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„Höre auf zu versuchen, ‚besser‘ zu werden, indem du Anteile deiner selbst unterdrückst oder versteckst, und nimm diesen leicht zugänglichen Leitfaden zu den zentralen ethischen Lehren des Zen-Buddhismus, um zu lernen, was es bedeutet, ganz Mensch zu sein.“ Mit dieser Kernbotschaft stellt die Zen-Lehrerin Nancy Baker hier einen detaillierten Übungsweg für Zen-Praktizierende vor, die die buddhistischen Gebote empfangen wollen, und für alle, ob Buddhist*innen oder nicht, die ihr Verständnis davon vertiefen wollen, was es heißt, ein ethisches, liebevolles Leben zu führen. Sie zeigt, wie man sich diesen Geboten – beispielsweise mithilfe von Meditation – annähern und sie einzeln oder in Gruppen praktizieren kann. "Dies ist der Leitfaden schlechthin, der den Weg zum Einssein aufzeigt." Joan Halifax
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Seitenzahl: 316
Buch
»Höre auf zu versuchen, ‚besser‘ zu werden, indem du Anteile deiner selbst unterdrückst oder versteckst, und nimm diesen leicht zugänglichen Leitfaden zu den zentralen ethischen Lehren des Zen-Buddhismus, um zu lernen, was es bedeutet, ganz Mensch zu sein.« Mit dieser Kernbotschaft stellt die Zen-Lehrerin Nancy Baker hier einen detaillierten Übungsweg für Zen-Praktizierende vor, die die buddhistischen Gebote empfangen wollen, und für alle, ob Buddhist*innen oder nicht, die ihr Verständnis davon vertiefen wollen, was es heißt, ein ethisches, liebevolles Leben zu führen. Sie zeigt, wie man sich diesen Geboten – beispielsweise mithilfe von Meditation – annähern und sie einzeln oder in Gruppen praktizieren kann. »Dies ist der Leitfaden schlechthin, der den Weg zum Einssein aufzeigt.« Joan Halifax
Autor
Nancy Mujo Baker ist Zen-Lehrerin der White Plum Sangha, leitet online das No Traces Zendo und bietet Zen-Retreats an. Als eine Dharma-Nachfolgerin von Bernie Glassman Roshi ist sie anerkannte Lehrerin in der Soto-Zen-Tradition. Außerdem ist sie emeritierte Professorin der Philosophie am Sarah Lawrence College, wo sie mehr als vierzig Jahre lehrte. Die Autorin lebt in New York City.
Nancy Mujo Baker
Einssein
Buddhistische Gebote als Ausdruck der Liebe
Leitfaden für Selbsterforschung und Zen-Praxis
Mit einem Vorwort von Anna Gamma
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Deutsche Ausgabe Januar 2024
Copyright © 2022 der Originalausgabe: Nancy Baker
Copyright © 2023 der deutschen Erstausgabe: Theseus in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld
Copyright © 2024 dieser Ausgabe: Arkana, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Das Gedicht »Nenne mich bei meinen wahren Namen« auf den Seiten 110/111 ist entnommen aus: Thich Nhat Hanh, Nenne mich bei meinen wahren Namen
Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe: Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Originalverlag: Shambhala Publications, Inc., Boulder, USA
Titel der Originalausgabe: Open to Oneness - A Practical and Philosophical Guide to the Zen Precepts
Projektbetreuung, Überarbeitung der Rohübersetzung und Lektorat: Susanne Klein
Covergestaltung: Carine Wiebe / KleiDesign, Bielefeld
Covermotiv: © »Leaping Carp« von Ohara Koson / National Museum of Asian Art, Smithonian Institution, Arthur M. Sackler Collection, Robert O. Muller Collection, S2003.8.1817
Satz: KleiDesign, Bielefeld
ISBN 978-3-641-37039-8V001
www.arkana-verlag.de
In Erinnerung an
Bernard Tetsugen Glassman Roshi,
„Bernie“,
meinen ersten und einzigen Zen-Lehrer
Weggefährten, der Dharma des Geistes hat keine Form und durchdringt die zehn Richtungen. Im Auge wird er Sehen genannt, im Ohr Hören, in der Nase Riechen, in den Füßen Gehen …
Wenn ihr frei werden wollt von Geburt und Tod, von Kommen und Gehen, von Ankleiden und Ausziehen, erkennt und ergreift den, der jetzt dem Dharma lauscht. Er hat weder Form noch Gestalt, weder Wurzel noch Stamm, noch hat er einen Wohnsitz; er ist so lebendig wie ein springender Fisch im Wasser und erfüllt seinen Zweck in Erwiderung auf die jeweiligen Gegebenheiten. Nur ist der Ort seines Wirkens nicht festgelegt.
Meister Rinzai (chines. Linji)
Vorwort
Danksagung
Liste der Zen-Gebote
Einführung in die Zen-Gebote
E
rster
T
eil
: Arbeitsbuch zu den Zen-Geboten
Einleitung: Mit den Geboten arbeiten, indem wir den Mörder in uns anerkennen
1.
Kein Töten
2.
Kein Stehlen
3.
Kein missbräuchlicher Sex
4.
Kein Lügen
5.
Kein Missbrauch von Rauschmitteln
6.
Kein Sprechen über Irrtümer und Fehler anderer
7.
Keine Überheblichkeit und kein Beschuldigen anderer
8.
Kein Geizig-Sein
9.
Kein Wütend-Sein
10.
Keinen Missbrauch der Drei Kostbarkeiten
Z
weiter
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eil
: Erforschung der Gebote durch Dogens Nondualität
Einleitung: Die Nondualität der Dualität – von „Nicht“ zu „Kein“
11.
Verschiedene Arten des Einsseins
12.
Soheit, Einzigartigkeit und das Nicht-Konzeptuelle
13.
Eine Verteidigung von Konzepten und Sprache
14.
Soheit erfahren
15.
Die Soheit des Subjekts
16.
Samadhi der sich selbst erfüllenden Aktivität
17.
Einssein von Selbst und anderem
18.
Einssein und der Weg des Bodhisattva
19.
Öffnung
20.
