Einsteins Albtraum - Alexander Unzicker - E-Book

Einsteins Albtraum E-Book

Alexander Unzicker

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Beschreibung

Wie kein anderer repräsentierte Albert Einstein die europäische Physiktradition, die mit grundlegenden Prinzipien nach fundamentalen Naturgesetzen suchte. Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch korrumpierte der mephistophelische Pakt mit dem Militär des Imperiums USA die Physik, der in der Erfindung der Atombombe gipfelte. Geld und die Nähe zur Macht ließen sie zu einem technischen Hochleistungssport werden, der die Frage nach den grundlegenden Naturgesetzen schlicht vergessen hat. Alexander Unzicker zeigt, wie wir die Physik wieder in den Dienst der Menschen stellen, damit die Zivilisation im 21. Jahrhundert nachhaltig bestehen kann.

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Ebook Edition

Alexander Unzicker

Einsteins Albtraum

Amerikas Aufstiegund der Niedergang der Physik

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-841-9

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort Warum Europa und Amerika zwei verschiedene Welten sind
Westlich ist nicht gleich westlich
Ein Albtraum in Zeitlupe
Denken ohne Dominanz
Teil I: Das Land ohne Kultur
1 Bildung ist kein WertWeisheit wird nicht geschätzt
Vertikale Mobilität
Brotlose Kunst Philosophie
Weitsicht und Tiefgang
Denker hier, Macher dort
Das Ding an sich muss funktionieren
Psychologie derer, die die Brücken abbrechen
God Bless America
Die halbstarke Nation
2 Wissenschaft ist kein KriegWo Macht der Erkenntnis schadet
Alles Wichtige passiert bei uns
Spiegelbild der Antike
God’s Own Country auf Mission
Die vereinnahmende Weltmacht
Manchmal auf der Seite der Moral
Langsames Abdriften ins Absurde
Cowboys – dort wo die Freiheit noch grenzenlos ist
Der Wandel des Forschungsklimas
Allmacht läuft sich tot
Parallele Denkweisen, kein Ziel vor Augen
3 Krisen, Blasen, CrashSymptome des kurzfristigen Denkens
Manie überall
Schuldenaufnahme und galaktische Schattenbanken
Methodische Scheuklappen
Unerbittliche Exponentialfunktion
Kurzatmiges Wirtschaftssystem
Manager statt Beamte und alles wird gut
Almosen oder Gerechtigkeit?
Justitia im Praxistest
Andere Länder, andere Sitten
Mit Geld wird alles machbar
Teil II: Aufstieg und Krise der europäischen Wissenschaftstradition
4 FundamenteDie Entdeckungen der Naturphilosophen
Zurückgezogene Einzelkämpfer
Unstillbarer Wissensdurst
Suche nach elementaren Gesetzen der Natur
Nachdenken über Erklärungen
Zwei Jahrtausende, ein Paradigma
Die elektrischen Antipoden
Das exzentrische Genie
Dämmerung eines neuen Zeitalters
Boom der Erfindungen
5 ErschütterungWie es zu Einsteins Revolutionen kam
Denken ist wichtiger als Rechnen
Eigensinnige Naturphilosophen
Der Denker aus Wien fordert Newton heraus
Je weniger Konstanten, desto besser
Plancks Entdeckung, die Einstein mit Leben füllte
Unschlagbare Intuition aus Kopenhagen
Der lange Weg zum Atom
Physik verliert ihre Unschuld
Erschütterungen in der alten Welt
6 ErosionDie Physik wird zerstritten und orientierungslos
Große Erfolge und noch größere Rätsel
Verkehrte Welt – Lichtteilchen und Materiewellen
Alles, was man weiß, wird unscharf
Konfliktreiche Quantentheorie
Showdown der Koryphäen
Das Gift der Rivalität
Genies in alle Winde verstreut
Das Ende des Determinismus
Im Land der begrenzten Einsichten
Der erste Blick in den Kosmos
Rätselhafte Fluchtbewegung
Die Zahl des Universums
Krise des europäischen Denkens
7 SpaltungWohlfeile Erklärungen für ungelöste Probleme
Verdrängung und Gegensätze
Übersprungsteilchen
Reiche Ernte der Techniker
Kreisende Gedanken im Elfenbeinturm
Es wird einsam um die Genies
Die Wege trennen sich
Beschönigung schon im Namen
Von der friedlichen Kooperation …
… zur Barbarei
Wahn zerstört Wissenschaft
Teil III: Die Atombombe und die Folgen
8 Der Exodus der europäischen IntelligenzAmerika und die Bombe
Schießen auf alles, was da ist
Entdecker wider Willen
Der Geist ist aus der Flasche
Albtraum Hitlers Bombe
Großtechnische Kraftanstrengung
War Deutschland näher an der Bombe als angenommen?
Militärische Logik und vermeidbares Unheil
Die skalierbare Bombe
Die Transformation der Forschung
Requiem für die reine Wissenschaft
9 Nach HiroshimaNeue Herren, neue Physik
Abnormalisierung der Physik
Neugründung eines gescheiterten Unternehmens
Chor der Begeisterung
Beweis durch Einschlafen
Verdächtige Symbiose von Theorie und Experiment
Marode Basis
Übermalter Rost
Moderne Theoriebildung
Der Sunnyboy der Physik
Kein Respekt vor der Geschichte
Der mephistophelische Pakt
Durchgehend an der Forschungsfront
Das Aussterben einer Art
10 Quarks und NeutrinosBig Science auf Kosten der ungelösten Probleme
Hauptsache energiereich
Moderne Metaphysik
Ein Schritt vor, zwei zurück
Unsichtbare Farbenwelt
Reduktionismus aus der Spur geraten
Die Blüte der Schattenteilchen
Ein Kriegsschiff als Pate
Geheimniskrämerei und Erosion
Durchgedreht
Mathematische Chefköche
Fehlende Bescheidenheit
Theorie und Praxis der Wissenschaft
Big Science und Gruppendenken
11 Gravitation, Raketen, MondlandungPrestige im Weltall
Einstein und das Bild von ihm
Zwiespältige Huldigung
Big Science im Weltraum
Suchen, bis man findet
Bewunderte Sternenmonster
Kronzeuge wider Willen
Mission Mond
Anpassungsfähige Ingenieure
Die gewaltsamen Modellierer
Kollektive Wissenschaft – oft im Irrtum, aber niemals im Zweifel
Beginn der Halbleiterwelt
Technologische Evolution der Zivilisation
Teil IV: Von der Mondlandung abwärts – Die Degeneration der Physik
12 Beginn der GigantomanieHochenergiephysik ohne Idee
Mehr Wunschdenken als Messung
Keine Zeit, gesehen zu werden
Physik mit dem Bulldozzer
Was ist moderne Wissenschaft?
Feigenblatt für die Masse
Mit Wunschdenken ins Universum
Selbstüberschätzung hoch zehn
Blind in der Mode der Gegenwart
Rechnen um jeden Preis
13 AllmachtsphantasienStrings, Multiversen, Supersymmetrie
Superlative der Physik
Untote Forschung
Verrentung schützt vor Widerlegung
Lebenselixier neue Ideen
Die Mutter aller Hoffnungen
Euphorie und Skepsis
Herdentrieb und Propaganda
Im Land der unbegrenzten Illusionen
Keine Beleidigung des Propheten
Quantenlyrik trifft auf harte Zahlen
14 Korrumpierte PhysikDer Verlust der Wahrhaftigkeit
Wahrheitssucher und Mittelbeschaffer
Schamlose Schaumschläger
Schweigen für Geld
Unerwünschte Kritik ist Populismus
Medien bleiben Medien
Schon lange nicht mehr nobel
Evidenz ist, wenn es keine gegenteilige Evidenz gibt
Verräterischer Wortschatz
Brot und Spiele für den Geist
Beliebige Interpretationen
Tanzen, so lange die Musik spielt
15 Postmoderne WissenschaftSpezialisierung bis zum Zerbröckeln
Unkreatives Wachstum
Wissenschaft als Breitensport
Professionalisierung oder Ent-Idealisierung?
Scheuklappen werden zur Norm
Idealismus unter Begutachtung
Wissenschaft wird zu Bürokratie
Noch nicht einmal Unternehmertum
PC gibt der Forschung den Rest
Beginnende Orwellisierung
16 Nahender CrashDas Ende des amerikanischen Zeitalters
Make it great again nicht ganz gelungen
Petrodollar, Islam und Erdölkriege
Das überdehnte Imperium
Postamerikanische Perspektiven
Vernetzte neue Welt
Es kann noch dicker kommen
AusblickQuo vadis, Homo sapiens?
Dank
Literatur
Anmerkungen
Fußnoten

