Eisbach - Nadine Petersen - E-Book
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Eisbach E-Book

Nadine Petersen

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Beschreibung

»Niemand schöpfte Verdacht. Und niemand vermisste sie. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht mehr auftauchen würde. Nie mehr.« Eine eiskalte Nacht in München. Ein Mann hört Hilferufe im Englischen Garten und verständigt die Polizei. Nur wenige Stunden später geht eine Anzeige bei der Münchener Polizei ein – eine attraktive, junge Frau wird vermisst. Kurz darauf wird ihre Leiche geborgen. Die Obduktion ergibt: Die junge Frau wurde vergewaltigt und lebendig in der Nähe des Eisbachs begraben. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch Kommissarin Linda Lange ist von seiner Unschuld überzeugt und ermittelt in eine andere Richtung. Was sie schließlich herausfindet, übertrifft ihre schlimmsten Vermutungen. Und als sie der Wahrheit immer näher kommt, gerät sie selbst ins Visier des Täters … Ein Blick in die Abgründe der menschlichen Seele – mitten im idyllischen München. Jetzt als eBook: „Eisbach“ von Nadine Petersen. dotbooks – der eBook Verlag.

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Über dieses Buch:

Eine eiskalte Nacht in München. Ein Mann hört Hilferufe im Englischen Garten und verständigt die Polizei. Nur wenige Stunden später geht eine Anzeige bei der Münchener Polizei ein – eine attraktive, junge Frau wird vermisst. Kurz darauf wird ihre Leiche geborgen. Die Obduktion ergibt: Die junge Frau wurde vergewaltigt und lebendig in der Nähe des Eisbachs begraben. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden. Doch Kommissarin Linda Lange ist von seiner Unschuld überzeugt und ermittelt in eine andere Richtung. Was sie schließlich herausfindet, übertrifft ihre schlimmsten Vermutungen. Und als sie der Wahrheit immer näher kommt, gerät sie selbst ins Visier des Täters …

Ein Blick in die Abgründe der menschlichen Seele – mitten im idyllischen München.

Über die Autorin:

Nadine Petersen kam 1963 in München zur Welt. Die Architektin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München-Schwabing. Eisbach ist ihr Krimi-Debüt.

***

Originalausgabe Januar 2013

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: DraganSaponjic | iStockphoto.de

ISBN 978-3-95520-089-3

***

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Nadine PetersenEisbach

Kriminalroman

dotbooks.

Prolog

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Epilog

Lesetipps

Prolog

Seit einiger Zeit zog sie sich immer weiter von ihm zurück. Er spürte, dass sie ihn nicht mehr an sich heranlassen wollte, ihn aus unerfindlichen Gründen ablehnte. Ständig hatte sie neue Ausreden parat. Mal waren es ihre Tage, mal Kopfschmerzen, mal war ihr schlecht, mal hatte sie etwas anderes vor. Alles war nur vorgeschoben, er wusste das, aber er hatte Angst davor, sie zur Rede zur stellen.

Draußen fielen dicke Schneeflocken, doch davon bekam er hier unten im Keller wenig mit. Er kauerte auf der alten Matratze und grübelte vor sich hin. Niemals würde er sie loslassen, sie waren für immer und ewig miteinander verbunden, das musste er ihr klarmachen. Aber wie lange würde sie ihn heute noch hier unten schmoren lassen, das elende Miststück?

Er fühlte, wie sich seine Erregtheit allmählich in Wut umwandelte. Sie hatte versprochen, nach unten zu kommen, so wie immer in den vergangenen Wochen und Monaten. Vielleicht wartete sie noch, bis die Mutter sich verdrückt hatte. Der Vater war mit Freunden gestern schon in einen Skiurlaub verschwunden. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was das bedeutete, nur unter Männern. Aber die Mutter war auch kein Stück besser. Sie wolle übers Wochenende zu einer Freundin fahren, hatte sie ihnen gesagt. Was für eine billige Lüge. Weder er noch seine Schwester glaubten ihr. Sie würde sich mit einem ihrer Stecher treffen, die Nutte.