Einssein und Mitgefühl
21.
Einssein und die Gebote
22.
Von „Nicht“ zu „Kein“
23.
Die Jukai-Zeremonie
24.
Ein Buddha sein
Anhang 1:
Bodhidharmas und Dogens Kommentare zu den Zen-Geboten
Anhang 2:
„Bodhidharma und die drei Reinen Gebote“ von Bernie Glassman
Anmerkungen
Über die Autorin
„Unsere Rede erhält durch unsere übrigen Handlungen ihren Sinn.“1
Ludwig Wittgenstein
„Es ist Erwachen, wenn die zehntausend Dinge uns selbst auf natürliche Weise üben und erfahren.“2
Dogen
Seit die zen-buddhistische Tradition im letzten Jahrhundert den Weg in den westlichen Kulturraum fand, kamen viele Bücher dazu auf den Markt. Der Höhepunkt des Interesses an der fremden Kultur, ihrer mystischen Tradition, den Anweisungen für die spirituelle Praxis und deren Umsetzung in den konkreten Alltag ist längst überschritten. Es scheint bereits alles gesagt, was zu sagen ist, alles geschrieben über den großen WEG und seine Realisierung im Alltag. Und doch habe ich angeregt, das Buch von Nancy Baker in die deutsche Sprache zu übersetzen – und dies hat seinen guten Grund. Noch sind kaum Bücher zum Thema der buddhistischen Gebote in Deutsch erschienen. Die meisten sind aus dem Englischen übersetzt und mit wenigen Ausnahmen wurden die Texte von Männern verfasst. Hier liegt nun ein besonderes Buch vor. Es trägt die Handschrift einer Frau, die durch und durch Philosophin und genauso Zen-Lehrerin und Zen-Meisterin ist. Wie das geht, zeigt Nancy Baker in ihrem Buch.
Der erste Teil ist ein Arbeitsbuch, geprägt von einem differenzierten Umgang mit Sprache. Hier wird die Philosophin lebendig. Der Schwerpunkt ihrer Forschung und Lehre ist die Sprachphilosophie des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein. Durch ihre philosophischen Studien ist sie sensitiv geworden für den weiten wie komplexen Bedeutungsraum der Worte. Diese machen aus der Sicht von Wittgenstein erst durch bestimmtes Handeln Sinn. Die Autorin nimmt uns beispielsweise mit in die Untersuchung des Unterschieds von „not“ und „non“ in der englischen Sprache. So minimal der eine unterschiedliche Buchstabe ist, hat er doch große Auswirkungen in der Interpretation der Gebote und ihrer Umsetzung in den Lebensvollzug. „Not – nicht“ unterscheidet sich wesentlich vom „non – kein“. Das eine Wort „nicht“ weist auf ein Verbot hin, dessen Missachtung folgerichtig in eine Strafe bzw. in Scham und Schuldgefühle mündet. Im „non“ jedoch ist die Einladung enthalten, tief in das Gebot einzutauchen, es zu durchdringen, bis wir selbst zum Gebot werden, unmittelbar und ungetrennt. So ist es eine wahre Freude, Nancy Bakers Kommentaren zu folgen. Sie sind auch für jene einfach nachvollziehbar, die nicht Philosophie studiert haben, jedoch an der Verkümmerung der Sprache durch Twitter und Co. leiden. In diesem Teil des Buches spricht auch die Lehrerin zu uns. Inspiriert von A. H. Almaas Ansatz der liebevollen und zugleich auch radikalen Selbsterforschung lädt sie die Leser*innen ein, in die Schattenseiten menschlicher Existenz einzutauchen, sie anzunehmen und zu integrieren. Nicht nur werden wir dadurch von innen her transformiert, sondern befreien auch unser wahres Wesen. In jedem Gebot sind wir eingeladen mithilfe verschiedener Übungen, mit einem teilnehmenden Gewahrsein alle Aspekte auszuloten – ausgehend von Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken und entsprechendem Handeln.
Nancy Baker macht es uns leicht, indem sie viele Beispiele aus dem konkreten Alltag beschreibt, wobei sie immer wieder betont, wie wichtig die innere Haltung in dieser Selbsterforschung ist. Wenn es uns gelingt, ohne Vorurteile, mitfühlend und aus einer Freiheit heraus menschliches Fehlverhalten in unserem eigenen Leben zu ergründen, bezeichnen die Gebote nicht mehr länger moralische Konzepte und Prinzipien. Sie werden zu spirituellen Wegweisern, die in jene Tiefe führen, wo jede dualistische Trennung aufgehoben ist und wir selbstverständlich in Einheit mit dem Gebot leben.
Als roter Faden zieht sich durch alle Kapitel eine zentrale Frage, die nicht nur in der Zen-Tradition wesentlich ist. Sie ist die große Menschheitsfrage: „Wer bin ich?“, „Wer ist dieses ‚Ich‘?“. Und im Zusammenhang der Gebote: „Für wen halte ich mich?“ Damit sind wir beim zweiten Teil des Buches angekommen. In diesen Kapiteln leuchtet nun die Zen-Meisterin auf.
Es gelingt Nancy Baker auf außergewöhnliche Weise, buddhistische Grundbegriffe wie Nondualität, Einheit, Soheit und Mitgefühl im Kontext der Gebote darzulegen. In der unmittelbaren Erfahrung der Einheit verkörpern wir die Gebote im Alltag von Augenblick zu Augenblick. Ja, wir sind in der Essenz selbst die Gebote. In der Aktualisierung von Soheit, die sich im gegenseitigen Durchdringen von Ich und Du, Subjekt und Objekt, manifestiert, reagieren wir unmittelbar, in Übereinstimmung mit der konkreten Situation und den jeweiligen Umständen. Unser Tun ist stimmig im Hier und Jetzt. Diese Inspiration und Verheißung des großen WEGES beschrieb Dogen wie folgt: „Die Spuren des Erwachens ruhen im Verborgenen, und die im Verborgenen ruhenden Spuren des Erwachens entfalten sich über einen langen Zeitraum.“3
So steht Nancy Bakers Interpretation der buddhistischen Gebote für die heutige Zeit in der großen Tradition, die zurückreicht bis Bodhidharma und Dogen, den Urvätern des Zen in China und Japan.
