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Ein kaltblütiger Dreifachmord – oder grausame Rache? Der fesselnde Kriminalroman »Eisblut« von Nadine Petersen jetzt als eBook bei dotbooks. Eine luxuriöse Villa im Münchner Nobelviertel Herzogpark – drei Familienmitglieder, die eines schrecklichen Todes starben. Erweiterter Selbstmord? Kommissarin Linda Lange, die nach einem traumatisierenden Fall gerade erst wieder im Dienst ist, kommen schon bald Zweifel an dieser Theorie. Doch das Ergebnis der ersten Untersuchungen überrascht nicht nur sie, sondern das gesamte Präsidium: Die Mordwaffe, mit der Mutter und Tochter erschossen wurden, gehörte nicht dem Familienvater und ehemaligen Polizisten Lohmann – sondern einem Mafioso, der seit drei Jahren als tot gilt! Wie kam der Mörder an seine Waffe … und was ist sein Motiv? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der spannungsgeladene München-Krimi »Eisblut« von Nadine Petersen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 386
Über dieses Buch:
Eine luxuriöse Villa im Münchner Nobelviertel Herzogpark – drei Familienmitglieder, die eines schrecklichen Todes starben. Erweiterter Selbstmord? Kommissarin Linda Lange, die nach einem traumatisierenden Fall gerade erst wieder im Dienst ist, kommen schon bald Zweifel an dieser Theorie. Doch das Ergebnis der ersten Untersuchungen überrascht nicht nur sie, sondern das gesamte Präsidium: Die Mordwaffe, mit der Mutter und Tochter erschossen wurden, gehörte nicht dem Familienvater und ehemaligen Polizisten Lohmann – sondern einem Mafioso, der seit drei Jahren als tot gilt! Wie kam der Mörder an seine Waffe … und was ist sein Motiv?
Über die Autorin:
Nadine Petersen kam 1963 in München zur Welt. Die Architektin ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in München-Schwabing.
Bei dotbooks veröffentlichte Nadine Petersen auch die ersten beiden Bände der Reihe um Kommissarin Linda Lange, »Eisbach« und »Eishaus«.
BITTE NICHT VERWECHSELN:
Unter dem Titel EISBLUT erschien auch ein Thriller von Marina Heib im Piper-Verlag. Mehr Informationen über dieses Buch finden Sie hier: www.piper.de
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Originalausgabe Juni 2020
Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/SusaZoom
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)
ISBN 978-3-96148-985-5
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Nadine Petersen
Eisblut
Kriminalroman
dotbooks.
Der Regen prasselte auf mich hernieder.
Der launische April tobte sich aus. Alles war grau, die Farben verblasst. Und doch sah ich das Blut, einen Lavastrom, der dort zähflüssig über den Asphalt kroch und sich mit dem Regen vermischte, um zu einem blutroten, reißenden Strom anzuschwellen. Dieses Rot brannte in meinen Augen.
Ich wandte den Blick ab, doch es gab keine Erlösung. Mir war, als würde der Boden unter meinen Füßen aufreißen, um mich zu verschlingen. Aber nichts geschah.
Es hämmerte in meinen Schläfen. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Die Zeit stand still.
Zwölf Jahre war es her, dass ich zuletzt an diesem Ort gewesen war. Zwölf Jahre hatte ich alles getan, um meine Gedanken daran im Keim zu ersticken. Doch nun stand ich hier, wo mein Leben eine Wendung genommen hatte, die mich direkt in die Hölle führen sollte. Ich sehe ihre Gesichter, alle. Sie starren mich an mit ihren toten Augen.
Zwölf Jahre waren seitdem vergangen. Ich spürte den Schmerz von einst körperlich. Die Ereignisse von damals waren so gut wie ausgelöscht, bis auf ein Bild, das sich in mein Gehirn eingebrannt hatte. Und die eine Frage, die mich seit diesem Moment ohne Unterlass quälte: Wie konnte es sein, dass ein einziger Augenblick, eine winzige Entscheidung, ein ganzes Leben zum Albtraum werden ließ?
Was, wenn ich mich nicht losgerissen hätte. Ich musste lächeln, der Gedanke war schön und leicht. Bilder blitzten auf, Erinnerungsfetzen an glückliche Zeiten, wie ich mit meiner Mutter und meiner Schwester über die Wiesen gelaufen und auf Bäume geklettert war. Schon damals hatte sie mich immer ermahnt, es nicht zu übertreiben. Ich seufzte, starrte auf den Boden und überließ mich diesem Gedankenstrom, der mich für einen Augenblick wegführte von hier.
Dann hob ich den Blick und betrachtete den Horizont. Der Ort war menschenleer. Wie damals.
Vergeblich suchte ich nach Spuren, irgendetwas von damals musste doch übrig geblieben sein. Aber nach all den Jahren war nichts mehr zu sehen. Ich ging zu der Stelle, an der ich damals gestanden hatte. Die Erinnerungen stiegen auf wie Luftblasen in dem schäumenden Blutstrom.
Es war mein elfter Geburtstag gewesen, und wir waren auf dem Weg zur Bushaltestelle, um in die Stadt zu fahren.
Ich war an der Seite meiner Mutter gegangen. Sie hatte meine rechte Hand gehalten und an der Linken meine kleine Schwester geführt. Ihretwegen waren wir nur langsam vorangekommen. Ihr wackeliger Gang war mir auf die Nerven gegangen.
Ich hatte nicht länger so langsam an der Hand gehen wollen, sondern rennen wollen, mit dem Wind um die Wette. Deshalb hatte ich mich losgerissen und war blindlings über die Straße gelaufen, die sich hier hochschlängelte, aus dem Nichts auftauchend, über die Kuppe kommend, dann in eine scharfe Kurve mündend, um wieder hinter Bäumen zu verschwinden.
Ich hatte den ängstlichen Schrei meiner Mutter kaum gehört, ich war längst atemlos auf der anderen Seite angekommen, als sie mir hinterherlaufen wollte, meine Schwester mit sich zerrend, um mich wieder einzufangen. Die kleinen Füßchen waren nicht mitgekommen, sie war gestolpert, auf die Knie gefallen und hatte zu weinen begonnen. Meine Mutter war gezwungen, stehen zu bleiben, um sie vom Boden aufzuheben, zu trösten und auf den Arm zu nehmen.
Ich hatte das Auto nicht kommen sehen, nur dieses röhrende Geräusch gehört, das von links unten hochgerollt und wie ein Donnergrollen über den Asphalt geweht war.
Es war ein seltsames Geräusch, wenn Metall auf Fleisch traf.