Vorwort Warum Europa und Amerika zwei verschiedene Welten sind

Die westliche Zivilisation dominiert im Moment den Planeten, doch kann man kaum behaupten, sie steuere problemlos und sicher in die Zukunft. Die weitere Entwicklung wird von Wissenschaft geprägt werden, langfristig auch von der Grundlagenwissenschaft. Um deren Zustand zu verstehen, muss man ihre geschichtliche Entwicklung ehrlich betrachten. Für die Wissenschaft benutzen wir den Verstand, der beeinflusst ist von Traditionen und Kulturen, welche das menschliche Gehirn von Kindheit an formen. Diese Denktraditionen sind Thema dieses Buches.

Die moderne Wissenschaft begann vor etwa vierhundert Jahren mit der Aufklärung uwnd erfuhr mit der technologischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts einen außerordentlichen Schub. Diese Blüte der Naturwissenschaften ging von der Physik aus, deren Erkenntnisse über Naturgesetze zu den größten Leistungen gehören, die der menschliche Geist je bewältigt hat. Die zugrunde liegende Kultur des Denkens stammt aus Europa, nicht zufällig der Kontinent, der die Welt über diese Jahrhunderte hinweg militärisch und politisch beherrschte. Anfang des 20. Jahrhunderts, spätestens aber mit Ende des Zweiten Weltkriegs, stieg Amerika zur führenden Macht auf, und ebenfalls nicht zufällig wurde es zum Zentrum der modernen Naturwissenschaften.

Obwohl von Historikern wenig thematisiert, ging dies mit einem Bruch wissenschaftlicher Kultur einher. Während die europäische, naturphilosophische Forschungstradition auf grundlegende Naturgesetze gerichtet war und der Frage nachging, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, dominierte in der technologisch orientierten Kultur der neuen Welt der Wunsch, große visionäre Projekte wie die Atombombe und die Mondlandung zu realisieren, auch wenn diese undenkbar erschienen. Diese mögen die größten technologischen Errungenschaften der Menschheit sein; die größten intellektuellen Leistungen sind sie nicht. Während in der europäischen Tradition das technisch-erfinderische Element Hand in Hand mit der Grundlagenforschung ging, fehlt in der US-Wissen­schafts­praxis seit knapp hundert Jahren das Element der naturphilosophischen Reflexion. Dies hat offensichtliche kulturelle Ursachen. Wenn man es zuspitzt: Amerikaner denken nicht gern gründlich nach.

Diese Aussage bedarf verschiedener Einschränkungen. Niemand, der die Lebensbedingungen vor einhundert Jahren mit den heutigen vergleicht, kann die unglaubliche Entwicklung der Zivilisation leugnen, zu der Amerika mit seinen Innovationen, seiner Wirtschaftskraft, aber auch mit seinen Werten entscheidend beigetragen hat. Die Menschheitsgeschichte ist voller Elend und Katastrophen, doch bei aller berechtigten Kritik an den USA hätte es im letzten Jahrhundert weitaus schlimmer kommen können. Ist man am Fortbestand der Zivilisation interessiert, muss man jedoch analysieren, mit welcher Denkweise die Menschen an die Erforschung der grundlegenden Naturgesetze herangingen. Dass sich dabei eklatante Unterschiede zwischen Europa und Amerika auftun, kann niemand, der sich damit auseinandersetzt, bestreiten.

Westlich ist nicht gleich westlich

Allerdings ist dies nicht streng geographisch zu verstehen, allein schon wegen der Mobilität der Wissenschaftler, die oft in vielen Ländern forschen. Die Unterscheidung betrifft auch nicht in erster Linie Individuen, bei denen es eine Reihe von Ausnahmen gibt; vielmehr geht es um die in der Wissenschaft vorherrschende Denktradition. Da die europäischen Wurzeln physikalischer Grundlagenforschung schon in den 1930er Jahren abzusterben begannen, hat sich die US-amerikanische Kultur heute in ganz Europa und darüber hinaus ausgebreitet und wird gemeinhin als »westliche« bezeichnet. Dieser zu undifferenzierte Begriff ist eine der Ursachen dafür, dass die langfristigen Folgen eines zu oberflächlichen Denkens und die damit einhergehenden Schattenseiten der Technologie oft der Wissenschaft als solcher angelastet werden und zu einer allgemeinen Technikfeindlichkeit führen. Für ein Verständnis der offensichtlichen Krise der »westlichen« Zivilisation ist daher ein Studium ihres Vorläufers, der europäischen Forschungstradition, unabdingbar.

Die europäische Physikkultur ist bis hin zu den Denkern im alten Griechenland in der Philosophie verwurzelt. Später wurde sie durch die von Galilei begründete empirische Methode besonders fruchtbar. In Amerika hat sich die Physik dagegen vollkommen von der Philosophie verabschiedet. Manche philosophischen Traktate erschöpften sich ja tatsächlich in einem Kneten von Begriffen und kamen zu Recht nie in der neuen Welt an. Aber ganz ohne philosophische Tradition wurzelten die dort entwickelten Theorien zu flach.