Anna Gamma, Luzern im Winter 2023
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Dr. Anna Gamma für ihre Empfehlung, dieses Werk herauszugeben, für ihre vielfältigen Inspirationen sowie für ihre sachkundige Beratung und Begleitung bei der Erarbeitung der Übersetzung.
Der Verlag
Der erste Dank gilt Roshi Bernie Glassman, der über vierzig Jahre hinweg mein Zen-Lehrer war, mein ursprünglicher Lehrer. Ich bin ihm in so vieler Hinsicht für die Tiefe seiner Lehre zu Dank verpflichtet, aber auch dafür, dass er mich als Laien-Lehrerin befähigt hat, Unterweisungen zu geben. Das bedeutete, die Gebote in der Jukai-Zeremonie zu übergeben, was mich mehr gelehrt hat, als ich über die Zen-Gebote sagen kann. Ich danke ihm auch dafür, dass er mich vor vielen Jahren dazu ermutigt hat, in Gruppen zu arbeiten und den Wert dessen zu schätzen, was wir damals „sich mit dem Selbst anfreunden“ nannten, als Vorbereitung auf die Entdeckung, dass es nicht das ist, wofür wir es halten. Wie viele Zen-Praktizierende wissen, lag der Schwerpunkt von Bernies Arbeit im Bereich des sozialen Handelns, wo Nicht-Wissen, Zeugnis ablegen1 und liebevolles Handeln – die drei Grundsätze, die er für den Zen-Peacemaker-Orden entwickelt hat – als Leitfaden für die Praxis in dieser „äußeren Welt“ dienen. Obwohl ich mit ihm in Yonkers war, als er seine bemerkenswerte soziale Arbeit begann, bin ich ihm dabei nicht gefolgt. Stattdessen habe ich mich mehr dem Weisheitsaspekt des Zen zugewandt, dessen Grundlagen ich ganz und gar ihm verdanke, und bin eine in Vollzeit an der Universität tätige Philosophin mit einem großen Interesse an der Transformation des Individuums geblieben. Es ist bemerkenswert, wie sehr ich doch seine Schülerin geblieben bin. Wir haben beide ein starkes Interesse an dem entwickelt, was man als „abgelehnte oder abgespaltene Teile“ bezeichnen könnte. Er interessierte sich für die abgespaltenen Teile der sozialen Welt, während ich an dem interessiert war und bin, was in der persönlichen und philosophischen Welt abgespalten wurde. Ich könnte sagen, dass in meinem Fall die drei Grundsätze als so etwas wie ein Leitfaden für die Praxis in der inneren Welt und überraschenderweise sogar für das Lesen und Verstehen von Wittgensteins Sprachphilosophie, meinem akademischen Spezialgebiet, verwendet wurden. Letztlich gibt es natürlich keinen Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Bernies Tod ist ein großer Verlust für uns alle.
Zweitens gilt mein Dank Hameed Ali (A. H. Almaas), dessen Diamond Approach® mich über einen Zeitraum von zwanzig Jahren gelehrt hat, dass wahre Befreiung eine tiefe und sorgfältige Transformation aller Aspekte des Menschseins erfordert. Darüber hinaus bin ich ihm zutiefst dankbar, dass er mich als Privatschülerin aufgenommen hat, ein wahrhaft unbezahlbares Geschenk, das es mir ermöglicht hat, die Tiefe meiner eigenen Erfahrung zu artikulieren und zu verstehen, etwas, zu dem man im Zen oft nicht ermutigt wird. Drittens gilt mein Dank all jenen Schüler*innen der No Traces Sangha, die in den einjährigen Vorbereitungen auf die Jukai-Zeremonie so intensiv an den Geboten gearbeitet haben und von denen ich sehr viel gelernt habe. Besonderer Dank geht an Adam Feder, dessen praktische Hilfe und enthusiastische Unterstützung, als mein eigener Enthusiasmus nachließ, von unschätzbarem Wert waren. Mein Dank geht auch an Roshi Ray Cicetti, Lehrer des Empty Bowl Zendo und Dharma-Erbe von Roshi Robert Kennedy. Er und ich haben zusammen die Gebote studiert, zunächst zur Vorbereitung auf seine eigene Jukai-Zeremonie und dann noch einmal zur Vorbereitung auf jene Zeremonie, die ihn ermächtigt hat, die Gebote an andere zu übertragen. Es war ein Privileg, diesen Weg mit einem Lehrerkollegen aus der White-Plum-Linie von Hakuyu Taizen Maezumi Roshi zu gehen.
Viertens, und vielleicht am wichtigsten, möchte ich der Zeitschrift Tricycle dafür danken, dass sie die Veröffentlichung dieser Essays über die Gebote, die ursprünglich Dharma-Vorträge waren, einen nach dem anderen initiiert hat. Das Schreiben dieses Buches wäre nicht möglich gewesen ohne die Deadlines und die kleinen monatlichen Korrekturen, die zu der schriftlichen Version der ursprünglichen Vorträge über jedes der Gebote führten.
Zu guter Letzt möchte ich Hee-Jin Kim für seine drei großartigen Bücher über Eihei Dogen danken. Deren philosophische und spirituelle Subtilität und ihr Scharfsinn hat mein Verständnis des Zen im Allgemeinen und der Gebote im Besonderen tiefgreifend beeinflusst – und mein Verständnis von Dogen erheblich vertieft. Diese Bücher haben auch vielen meiner Zen-Erfahrungen eine klare und neue Bedeutung gegeben. Besonderer Dank gebührt natürlich Matt Zepelin, nicht nur für sein redaktionelles Geschick, sondern auch dafür, dass er mich mit fester, aber sanfter Hand im Schreibprozess unterstützt hat. Und an Sami Ripley und alle anderen bei Shambhala, die diese lehrerhaften Überlegungen über Zen und Philosophie in ein Buch verwandelt haben.
Die Drei Kostbarkeiten
Buddha
Dharma
Sangha
Die Drei Reinen Gebote
Vermeide Böses.