Ich hatte mich umgedreht und meine Schwester durch die Luft wirbeln sehen, wie ein Spielzeug, das hochgeschleudert worden war. Meine Mutter war für einen Wimpernschlag unter dem Auto verschwunden, das holpernd über sie gefahren war, um dann das Spielzeug, das davor auf die Straße geknallt war, mit den Reifen zu zermalmen.
Bevor dieses Auto wieder aus meinem Leben verschwunden war, war ein Mann ausgestiegen und zu der Stelle gelaufen, wo meine Mutter und meine Schwester lagen. Ein zweiter hatte nur kurz aus dem Wagen geschaut, war aber gleich wieder eingestiegen. Ihn hatte ich nur schemenhaft gesehen, den anderen ganz genau. Sein Gesicht habe ich bis heute nicht vergessen.
Nur kurz hatte er auf die beiden blutigen Leiber geschaut. Dann war er wieder zu seinem Wagen gelaufen, eingestiegen und weggefahren.
Ich hatte auf der anderen Seite gestanden, versteckt hinter einem Baum, hatte mich nicht gerührt, bis der Wagen wieder verschwunden war. Dann hatte ich mit einem Stock die Buchstaben und Zahlen in den Boden geschrieben.
Es war mir unendlich weit vorgekommen, die wenigen Meter zurückzugehen. Das Spielzeug, das einmal meine Schwester gewesen sein musste, war nur noch ein zerquetschter Fleischklumpen, aus dem Knochen, Gedärm und Blut herausgepresst worden waren.
Ich erinnere mich an die Augen meiner Mutter, als wäre es gestern passiert. Ihr gequälter, stummer Blick. Wir hatten uns nur angesehen, bis ihre Augen stumpf geworden waren, als wäre darin ein Licht erloschen. Mein Blut war in diesem Augenblick zu Eis geworden. Eisblut.
Das war es, was mich an diesen Ort erinnerte.
Das war es, was mich mein ganzes Leben lang verfolgt und mich im Fegefeuer hat schmoren lassen.
Ich hatte keine Wahl. Ich musste es zu Ende bringen.
Linda schlug die Augen auf und starrte nach oben. Ihr Tag begann so makellos wie die Zimmerdecke über ihr, ohne dunkle Flecken, ohne Schatten auf der Seele. Sie hatte wunderbar geschlafen, so tief und traumlos wie seit Langem nicht mehr.
Da sie in den zurückliegenden Wochen oft unter schlechteren Bedingungen aufgewacht war, genoss sie diese Tatsache umso mehr. Sie blieb liegen und spürte diesem fast vergessenen Gefühl der Leichtigkeit nach. Dann blickte sie zur Seite. Sie war allein, das Bett neben ihr leer. Wie so oft in letzter Zeit.
Lukas war früh aufgestanden, um laufen zu gehen. Sie schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Da war dieses Gefühl, dass er vor ihr davonlief, seit er begonnen hatte, für einen Marathon zu trainieren. Ob es eine andere Frau gab? Vielleicht diese Französin, die im Nachbarhaus wohnte und deren Katze Flocon hieß und fast täglich bei ihnen auftauchte, wenn Lukas die Balkontür oder ein Fenster offen stehen ließ.
Sie schlug die Augen wieder auf und ließ diesen Gedanken wie eine Wolke am Himmel vorbeiziehen. Das hatte sie inzwischen gelernt: nicht festhalten, loslassen. Und sie wusste um ihre Eifersucht.
Nicht jetzt. Heute war ein wichtiger Tag.
Wenig später stand sie mit einem doppelten Espresso in der Hand in der Küche am Fenster und sah hinaus. Vor ihr lag Lukas’ Nachricht auf dem Küchentisch. Bin laufen. Warte nicht auf mich. Guten Start!
Sie seufzte. Ich liebe dich, Lukas.
Wie gerne hätte sie diese kostbaren Minuten mit ihm verbracht, über den bevorstehenden Tag geredet, sich an ihn gelehnt und Mut bei ihm getankt. Aber es würde auch ohne ihn gehen. Sie straffte die Schultern und richtete sich auf. So bleiben, schärfte sie sich ein. Dann verließ sie das Haus.
Die Fahrt von Schwabing in die Innenstadt verlief ausnahmsweise störungsfrei, und sie brauchte nur fünfzehn Minuten, bis sie das Polizeipräsidium in der Ettstraße erreicht hatte.
Als Linda ihren Wagen geparkt und den Motor abgestellt hatte, blieb sie regungslos sitzen. Seit fast zwei Monaten war sie nicht mehr hier gewesen. Sie hatte diese unfreiwillige Auszeit gebraucht.
Ihr letzter Fall hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich selbst hatte eingestehen wollen. Dazu die Lungenentzündung, die sie wochenlang ans Bett gefesselt hatte. Ihr Körper hatte rebelliert, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte einfach keine Luft mehr zum Atmen gehabt. Alt und schwach hatte sie sich gefühlt, ans Bett gefesselt für viele Wochen. Der rasselnde Atem, die krampfenden Muskeln, die Angstzustände, all das war nun endgültig Geschichte. Sie würde ein neues Kapitel in ihrem Leben und als Ermittlerin aufschlagen.
Nun war der Moment gekommen, an dem sie in ihr gewohntes Leben zurückkehren sollte, vorausgesetzt, sie wäre dem Druck gewachsen. Das würde der Praxistest zeigen, ihr blieb gar keine andere Wahl, als sich dieser Herausforderung zu stellen. Ab jetzt würden wieder Mord, Totschlag und Gewaltverbrechen ihren Alltag bestimmen.
Sie gab sich einen Ruck und stieg aus dem Wagen. Schultern zurück, den Rücken gerade. Zurück in ein altes, neues oder anderes Leben. Wie auch immer.
Michael Lewandowski kam ihr entgegen, als sie das Kommissariat betrat. »Ich war mir nicht sicher, ob du heute wirklich kommst.« Er musterte Linda wie ein Insekt unter dem Mikroskop. »Bereit?«
Sie nickte und schenkte ihrem Kollegen ein warmes Lächeln. Es folgte eine schnelle Umarmung. Sie freute sich, ihn wiederzusehen.
»Gut, denn wir müssen los. Ein 110er.«
Der Zahlencode verriet ihr, dass es irgendwo in München einen verdächtigen Todesfall gegeben hatte, und trotz der traurigen Umstände, die sich hinter den drei Ziffern verbargen, war sie froh, sofort wieder in die Arbeit geworfen zu werden. Das ersparte ihr einen Empfang durch die anderen Kollegen im Kommissariat und den Gang durch ein Spalier aus unsicheren Blicken und neugierigen Fragen.