Er konnte ihre Schritte hören. Sie kam nach unten, zu ihm. Sein Herz begann wie wild zu schlagen. Endlich.

»Ist sie weg?«, fragte er Elena, als sie hereinkam.

Sie nickte und ließ sich neben ihm auf der Matratze nieder. Er wollte seinen Arm um ihre Schultern legen, doch sie schüttelte ihn ab. »Lass das!«

Gekränkt zog er seinen Arm zurück. »Was ist los?«

»Ich kann das nicht mehr.«

»Was?« Er starrte sie feindselig an.

»Das mit uns. Du bist mein Bruder, das ist Unrecht.«

»Sagt wer?«

Elena schwieg.

Er beugte sich zu ihr, um sie zu küssen.

Sie wehrte ihn ab. »Nein! Wir müssen damit aufhören.« Heftig stieß sie ihn zur Seite. »Es ist vorbei. Es ist eklig.« Sie rappelte sich auf und wollte gehen.

Blitzschnell war er auf den Füßen und packte ihren Arm. »Eklig? Ich versteh das nicht. Es war doch alles gut.«

»Lass mich los! Du tust mir weh.«

Er lockerte seinen Griff nicht. Sie sollte spüren, wie weh sie ihm mit ihrer Zurückweisung tat. »Es ist nicht vorbei. Es ist erst dann vorbei, wenn ich es sage.«

Sie sah ihn fassungslos an, Tränen schimmerten in ihren Augen. »Nicht so fest!«

Er lockerte seinen Griff und zog sie heran. Er wollte mit ihr schlafen, nicht reden. Seine Hand verschwand unter ihrem Pullover und suchte ihre Brüste. Sie ließ es geschehen. Mit der anderen Hand öffnete er ihre Jeans und versuchte sie herunterzuziehen. Ihre Lippen waren jetzt an seinem Ohr. »Bitte nicht. Lass mich … ich … ich habe mich verliebt.«

Er hörte ihr nicht zu und suchte weiter seinen Weg zu ihrem Körper. Er presste sich gegen sie und drückte sie fest an die Wand.

Elena versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien. »Hör auf damit!«, schrie sie ihn an. »Es ist Schluss! Ich bin jetzt mit Lars zusammen.«

Lars, dröhnte es in seinem Kopf, dieser Idiot von nebenan? Alles ihn ihm sackte zusammen, und für einen Augenblick hatte er nicht einmal mehr die Kraft, sie festzuhalten. Sie schlängelte sich aus seinen Armen und trat hinter ihn. Er lehnte mit dem Kopf an der Wand. Konnte Sie sein leises Schluchzen hören?

Sie schlang von hinten ihre Arme um seinen Körper, legte ihren Kopf auf seinen Rücken und begann, sein Haar zu streicheln. »Du musst mich gehen lassen, wenn du mich liebst.«

»Warum?«, wimmerte er.

»Weil … wir dürfen nicht länger so wie Mann und Frau zusammen sein. Du musst dir eine Freundin suchen.«

In seinem Magen klumpte sich der Groll zu einer Faust. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Lars, dieser Blödmann! Allein die Vorstellung, dass er sie anfasste, brachte ihn zum Rasen. »Du gehörst mir Elena, mir allein!«

Sie hörte auf, ihn zu streicheln und wich einen Schritt zurück. »Ob du es einsiehst oder nicht. Ich bin jetzt mit Lars zusammen.«

Er wirbelte herum und packte sie an den Schultern. Schütteln, schütteln, bis sie aufwacht! Ihr Kopf schlug heftig gegen die Kellerwand.