Dies ist keine generelle Kritik an der theoretischen Physik. Insbesondere ist dem bösartigen Missverständnis vorzubeugen, die hier geforderte Besinnung hätte etwas zu tun mit der »Deutschen Physik«, einer ab den 1920er Jahren aktiven Gruppe von Experimentalphysikern, welche den revolutionären Inhalt von Relativitätstheorie und Quantenmechanik schlicht nicht verstanden und später im Windschatten der NS-Ideologie ihre Karriere beförderten, indem sie gegen Einstein polemisierten. Vielmehr ist es gerade Albert Einstein, der die europäische Denkkultur symbolisiert und Opfer des Bruches in der Physiktradition wurde, die hier Thema ist.

Wie kein anderer hatte Einstein seine Erkenntnisse von grundlegenden Prinzipien abgeleitet, ehe er, vom Antisemitismus angewidert, nach Amerika emigrierte. Für die dort beginnende Teilchenphysik der Apparate interessierte er sich nicht; umgekehrt wurde sein theoretisches Genie keineswegs besonders geschätzt, geschweige denn zur Fortsetzung der Physiktradition Europas verwendet, obwohl noch viele andere Physiker der Barbarei der Nazis und des Krieges im alten Kontinent den Rücken gekehrt hatten. Tatsächlich war Einstein in Princeton zunehmend isoliert, während die Riege der führenden US-Physiker geschäftig ganz anderen Problemen nachging als jenen grundlegenden Fragen, über die Einstein zeitlebens nachdachte.

Ein Albtraum in Zeitlupe

Tragischerweise hat der Pazifist Einstein mit seinem Brief an Präsident Roosevelt im August 1939 auch zur Atombombe beigetragen, welche den Machtwechsel von Europa nach Amerika endgültig vollzog. Diese Waffe ist das wichtigste Symbol jener Entwicklung, welche den Fokus der Grundlagenforschung dauerhaft vom individuellen Denken zu kollektiven Großprojekten verschob. Der erfolgreiche Bau der Bombe verführte die amerikanischen Theoretiker zu der Annahme, dies qualifiziere sie für fundamentale Physik. Dem ist leider nicht so. Die wissenschaftliche Vormachstellung der USA nach dem Krieg war hauptsächlich eine Begleiterscheinung ihrer militärischen und politischen Macht, während grundlegende Fragen seit 1930 weiterhin ungelöst sind.

»Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen, unparteiisch zu sein, aber nicht.« – Johann Wolfgang von Goethe

Fraglos sind die USA bis heute das dominierende Imperium. Die Historie ihres Aufstiegs1 ist daher einer näheren Beschäftigung wert, gerade auch wegen der einschneidenden Auswirkungen auf die Wissenschaftstradition. Diese ist in Europa entstanden, daher kann man Kritikern mit einem geschlossenen Weltbild, die eine solche Analyse »eurozentrisch« nennen wollen, wenig helfen. Ich räume aber ein, dass meine eigene Sichtweise als Wissenschaftler von der europäischen Tradition geprägt ist und insofern nicht beanspruchen kann, ganz ausgewogen zu sein. Da die gegenwärtige Physik sich ihrer Wurzeln weitgehend entledigt hat, scheint mir jedoch so ein Gegengewicht nicht unangebracht.

Die Physik, aus deren Perspektive ich die historische Entwicklung betrachte, beschäftigt sich mit grundlegenden Naturgesetzen, die nur einen Teil der Wissenschaft ausmachen. Aber auch in den angrenzenden Disziplinen gibt es viele offene Fragen: Warum beispielsweise besteht der genetische Code, der allem irdischen Leben zugrunde liegt, gerade aus jenen 20–22 Aminosäuren? Solche Themen hört man in der derzeitigen Forschungskultur selten. Wenn ich jedoch hier von Wissenschaft spreche, gilt dies im engeren Sinne oft nur für die elementare Physik, wenn auch vieles nahelegt, dass es in den anderen Naturwissenschaften ähnliche Muster gibt. Angesichts der allgemeinen Denktraditionen, die sich gut belegen lassen, wäre dies jedenfalls nicht überraschend.

Denken ohne Dominanz

Diese Analyse ist im Übrigen nicht »antiamerikanisch«. Es gibt kaum ein Imperium in der Geschichte, dem man nicht berechtigte Kritik entgegenbringen kann, aber insgesamt haben amerikanische Tugenden die Zivilisation durchaus vorangebracht. Das beste Beispiel für Mut, Tatkraft und Optimismus ohne allzu viel »europäische« Bedenken sind vielleicht die Gebrüder Wright. Obwohl ein Theoretiker »bewiesen« hatte, dass sich ein schwerer Körper nie dauerhaft in der Luft halten könne, bauten sie einfach ein funktionierendes Flugzeug. Das Unmögliche möglich zu machen bleibt bis heute der Inbegriff des amerikanischen Traums.

»Der Amerikaner ist freundlich, selbstbewusst, optimistisch und – neidlos. Der Europäer dagegen kritischer, bewusster, weniger gutherzig und hilfsbereit, anspruchsvoller in seinen Zerstreuungen …. meist mehr oder weniger Pessimist.«2– Albert Einstein

 

Dennoch sind für eine nachhaltige Entwicklung der Zivilisation beide Komponenten, das Anpacken und die Reflexion, nötig. In Europa strebte man mehr nach Erkenntnis statt Nutzen, nach Wissen statt nach Macht, Entdeckung zählte mehr als Erfindung, Wahrheit war der Maßstab, nicht nur Erfolg. Ziel war es, Phänomene zu erklären, nicht nur zu beschreiben, das theoretische Verständnis stand vor der praktischen Anwendung, die Vereinigung vor der Spezialisierung. Europäische Wissenschaftler setzten mehr auf allgemeine Prinzipien statt auf davon losgelöste Rechnungen. Generell gingen sie skeptischer, aber auch demütiger zu Werke als ihre optimistischen und gelegentlich selbstgefälligen Kollegen in Amerika.

Blickt man auf die Gegenwart einer globalisierten Welt, sind diese nationalen Kategorien kaum mehr auszumachen, wohl aber eine Krise der Grundlagenphysik, die nicht zu übersehen ist.3 Deren Ursachen lassen sich jedoch nur begreifen, wenn man die derzeit vorherrschende Denkweise betrachtet, die im Wesentlichen in den USA entstanden ist.

Während die Unterschiede in der Mentalität und den Traditionen offensichtlich sind, lohnt sich ein gründlicher Blick auf die Geschichte, welcher den Schwerpunkt des Buches ausmacht. Dabei springt ins Auge, dass die unterschiedlichen Zugänge nicht auf die Naturwissenschaft beschränkt sind. Es trägt daher zum Gesamtverständnis bei, die europäische und amerikanische Kultur zunächst auch bei den Themen Bildung, Politik und Wirtschaft zu betrachten. Diese werden auch eine Rolle spielen, um am Ende des Buches die Auswirkungen auf die Zivilisation abzuschätzen, die sich aus dieser allgemeinen Krise des Denkens ergeben, deren kulturgeschichtliche Konsequenzen sicher nicht auf die Physik beschränkt bleiben.