Tue Gutes.
Tue Gutes für andere.
Die Zehn Grossen Gebote
Kein Töten
Kein Stehlen
Kein missbräuchlicher Sex
Kein Lügen
Kein Missbrauch von Rauschmitteln
Kein Sprechen über Irrtümer und Fehler anderer
Keine Überheblichkeit und kein Beschuldigen anderer
Kein Geizig-Sein
Kein Wütend-Sein
Keinen Missbrauch der Drei Kostbarkeiten
Der Zen-Buddhismus hat seine ethischen Lehren auf eine ganz bestimmte Weise verstanden. Es ist eine Weise, die jede*r, unabhängig von der Tradition oder deren Fehlen, nachvollziehen kann. Diese Lehren, insbesondere in der Soto-Schule, nehmen die Form der sogenannten Sechzehn Bodhisattva-Gelübde an – Sie können sie in der Liste im vorderen Teil des Buches einsehen. Ich habe mich entschieden, sie, wie es übrigens oft gemacht wird, mit „kein“ anstelle von „nicht“ vor jedem einzelnen Gebot vorzulegen.
Bernie Glassman, mein erster und einziger Zen-Lehrer, sagte einmal zu mir: „Es gibt Gebote ohne Buddhismus, aber keinen Buddhismus ohne Gebote.“ Beim Jukai, der Zeremonie, die in den USA zu einem Übergangsritual geworden ist, um Zen-Buddhist*in zu werden, geht es eigentlich vor allem um die Gebote. Tatsächlich bedeutet Jukai „die Gebote empfangen“. Da diese Zeremonie im Westen so oft als so etwas wie die „Bekehrung“ zum Zen-Buddhismus verstanden wurde, zeigt sie deutlich, dass es keinen Buddhismus ohne Gebote gibt. Das hat leider dazu geführt, dass manche Menschen, die Zen lehren, sich selbst aber nicht als Buddhist*innen betrachten, davon ausgehen, dass auch das Gegenteil der Fall sei, nämlich, dass es keine Gebote ohne Buddhismus gebe. Deshalb werden die Gebote in manchen Kreisen nicht gelehrt oder nicht einmal anerkannt. Ich möchte, dass sich das ändert, damit die wahre Bedeutung der Zen-Gebote nicht nur denjenigen zugänglich wird, die Zen praktizieren wollen, ohne Buddhist*innen zu werden, sondern auch allen anderen.
Die Gebote werden oft so behandelt, als seien sie moralische Grundsätze oder Handlungsanweisungen, die von den Zen-Praktizierenden oder denjenigen, die sich als Buddhist*innen verstehen, befolgt werden müssen – also als Prinzipien oder Regeln, die von wichtigen Zen-Lehren wie Leerheit, Soheit, Durchdringung, Ungehindertheit oder dem Samadhi der sich selbst erfüllenden Aktivität getrennt behandelt werden können. Auch dies würde ich gerne ändern, und ich hoffe, dass die hier vorgestellte Praxis und Untersuchung zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten kann.
Dieses Buch ist zufällig entstanden. Nachdem ich als Laien-Lehrerin dazu ermächtigt worden war, die Gebote in der Jukai-Zeremonie zu übergeben, und eine Methode entwickelt hatte, die Gebote mit einer ersten Gruppe von fünfzehn Schüler*innen zu studieren, wurde einer der Vorträge transkribiert. Dann wurde eine Redakteurin der Zeitschrift Tricycle darauf aufmerksam. Sie fragte, ob Tricycle den Text veröffentlichen könne. Ich sagte Ja. Dann fragte sie, ob ich davon noch mehr hätte. Und auch dazu sagte ich Ja. Das bedeutete, dass ich die zehn Vorträge transkribieren und etwas überarbeiten musste, um sie lesbarer zu machen. Dann brachte mich Lorraine Kisly, eine Freundin, die Schriftstellerin und Herausgeberin ist, auf die Idee, ein Buch daraus zu machen. Gleichzeitig machte sie mich mit Dave O’Neal von Shambhala Publications bekannt. Da ich wusste, dass die ungewöhnliche Art und Weise, wie wir dieses Studium durchgeführt hatten, nützlich war, dachte ich: Warum nicht? Diese zehn Vorträge – mit neu hinzugefügten praktischen Übungen – bilden nun den ersten Teil dieses Buches.
Der erste Teil ist eine Art Arbeitsbuch, das von denjenigen genutzt werden kann, die die Zen-Gebote zur Vorbereitung auf die Jukai-Zeremonie studieren, aber auch für alle, die die Gebote studieren, um einfach nach ihnen zu leben. Es kann auch als Arbeitsbuch von jedem und jeder verwendet werden, der oder die in irgendeiner Tradition oder sogar in gar keiner Tradition praktiziert. In den Vorträgen und den am Ende jedes Vortrags vorgeschlagenen Übungen geht es nicht darum, wie man „gut“ sein und nach den Geboten leben kann. Vielmehr fordern sie uns heraus, in der Tiefe zu prüfen, wer wir sind als Menschen, die morden, stehlen, Sexualität missbrauchen, lügen, Rauschmittel missbrauchen, als Schwätzer, Selbstgefällige, Geizhälse, als zornige Menschen und solche, die die Drei Kostbarkeiten missbrauchen.
Wie Dave erklärte, hätten die Tricycle-Artikel allein nicht für ein ganzes Buch gereicht, also musste ich mir eine Einleitung zu den Vorträgen ausdenken, die sie einführen und weiter interpretieren könnte. Ich fand dies eine gute Herangehensweise und begann zu schreiben. In der Zwischenzeit beschäftigte ich mich eingehend mit der Tiefe und Beschaffenheit meiner eigenen Erfahrung und der Bedeutung von Soheit für den großen japanischen Zen-Meister Eihei Dogen aus dem dreizehnten Jahrhundert, der meiner Meinung nach neben Plotin, Ibn‘ Arabi und Meister Eckhart einer der vier größten Philosophen-Mystiker ist, die je gelebt haben. Die Arbeit an diesem Buch dauerte viel länger, als ich erwartet hatte, weil die Beschäftigung mit Dogen vieles für mich völlig verändert hat – meine eigene Erfahrung, meine Zen-Vorträge und meine Art, die Gebote zu verstehen. Ich begann zu verstehen, weshalb der bekannte Dogen-Gelehrte Hee-Jin Kim Dogen einen „mystischen Realisten“ nennt.1 Wie wir alle wissen, ist Dogen extrem schwer zu verstehen, aber dank bestimmter Arten von Zen-Erfahrungen, meiner akademischen Konzentration auf die spätere Philosophie des großen Philosophen Ludwig Wittgenstein und Kims großartiger Arbeit über Dogen glaube ich, ein wenig weitergekommen zu sein. Außerdem habe ich nach all den Jahren erkannt, wie tiefgreifend Bernie Glassman Dogens Sicht des Zen verkörpert hat.