Die Schatten der Vergangenheit hingen noch wie eine drohende Gewitterwolke über ihr. Erst zwei Monate lagen zwischen ihrem letzten Tag als Ermittlerin und ihrem ersten heute. Um den letzten Fall zu lösen, hatte sie alles auf eine Karte gesetzt und ihr Leben riskiert. Sie hatte sich über alles und jeden hinweggesetzt, auch über Lukas. Dafür hatte sie einen sehr hohen Preis gezahlt. Doch nun war sie wieder da, wo alles angefangen und geendet hatte. Zurück auf Anfang.
Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, zündete Lewandowski sich eine Zigarette an und saugte gierig daran.
»Du rauchst wieder?«, fragte Linda entsetzt.
Nach seinem Herzinfarkt hatte er mit dem Rauchen und Trinken aufgehört. Lewandowski antwortete nur mit einem Schnauben.
Dass er während ihrer Abwesenheit wieder in sein altes Muster zurückgefallen war, ließ nichts Gutes ahnen. Linda biss sich auf die Zunge. Sie wusste, wie er Bevormundung hasste, und sie hatte ihrem älteren Kollegen weiß Gott nicht vorzuschreiben, wie er sein Leben zu gestalten hatte. Sie hatte genug mit ihrem eigenen zu kämpfen.
»Was ist passiert?«, fragte sie schließlich, während sie neben ihm über den Parkplatz zu ihrem Dienstfahrzeug lief.
»Drei Tote.«
»Wo?«
»Im Herzogpark.«
Lewandowski schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und setzte sich ans Steuer. Linda nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Er öffnete das Fenster auf seiner Seite, blies den Rauch ins Freie und brauste los.
Manches ändert sich nie, dachte sie. Lewandowski war wieder zum Morgenmuffel und Kettenraucher mutiert.
Während der Fahrt warf sie ihrem Partner am Steuer verstohlene Seitenblicke zu. So wie er heute aussieht, könnte er mein Großvater sein, ging es ihr durch den Kopf. Wie lange machte er schon diesen Job? Es mussten mehr als 25 Jahre sein. Vielleicht war das der Preis, den man zahlte für den Beruf.
Sie wollte diesen Preis nicht bezahlen, sie wollte aber auch keinen anderen Job. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Lewandowski nutzte die Gelegenheit, sie heimlich zu mustern.
Abgesehen davon, dass sie Partner waren und er für Linda eine Art väterliche Gefühle empfand, war sie eine bildschöne junge Frau, die die Männerwelt verrückt machen könnte – was sie aber nicht tat. Er hatte in den vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit nie erlebt, dass Linda mit ihrer Attraktivität kokettiert, gespielt oder sie zu ihrem eigenen Vorteil eingesetzt hätte, wie er es bei anderen Frauen oft beobachtet hatte. Im Gegenteil, manchmal gab sie sich derart burschikos, als wollte sie diese Schönheit hinter einer rauen Schale verbergen.
Allein diese rote Mähne, die sie immer in einem langweiligen Dutt versteckte. Nie Make-up, trotzdem makellos schön. Eine echte Amazone. Allerdings hätten ihr ein paar Pfund mehr auf den Rippen nicht geschadet. Bei ihrer Umarmung hatte er gespürt, wie erschreckend zart und zerbrechlich sich ihr Körper anfühlte. Er würde sie mästen, nahm er sich vor.
Endlich war sie wieder da, der beste Partner, den er in diesem Job je gehabt hatte.
Sie war seine Instinktfrau, die aus wenigen Eindrücken und unvollständigen Informationen ein Bild formen konnte, aber zu oft von ihren Gefühlen übermannt wurde und sich zu verrennen drohte. Sich in Geduld üben oder nachzugeben, zählte nicht zu ihren herausragenden Eigenschaften.
Deswegen war er die perfekte andere Hälfte in diesem Team. Er ging ruhig und systematisch an eine Ermittlung heran und konnte sich stundenlang durch Akten fressen. Was Erfahrung und Geduld betraf, war er ihr weit voraus, weit genug, um sie wieder einzufangen, wenn sie aus der Kurve zu fliegen drohte.
Das hatte er in den zurückliegenden Jahren mehr als einmal tun müssen. Seine junge Kollegin neigte dazu, bei schwierigen und langwierigen Ermittlungen Anweisungen von oben zu ignorieren, Befehle zu missachten, Risiken einzugehen. Des Öfteren hatte sie mit ihrem Dickkopf eine Suspendierung riskiert, ihre Karriere und ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Deinetwegen rauche ich wieder, Linda.
Er wusste natürlich, warum sie das tat. Dafür gab es nur einen einzigen Grund: einen Fall aufzuklären und einen Mörder zu finden.
Als sie in die Flemmingstraße einbogen, in der sich eine zweistöckige Villa mit gepflegtem Vorgarten an die nächste reihte, sahen sie vor einem Haus mehrere Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht wie eine Brandmauer stehen, die Ankömmlinge und Schaulustige auf Abstand hielt.
Eine Handvoll Neugieriger beobachtete das Polizeiaufgebot, die meisten, die hier wohnten, waren jedoch um diese Uhrzeit nicht mehr zu Hause. Entweder waren sie in den Chefetagen ihrer Firmen zugange, um das Geld für ihr luxuriöses Leben zu verdienen, oder sie hatten diese Notwendigkeit bereits hinter sich gelassen und vertrieben sich die Zeit mit einem Powerfrühstück oder Golfen. Dass hier wohlhabende Menschen lebten, verrieten die Gegend im Allgemeinen und die großen Villen im Besonderen auf den ersten Blick.
Lewandowski stellte den Wagen am Straßenrand ab. Sie gingen die letzten Meter zu Fuß zu dem Haus, in dem die Leichen gefunden worden waren.
Ein schwarzer Bentley SUV parkte in der riesigen Doppelgarage neben dem Haus, deren Garagentor geöffnet war. Daneben stand ein 911er.
Vor dem Haus trafen sie auf Peer Jenner, einen Kollegen aus ihrem Kommissariat, den Linda nur flüchtig kannte. Er arbeitete erst seit Kurzem bei der Mordkommission, früher bei der Sitte. Als zuständiger Koordinationsbeamter unterstand ihm alles, was den Ort des Verbrechens betraf. Jetzt würden sich ihre Wege häufig kreuzen.
»Können wir rein?«, fragte Lewandowski ohne Umschweife.
Jenner nickte und bedachte Linda mit einer Art Grinsen, bei dem er den Mund mit geschlossenen Lippen verzog. In ihren Augen war es, als würde eine Leiche lächeln, ein verstörender Anblick. Sie wandte sich ab. Sie mochte ihn nicht, irgendwie fand sie diesen mürrischen Mann sogar unheimlich. Er erinnerte sie an jemanden. Reiß dich zusammen.