Sie schrie auf vor Schmerz. »Ich werde es Mama erzählen. Alles!«

Er warf sie auf die Matratze und hielt ihr den Mund zu. Sie zappelte unter ihm wie ein Fisch, dann ließ ihr Widerstand nach. Jetzt holte er sich, was er wollte. Er riss ihre Jeans herunter und drang ihn sie ein. Sie gab nur ein kurzes Stöhnen von sich, als er kam. Er rollte sich zur Seite und wartete, bis die Erschöpfung vorüber war. Elena rührte sich nicht. Aber er konnte ihren Atem hören und sehen, wie sich ihr Brustkorb schnell hob und senkte. Er wollte ihr Gesicht nicht sehen, nicht mehr. In seinen Augen war sie nur noch eine Schlampe, ein wertloses Stück Fleisch, so wie die Mutter. Es kostete ihn keine Anstrengung, sie auf den Bauch zu drehen. Noch einmal drang er in sie ein, holte sich nun das, was er bisher nicht haben durfte, weil sie nicht wollte, dass er es so macht. Er war wie von Sinnen.

Elena jammerte unter ihm, denn diesmal fügte er ihr Schmerzen zu, bewusst, mit ganzem Herzen. Wie besessen hämmerte er mit seinen Hüften gegen ihr Becken, vor und zurück, rammte seine ganze Wut in sie hinein. Er ließ sich Zeit, wollte es nicht so schnell zu Ende bringen wie beim ersten Mal. Ihre Schreie beflügelten ihn.

Als er in sie hineinspritzte, fühlte er eine Explosion, die seinen Körper erfasste. Eine Druckwelle, die von seinem Unterleib ausging, breitete sich in heftigen Wellen bis in die Zehen und Fingerspitzen aus. Er sah nichts mehr, alles war schwarz um ihn herum. Es war eine Erlösung von solcher Gewalt, dass er ein lautes Grollen von sich gab. Erschlafft fiel er auf sie. Völlige Leere umfasste ihn.

Er wusste nicht, wie lange er so auf ihr gelegen hatte. Irgendwann bewegte sich der Körper unter ihm und holte ihn aus der Besinnungslosigkeit. Er rollte sich herunter. Blut klebte auf seiner Haut. Elena versuchte aufzustehen. Doch ihre Beine knickten weg wie Streichhölzer. Ein heftiges Zittern schüttelte ihren Körper. Er stand auf und versetzte ihr einen Tritt. Sie fiel erneut zu Boden. Ohne sich nach ihr umzublicken, verließ er den Kellerraum, schloss von außen die Tür ab und löschte das Licht. Sollte sie im Dunklen liegen, die Nutte.

Beschwingt lief er nach oben, machte noch einmal auf der Treppe kehrt und ging zurück. Die Schaufel, die brauchte er noch.

Als draußen die Dunkelheit hereingebrochen war, setzte er seinen Plan, der in den letzten Stunden in ihm gereift war, in die Tat um. Der Garten hinter dem Haus war groß, und direkt bei der Kastanie konnte ihn niemand beobachten. Genau hier begann er mit der Arbeit, grub bis zur völligen Erschöpfung. Erst als seine Hände so grausam schmerzten, dass er den Griff nicht mehr halten konnte, legte er die Schaufel weg. Er war zufrieden mit dem, was er heute schon geschafft hatte. Später würde er so lange weitermachen, bis das Loch tief genug war.

Nach einer ausgiebigen Dusche bestellte er sich eine Pizza. Bis der Lieferservice eintraf, saß er in Elenas Zimmer und stöberte in ihren Sachen. Er fand Fotos von Lars und zerriss sie in kleine Fetzen. Als es klingelte, sprang er hinunter zur Tür und nahm die Pizza in Empfang. Er gab dem Mann ein gutes Trinkgeld. Dann zog er sich ins Wohnzimmer zurück, machte den Fernseher an und legte sich auf die Couch. Er zappte durchs Programm und trank zwei Bier zur Pizza.