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der Praxis, nicht auf der Philosophie, obgleich die beiden nicht unvereinbar sein müssen. Kim zum Beispiel, selbst wenn er sich mehr und mehr in Dogens philosophische Seite vertieft, ist immer bemüht, uns daran zu erinnern, dass Dogens Philosophieren einen soteriologischen Zweck hat. Interessanterweise gilt dies auch für Wittgensteins Denken. Soteriologisch ist ein Wort, das von Religionswissenschaftler*innen und Theolog*innen verwendet wird, um sich auf den Aspekt eines Werkes oder einer Tradition zu beziehen, der mit „Erlösung“ zu tun hat – wobei die buddhistische Version davon natürlich die Erleuchtung ist. Für Wittgenstein, der die Philosophie für eine Krankheit hielt, die einer Therapie und nicht noch mehr Theorie bedurfte, war es Frieden. Dogen drängt uns dazu, dass unsere Praxis vollständig, allumfassend, ungeteilt, aufrichtig und authentisch sein soll, von Augenblick zu Augenblick. Er dringt darauf, dass unser ganzes Leben Praxis ist, und das schließt, für manche überraschend, Sprache, Denken, Vernunft und Handeln ein. Wir werden aufgefordert, jeden Moment, jede Aktivität vollständig zu machen und nichts auszulassen. Gleichzeitig werden wir aufgefordert, niemals zu vergessen, dass „die Dunkelheit der Unwissenheit und Nirvana untrennbar sind“2. Er bittet uns auch, die Natur der Wirklichkeit ständig zu erkunden, sie „zu klären“, „zu studieren“, „zu untersuchen“ und „ihr volles Ausmaß auszuloten“. Dies sind keine intellektuellen Übungen. Vielmehr erfordern sie die Bereitschaft, offen und neugierig auf jeden Aspekt unserer Erfahrung zu sein, ob es nun eine Täuschung ist oder nicht. Das bedeutet, nicht darüber nachzudenken, was auch immer es ist, sondern in einem Zustand des Nicht-Wissens und des totalen Willkommenheißens tiefer in jede Erfahrung hineinzusinken. Dies ermöglicht Einsicht und echtes Verständnis. Das Ergebnis ist ein Wissen durch Sein.
Der zweite Teil dieses Buches besteht aus einer Untersuchung der Verbindungen zwischen einer Reihe wichtiger von Dogen formulierter Zen-Konzepte, die normalerweise nicht zusammengebracht werden und die das verdeutlichen, was die Soto-Schule des japanischen Zen „das Einsseins des Zen mit den Geboten“ nennt. Dies wird zum großen Teil erreicht durch die Erforschung der Bedeutung des Ausdrucks „Öffnung zum Einssein“ (dem Titel der Originalausgabe Opening to Oneness; Anm. d. Verlags).
Von den verschiedenen Arten des Einsseins, die in den spirituellen Traditionen zu finden sind, steht Dogens Betrachtung der Soheit und der Nondualität der Dualität im Zentrum dessen, wie im Zen die Gebote verstanden werden. Bei der Erforschung dieses Themas habe ich mich hauptsächlich auf sein Meisterwerk Shōbōgenzō gestützt, das oft als „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ übersetzt wird und aus Dutzenden von Vorträgen und Essays besteht. Auch wenn diese Themen zu Beginn abschreckend klingen mögen, ist alles, was von Leser*innen verlangt wird, sorgfältiges Lesen und Offenheit. Wie es einige Zen-Buddhist*innen tun würden, könnten wir sagen: „Es ist (nur) ein Finger, der auf den Mond zeigt.“ Aber wie Dogen uns erinnern würde, ist der Finger der Mond. Das gilt für alle buddhistischen Lehren bzw. für alle Lehren, die aus der Erfahrung kommen.
Die auf Erfahrung gründende Erkundung kann uns helfen zu verstehen, warum das Wörtchen „kein“ vor jedem Gebot verwendet wird und nicht die Worte „nicht“ oder „Du sollst nicht“. Dies wird uns auch zeigen, warum die scheinbar negative Art, die Gebote im ersten Teil zu behandeln – indem wir dabei jeweils nach unserem Versagen fragen –, entscheidend ist, um die Nondualität der Dualität zu verstehen und zu leben. Im zweiten Teil werden wir auch die überraschende Bedeutung der Jukai-Zeremonie betrachten und was sie uns darüber lehrt, wie wir mit den Geboten leben können.
Nach der Durchführung aller Übungen zu den Geboten im ersten Teil und der Erkundung im zweiten Teil werden wir dann hoffentlich näher daran sein, die Gebote auf natürliche und spontane Weise in unserem Leben zu verkörpern. Das bedeutet, eins mit ihnen zu sein, und natürlich auch eins mit den Menschen, mit denen wir zu tun haben.
Wenn Sie beabsichtigen, dieses Buch als Arbeitsbuch zu verwenden, d.h. als Unterstützung für das Üben mit den Geboten, empfehle ich, es mit einem Partner/einer Partnerin oder in einer Gruppe zu benutzen. Die Übungen am Ende jedes Gebots sind eine spirituelle Methode, die auf einer strukturierten Erkundung (Inquiry) beruht und am besten mit einem Partner/einer Partnerin durchgeführt wird. Sie sind davon inspiriert, was ich im Diamond Approach von A. H. Almaas gelernt und praktiziert habe.