Er reichte ihnen Papieroveralls, Latexhandschuhe und Schutzüberzieher für die Schuhe, die sie anziehen mussten, um zu verhindern, dass sie den Tatort mit Haaren, Hautschuppen und Fasern ihrer Kleider kontaminierten.
»Also, was haben wir?«, wollte Lewandowski wissen.
»Eine tote Familie. Vater, Mutter, Kind. Mutter und Tochter wurden unten erschossen, der Vater hängt am Geländer der Galerie im Wohnzimmer«, informierte er sie, ohne eine Regung zu zeigen. »Keine Ahnung, warum wir gerufen wurden. Sieht nach erweitertem Suizid aus. Vater erschießt Frau und Kind und erhängt sich dann.« Damit ließ er sie stehen und ging zum Wagen.
»Die personifizierte Freundlichkeit«, ätzte Lewandowski.
»Und so redselig«, fügte Linda hinzu.
»Machen wir uns selbst ein Bild von der Lage. Schaffst du das?«
Sie nickte stumm. Ihr Puls beschleunigte sich. Seit Monaten hatte sie keinen Tatort mehr betreten. Lewandowski schenkte ihr einen aufmunternden Blick und ging voran.
Ein Kollege in Uniform trat aus der Haustür. »Servus, Michael. Pfürti, Linda! Schön, dass du wieder da bist.« Er bedachte sie mit einem herzlichen Lächeln.
Im Gegensatz zu Jenner schien sich Paul Feller wirklich zu freuen. Linda lächelte zurück.
»Paul, kannst du uns aufklären?«, bat Lewandowski. »Jenner war nicht besonders mitteilsam. War es nun Mord oder Selbstmord?«
»Scheint wirklich ein Familiendrama gewesen zu sein. Die Putzfrau hat die Toten gefunden, als sie heute Morgen ins Haus gekommen ist. Sie hat einen Schlüssel. Sie hat uns gerufen. Kein schöner Anblick da drin.«
»Wo ist sie?«, wollte Linda wissen.
Er deutete auf einen Streifenwagen, der unweit vom Haus parkte. »Sitzt im Wagen. Hat einen ziemlichen Schock erlitten. Hat zuerst die Frau des Hauses gefunden. Die liegt hinter der Treppe. Zwei Schüsse. Einer in den Rücken und ein zweiter in den Kopf.« Er atmete tief durch. Seine Stimme klang angestrengt. »Dann liegt da noch ein Mädchen. Auch erschossen, in Rücken und Kopf. Sie war gerade mal vier.« Feller brach sein Stakkato ab. »Und da ist noch der Mann. Hat sich erhängt«, fügte er schließlich hinzu. »Sven Lohmann. Lisa Lohmann. Und die kleine Anna.«
»Eine ganze Familie …«, stöhnte Linda leise. »Und der Vater soll dafür verantwortlich sein?«
Feller zuckte mit den Schultern. »Sieht danach aus.«
»Womit hat dieser Lohmann sein Geld gemacht?«, wollte Lewandowski wissen.
»War so ’ne Art Sicherheitsberater, hat schusssichere Fenster, einbruchsichere Türen, Alarmanlagen, Kameras und so’n Zeug verkauft und Sicherheitspersonal gestellt, für Events und Promis. Aber davor war er mal einer von uns.«
»Von uns?« Linda zog die Augenbrauen hoch.
Ihr Blick schweifte umher. Sie sah die kleinen Kameras, die an den Hauswänden montiert waren.
Feller nickte. »Hat als Ermittler bei der Drogenfahndung gearbeitet, aber vor drei Jahren gekündigt und sich dann mit seiner Sicherheitsfirma selbstständig gemacht.«
»Offensichtlich mit Erfolg«, stellte Linda fest.
»Ich bringe euch jetzt an den Tatort.« Feller trat zur Seite und ließ die beiden zuerst eintreten. »Hoffentlich habt ihr noch nicht gefrühstückt.«
Linda holte tief Luft, dann betrat sie hinter Lewandowski mit pochendem Herzen das Haus.
Der süßliche Geruch war überwältigend. Sie schwankte. Lewandowski legte den Arm um ihre Schultern und hielt sie wie ein Fels in der Brandung, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Sie gingen weiter. Während sie versuchte, flach und nur durch den Mund zu atmen, hielt sich Lewandowski den Arm vor die Nase und sog die Luft durch den vom Zigarettenrauch geschwängerten Stoff seines Sakkos ein.
»Sie liegen hinter der Treppe.« Feller verharrte an der Eingangstür und deutete ins Haus. »Nicht zu übersehen.« Er machte keine Anstalten, sie weiter zu begleiten.
Linda versuchte, den Verwesungsgeruch zu ignorieren. Obwohl sie daran gewöhnt sein sollte, empfand sie ihn nach ihrer langen Pause als extrem abstoßend. Sie spürte, wie ihr Magen rebellierte, und fischte ein mit Pfefferminzöl getränktes Papiertaschentuch aus der Jackentasche. Sie presste es auf die Nase und sog daran wie ein Klebstoff schnüffelnder Junkie.
Dazu schlug ihnen eine unerträgliche Hitze entgegen. Linda bückte sich und berührte mit der Hand den Fußboden. Er schien zu glühen, die Fußbodenheizung lief auf Hochtouren.
Hinter der Treppe entdeckte sie den ersten toten Körper. Sie betrat einen Tatort, und ihre Sinne waren schlagartig geschärft. Vorsichtig näherte sie sich der Leiche so weit, wie es die Kollegen aus der Spusi zuließen. Die Kriminaltechniker, durch ihre Schutzanzüge nahezu unkenntlich gemacht, waren mit der Sicherung der Spuren beschäftigt.
»Linda!«, rief eine dieser außerirdischen Gestalten, die am Boden vor der Leiche gekniet hatte. Sie winkte ihr zu. Linda erkannte Britta Behrens aus der KTU, eine der wenigen Ausnahmen, mit der sie auch privat etwas unternahm. Britta war eine begeisterte Taucherin und hatte Linda gelegentlich zum Tauchen mit zum Starnberger See genommen, wo Brittas Mann Karsten eine Tauchschule betrieb.