München, im Januar 2022

Teil I:Das Land ohne Kultur

»Dem Streben, Weisheit und Macht zu vereinigen, war nur selten und nur kurze Zeit Erfolg beschieden.«1– Albert Einstein

 

 

1 Bildung ist kein WertWeisheit wird nicht geschätzt

Tippt man bei Google die Worte »Liste griechischer …« ein, so schlägt die allwissende Suchmaschine die Ergänzung »Philosophen« vor. Dies mag für die Wiege der europäischen Kultur nicht verwundern, die entsprechende Anfrage »Liste amerikanischer …« suggeriert jedoch zuerst Flugzeugträger und Schauspieler, bevor die Suche nach Philosophen in der neuen Welt relativ wenige Treffer liefert. Inhaltlich sind diese keineswegs zu unterschätzen; im 19. Jahrhundert ist hier vor allem Charles Sanders Pierce zu nennen, der als Begründer des philosophischen Pragmatismus die amerikanische Denkweise rationalisierte: die möglichen Konsequenzen seien der Maßstab für den Wert eines Gedankens. Was die gesellschaftliche Wertschätzung betrifft, erreichte jedoch die Philosophie dort nie den Stellenwert wie in Europa und viele Amerikaner würden wohl den Pragmatismus für sich so zusammenfassen: Philosophie braucht man nicht.

Tatsächlich verspricht sie wenig kurzfristigen und unmittelbaren Nutzen und hatte daher von Anfang an einen schweren Stand in einer erfolgs- und ergebnisorientierten Kultur, die nicht einmal Allgemeinbildung als solche besonders schätzt. Demgegenüber ist in Europa das Streben nach Erkenntnis seit Jahrhunderten in den Institutionen verankert. Dass man Bildung als Wert ansah, wurde zur Grundlage der Geistesgeschichte.

Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten drückte auch im kollektiven Bewusstsein der Amerikaner eine Abkehr von den europäischen Werten aus. Wir brauchen euch nicht mehr – und kommen auch so zurecht. Die Erklärung garantierte Rechte für Life, Liberty and Pursuit of Happiness. Bildung war nicht dabei. Es entstand keine Tradition, die das Erlangen von Wissen sonderlich schätzte. Warum auch? In Amerika benötigte man praktische ­Fähigkeiten, und schließlich führte der Pioniergeist der Einwanderer zu einer Blüte von Erfindungen, die schon im späten 19. Jahrhundert den alten Kontinent überrunden sollten. Auch mehrere Sprachen zu beherrschen war for all practical purposes unnötig.

Vertikale Mobilität

Gesellschaften sind erfolgreich durch die Aufstiegschancen, die sie ihren Mitgliedern bieten. Auch Europa verdankte seine Entwicklung der Tatsache, dass die sozialen Schichten durchlässig wurden – durch Bildung. Carl Friedrich Gauß, der vielleicht bedeutendste Mathematiker des 19. Jahrhunderts, war das Kind eines einfachen Handwerkers. Der aus einer mittellosen Familie stammende Johannes Kepler profitierte um 1580 von der Schulpflicht im reformierten Württemberg. Gymnasium und Universität führten ihn letztlich zu seinen Erkenntnissen, die später die Welt revolutionierten.

Demgegenüber steht der amerikanische Traum, die sicherlich bemerkenswerten Verhältnisse Anfang des 20. Jahrhunderts, in denen man durch Tüchtigkeit, Mut und Unternehmertum in die höchsten gesellschaftlichen Schichten aufsteigen konnte, die sich im Gegensatz zu Europa vor allem durch Wohlstand definierten. Titel und formale Positionen bedeuteten dagegen wenig. Dies gab es zwar auch in Europa, wie etwa bei dem Buchbinderlehrling Michael Faraday; er hatte keine formale Ausbildung genossen, sondern studierte alle wissenschaftlichen Schriften, die ihm in die Hände fielen und wurde so zu einem der bedeutendsten Physiker des 19. Jahrhunderts. Doch in Europa blieb Bildung der Maßstab des Aufstiegs: vom Lehrling zum berühmten Professor zu werden. In Amerika dagegen definierte sich Erfolg durch den sprichwörtlichen Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär.

Was man auch immer für gesellschaftlichen Erfolg benötigte, Bildung, geschweige denn philosophische, war kein Muss. Sie gilt daher bis heute als Privatsache und wird nicht als etwas angesehen, was das langfristige Überleben des Staates garantiert. Obwohl sich viel Spitzenforschung dort angesammelt hat, ist das heutige Bildungssystem in den USA eher desolat, was natürlich vielfältige Ursachen hat.

Die Idee eines allgemeinen Bildungskanons,I der zur Reifung der Persönlichkeit dient, ist Amerikanern eher fremd. Dagegen wird Patriotismus als wichtig erachtet, was sich auch in einer Fixierung der Lerninhalte auf das eigene Land äußert.2 In Amerika verstand man jedenfalls Bildung von jeher als Ausbildung, sie hatte in erster Linie nützlich zu sein. In den Naturwissenschaften führte dies dazu, dass die technischen Anwendungen im Vordergrund standen, man fragte nach der praktischen Auswirkung, weniger nach der tiefen Erkenntnis. Als Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie 1919 sensationell bestätigt wurde, waren die Implikationen für die Raumzeit und das Universum kein großes Thema. Vielmehr kommentierte die New York Times lakonisch: »Einsteins Theorie triumphiert – Sterne nicht da, wo sie sein sollten – aber niemand muss sich Sorgen machen«.

»Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, … und Consorten, stehen Ihnen nicht die Haare bei solchen Definitionen zu Berge?«– Carl Friedrich Gauß

Brotlose Kunst Philosophie

Die Betrachtung Wertschätzung der Philosophie ist hier deswegen relevant, weil die philosophischen Grundlagen der Naturwissenschaft oder gar die entsprechende Denkweise nie richtig Eingang in die Physikfakultäten der USA gefunden haben. Dazu muss man sagen, dass auch die europäische Physiktradition sich nicht als Fortsetzung irgendwelcher Denkschulen sah, die mehr Sprachverwirrung als Erkenntnis schufen. Einstein bezeichnete sogar einmal die Schriften von Karl Jaspers als »Gefasel eines Trunkenen«.3

Die Philosophie kam zu den Europäern als eigene Notwendigkeit des Nachdenkens. Sie sahen sich in dem Sinne als Naturphilosophen, dass sie sich mit Fragen von Raum, Zeit und Materie beschäftigten und die elementaren Naturgesetze verstehen wollten, die diese Phänomene bestimmen. Diese Tradition umfasst durchaus Goethe oder Kant, die sich auch als Naturwissenschaftler begriffen, ebenso wie René Descartes oder die englischen Naturphilosophen George Berkeley und John Michell.

Für diese begeisterte sich jedoch in Amerika kaum jemand, auch nicht die in Wissenschaft und Technik Erfolgreichen. Wichtig war nicht die naturphilosophische Wahrheit, sondern wie die Dinge funktionieren. So hat bis heute die Philosophie in der amerikanischen Kultur nie einen besonderen Stellenwert erreicht. Nicht zuletzt zeigt sich dies durch amerikanische Präsidenten, die mit ihrer Antiintellektualität geradezu kokettierten, wie Reagan, Bush jr. und Trump. Man stelle sich vor, wie es auf ihre Anhängerschaft gewirkt hätte, hätten sie im Wahlkampf einen Philosophen zitiert.