Natürlich kann man das Buch auch einfach von Anfang bis Ende lesen, ohne die Übungen zu machen, oder man kann den zweiten Teil überspringen und nur die Ausführungen zu den einzelnen Geboten lesen, wie es die Leser*innen von Tricycle getan haben. Unabhängig davon, wie Sie sich entscheiden, das Buch anzugehen, sollten Sie unbedingt die Kommentare von Bodhidharma und Dogen lesen, die im Anhang zu finden sind, da sie wichtige Bezugspunkte in meinen Darlegungen sind.
Die Kommentare von Bodhidharma, die „Ein-Geist-Gebote“, stammen aus einer unveröffentlichten Übersetzung des Lehrers meines Lehrers, Taizen Maezumi Roshi, die in der White Plum Sangha weitergegeben wird; diese Version wird im Buch aufgenommen. Sie können auch eine Version in Robert Aitkens Buch Ethik des Zen (im Original: The Mind of Clover – Essays in Zen Buddhist Ethics) finden. Diese werden dort nicht zitiert und sind vielleicht Aitkens eigene Übersetzungen (als Anhang 1 beigefügt). Die hier verwendete Version der Dogen-Kommentare, Kyōjukaimon, ist vermutlich ebenfalls eine Übersetzung von Maezumi Roshi, obwohl ich einige Anpassungen vorgenommen habe, die auf John Daido Loori Roshis Übersetzung in Invoking Reality – Moral and Ethical Teachings of Zen3 basieren.4
Da sich Einssein – Buddhistische Gebote als Ausdruck der Liebe nur mit den sogenannten zehn Großen Geboten befasst, habe ich im Anhang außerdem einen alten Dharma-Vortrag von Bernie Glassman über die drei Reinen Gebote hinzugefügt.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit den Geboten zu üben. Die hier vorgestellte Methode, die ich und die Zen-Gruppe, mit der ich zusammenarbeite, für wertvoll erachtet haben, ist eine Einladung, uns genau anzuschauen, auf welche Weise wir es nicht schaffen, dem gerecht zu werden, was jedes Gebot von uns verlangt. Sie besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil geht es darum, mithilfe der eigenen Vorstellungskraft die engere, eher wörtliche oder konventionelle Bedeutung des betreffenden Gebots auf weit mehr auszudehnen als das, woran wir normalerweise dabei denken. Wir stehlen zum Beispiel viel mehr als nur Geld und materielle Güter, die einem anderen gehören. Das Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, könnte als eine Form des Stehlens betrachtet werden, ebenso wie Konkurrenzdenken oder die Vorstellung, dass Erleuchtung etwas ist, das „mir“ gehören könnte. Indem wir die Bedeutung auf diese Weise erweitern, kann das betreffende Gebot für jede*n von uns in unserem individuellen Leben genau so lebendig werden, wie es sollte.
Sobald ich weiß, wie ich das betreffende Gebot am besten verstehen kann, kann ich mich selbst in Bezug auf dieses Gebot kennenlernen – insbesondere, wie ich ihm nicht gerecht werde. Dies ist der zweite Teil. Es ist eine Praxis ohne Vorlieben, ohne Urteile, ohne „man sollte“ bzw. „man sollte nicht“, ohne Vorstellungen von Versagen. Es ist eine Praxis, einfach zuzulassen, was ist. Das Ergebnis davon ist, dass ich immer tiefer da hineingehe, zu sehen und mitfühlend zuzulassen, was ich bin – als eine*r, der oder die mordet, lügt, stiehlt, geizig ist und so weiter –, und dass sich die Gebote ganz natürlich und spontan in meinem Leben zu manifestieren beginnen. Dies ist der dritte Teil dieser Vorgehensweise, der in Wahrheit nicht so sehr ein separater Teil als vielmehr das natürliche Ergebnis der ersten beiden ist. Warum das so ist, werde ich im zweiten Teil des Buches untersuchen. Für den Moment sollten wir uns daran erinnern, dass im Buddhismus der einzige Weg, uns von unseren allgemeinen Verblendungen, unseren persönlichen Konditionierungen und den Leiden, die wir uns selbst und anderen zufügen, zu befreien, darin besteht, durch sie hindurchzugehen, und nicht darin, sie zu umgehen oder abzulehnen. Wie es in der Zen-Tradition heißt:
Wenn du wegen des Bodens hinfällst, musst du den Boden benutzen, um wieder aufzustehen.5
Dogen war dafür besonders sensibel, und wir werden uns auf ihn stützen, um die Gebote tiefer zu verstehen. Drei Gegebenheiten haben mich dabei beeinflusst, die Gebote auf diese Art zu studieren. Erstens bin ich eine pensionierte Philosophieprofessorin mit einem großen Interesse an Sprache und ihrer Komplexität.
Aufgrund meiner früheren Erfahrungen, insbesondere mit dem Werk von Wittgenstein, ist es für mich selbstverständlich, die Rolle des Kontextes beim Verständnis der vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten eines bestimmten Wortes zu berücksichtigen. Im Falle des zweiten Gebots, kein Stehlen, neigen wir zum Beispiel dazu, es sofort auf eine einzige Bedeutung zu reduzieren – etwa „nicht nehmen, was mir nicht gehört“ –, obwohl wir fragen könnten: „Was stehlen? Geld? Zeit? Aufmerksamkeit? Den letzten Keks auf dem Teller, der noch niemandem gehört?“ Dieses Ausweiten auf mehrere Bedeutungen kann auf jedes der Gebote angewendet werden. In den folgenden Kapiteln habe ich versucht, die vielen Bedeutungen der einzelnen Gebote so fantasievoll wie möglich zu betrachten, aber ich möchte Sie auch ermutigen, das zu entdecken, was ich noch nicht bedacht habe und was für Sie vielleicht nützlicher ist.