»Ich würde dich umarmen«, sagte Britta, »aber du siehst, was hier los ist.«
Linda warf ihr eine Kusshand zu. »Holen wir nach.«
Dann konzentrierte sie sich auf das, was hier geschehen war. Aus drei Metern Entfernung sah sie die tote, blutüberströmte Frau, die bäuchlings auf dem Fußboden lag. Um den Kopf der Toten hatte sich auf dem Steinfußboden eine große, sirupähnliche Blutlache gebildet. Der Körper war aufgedunsen, der Verwesungsprozess bereits in vollem Gange. Kein Wunder bei der Hitze, die hier herrschte. Fliegen schwirrten herum oder lagen tot im eingetrockneten Blut. Linda versuchte, ein paar davon, die um ihren Kopf sausten, zu verscheuchen – ein sinnloses Unterfangen, das sie wieder einstellte.
Regungslos studierte sie die Szenerie. Es war, wie Feller und Jenner es geschildert hatten. Sie konnte die Schussverletzung im Rücken und im Hinterkopf deutlich sehen. Das T-Shirt der Frau war blutdurchtränkt, die Kugel hatte in den Hinterkopf der Toten eine große Wunde gerissen, Schädelknochen und Hirnmasse als blutige Masse freigelegt.
Da ist einer auf Nummer sicher gegangen, kam es ihr in den Sinn. Wie bei einem Auftragsmord.
Lewandowski ging an ihr vorbei, sie folgte ihm bis zu der Kinderleiche.
Das Mädchen lag ebenfalls auf dem Bauch. Fassungslos betrachtete Linda den kleinen Körper in der großen Blutlache. Wie die Mutter war das Kind mit je einem Schuss in den Rücken und in den Hinterkopf aus dem Leben gerissen worden. Ihr Kleidchen war voller Blut, die langen blonden Locken klebten blutverschmiert am Schädel, der zur Hälfte aufgerissen war. Vom Gesicht, das in dieser Position nicht zu sehen war, war vermutlich nicht viel übrig geblieben. Was die Kugel nicht zerstört hatte, hatte vermutlich die beginnende Verwesung getan. Linda wusste aus Erfahrung, dass es kein schöner Anblick sein würde.
»Kann denn jemand mal ein Fenster aufmachen?«, schimpfte Lewandowski neben ihr. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht.
Aber keiner reagierte. Solange die Spuren nicht gesichert waren, würde hier niemand etwas verändern, auch nicht an der unerträglichen Temperatur und dem entsetzlichen Geruch. Lewandowski zeigte mit dem Daumen hinter sich. Linda folgte seiner Geste, drehte sich um und erstarrte.
Hier baumelte ein Mann, aufgeknüpft an einem Strick. Es war ein seltsamer Anblick, den Toten in dieser Situation zu sehen. Der Körper hing stranguliert an einem Seil, das über das Geländer der Galerie gezogen und dessen Ende hier unten an einem Fenstergriff befestigt war. Der Tote baumelte nicht frei in der Luft, seine Füße berührten den Fußboden.
Lewandowski und Linda tauschten Blicke. Er zuckte nur ratlos mit den Schultern, während sie ungläubig den Kopf schüttelte. Wie in aller Welt konnte man sich auf diese absurde Weise selbst erhängen? Hatte er die Länge des Seils falsch berechnet oder das Gewicht seines eigenen Körpers unterschätzt?
Der Tote hatte den Mund aufgerissen und die Zunge herausgestreckt. Sie hing zwischen den Lippen wie ein toter, fleischiger Aal. Die Haut seines Gesichts war blutunterlaufen, das sichtbare Auge geöffnet. Es quoll wie eine große Murmel hervor.
Linda riss sich von dem Anblick los. Sie sah zu Lewandowski und entdeckte, dass er ins Leere blickte. Sie konnten noch stundenlang auf dieses grausige Bild mit dem Erhängten starren und würden trotzdem nicht verstehen, was sie hier sahen. Es ergab überhaupt keinen Sinn.
»Wie lange braucht ihr noch?«, wollte Lewandowski von den Kollegen der Spurensicherung wissen.
»Viertelstunde.«
»Lass uns draußen warten.« Lewandowski sah Linda forschend an.
Sie nickte nur stumm. Nichts lieber als das. Das Entsetzen über den Anblick hatte ihre Stimmbänder gelähmt.
Sie löste sich von dem grausigen Bild und lief hinter Lewandowski aus dem Haus. Auf ihrem Weg nach draußen passierten sie weitere Außerirdische, die damit beschäftigt waren, relevante Spuren am Tatort zu sichern, bevor diese durch Neuankömmlinge kontaminiert wurden.
Zurück an der frischen, kalten Luft, atmete Linda tief ein und aus, um den Leichengeruch aus ihren Lungen zu pressen.
»Was meinst du?«, fragte sie schließlich.
Lewandowski steckte sich eine Zigarette an. Nach drei tiefen Zügen beantwortete er ihre Frage. »Ehemann erschießt zuerst Frau und Kind, geht auf die Galerie und erhängt sich.«
»Dann hat er sich aber mit der Länge des Seils gewaltig verrechnet.«
Lewandowski nickte. »Ziemlich scheiße, wenn du dich langsam strangulierst, anstatt dir mit einem Ruck das Genick zu brechen.«
»Ein Familiendrama?«, überlegte Linda laut.
»Sieht so aus.«
»Mich stört etwas daran. Es wirkt so offensichtlich.« Ihr Instinkt hatte längst Alarm geschlagen.
Lewandowski nickte versonnen. Er wollte seine Zigarette wegschnippen, besann sich dann aber anders. Er warf die Kippe auf den Boden und drückte sie mit der Schuhspitze aus. Dann hob er sie auf und schob sie in die Zigarettenschachtel. Linda beobachtete stumm dieses Schauspiel.
»Auf den ersten Blick haben wir hier den klassischen Fall eines erweiterten Suizids«, fasste er zusammen. »Wie aus dem Lehrbuch.«
Linda war mit ihren Gedanken ganz woanders. »Kann man sich auf diese Art selbst erhängen?«
»Man kann sich sogar selbst erdrosseln. Promis strangulieren sich besonders gern selbst.«
Sie wusste, worauf er anspielte. David Carradine, Alexander McQueen, Simone Battle, Chris Cornell, Lynn Masters, die Liste der Stars, die diese Todesart gewählt hatten oder bei autoerotischen Sexspielchen ums Leben gekommen waren, war lang. Bei gewaltigem Druck auf die Halsschlagader verlor man das Bewusstsein und erstickte, gewollt oder ungewollt.
Feller kam zu ihnen. »Schlimm, was?«
Linda nickte. »Habt ihr die Nachbarn schon befragt?«
»Wir sind dabei. Aber die meisten sind nicht zu Hause. Wir bleiben dran.«
»Dann kümmern wir uns um die Putzfrau«, schlug Linda vor. »Und wenn die Kollegen im Haus fertig sind, will ich mir da drinnen alles noch einmal ansehen.«
Lewandowski grinste schief. »Als wärst du nie weg gewesen. Bist schon wieder ganz die Alte.«
Schweigend gingen sie zum Streifenwagen, in dem die Frau saß, die die Leichen gefunden hatte. Lewandowski öffnete die hintere Autotür, legte den Ellbogen aufs Dach und beugte sich vor. Auf der Rückbank kauerte eine verstörte Frau.