»Der beste Philosoph ist Jesus Christus.« – George W. Bush

 

All dies bedeutet keineswegs, dass die amerikanische Kultur, von manchem Ballast befreit, nicht auch zu großen Erfolgen geführt hat. Dazu ein Vergleich.

Weitsicht und Tiefgang

Als beispielhaft für die Denktraditionen in Amerika und Europa kann man zwei Forscher betrachten, die jeweils als die führenden wissenschaftlichen Köpfe ihres Kontinents galten und dabei fast Zeitgenossen waren, Benjamin Franklin (1706–1790) und Leonhard Euler (1707–1783). Ihre Lebenswege hätten allerdings unterschiedlicher kaum sein können. Der in Boston als Sohn eines Seifen- und Kerzenmachers geborene Benjamin Franklin lernte das Druckerhandwerk und arbeitete sich zunächst wirtschaftlich nach oben. Neben seinem Erfolg als Schriftsteller eignete er sich umfangreiches Wissen an und plante die Gründung einer Gelehrtengesellschaft, wobei er sich aber stets an praktischen Problemen orientierte wie Tierzucht, Nutzpflanzen, Geländevermessung und Brandschutz.

Schließlich wandte er sich im Alter von 42 Jahren rein wissenschaftlichen Themen zu wie der noch wenig erforschten Elektrizität. Weltberühmt wurde er durch die Erfindung des Blitzableiters, der fraglos enorm wichtig war in einer Zeit, in der Städte regelmäßig durch Brände verwüstet wurden. Franklins Vielseitigkeit äußerte sich auch in politischem Geschick. Er übernahm in der beginnenden Unabhängigkeitsbewegung öffentliche Ämter und galt bald als Volkstribun. Schließlich spielte er eine große Rolle im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen das englische Mutterland. Durch eine diplomatische Mission nach Paris erreichte er, dass Frankreich aufseiten der abtrünnigen Kolonien in den Krieg eintrat, was letztlich im Frieden von Paris 1783 zur Anerkennung der Vereinigten Staaten von Amerika führte. Freilich war dies nur möglich, weil er schon als Erfinder in Europa Berühmtheit erlangt hatte.

Ganz anders verlief das Leben von Leonhard Euler, der in Basel als Sohn eines Pfarrers geboren wurde, der trotz Leonhards Begeisterung für die Mathematik für ihn ein Theologiestudium vorgesehen hatte. Das Wunderkind schrieb sich allerdings schon mit 13 Jahren an der Universität ein und legte im Alter von 16 eine Dissertation über die Werke von Newton und Descartes vor, der er mit 19 Jahren eine zweite über das Thema Schallausbreitung folgen ließ. Später gewann er zwölf Mal den Preis der Pariser Akademie der Wissenschaften und wurde nicht nur durch seine ungewöhnliche Produktivität (866 Publikationen) der wohl bedeutendste Mathematiker des 18. Jahrhunderts. Seine Erkenntnisse zu komplexen Zahlen, in der Analysis, Zahlentheorie und Geometrie, aber auch in angewandten Wissenschaften wie der Mechanik von Flüssigkeiten und starren Körpern waren bahnbrechend und begründeten oft das entsprechende Forschungsgebiet. Persönlich offenbar unscheinbar und wenig verbindlich, zerstritt er sich mit König Friedrich II. von Preußen und folgte schließlich einer Einladung von Zarin Katharina der Großen nach Petersburg, wo er bis an sein Lebensende forschte.

Denker hier, Macher dort

Zweifellos übertrafen Eulers Leistungen, was Genialität, Tiefe und Abstraktion betrifft, in jeder Hinsicht jene von Franklin. Euler setzte den Grundstein für die mathematische Behandlung physikalischer Vorgänge, die bis hin zur Schrödingergleichung in der Quantenmechanik fortwirken sollte. Dies bedeutet nicht, dass seine abstrakte Herangehensweise nicht auch praktische Probleme gelöst hätte, aber eben auf höherem Niveau. Auch Carl Friedrich Gauß, der sich wie Franklin mit Landvermessung beschäftigte, drang wesentlich tiefer in die Materie ein und schuf die Grundlagen der Differenzialgeometrie, auf die Einstein später in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie aufbauen sollte.

»Wir wissen nichts, das ist das Erste. Deshalb sollten wir sehr bescheiden sein, das ist das Zweite. Dass wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nicht wissen, das ist das Dritte. Das ist die Einstellung, die ich gerne populär machen würde. Es besteht wenig Aussicht auf Erfolg.« – Karl Popper, österreichisch-britischer Wissenschaftsphilosoph

Dennoch kann man, wenn man den praktischen Nutzen für die Menschheit oder den Einfluss auf die Weltgeschichte zum Maßstab nimmt, die Ansicht vertreten, dass Franklin bedeutender war als Euler. Die von ihm überlieferten Aphorismen zeugen auch von einer Lebensweisheit, an die Euler wohl kaum heranreichte. Dies alles zeigt, dass die Kombination beider Denkweisen, für die Euler und Franklin exemplarisch stehen, der Menschheit das größte Potenzial bieten. Doch blieb die Tradition des tiefen philosophischen Nachdenkens in Amerika und damit in der heutigen westlichen Welt unterentwickelt. Vor allem einen Widerhall von Sokrates’ Erkenntnis »Ich weiß, dass ich nichts weiß« findet man eher selten.

Das Ding an sich muss funktionieren

Es überrascht nicht, dass sich die Wertschätzung der Bildung in einem jungen Staat mit vielen Einwanderern ganz anders entwickelte als in Europa. Man war hilfsbereit und kooperativ, aber die Neuen, obwohl tüchtig und geschickt, mussten zuerst ihre wirtschaftliche Existenz sichern.

»Amerika erkennt keine Aristokratie außer die der Arbeit an.« – Calvin Coolidge

Es ist nur natürlich, dass Wissenserwerb und Bildung sich hauptsächlich daran orientierten. Für einen Bewohner der neuen Welt war es unvorstellbar, dass jemand, wie Immanuel Kant in Königsberg, jahrelang über Erkenntnisse a priori und a posteriori nachsinnt und dabei niemals seine Heimatstadt verlässt. Zum Philosophieren hatte man schlicht keine Zeit. In Europa konnten sich manche den Luxus, über Gott und die Welt nachzudenken, nur leisten, weil sie seit Generationen in gesicherten Verhältnissen lebten. Der französische Aristokrat Louis Victor de Broglie etwa konnte so einen tiefsinnigen Ansatz verfolgen, Einsteins Erkenntnisse zu Quanten und Relativität zu vereinigen4, und entdeckte dabei die Wellennatur der Materie. Er war nicht darauf angewiesen, dass dies unmittelbaren Nutzen hervorbrachte, auch wenn es unser Weltbild (und zahlreiche Erfindungen) beeinflusste wie wenige andere Entdeckungen.

