur (und so des Lebens) ordnen sich Lebewesen intern infolge der eigenen Gesetzlichkeit; das macht sie prinzipiell autonom. Aus der Binnensicht des Nervensystems schließen die Operationen der eigenen Bestandteile immer und nur auf Operationen anderer Bestandteile des gleichen Systems (Prinzip der operationalen Abgeschlossenheit). Das macht sie für eine äußere, kausal determinierende Einwirkung unzugänglich, jedoch nicht für Einwirkungen, die für die Funktionsweise des Organismus passend sind. Wesentlich ist hierbei, dass es das Lebewesen ist, das bestimmt, welche Einwirkungen auf welche Weise wirksam sein können, und nicht die Einwirkungen selbst. Einwirkungen können die Struktur eines Lebewesens (ver)stören bzw. perturbieren, sie jedoch nicht determinieren (Verstörungsprinzip). Selbst bei destruktiven Einwirkungen ist es die Struktur des Lebewesens, die bestimmt, welche Einwirkungen in der Lage sind, die kompensierenden und integrierenden Fähigkeiten des Systems zu überfordern und eventuell zu zerstören.
Der zweite Aspekt legt es nahe, die tradierten Vorgaben aus Naturwissenschaft und Medizin zu überwinden. An die Stelle einer ohnehin anzweifelbaren, möglichst genauen Diagnostik, die das zu behandelnde Problem in allen relevanten Aspekten zu erfassen habe, tritt ein vermehrtes Interesse an den vorhandenen Ressourcen und an der Förderung günstiger Alternativen. Menschliche und zwischenmenschliche Probleme sind weder „behandelbar“ noch „heilbar“ oder, im eigentlichen Sinne, „lösbar“, sondern vielmehr „auflösbar“ oder durch günstigere Alternativen ersetzbar.
Bezüglich der Offenheit von Kommunikation werden wir später sehen (vgl. 2.1.1