Während Lewandowski an der Autotür stehen blieb, ging Linda um das Auto herum, öffnete die Tür und rutschte von der anderen Seite auf die hintere Bank neben die Insassin. Hier fand sie eine korpulente Frau vor, um die 40, mit blondem, helmartigem Haarschopf.
»Hallo. Ich bin Kommissarin Linda Lange, und das ist Hauptkommissar Michael Lewandowski. Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Die Frau starrte Linda mit weit aufgerissenen Augen an und machte nicht den Eindruck, zu einer Befragung imstande zu sein. Doch sie nickte, schnäuzte sich die Nase, sah zu Lewandowski hoch und wandte sich dann Linda zu. Ein Gespräch von Frau zu Frau auf Augenhöhe schien ihr lieber zu sein als eines mit einem grimmig dreinblickenden Kerl, der bedrohlich über einem stand.
Linda schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Sie arbeiten für die Lohmanns, Frau …?«
»Lackner. Olivia Lackner. Ich arbeite für sie seit fast drei Jahren. Ich komme immer montags, mittwochs und freitags gegen acht Uhr morgens für fünf Stunden, so wie heute …« Sie brach ab.
Ihre Fassungslosigkeit war mit Händen greifbar.
»Nur vormittags?« Einfache Fragen, auf die es einfache Antworten gab. Das machte es Zeugen leichter. Es wirkte.
Olivia Lackner nahm den Faden dankbar auf. »Ja, nur vormittags, wenn niemand im Haus ist. Herr Lohmann ist um diese Zeit schon in seiner Firma, Frau Lohmann bringt die Kleine in den Kindergarten und geht danach ins Fitnessstudio oder zum Golfspielen. Ich bin fast immer allein.«
»Was waren die Lohmanns für Leute?«
Wie gewohnt überließ Lewandowski ihr eine Befragung, die weibliches Fingerspitzengefühl erforderte, und mischte sich nur ein, wenn es nötig war. Nicht, dass er dieses Gespräch nicht auch hätte führen können, bei Bedarf konnte er das personifizierte Mitgefühl sein.
»Ehrlich gesagt, kenne ich sie kaum, ich habe sie nur selten gesehen. Aber sie schienen nett zu sein. Es hat nie Schwierigkeiten gegeben.«
»Glauben Sie, dass die beiden in einer Ehekrise steckten? Wollten sie sich vielleicht trennen?«
»Wieso?« Die Frau schien diese Frage nicht zu verstehen.
»Sie können sich nicht erklären, was hier geschehen ist?«
»Wer hat das getan?«, brach es aus ihr heraus. »Wer erschießt eine Frau und ein kleines Mädchen? Das ist so furchtbar. Der arme Herr Lohmann … weiß er schon, was geschehen ist?«
Du weißt nicht, was noch passiert ist, du bist nicht weitergegangen, du hast ihn gar nicht gesehen. Linda verstand augenblicklich. Sie würde die Frau jetzt nicht über das ganze Drama aufklären.
»Wir müssen erst die Spuren auswerten. Aber könnte es denn jemanden geben, der einen Grund gehabt hätte, den Lohmanns das anzutun?«
Die Frau starrte sie fassungslos an. »O mein Gott, ich will auf keinen Fall in so etwas mit hineingezogen werden.«
»Sie haben doch nur die Leichen gefunden«, versuchte Linda, die Frau zu beruhigen, erreichte damit aber genau das Gegenteil.
»Kann ich gehen?«, fragte die Frau, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.
Linda fischte eine Visitenkarte heraus. »Falls Ihnen noch etwas einfällt. Ein Kollege wird Sie nach Hause fahren. Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, Frau Lackner.«
Damit stieg sie aus dem Wagen. Lewandowski schloss die Wagentür und winkte einen Streifenpolizisten herbei. »Bringt sie nach Hause.«
Von ihr würden sie heute nichts erfahren, was ihnen bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte. Langsam gingen die beiden zum Haus zurück, aus dem die Kollegen herausschwärmten wie Bienen aus einem Stock.
Drei schlichte Särge beendeten die Prozession.
Als der Tatort endlich freigegeben war, kehrten Linda und Lewandowski zurück in die Villa, um sich in aller Ruhe umzusehen.
»Du oben, ich unten«, schlug Lewandowski vor.
Andere Kollegen hätte diese Aussage womöglich mit einem Augenzwinkern ins Zweideutige gezogen, Lewandowski lagen solche Anspielungen fern. Er hatte nur die Aufgaben verteilt. Sie würde sich das obere Stockwerk vornehmen, er das untere.
Während Linda die Treppenstufen erklomm, lauschte sie, ob die Stufen unter ihren Füßen Geräusche von sich gaben. Kein Mucks war zu hören, ein Eindringling konnte geräuschlos über die Treppe nach oben und nach unten gelangen. Aber es hatte keine Einbruchspuren am Haus gegeben. Sie schob diese Gedanken beiseite. Niemand war eingedrungen. Lohmann war der Täter.
Vom Flur oben gingen vier Türen ab. Sie nahm sich das Schlafzimmer der Eltern vor. Ein großes Panoramafenster gab den Blick in den Garten frei. Was für ein Luxus, jeden Morgen mit dieser Aussicht aufzuwachen, dachte sie.
Es gab sogar einen Pool im Garten. Und für die blühende Pracht da unten war mit Sicherheit ein Gärtner zuständig. Sie musste an ihren Balkon denken, auf dem momentan irgendwelche undefinierbaren Überbleibsel vom letzten Jahr vor sich hin welkten.
Hier roch alles nach Geld, draußen und drinnen. Auf dem überdimensionierten Boxspringbett lag eine Decke aus echtem Tierfell. Vermutlich Wolf. Linda lugte unter die kostbare Decke, wo sie auf Bettwäsche aus reiner Seide stieß. Traurig ließ sie die Fingerspitzen darüber gleiten. Nichts davon konntet ihr mitnehmen.
Sie warf einen Blick in die Nachtkästchen und dann in die Kommode gegenüber, über der ein überdimensionierter Flachbildschirm hing. Auf der Kommode standen Fotos, die die Lohmanns in glücklichen Zeiten zeigten. Ihr Blick fiel auf ein Bild, auf dem das Ehepaar eng umschlungen in die Kamera strahlte.