Doch viele, ja die meisten, hatten diese Möglichkeiten nicht und suchten entsprechend in Amerika nach ihren Lebenschancen. Von 1820 bis 1920 wuchs die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 10 auf 106 Millionen Einwohner, davon waren etwa 36 Millionen Immigranten aus Europa.5 Um die vorletzte Jahrhundertwende waren bis zu 15 Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren. Zusammen mit denen, die vor wenigen Generationen gekommen waren, definierten diese Zuwanderer die amerikanische Kultur. Es ist offensichtlich, dass diese Einwanderer sich in ihren Wertvorstellungen, ihrer Bildung und ihren Lebenszielen wesentlich von den Europäern unterschieden. Kaum einer war reich, viele völlig mittellos, brachten jedoch gerade die Fähigkeit mit, sich wirtschaftlich emporzuarbeiten, was dann Generationen später für einen außergewöhnlichen Wohlstand des Landes sorgen sollte.

»Die neue Welt schlug mich fast vom ersten Tag an in ihren Bann. Die freie, unbekümmerte Aktivität der jungen Menschen, ihre unkomplizierte Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft, der fröhliche Optimismus, der von ihnen ausging, all das erweckte in mir das Gefühl, als seien Lasten von meinen Schultern genommen.«6– Werner Heisenberg, 1929

Psychologie derer, die die Brücken abbrechen

Umgekehrt handelte es sich um eine entwurzelte Generation, die die Traditionen ihrer Ahnen bewusst aufgab und den sicheren Boden hinter sich ließ. Die inneren Konflikte, die eine solche Entscheidung mit sich brachte, zeigt beispielsweise eine Szene des Films ­Comedian Harmonists, in der ein Mitglied des Ensembles vor der Frage steht, seine Mutter allein in Berlin zurückzulassen. Auch ohne mo­ralische Verpflichtungen war die Emigration ein Schritt, der etwas über den Charakter aussagt: Es waren Menschen, die in die Zukunft blickten, aber auch im direkten Sinne rücksichts-los sein konnten. Es ­waren die Jungen, Kräftigen und Mutigen, die nach Amerika auswanderten, und genau auf diesen Eigenschaften gründete sich der Aufstieg der späteren Weltmacht. Der stets selbstironische Mark Twain drückte dies mit einem Bonmot aus: »Alles, was man zum Leben braucht, ist Unwissenheit und Selbstvertrauen, dann ist der Erfolg sicher.«

Zentrale Motivation für die Emigration war die Sehnsucht nach Freiheit. Sie bedeutete Unabhängigkeit von allen Institutionen, die in Europa bestimmenden Glaubensrichtungen fächerten sich zu einer Vielfalt von Kirchen auf. Dennoch waren Eigenwahrnehmung und Weltsicht dabei oft vom puritanischen Calvinismus bestimmt, der, seit die Mayflower 1620 vor Boston anlandete, die vorherrschende religiöse Strömung in der neuen Welt wurde. Die Vorstellung der Pilgrim Fathers, durch den direkten Kontakt zum Schöpfer etwas Besonderes zu sein, legte den Grundstein für den bis heute andauernden amerikanischen Exzeptionalismus,7 der sich in dem Ausdruck God’s own Country ausdrückt. Die eigene, neue Nationalität konnte auf diese Weise wieder näher an die Religion andocken, was man bis heute beobachten kann. Manche religiös-politische Äußerung wäre im heutigen säkularen Europa undenkbar.

God Bless America

»Wir Amerikaner verschlingen begierig jeden Text, der uns vorgibt, das Erfolgsgeheimnis des Lebens zu verraten.« – Franklins Biograph

 

Es überrascht nicht, dass sich diese religiöse Prägung später in einen Optimismus verwandelte, der die seelische Verfassung der Gesellschaft kennzeichnet und auch in die wissenschaftliche Psychologie Eingang gefunden hat. Nicht umsonst begründeten Bestseller wie Norman Vincent Peales The Power of Positive Thinking und Dale Carnegies How to Win Friends and Influence People eine Tradition der Do it yourself-Du schaffst es-Glaub an dich selbst-Ratgeberliteratur, welche bis heute den amerikanischen Traum vom Aufstieg individuell befördern soll. Inwieweit dieser noch in der Realität verankert ist, ist eine andere Frage.

Ganz auf dieser Linie erlebte die oft auf empirischen Forschungen beruhende Verhaltenspsychologie im Amerika der Nachkriegszeit einen Boom, während die auf Sigmund Freud zurückgehende Tiefenpsychologie nicht selten als Relikt philosophischer Grübelei geringgeschätzt wurde. Es steht aber außer Zweifel, dass Freud mit seinen Entdeckungen nicht nur ein Pionier war, was den Einfluss seelischer Prozesse auf Träume und Verhalten betrifft, sondern auch jede intellektuell befriedigende Auseinandersetzung mit psychologischen Phänomenen auf seine Erkenntnisse nicht verzichten kann.

Doch wie so oft stand in Amerika nicht das theoretische Verständnis im Vordergrund, sondern der praktische Nutzen. Auch erfolgreiche Psychoanalytiker gestehen ein, dass ein Verständnis der Zusammenhänge nicht automatisch zum Therapieerfolg führt, während die »oberflächlichen« Verhaltenstherapien den Patienten oft erstaunliche Verbesserungen bescheren. Bemerkenswert ist auch, dass in Europa mit Freud, Jung und Adler die Individualpsychologie dominierte, die mit ihren Fallgeschichten naturgemäß Schwächen aufwies, was Vergleichbarkeit, Reproduzierbarkeit und statistische Methodik betraf.

Umgekehrt produzierte die experimentelle Psychologie in der Nachkriegszeit sensationelle Ergebnisse wie die Studien von Stanley Milgram zur Autoritätsgläubigkeit oder von Solomon Ash zur Konformität, auch wenn der Inhalt teilweise schon in dem 1895 erschienenen Werk Psychologie der Massen von Gustave Le Bon vorweggenommen worden war. Der europäische Fokus auf die Probleme des Individuums wurde langsam abgelöst von der praktisch bedeutsameren Anwendung der Psychologie, Gruppen zu führen,II zu beeinflussen und gegebenenfalls zu manipulieren.III

Ironischerweise spielte dabei ein Neffe Sigmund Freuds, Edward Bernays, eine große Rolle, dessen Eltern 1892 nach New York emigriert waren und der als einer der Begründer der Public Relations – damals noch unter dem ehrlicheren Namen Propaganda – gilt. Er beriet unter anderem Präsident Wilson bei der Stimmungsmache für den Kriegseintritt 1917 und ließ wenig Zweifel an seinen Motiven:

»Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.«

Ebenso ernüchternd ist seine Aussage:

»Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element der demokratischen Gesellschaft.«8

Jeder, der die Vorzüge der westlichen Demokratien preist, sollte zumindest von Bernays gehört haben. Die Mechanismen der kollektiven Meinungsbildung spielen in der Wissenschaft durchaus eine große Rolle. In jedem Fall war die europäische Tradition noch viel mehr von Individuen geprägt, während Wissenschaft als Massenphänomen erst in Amerika auftrat, was zu großen Veränderungen führen sollte.

