Einmal schafft es jeder - Siegfried Lenz - E-Book

Einmal schafft es jeder E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.

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Seitenzahl: 20

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Siegfried Lenz

Einmal schafft es jeder

Erzählung

Hoffmann und Campe Verlag

Einmal schafft es jeder

Der Alte lag wohlig in einem Friseurstuhl und lauschte auf das metallene Schnappen der Schere hinter seinem Ohr. Der Geruch von Seifenschaum und von allerlei Haarwassersorten hatte ihn ein bißchen schläfrig gemacht, und diese Schläfrigkeit war so angenehm, daß er nach kurzem Widerstand die großen Hände auf die Knie legte und die Augen nicht mehr öffnete. Er hielt sie auch während des Rasierens geschlossen, und er wäre unweigerlich eingeschlafen, wenn der kleine Junge nicht wieder einen Hustenanfall bekommen hätte. Der Alte sah im Spiegel, wie sich der Junge krümmte und wie sich sein Gesicht rötete und Tränen in seine Augen traten. Und der Alte musterte ihn mit heimlicher Besorgnis und versuchte ihm zuzulächeln. Dann rieb der Friseur mit einem Tuch die Ohren ab, zwängte eine Bürste in den Kragen und reichte dem Alten einen Rucksack, der neben dem Kleiderständer gelegen hatte. Der Mann warf sich den Rucksack über die Schulter, zahlte, nickte dem Jungen zu, und beide verließen den Friseurladen.

Der Junge hatte ein ernstes, gleichgültiges Gesicht; er war mager und längst aus seinen Kleidern herausgewachsen. Er trug halblange Hosen, und seine strumpflosen Füße steckten in braunen Segeltuchschuhen. Er lief dem Alten um einen halben Schritt voraus, mit gesenktem Kopf, in einer Hand ein kurzes, zerfetztes Fliederstöckchen. Manchmal wandte er leicht den Kopf zurück und sah schräg von unten zum Alten empor und lächelte gleichgültig. Der Alte nahm dieses Lächeln auf und blinzelte zurück. Er war ein großer, hagerer und ein wenig gebeugter Mann, und er hatte die Hände in den Taschen seiner dunkelgrünen Joppe vergraben und atmete angestrengt und regelmäßig. So durchquerten sie wortlos die kleine, ruhige Stadt, und nach Sonnenuntergang erreichten sie das Autowrack. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Grenze.

Der Alte ging einmal um das Wrack herum, und dann setzte er sich auf einen verbeulten Kotflügel, lehnte sich weit nach hinten und hakte die Träger des Rucksacks aus. Er stellte den Rucksack zwischen die Beine, löste langsam die oberste Schnalle und kramte ein Messer heraus und Speck und ein Stück schwarzen Brotes. Der Junge hatte sich auf die Erde gesetzt und sah dem Alten zu, und er beobachtete ihn, als ob er Mitleid mit ihm hätte. Er bemerkte, daß der Alte ein zweites Stück Brot und ein zweites Würfelchen Speck abschneiden wollte, und da er dachte, es sei für ihn bestimmt, zeigte er mit dem Fliederstöckchen darauf und sagte:

Nichts für mich. Ich habe schon gegessen.

In dem Alter kann man immer essen, sagte der Alte, und er redete weiter und versuchte, dem Jungen zumindest den Speck aufzudrängen. Aber er hatte keinen Erfolg.

Na, sagte er, ich jedenfalls muß mich stärken, und er biß einmal vom Speck ab und einmal vom Brot und kaute langsam vor sich hin. Der Junge erhob sich, schlug mit dem Stöckchen gegen seine Hosen und blickte mißtrauisch auf den Himmel. Und der Alte machte es ihm nach und fragte:

Meinst du, daß es regnen wird, Junge? Und der Junge sagte: Es wird bestimmt regnen. Spätestens in einer Stunde.