Eine Stunde später stand er wieder bei der alten Kastanie. Diesmal trug er Handschuhe, während er grub. Es war nach Mitternacht, als er ins Bett fiel.

Am nächsten Morgen spürte er jeden Muskel seines Körpers. Ächzend richtete er sich auf. Er dehnte und streckte sich, schlüpfte in seinen Morgenmantel und lief in den Keller hinunter. In der Schublade am Werkzeugtisch wühlte er nach den Kabelbindern. Er nahm einen mit, bevor er die Tür aufschloss.

Elena lag zusammengerollt auf der Matratze. Als er sie auf den Rücken drehen wollte, begann sie, sich heftig zu wehren. Er hatte damit gerechnet und packte ihre Handgelenke. Blitzschnell hatte er sie mit dem Kabelbinder gefesselt. Er kniete sich vor sie, packte ihre Schenkel, riss sie auseinander und drang in sie ein. Sie schrie, spuckte und beschimpfte ihn. Er genoss es. »Ich werd’ dich zunähen, wenn du nicht ruhig bist«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er musste dabei an den Vater denken, von dem er diesen Spruch kannte. Wie oft hatte er die Mutter beschimpft, als Nutte, die man zunähen sollte, weil sie für jeden die Beine breitmachte.

Als Elena nicht aufhörte, sich gegen ihn zu wehren, schlug er ihr ins Gesicht, bis ihre Nase blutete. Erst dann wurde sie still. Doch jetzt hatte er keinen rechten Spaß mehr an ihr. Er kam lustlos und verschwand rasch aus dem Keller. Später vielleicht, dachte er sich, als er nach oben ging.

Nach einer ausgiebigen Dusche und einem reichhaltigen Frühstück fühlte er sich, als könne er Bäume ausreißen. Er verließ das Haus für einige Stunden, streifte durch die Stadt, sah sich einen Porno im Kino an, aß einen Hamburger. Es dämmerte bereits, als er zurückkam. Sein erster Weg führte ihn in den Keller.

Diesmal hatte er mehr Spaß an ihr. Er probierte einiges aus, was er in dem Porno gesehen hatte, ließ sich Zeit. Inzwischen erinnerte er sich schon gar nicht mehr an die Monate mit ihr. Elena war ausgelöscht, ruhe sie in Frieden, dachte er grimmig. Lars würde sie nicht wiedersehen. Er würde dafür sorgen, dass sie verschwand, für immer, wie vom Erdboden verschluckt.

Mit Einbruch der Dunkelheit arbeitete er wie besessen im Garten. Der Vollmond beleuchtete sein Werk. Laut Wetterbericht war eine gewaltige Schneefront im Anmarsch. Das trieb ihn zur Eile. Gerne hätte er sich noch einen Tag mehr Zeit gelassen, aber der Wetterumschwung hatte auch sein Gutes. Der Schnee würde alle Spuren verwischen. Bis zur Hüfte stand er inzwischen in der Grube, tief genug, entschied er.

Ein letztes Mal ging er in den Keller. Auf der Werkbank des Vaters lagen Nadel und Zwirn. Damit hatte der Vater versucht, das Polster des Lederstuhls zu reparieren, bei dem einige Nähte aufgegangen waren. Er schnappte sich die Nadel und schnitt ein Stück vom Zwirn ab. Dann schloss er die Tür auf. Auf dem Boden lag das Stück Fleisch.

Jetzt geschah alles wie von selbst. Später würde er sich mit wohligem Schauer darin erinnern, wie eine unbekannte Kraft ihn geleitet hatte. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Seine Nähkünste ließen zu wünschen übrig, aber sie zappelte ja auch so fürchterlich. Erst ein paar Schläge sorgten für die notwendige Ruhe. Konzentriert vollendete er sein Werk. Als er fertig war, legte er sie über seine Schulter und trug sie nach oben. Wie einen Sack Kartoffeln ließ er sie in die Grube fallen, dann schaufelte er die Erde zurück in das Loch. Er sah sie noch zucken, dann verschwand sie unter der Erde.