Die halbstarke Nation

»Nachdenken ist die ungesündeste Sache der Welt«– Oscar Wilde

 

Den Dingen auf den Grund zu gehen bringt oft keinen kurzfristigen Nutzen und derjenige, der sich mit Geschick und Schlauheit am ­Erfolg orientiert, überrundet im Hinblick auf seine Lebensziele oft den grübelnden Denker, dessen Gedankensinfonie unvollendet bleibt. Doch auf ganz lange Sicht war es der amerikanischen Gesellschaft abträglich, dass Bildung und Wissen stets als Hilfsmittel zum Erfolg betrachtet wurden, aber keinen Wert für sich darstellten.

»Der Prozess des Erwachsenwerdens ist nichts anderes als der individuelle Zivilisationsprozess.«9– Norbert Elias

Nimmt man körperliche Leistungsfähigkeit als Metapher für die Kraft einer Nation, so entsprach Europa wohl einem angehenden Rentner. Amerika hingegen war der kräftige Jugendliche, dem es allerdings bis heute an Weisheit fehlt. Er ist nicht gut gealtert.

Mit der Jugend verbunden ist auch die Vorliebe für Spaß, an der sich die Bildung zu orientieren hat. Auch bei guten Wissenssendungen, die keineswegs nur unterhalten wollen, ist dieses Element nicht wegzudenken. Physics is Fun ist offenbar das größte Kompliment, das man einer Naturwissenschaft heute machen kann. Unbestreitbar kann Spaß Neugierde wecken, sich einem Thema zuzuwenden. Aber das tiefere Eindringen verlangt doch mehr, und die wahre Befriedigung stellt sich erst ein, wenn man die Wurzeln eines Problems freigelegt hat.

Die philosophischen, man könnte auch sagen europäischen, Wurzeln ihrer Wissenschaft werden unter Physikern in Amerika geringgeschätzt, obwohl die ganze Physik, bereichert durch die empirische Methode, letztlich ein erfolgreiches Subunternehmen der Philosophie ist. Entsprechend haben Einstein, Bohr oder Schrödinger sich immer in einer naturphilosophischen Tradition gesehen, im Gegensatz zu den stets praktisch orientierten Forschern in Amerika. Nur misst sich jede Hochkultur auch an der Fähigkeit zum abstrakten Denken, wie es sich in Philosophie, Logik und Mathematik ausdrückt. Dies war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika kaum vorhanden. Zweifellos wirkt dies in seinen Konsequenzen bis heute fort.

2 Wissenschaft ist kein KriegWo Macht der Erkenntnis schadet

»Die Kultur dient dem humanen Zusammenleben, und der Krieg ist das Gegenteil.« – Carl Friedrich von Weizsäcker

Die Denkweise, die sich so maßgeblich auf die Entwicklung der modernen Physik ausgewirkt hat, trifft man auf vielen Gebieten an. Sie ist so ausgeprägt, dass ein Verständnis der Wissenschaft kaum ohne das Studium dieser Parallelen auskommt. Wie bereits bemerkt, ging in der Geschichte wissenschaftliche Vormachtstellung fast immer mit militärischer Dominanz einher. Einerseits wird in einem Land mit wissenschaftlichem Erfindergeist dieser auch regelmäßig für Waffentechnik eingesetzt, die militärischen Vorteil verschafft. Andererseits verfügen mächtige Länder über mehr Ressourcen, die sie in die Wissenschaft investieren können. Während diese Zusammenhänge offensichtlich sind, verdient die Mentalität, mit der in Amerika Wissenschaft betrieben wird, nähere Betrachtung.

»Wir wissen nichts von dem, was außerhalb unseres Landes passiert.« – Michael Moore

 

Amerika ist für seine Bewohner das Maß aller Dinge und natürlich The Greatest Country in the World.1 Während die US-Medien auf innenpolitischen Belanglosigkeiten herumreiten, erwartet man, dass Länder auf der anderen Seite des Globus sich nach amerikanischen Gesetzen richten.

Alles Wichtige passiert bei uns

Wer so um sich kreist, für den ist es auch selbstverständlich, dass Amerika das wissenschaftliche Zentrum zu sein hat und nicht die Länder, die man als moderne Kolonien betrachtet. Mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein konstruierten amerikanische Physiker später oft Theorien, ohne dass sie die europäischen Vorläufer für erwähnenswert hielten. Alles, was wichtig ist, konnte auch neu erfunden werden, so die Denke. Trotzdem waren die europäischen Theoretiker wie Albert Einstein, Paul Dirac, Erwin Schrödinger oder Nils Bohr immer noch die klügsten Köpfe der Grundlagenwissenschaft, auch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aber auch zu dieser Zeit war es unüblich, europäische Wissenschaftszeitschriften ins Englische zu übersetzen; unter anderem deswegen gerieten alte Probleme in Vergessenheit.IV Die zahlreichen Erfindungen und die großen Erfolge in der angewandten Wissenschaft halfen mit, dies zu vergessen. Die Abnabelung von Europa gehört zum Selbstverständnis der USA und der Wunsch, völlig unabhängig zu agieren, breitete sich auch in der Wissenschaft aus.

»Das ganze Land ist doch hier aufgebaut worden von Europäern, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil sie die Enge der Verhältnisse drüben, den ewigen Zank und Streit der kleinen Nationen, Unterdrückung und Befreiung und Revolutionen und den ganzen Jammer, nicht mehr ertragen wollten …«2– Enrico Fermi zu Werner Heisenberg, 1939

Die kontroverse Debatte, die zum Beispiel von den Begründern der Quantenmechanik um deren Interpretation geführt wurde, interessierte in Amerika kaum jemanden, so als handle es sich um eine kriegerische Auseinandersetzung im alten Europa, die man gerne dort zurückgelassen hatte.

Ironischerweise sind die USA heu­te jedoch selbst an den meisten Konflikten beteiligt. Doch Amerikaner können sich kaum vorstellen, Teil der Geschichte zu sein. Sie leben in der Gegenwart, in der sie die Welt beherrschen, und finden das ganz normal.V Mit einer großen Übermacht an Flugzeugträgern verfügen sie über eine globale Luft- und Seehoheit, aber auch auf den modernen Gebieten Weltraumrüstung und Cyberwar sind sie führend.

Imperien hat es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben. Meist verfügten sie über die fortschrittlichsten Technologien und nutzten sie, soweit militärisch anwendbar, stets zur Erweiterung ihres Herrschaftsraumes. Das Auftreten von Imperien, ebenso wie ihr Verschwinden, ist daher, historisch betrachtet, ein natürliches Phänomen. Es wäre geradezu merkwürdig, wenn es in der Gegenwart keine dominierende militärisch-politische Macht gäbe. Die USA lösten das British EmpireVI ab, vorher war Spanien Weltmacht. Besonders ähnlich sind die USA vielleicht dem römischen Reich. Dieses wurzelte in der griechischen Kultur, ebenso wie Amerika in der europäischen, was einen Vergleich fast aufdrängt.