Das Zweite, was mich beeinflusst hat, ist, dass ich viele Jahre an einer Hochschule gelehrt habe, die großen Wert auf das Individuum legt, sogar auf die individuelle Form der Wahrnehmung, um das Tiefste und Beste in diesen Studierenden hervorzuholen – auszubilden. Was die Gebote betrifft, so sind wir alle unterschiedlich: Was ich für gewöhnlich stehle, ist vielleicht etwas anderes als das, was Sie womöglich stehlen. Außerdem könnte Stehlen für mich das schwierigste Gebot sein, während es für Sie eher das Lügen ist. Zusätzlich zu diesen Unterschieden ist jede*r von uns mit unterschiedlichen Lebenssituationen konfrontiert. Jede*r, der oder die eine Weile Zen praktiziert hat, weiß, dass es einige Zeit dauert, bis man entdeckt, dass es in der Praxis um „mich“ geht. Es ist etwas Individuelles und keine Angelegenheit, bei der es darum geht, zu meditieren, sich zu verbeugen oder auf eine bestimmte Art und Weise zu gehen, und es arbeitet auch nicht mit einem unspezifischen Ding namens „Ego“. Das gilt auch für die Arbeit mit den Geboten. „Aber ich dachte, im Zen geht es darum, das Ich loszulassen“, werden Sie vielleicht sagen. Das ist richtig, aber wir können erst dann etwas loslassen, wenn wir wissen, woran wir festhalten. Wenn wir wissen, woran wir hängen, und in der Lage sind, es willkommen zu heißen – ja, es zu sein –, wird es uns loslassen und nicht umgekehrt. Es ist wichtig zu erforschen, wer ich bin – zum Beispiel im Fall des Stehlens –, damit die Praxis dort hinkommt, wo sie gebraucht wird. Was ist es, das ich für gewöhnlich stehle? Stehle ich Aufmerksamkeit, Zeit, Ideen oder eine Reputation? Es ist wichtig, uns selbst zu kennen, wenn sich diese Praxis weiter vertiefen und es dabei wirklich um „mich“ gehen soll; es ist eine Voraussetzung dafür, dass das „Ich“ sich zu entgrenzen beginnt. Wie Dogen bekanntlich sagte: „Das Selbst zu studieren heißt, das Selbst zu vergessen.“6
Die dritte Quelle des Einflusses sind meine etwa zwanzig Jahre als Schülerin des Diamond Approach von A. H. Almaas. Zwei Aspekte dieser Lehre haben den Zen-Menschen in mir tief beeinflusst. Der erste ist, unsere Konditionierung wirklich anzuerkennen und mit ihr zu arbeiten – insbesondere mit den Aspekten von uns selbst, mit denen wir uns lieber nicht beschäftigen wollen. Bei den Geboten besteht die Gefahr, dass wir sie dazu benutzen, den Mörder, den Lügner, den Dieb usw. in uns nicht anzuerkennen, wenn wir versuchen, „gut“ zu sein. Auf diese Weise verpassen wir nicht nur die Gelegenheit, eine Art innere Transformation zu vollziehen, die letztlich dazu führen kann, dass sich die Gebote auf natürliche und spontane Weise manifestieren; wir wissen dann auch nicht darum, dass wir für gewöhnlich das, was wir in uns selbst unterdrücken, auch in anderen unterdrücken. Das führt dazu, dass wir andere wegen derselben Verhaltensweisen verurteilen, die wir bei uns selbst nicht anerkennen und willkommen heißen wollen oder können, vor allem wenn es sich dabei um Neigungen handelt, die uns nicht voll bewusst sind.
Der zweite Aspekt des Diamond Approachs, der mich sehr beeindruckt hat, ist der Wert, und vielleicht die Notwendigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, um herauszufinden, wer wir wirklich sind. Dazu gehört, dass wir offenlegen, was wir verbergen. Dies erweist sich als eine sehr befreiende Praxis. Ich erinnere mich, dass Bernie Glassman vor Jahren, als er das Greyston-Mandala, ein Netzwerk gemeinnütziger Organisationen u. a. für Obdachlose, in Yonkers aufbaute, von einem Besuch in einer Einrichtung der Franziskaner zurückkam, die mit drogenabhängigen Männern arbeitete. Er war sehr beeindruckt von einer Übung, bei der ein Einzelner von der Gruppe herausgefordert, ja bloßgestellt wurde. Für uns Zen-Schüler*innen klang das beängstigend, da wir es gewohnt waren, in unserer Privatsphäre – außer mit dem Lehrer – geschützt zu sein. Der Diamond Approach hat mich gelehrt, dass sich freiwillig gegenüber anderen zu öffnen, ein sehr effektiver Weg ist, um die eigene Version der Unterscheidung zwischen Innen und Außen, ganz zu schweigen von sich selbst und anderen, zu beenden und so einen wichtigen Aspekt von Einheit und wahrer Freiheit zu erfahren. Obwohl ich durch den Diamond Approach viel Erfahrung mit dieser Art von Übungen gesammelt habe, war es eigentlich Bernie, der mich auf diesen Weg der Praxis gebracht hat. Vor vielen Jahren haben er und ich zusammen mit seiner Frau Sandra Jishu Holmes eine Zen-Version der 12 Schritte der Anonymen Alkoholiker entwickelt, die uns helfen soll, mit unseren eigenen inneren Erfahrungen, die manchmal negativ oder schmerzhaft sind, besser in Kontakt zu kommen; dies versetzt uns aber auch in die Lage, sie mit anderen zu teilen.
Es gibt mehrere sehr gute Bücher über die Zen-Gebote und wie man mit ihnen praktiziert. Warum also noch eines? Diese Art, mit den Geboten zu arbeiten, unterscheidet sich von dem, wie wir es gewohnt sind, damit umzugehen. Sie scheint für alle Aspekte der Zen-Praxis fruchtbar zu sein. Sie ersetzt dabei nicht die übliche Weise, die Gebote zu studieren und zu praktizieren, die wir im nächsten Abschnitt betrachten werden. Sie kann aber sowohl eine Vorstufe sein als auch zur Nachbereitung dienen. Sie kann auch die Bedeutung und den Zweck der Gebote in unserem Leben vertiefen und bereichern, ebenso wie andere Aspekte unserer Praxis. Der Hauptunterschied besteht darin, dass wir nicht danach streben, die Gebote einzuhalten, sondern dass wir uns mit unserem Versagen bei der Einhaltung der Gebote auseinandersetzen. Diese Praxis erlaubt, all das zuzulassen und sogar willkommen zu heißen, was wir in uns selbst und in anderen abzulehnen versuchen. Sie öffnet uns für das Einssein und die Möglichkeit, dass sich die Gebote natürlich und spontan in unserem Leben entfalten.