Das Zuschaufeln ging ihm ungleich leichter von Hand als das Graben zuvor. Ein Stunde später hatte er ihr Grab geschlossen und die Erde verdichtet, in dem er darauf herumgestampft war. Die restliche Erde verteilte er im Garten. Dann sammelte er Laub und Steine und verstreute sie auf das Grab, um alle Spuren zu verwischen. Er blickte zum Himmel. Erste Schneeflocken rieselten vom Himmel.

Tage später befragte ihn die Polizei. Aber er konnte ihnen nicht sagen, wo Elena geblieben war. Sie hatte das Elternhaus verlassen, kaum dass die Mutter weg gewesen war. Sie hatte ein paar Sachen mitgenommen.

Niemand schöpfte Verdacht. Und niemand vermisste Elena. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht mehr auftauchen würde. Nie mehr. Erst Monate später ritzte er das Herz in die Kastanie, mit ihren Initialen. Das war der Anfang.

1

Es gab in dieser Nacht einen vierten Mann. Er stand versteckt hinter einem Baumstamm und beobachtete sie auf Schritt und Tritt. Worüber sie sprachen, konnte er nicht hören. Aber er ließ sie nicht aus den Augen.

Die anderen Männer bemerkten ihren Beobachter nicht. Sie glaubten sich allein, als sie zu dritt durch den Englischen Garten stapften. Es roch nach Schnee, aber der Wetterbericht hatte ihn erst für den nächsten Tag angekündigt. Einer der drei hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete damit den Weg ab. Die Lichtkegel tanzten durch die Dunkelheit und schoben kahle Baumstämme bedrohlich in ihren Blick. Alle drei suchten sie nach Spuren.

»Wo woin’s denn die Schrei’ g’hert ham?«, fragte der kleinere der beiden Polizisten den Mann, der neben ihnen herging und sein Fahrrad schob. Er zielte ihm dabei mit seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht.

»Hey, das blendet.« Schützend hielt sich Tim Jonas eine Hand vor die Augen. Sein Atem ging stoßweise, und wenn er ausatmete, sah es aus, als würde er rauchen. »Keine Ahnung, hier könnte es gewesen sein. Oder dort vielleicht.« Er deutete in den dunklen Park. »Es war auf jeden Fall voll gruselig.«

Die beiden Polizisten taxierten ihn. Er konnte ihre Gedanken förmlich lesen. So a Zug’roaster, der sich bestimmt nur wichtigmacht, las er in ihren Gesichtern. Wieder traf ihn der Lichtkegel der Taschenlampe. Genervt drehte er sich weg. Er ärgerte sich inzwischen, dass er die Polizei gerufen hatte. Nun musste er sich dumme Fragen anhören. Ob er getrunken oder was geraucht hätte, was er denn hier so spät nachts zu suchen hätte, ob er sich das nicht alles nur eingebildet hätte. Nein, hatte er nicht. »Das war ein Hilferuf!«, wiederholte er wütend. »Scheiße, der ging mir durch und durch.« Er stampfte mit dem Fuß auf.

»Von oanerer Frau?«, fragte der andere Polizist, der den kleineren um zwei Köpfe überragte. »Da san Sie sich ganz sicha?«

»Ja!«, bellte er sie an. Jetzt vergeudete er seit über eine Stunde seine Zeit hier in dieser klirrenden Kälte, statt längst in seinem warmen Bett zu liegen. So eine verdammte Scheiße.

»Mia soit’n moagn bei Dog noamoi herkomma«, schlug der Kleine vor.

Tim verstand kaum noch etwas von dem, was die beiden Uniformierten miteinander besprachen. Als Zugereister war er bisher nicht bis in die Untiefen des bayerischen Dialekts vorgedrungen.