Vom Schlafzimmer aus führten zwei weitere Türen in Nebenräume. Sie ging ins Badezimmer, öffnete die beiden Türen des Spiegelschranks, der über dem Waschbecken hing, und stöberte durch das Fach, in dem sich zahlreiche Medikamente befanden. Vom Aufputschmittel bis zum Tranquilizer war alles vorhanden, was die Pharmaindustrie zu bieten hatte, um der Realität zu entfliehen. Linda entdeckte ein Beruhigungsmittel, das die Ärztin ihr nach dem letzten Fall verordnet hatte. Sie hatte es ihr mit der Warnung gegeben, vorsichtig damit umzugehen, weil es ruckzuck süchtig machte. Wer von euch hatte das nötig und warum? Irritiert schloss Linda die Türen des Spiegelschranks und drehte sich um.
Sie entdeckte die begehbare Dusche, in der leicht fünf Menschen Platz gefunden hätten; auch die frei stehende Badewanne war für eine Person zu groß.
Als Nächstes nahm sie sich das Ankleidezimmer vor, das größer als ihr eigenes Wohnzimmer war. Ihr Blick glitt über teure Dessous, Markenkleidung, Schuhe und Handtaschen von Designern, die sie sich mit ihrem Gehalt niemals leisten könnte.
Lohmann musste ein Vermögen verdient haben mit seiner Sicherheitsfirma, um sich das hier erlauben zu können. Mit dem Gehalt eines Ermittlers war das unmöglich. Aber konnte so eine Firma innerhalb weniger Jahre derart viel Gewinn abwerfen? Zweifel nagten an ihr.
Linda verließ das Schlafzimmer und betrat das Kinderzimmer. Hier hatte kein Kind, sondern eine kleine Prinzessin gelebt. Jetzt nicht mehr, dachte sie traurig. Irgendjemand, vielleicht der eigene Vater, hatte ihr zwei Kugeln in den Körper gejagt und ihr junges Leben brutal ausgelöscht.
Verdammt, was war hier nur geschehen? Wie hatte es so weit kommen können?
Nach dem Kinderzimmer widmete sie sich dem Arbeitszimmer. Sie nahm den Fenstergriff in die Hand, öffnete das Fenster und sah sich die Konstruktion an. Rahmen und Griff waren sicherheitsverstärkt, das Glas war zudem schusssicher, wie sich aus der Dicke schließen ließ. Das war vermutlich überall im Haus so. Aber warum? Entweder hatte Lohmann Angst gehabt, oder dieser Aufwand war seinem Beruf geschuldet gewesen.
Natürlich zählte der Herzogpark als Nobelgegend zu einem einbruchgefährdeten Viertel der Stadt, und immer wieder kam es vor, dass osteuropäische Einbrecherbanden mit unfassbarer Brutalität hier heuschreckengleich einfielen und alles abgrasten ohne Rücksicht auf Verluste. Aber vielleicht hatte Lohmann Drohungen aus dem Drogenmilieu bekommen, war jemandem Geld schuldig geblieben oder in gefährliche Machenschaften verstrickt gewesen. Sie würde dieser Sache auf den Grund gehen, Selbstmord hin oder her.
Nach der vorläufigen These hatte sich der Mann hier oben nach seiner furchtbaren Bluttat selbst an der Galerie aufgeknüpft und erhängt. Wie hätte ich an deiner Stelle gehandelt?, fragte sie sich. Warum hast du dich nicht erschossen? Das hätte dir einen schnelleren und leichteren Tod beschert als diese grauenvolle Selbststrangulation. Ob er sich für seine Untaten am Ende noch selbst bestrafen wollte? Wer konnte schon in eine verwirrte Seele blicken?
Sie sah sich weiter um. Es gab einen großen Schreibtisch, den Computer, der hier gestanden haben musste, hatten die Kollegen bereits mitgenommen. Sie öffnete die Schubladen. Hier würde sie nichts Wesentliches mehr finden.
»Gibt’s hier was von Bedeutung?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.
Linda zuckte zusammen. »Nein, riecht nur alles aufdringlich nach Geld.«
»Unten auch. Ich hatte keine Ahnung, dass man mit so einem Business derart viel Kohle machen kann. Wir sollten die Branche wechseln.«
Linda nickte. »Wir müssen einen Blick in seine Bücher werfen.«
»Wenn es Selbstmord gewesen ist, besteht dazu kein Grund.«
»Selbstmord? Glaub ich nicht.«
»Warten wir ab, was die Spurenauswertung und die Autopsie ergeben«, fing Lewandowski sie wieder ein.
»Aber den Grund für diese Wahnsinnstat sollten wir schon herausfinden. Ich schau mich unten noch um.«
Während sie sich das Erdgeschoss vornahm, versuchte sie, sich ein Bild vom Hergang der Tat zu machen. Da beide Opfer von hinten erschossen worden waren, könnten sie vor ihrem Mörder geflüchtet sein, überlegte sie. Hatte es zuvor einen Streit gegeben, und die beiden hatten versucht, vor dem wahnsinnigen Ehemann und Vater davonzulaufen? Wollten sie hinaus in den Garten? Linda ging zur großen Fenstertür, öffnete einen Flügel und trat ins Freie. Frische Luft schlug ihr entgegen. Sie sah sich im Garten um und ging ins Haus zurück. Im Flur führte eine Treppe hinunter in den Keller.
Dort waren die Wände gesäumt von großen Weinschränken mit Glastüren. Linda sah eine Batterie von Champagnerflaschen. Sie ging weiter und betrat ein Spa, um das manches Hotel die Hausbesitzer beneidet hätte. Whirlpool, Sauna, dazu einen Fitnessraum, der perfekt ausgestattet war. In der Ecke hing ein Boxsack von der Decke. Auf einem Beistelltisch, der in der Ecke stand, entdeckte Linda Boxhandschuhe und Bandagen für die Hände.
Sie warf noch einen schnellen Blick in die Nebenräume, dann ging sie wieder nach oben.
Lewandowski erwartete sie bereits an der Haustür. »Starker Tobak für deinen ersten Einsatz.«
Es lag in der Natur ihres Berufs. Wer bei der Mordkommission arbeitete, wurde nicht mit Bagatellen, sondern mit Verbrechen konfrontiert. Wenigstens waren hier alle tot, es gab keine Hinterbliebenen, die mit dem Unfassbaren weiterleben mussten.
Die Rückfahrt vom Herzogpark in die Innenstadt entwickelte sich zur Geduldsprobe. Sie steckten in einer Blechkolonne fest und kamen nur im Schritttempo voran.