Wir alle sind in der einen oder anderen Form mit ethischen Grundsätzen konfrontiert, angefangen in der Kindheit mit Geschichten wie jenen von Pinocchio, Aschenputtel, Rotkäppchen und sogar George Washington. Zunächst lernen wir die Begriffe „gut“ und „schlecht“ für verschiedene Verhaltensweisen. Später kommen anspruchsvollere Begriffe wie „richtig“ und „falsch“ hinzu, und schließlich machen wir die Unterscheidung zwischen Rechten und Pflichten. Diejenigen von uns, die in der jüdischen oder christlichen Tradition aufgewachsen sind oder auch nur in einem westlichen Land leben, kennen die Zehn Gebote oder wissen zumindest davon. Einige von uns haben vielleicht sogar einen Philosophie-Kurs über Ethik an der Universität belegt. In jüngster Zeit haben sich auch verschiedene akademische und andere Organisationen entwickelt, die sich mit Wirtschaftsethik, Medizinethik und Ethik in der Politik befassen.
Es lohnt sich für jede*n von uns zu fragen, inwieweit wir die ethische Dimension der Wirklichkeit in unser tägliches Leben einbeziehen. Ich habe zwei Freunde, die sich in ihrem Leben bewusst darum bemühen, im ethischen Sinne bessere Menschen zu sein. Jedes Mal, wenn ich mich mit einem von ihnen zum Mittag- oder Abendessen treffe, bin ich danach auf irgendeine Weise inspiriert. Diese Art von Aufmerksamkeit und Bemühung ist wahrscheinlich nicht typisch für die meisten von uns, bis wir eine spirituelle Praxis mit expliziten ethischen Prinzipien aufnehmen. In meinem Fall war es so, dass ich erst durch die Begegnung mit Zen ein ethisches Bewusstsein entwickelte, obwohl ich schon während meines Studiums Kurse über Ethik belegt hatte. Vorschriften jeglicher Art werden in der Regel als etwas behandelt, das befolgt oder eingehalten werden muss, was darauf hindeutet, dass sie irgendwie „da draußen“ sind, getrennt von uns, und ein gewisses Maß an Engagement und Anstrengung unsererseits erfordern. Hier tauchen die Begriffe „man sollte“ bzw. „man sollte nicht“ auf. Dies ist eine dualistische und wichtige Art, die Gebote zu behandeln, und sie findet sich auch im Zen. Aber Zen zielt auch auf etwas anderes ab.
Als Bernie zu mir sagte, dass es keinen Buddhismus ohne Gebote gebe, meinte er damit etwas viel Tiefgründigeres, als es den Anschein hatte. Man geht davon aus, dass die Zen-Gebote nicht von Menschen entwickelt wurden, um unser soziales und moralisches Handeln zu regeln, sondern dass sie Shakyamuni Buddha als Teil der erleuchteten Wirklichkeit offenbart wurden, zu der er erwacht ist. Etwas Ähnliches lässt sich in verschiedenen Antworten des Westens auf die große Frage „Woher kommen unsere grundlegenden ethischen Normen?“ erkennen. Zu den Antworten gehören „Gott“ und „Naturgesetz“. Der Unterschied besteht darin, dass sowohl im Zen als auch in den mystischen Traditionen des Westens und des Ostens die Antwort nicht nur in der Theorie oder Theologie zu finden ist, sondern in Bezug auf die Praxis und Erfahrung verstanden wird. Wie Dogen es ausdrückte: „Wenn wir Zazen sitzen, welches Gebot wird nicht befolgt, welcher Verdienst nicht erlangt?“7 Dies ist die nonduale Art, die Gebote zu behandeln. Natürlich ist Zazen für Dogen nicht nur eine Praxis, die wir auf einem Kissen sitzend ausführen, sondern es ist die Erleuchtung selbst. Wir werden diesen überraschenden Standpunkt im zweiten Teil noch viel detaillierter untersuchen.
Das Verständnis, dass die Gebote nicht nur ethische Normen sind, sondern vielmehr Ausdruck der erleuchteten Wirklichkeit, verändert unsere Beziehung zu ihnen, sodass wir, wenn wir in Zazen sitzen, eins mit ihnen geworden sind, anstatt sie zu „befolgen“ oder zu „beobachten“. Natürlich werden wir nicht nur mit den Geboten eins. Es sind auch die anderen Menschen – oder Tiere oder Pflanzen –, zu denen wir in verschiedenen Situationen mit den Geboten eine Beziehung haben. Und nochmals, das ist Nondualität, und wo das „Nicht“ – wie in „nicht lügen, nicht stehlen, nicht töten“ und so weiter – zum „Kein“ wird. Man könnte sagen, dass es uns in bestimmten erleuchteten Zuständen nicht einmal in den Sinn kommt, zu stehlen oder zu lügen. Aber was ist, wenn wir uns nicht in diesem Zustand befinden? Werden wir dann einfach auf das „man sollte“ bzw. „man sollte nicht“ zurückgeworfen?
Im Laufe meiner Zen-Praxis musste ich für mich persönlich über die kurze und abstrakte Art und Weise, in der ich vor vier Jahrzehnten in die Gebote eingeführt wurde, hinausgehen. Es ging um etwas, das ich vorläufig als drei „Ebenen“ bezeichnen möchte. Die erste Ebene ist eine Art absolute Version – absolut im Sinne von „niemals, unter keinen Umständen“ töten, lügen, stehlen und so weiter. Das Tragen eines Mundschutzes bei den Jains, um das Einatmen und damit das Töten von unsichtbaren Mikroorganismen in der Atemluft zu vermeiden, wäre ein Beispiel für diese „Niemals-Version“ des Nicht-Tötens.8