»Ach was, soin se de Kolleg’n doch drum kümmern«, widersprach der andere Polizist. »Mia geh’n. Jetzt find’n mia hia eh nix mehr.« Er wandte sich wieder Tim zu. »Und Sie können auch heim gehen. Wir haben ja Ihre Personalien. Sollten wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.«

Nichts lieber als das. Tim Jonas schwang sich aufs Rad und fuhr schnell los, bevor sie es sich anders überlegten.

»Schau’ amoi, Felix«, sagte der eine Polizist zu seinem Partner. Er hielt einen Fetzen Stoff in die Höhe. »Was ’n des? Siagt aus wia a … Hemd.« Er hielt es an den schmalen Trägern in die Luft.

»Na ja, dann pack’s hoit ei, Stefan.«

2

Vier Stunden später stand Linda in der Küche und machte sich einen doppelten Espresso. Lukas trottete herein.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte sie ihn und grinste verschmitzt. Eine warme Ruhe breitete sich in ihr aus, als sie ihn noch so verschlafen vor sich sah. Ich liebe dich, Lukas, dachte sie.

Lukas zog den Bademantel enger um den Körper und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Linda schob ihm ihre Tasse rüber.

»Du hast heute Nacht im Schlaf geredet«, sagte er und sah sie forschend an. »Und gelacht.«

»Echt?« Linda schob die Unterlippe vor. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Lukas seufzte. »Ich schon. Ich bin davon aufgewacht. Und dann habe ich ewig gebraucht, um wieder einzuschlafen.«

Sie legte ihren Kopf zur Seite. »Das tut mir leid.«

Lukas atmete hörbar. »Deinen Schlaf möchte ich haben. Dich könnte man nachts wegtragen, du würdest es nicht merken.«

»Schmarrn.« Linda machte sich einen neuen Espresso, trank die kleine Tasse in einem Schluck leer und stellte sie in die Spülmaschine. »So, und jetzt muss ich los.« Sie küsste ihn auf die Nase und wollte gehen.

Lukas hielt sie zurück. »Ich habe übrigens gestern unseren Keller ausgemistet.«

Linda verzog das Gesicht. »Aber das wollte ich doch machen.«

Lukas gähnte. »Ja, das versprichst du mir seit dem letzten Frühjahr.«

»Dann kann ich ja wenigsten den Sperrmüll wegbringen«, bot Linda an.

Lukas grinste schief. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst.«

Linda ignorierte die Spitze. »Hilfst du mir beim Einladen?«

»Ich zieh mir nur schnell was über.«

**

Wenig später hatten sie das Gerümpel im Kofferraum von Lindas Wagen verstaut. Lukas fischte einen kleinen gelben Zettel aus seiner Jackentasche hervor. »Du könntest mir einen Gefallen tun. Würdest du meine Hemden aus der Reinigung mitbringen? Die will ich auf die Reise mitnehmen.«

Linda schnappte den Reinigungszettel und stopfte ihn in die Tasche ihrer Jeans. »Für dich tu ich doch alles.«

»Bring den Müll am besten gleich weg, bevor du ins Präsidium fährst, sonst kutschierst du nächstes Jahr noch damit herum.«

»Kennst mich doch.«

»Eben drum.«

Linda streckte ihm die Zunge raus.

»Wollen wir zusammen Mittag essen?« Er öffnete ihr die Autotür. »Um eins im Franziskaner?«

»Bayerisch zum Abschied? Okay. Treffen wir uns dort.« Linda stieg ins Auto. Lukas warf die Autotür zu und ging zum Haus zurück.

Sie kam nicht weit, weil ein Müllwagen die Straße versperrte. Während sie wartete, sah sie in den Rückspiegel und entdeckte Lukas, der vor dem Haus stand und angeregt mit einer jungen Frau plauderte. Offensichtlich amüsierten sich die beiden prächtig. Linda konnte ihn lachen sehen. Doch wer war diese Frau? War das nicht die die Zicke von gegenüber, die nie grüßte, sondern immer nur wegsah, wenn sie vorbeikam?