Spiegelbild der Antike

»Thales erfasste als erster das Prinzip, die Vielfältigkeit der Erscheinungen … durch eine möglichst kleine Anzahl von Annahmen zu erklären.«3 – Erwin Schrödinger

Während Philosophen in Ionien über die vier Elemente als Grundbausteine der Welt nachsannen, rüsteten die Römer Legionen aus und bauten Straßen und Katapulte. Als moderne Parallele entstanden in Europa die Begriffe der Physik wie Kraft, Energie, Masse, oder auch Strom und Spannung. In Amerika wurde der Motorflug, das Fließband und das MaschinengewehrVII entwickelt. Wie bei den USA gründete sich die Überlegenheit der Römer auf hervorragende Organisation. Im Vergleich zur griechischen Antike gab es in Rom praktisch keine nennenswerten Philosophen, ebenfalls eine spiegelbildliche Situation. Schließlich setzte sich das aufstrebende römische Reich dank seiner Militärtechnik mit seinem Eroberungsdrang durch, das Gleiche, was man seit Beginn des vorigen Jahrhunderts mit Amerika beobachten kann. Die Ähnlichkeiten gehen aber über das Militärische hinaus. Entscheidend für den Zusammenhalt des römischen Reiches waren die fortschrittlichen Technologien im täglichen Leben, Infrastruktur wie Aquädukte und der neuartige Straßenbau. Das Reich umspannte das Mittelmeer, welches Rom vollständig beherrschte. Die USA betrachten heute mehr oder weniger alle Weltmeere als Mare Nostrum. Die Überlegenheit gründet sich dabei auch auf die digitalen Verkehrswege des Internets, dessen wesentliche Infrastruktur von Amerika kontrolliert wird. Zudem ermöglicht der technische Vorsprung der Geheimdienste eine fast lückenlose Überwachung des globalen Datenverkehrs.4

Zieht man die historische Parallele, wird aber klar: Trotz der Kriege zwischen Sparta und Athen oder den Eroberungsfeldzügen von Alexander dem Großen war das Denken der Griechen nicht in erster Linie imperial, sondern auch genuin naturwissenschaftlich, wie zum Beispiel Erwin Schrödinger in seinem Büchlein Die Natur und die Griechen beschreibt. Europas Mächte waren auch Imperien, doch gab es in der Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert eine bemerkenswerte internationale Zusammenarbeit der Naturforscher, deren Tätigkeit durch die zahlreichen Kriege freilich behindert wurde.

God’s Own Country auf Mission

»Das Völkerrecht ist … eine wichtige Orientierungshilfe für andere Länder …« – Max Uthoff in Die Anstalt

 

Seit die Gründerväter der Mayflower anlandeten, wurde in der amerikanischen Kultur das imperiale Auftreten als die normalste Sache der Welt betrachtet. Ganz im Geiste des vom Calvinismus inspirierten Exzeptionalismus betrachteten sie sich als ein auserwähltes Volk, für das andere Regeln gelten. Man kann nicht umhin, diese Denkweise bis in die Gegenwart hinein festzustellen.

Entsprechend ist das National- und Sendungsbewusstsein in den USA stark ausgeprägt, was trotz manch großer Ziele dem wissenschaftlichen Denken nicht unbedingt förderlich ist. Unter den Wissenschaftlern Europas war Nationalismus, abgesehen in den von Kriegspropaganda vergifteten Zeiten, unter den Naturforschern wenig verbreitet. Wissenschaftliche Probleme werden nicht von Nationen gelöst.

Expansion ohne Rücksicht beschreibt die GeschichteVIII der USA nicht unzutreffend. Das Staatsgebiet vergrößerte sich teils durch Überlassung wie bei den französischen Kolonien, aber auch durch Angriffskriege wie gegen Mexiko. So wie die Herrschaftssphäre stetig wuchs, stellte man sich später vor, dass die Wissenschaft ebenso in neues Territorium vordringt. Durch entsprechende Organisation und Mittel kann man, so die Idee, auf allen Gebieten weiter expandieren, politisch natürlich auch mit Krieg.

Die vereinnahmende Weltmacht

Zwar waren die USA klug genug, sich lange Zeit aus den Konflikten in Europa herauszuhalten. An den beiden verheerenden Weltkriegen Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen sie in dem Maße teil,IX wie es ihren Interessen entsprach, und nutzten die Selbstzerstörung Europas, um endgültig zur dominierenden Macht zu werden. Spätestens jetzt hatten die USA an der Weltherrschaft Gefallen gefunden, nicht zuletzt wegen der Exportmöglichkeiten. Auch in der Wissenschaft kam diese Stellung später den USA zugute, wenn auch in umgekehrter Richtung: Alle Talente strebten an die amerikanischen Universitäten.

»Unsere nationale Stärke auf den Gebieten der angewandten Forschung sollte uns nicht für die Wahrheit blind machen, dass im Hinblick auf reine Forschung … Amerika einen zweitklassigen Platz akzeptiert hat.«6– Vannevar Bush

Der Erste Weltkrieg war mit seinen zahlreichen kriegstechnischen Erfindungen eine Zäsur, der die Bindungen zwischen der Wissenschaft und dem Militär stärkte. Die anwendungsorientierte Physik in den USA war ihrer Natur nach immer schon näher an der kriegerischen Verwendung.5 Die gleichzeitigen militärischen und wissenschaftlichen Erfolge verführten dazu, Wissenschaft ähnlich wie Krieg zu betreiben: durch Organisation und Einsatz von Mitteln.

Später wurde das Zusammenspiel von Wissenschaft und Militär intensiver, unter anderem durch Leute wie Vannevar Bush, einem Ingenieur, der Präsident Roosevelt beriet und als einer der Gründer des militärisch-industriellen Komplexes gilt. 1944 zierte er als »General der Physik« das Cover des Time-Magazins. So erfolgte durch den Zweiten Weltkrieg ein noch viel einschneidenderer Richtungswechsel der Phy­sik. Obwohl auf europäischer Forschung basierend und mithilfe von Einwanderern entwickelt, wurde in Amerika die Atombombe gebaut, die eine vollkommene militärische Vormachtstellung zur Folge hatte.

Manchmal auf der Seite der Moral

Der Kampf gegen das Dritte Reich, aber auch die Opposition gegen die totalitären Staaten der stalinistischen Sowjetunion und des maoistischen China verschafften den USA eine moralisch überlegene Rolle. Trotz teilweiser Rücksichtslosigkeit nach außen wurde wenigstens die eigene Bevölkerung nicht einer Ideologie geopfert. Zumindest im Vergleich zu anderen Teilen der Welt repräsentierte der Westen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Die wirtschaftliche Dominanz war dabei so groß, dass andere Länder fürchten mussten, von der Innovationskraft der USA förmlich an die Wand gedrückt zu werden.7 Der immer schon vorhandene Exzeptionalismus der Amerikaner verwandelte sich zu dieser Zeit in ein überschäumendes Selbstbewusstsein, mit dem sie sich als Retter der ganzen Welt sahen.