Eigentlich interessierte sie diese Blondine überhaupt nicht, aber woher kannte Lukas diese Kuh? Sie ignorierte das Hupkonzert, das inzwischen eingesetzt hatte. Stattdessen starrte sie gebannt in den Rückspiegel, bis jemand an die Scheibe klopfte. Erschrocken sah Linda hinaus und entdeckte einen Mann, der neben ihrem Auto stand und sie wütend ansah. »Fahr endli weida, bleade Kuh.«

Der Müllwagen war längst verschwunden, die Straße frei. »Bin ja schon weg«, murmelte Linda und brauste los.

***

Auf ihrem Schreibtisch im Kommissariat entdeckte sie den Bericht. Noch im Stehen überflog sie, was die beiden Streifenpolizisten Felix Egner und Stefan Hoffmann in ihrem Protokoll festgehalten hatten. Ein Anrufer namens Tim Jonas hatte nachts gegen 01:50 Uhr Hilfeschreie aus dem Englischen Garten gemeldet. Die Suche war ergebnislos verlaufen, lediglich ein verschmutztes Seidenhemdchen hatten die Polizisten gefunden. Ein Zusammenhang zwischen der Fundsache und dem Schrei bestünde vermutlich nicht, hatten die Beamten dazugeschrieben. Das waren bestimmt nur ein paar betrunkene Kids, Junkies oder Obdachlose gewesen, vermutete Linda und legte den Bericht beiseite.

Sie verließ ihr Büro und ging nach nebenan. Sie klopfte einmal, öffnete die Tür und streckte den Kopf hinein. Michael Lewandowski, ihr Chef, stand am Fenster in einer Wolke aus Zigarettenqualm. Er drehte sich um, als er sie eintreten hörte.

So wie er heute wieder aussieht, könnte er mein Großvater sein, dachte Linda. Dabei war er nur vierzehn Jahre älter als sie.

»Du?«, fragte er erstaunt. »Ich dachte, du hast Urlaub.«

»Nächste Woche.« Linda schob sich an ihm vorbei und riss das Fenster auf.

»Bist deppert? Es is’ koid«, schimpfte Lewandowski. Er verfiel nur in Bayerische, wenn er sich aufregte oder getrunken hatte. Ansonsten sprach er Hochdeutsch mit einer leichten Münchner Färbung. Genau wie Linda.

»Frische Luft hat noch niemandem geschadet.« Linda warf den Kopf zurück und ihre Locken suchten nach einer neuen Ordnung. Sie bemerkte Lewandowskis Blick. Ja, sie hatte es wieder mal nicht geschafft, ihre Haare zu bändigen. Sie vermied diesen Kampf, da sie sonst morgens im Bad einfach zu lange brauchte. Ihre Mähne bekam sie einfach nicht in den Griff. Davon trennen wollte sie sich aber auch nicht, schon weil Lukas sie mit aller Macht davon abgehalten hätte. Die rote Mähne verdankte sie ihrer Großmutter mütterlicherseits, wie auch die olivfarbene Hautfarbe. Mit ihren roten Locken, der gesunden Gesichtsfarbe und den Sommersprossen, die frech auf ihrer Nase leuchteten, wirkte sie wie ein frischer irischer Frühlingsmorgen, selbst an so einem tristen Wintermorgen wie heute.

Ganz anders bei Lewandowski. Die Mengen von Nikotin und Teer, die er in den vergangenen Jahren in seine Lungen gepumpt hatte, hatten ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Vom Alkohol und Schlafmangel gar nicht zu sprechen. Tiefe Falten zeichneten scharfe Konturen in sein Gesicht. Es sah aus wie aus grobem Holz geschnitzt.

Lewandowski schob Linda beiseite und schloss das Fenster. »Ich muss nicht auch noch krank werden. Die halbe Abteilung liegt schon flach.«

»Erstickst lieber, was?«, hüstelte sie.

»Wir sind nicht verheiratet, oder?«, maulte er schlecht gelaunt. »Wann ist es eigentlich so weit?«

»In knapp drei Wochen.«

»Und, schon alles organisiert für den großen Tag?«

Linda ignorierte seinen ironischen Unterton. »Lukas kümmert sich um alles. Außerdem ist es nicht kompliziert, in den USA zu heiraten. Das ist weniger Papierkram als hier. Wir heiraten auf Maui am Strand, und außer einem Standesbeamten wird niemand sonst da sein. Das ist also keine große Sache. Die Feier für Familie und Freunde holen wir dann nach, wenn wir wieder zurück sind. Du bist auch herzlich eingeladen.« Sie grinste ihn schief an.

Lewandowski nickte nachdenklich. »Danke, aber willst du’s dir nicht noch mal überlegen? Unser Job taugt nicht für die Ehe. Ich weiß, wovon ich spreche. Hab’s zweimal versucht und bin jämmerlich gescheitert.«

»Schmarrn.«

»Und Männer können nicht treu sein.«

»Ach was.« Linda wusste, dass er das nur sagte, um sie zu ärgern. Trotzdem verfehlte es seine Wirkung nicht. Aber sie schwieg dazu, das konnte sie gut.

Lewandowski deutete auf eine Mappe, die auf seinem Schreibtisch lag. »Es gibt eine Vermisstenanzeige. Ein Teenager ist seit Freitag abgängig.«

»Ach, der taucht bestimmt wieder auf.«

»Trotzdem. Kümmer dich drum«, sagte Lewandowski. »Es ist ein Mädchen.«

»Was geht’s uns an? Noch ist sie ja wohl am Leben.«

»Wir sind unterbesetzt. Die Hälfte unserer Leute liegt mit Grippe im Bett. Schlubach will, dass wir einspringen, soweit wir Zeit haben. Und momentan gibt’s ja keinen Mord in der Stadt. Also geh der Sache nach.«

Linda schnappte sich die Mappe, warf einen kurzen Blick hinein und registrierte die Adresse. Das lag in der Nähe des Parks. »Mach ich. Und ich fahr auch mal zum Englischen Garten. Da hat es heute Nacht irgendwelche Hilferufe gegeben.«

Lewandowski zündete sich eine neue Zigarette an, während er die andere im Aschenbecher ausgedrückte. »Von mir aus, aber geh zuerst zu den Eltern. Das hat Vorrang.«

»Ernährst du dich eigentlich davon?«, fragte Linda mit Blick auf die Kippe.

»Schau, dass du Land gewinnst, Nervensäge!« Er griff nach dem Aschenbecher. »Sonst gibt’s doch noch einen Mord.«

Schnell suchte sie das Weite.

3

Linda fuhr zuerst zum Englischen Garten. Erstens lag der auf dem Weg zu den Eltern, die ihr Kind als vermisst gemeldet hatten, und zweitens machte sie nie, was andere von ihr verlangten. Sie entschied selbst, was Priorität hatte, was nicht immer von Vorteil für ihr berufliches Fortkommen war. Immer wieder geriet sie deswegen mit Lewandowski aneinander. Um Streit zu vermeiden, versuchte sie ihre Eigenmächtigkeiten zu verheimlichen, soweit es ging.

Die Polizisten hatten ihrem Bericht eine Skizze beigefügt. Darin war die Stelle markiert, an der sie das Hemdchen gefunden hatten und von wo die Schreie gekommen waren. Linda stand fröstelnd im Englischen Garten und hörte den Eisbach neben sich rauschen. Sie spürte, wie beim Atmen die Härchen in ihrer Nase gefroren.

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