»Scheißverkehr.« Lewandowski platzte der Kragen. »Es wird immer schlimmer in dieser Stadt.«
Linda schwieg. Er hatte ja recht, wozu Öl ins Feuer gießen? Der Autoverkehr in München hatte sich im Lauf der Jahre zu einem Problem entwickelt. Das Straßennetz war mit dem wachsenden Ansturm nicht mitgewachsen. Was die wichtigsten Verkehrsadern betraf, die München wie ein Geflecht aus Arterien und Venen durchzogen, hatte sich in den vergangenen 50 Jahren kaum etwas verändert. Wie auch, eine Stadt bot keine Ausweichflächen, das ging nur noch unterirdisch. Und die wenigen Tunnel, die gebaut worden waren, hatten kaum Entlastung gebracht. Der tägliche Verkehrskollaps war zum Normalzustand geworden.
Genervt setzte Lewandowski das Blaulicht aufs Wagendach, und binnen Sekunden teilte sich die Blechlawine, und sie konnten ungehindert passieren. Dass diese Aktion nicht erlaubt war, scherte ihn wenig. Sie hatten es nun mal eilig.
Sie stießen als Letzte zur Einsatzbesprechung. Die Kollegen hatten bereits am Besprechungstisch Platz genommen. Nur Staatsanwalt Dr. David Nostiz stand vor der großen Pinnwand und studierte die Tatortfotos, die dort hingen und die grausigen Details dieses Verbrechens zeigten.
Besonders makaber wirkte das Foto, das Lohmann aufgehängt zeigte, extrem abstoßend das Bild des toten Mädchens in der Blutlache. Daneben hingen Aufnahmen, die den Tatort und die Waffe dokumentierten, mit der Frau und Kind erschossen worden waren. Porträts der Opfer zeigten, wie sie einst ausgesehen hatten, strahlende Gesichter von glücklichen Menschen.
Linda spürte die Blicke der anderen auf sich, als sie sich dazusetzte. Alle wussten, warum sie so lange verschwunden gewesen war, alle wollten vermutlich wissen, wie es ihr inzwischen ergangen war und wie es ihr heute ging. Sie hatte sich für alle diese Fragen bereits Antworten zurechtgelegt, aber im Moment ging es nur darum, den Blicken standzuhalten und Souveränität auszustrahlen, auch wenn ihr die Knie zitterten.
»Guten Morgen«, eröffnete Dezernatsleiter Frank Schlubach die Lagebesprechung. Er saß am Kopfende des Tischs und ließ seinen Blick über rund 20 Köpfe schweifen, blieb bei Linda hängen und lächelte ihr zu. »Schön, dass Sie wieder da sind.«
Die Kollegen klopften zustimmend mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Der abseitsstehende Staatsanwalt nickte freundlich.
Ein unerwartetes Gefühl der Wärme durchströmte Linda. Ihr wurde erneut bewusst, wie sehr sie das alles vermisst hatte. »Es tut gut, wieder hier zu sein.«
»Schön. Also, was haben wir?«, fragte Schlubach in die Runde.
»Die Tat ist irgendwann am Wochenende geschehen«, begann Jenner, der von allen Anwesenden als Erster am Tatort gewesen war. »Die Putzfrau war zuletzt am Freitagvormittag im Haus, um dort sauber zu machen. Da war alles noch in Ordnung. Heute Morgen hat sie dann die Leichen gefunden und uns alarmiert. Sieht nach einem erweiterten Suizid aus.«
»Suizid? Sollten wir nicht abwarten, was die Obduktion ergibt, bevor wir diese Schublade aufmachen?«, platzte es aus Linda heraus.
»Sicher«, meinte Schlubach, »aber wenn wir vorerst vom Offensichtlichen ausgehen, was könnte der Auslöser dafür gewesen sein?«
»Die Befragung der Nachbarn hat bislang nichts ergeben«, meldete sich Leon Stendal zu Wort. Er lächelte Linda an, und sie erwiderte sein Lächeln. »Keiner wusste etwas über Eheprobleme oder Streitigkeiten zu erzählen«, berichtete er weiter. »Wir werden überprüfen, ob es einen Seitensprung oder Trennungsabsichten gegeben hat. Aber nach außen hin waren die Lohmanns wohl eine ganz normale Familie.«
Linda zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, so ganz normal nun auch wieder nicht. Dieser Lohmann muss mit seiner Sicherheitsfirma ziemlich viel Geld verdient haben. Und das in sehr kurzer Zeit, wenn ich richtig informiert bin. War er nicht bis vor wenigen Jahren einer von uns?«
Nostiz löste sich von der Trennwand. »Lohmann war mal ein Ermittler in der Drogenfahndung.«
»Was wissen wir denn über diesen Kollegen? Und über seine Firma?«, bohrte Linda nach und ignorierte Lewandowski, der sie unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß, um sie zu bremsen.
»Lohmann war ein sehr erfolgreicher Ermittler. Wir haben ihn damals nur ungern verloren«, erwiderte Nostiz. Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass ihn Lindas Vorpreschen nervte.
Sie war die Einzige, die sich einmischte und Fragen stellte. Halt doch einmal die Klappe, schien Lewandowski ihr via Augenkontakt zu signalisieren, aber sie reagierte nicht darauf.
»Ich frage mich nämlich, wie man innerhalb von so kurzer Zeit so viel Geld verdient, um sich so eine Villa leisten zu können.« Sie sah den Staatsanwalt erwartungsvoll an.
Nostiz räusperte sich. »Dafür kann es viele Gründe geben. Was ich nicht will, sind wilde Spekulationen. Bleiben wir bei den Tatsachen. Wir warten ab, was die Spurenauswertung und die Obduktion ergeben. Denn sollte sich bestätigen, wonach es aussieht, dass Lohmann seine Frau und seine Tochter und schließlich sich selbst getötet hat, ist der Fall für uns erledigt.«
»Aber wir müs–«
Er fixierte sie mit einem Raubtierblick. »Wir warten die Ergebnisse ab. Ich verschwende keine unnötigen Ressourcen, weder finanzieller noch personeller Natur.«
Das war kein Marschbefehl, sondern eine Vollbremsung.
Lewandowski verpasste Linda einen kräftigen Fußtritt unter dem Tisch und durchbohrte sie mit Blicken. Es zeigte Wirkung. Sie schien endlich einzusehen, dass es sinnlos war, sich mit dem Staatsanwalt anzulegen, und dazu noch gleich an ihrem ersten Tag. Linda klappte den Mund wieder zu.
Schlubach erhob sich und stellte sich zu Nostiz. Neben ihm, einem kleinen Mann mit untersetzter Statur und schütterem grauen Haar, sah der Staatsanwalt wie ein Filmstar aus. Auch wenn Schlubach wie immer tadellos gekleidet war, wirkte der Staatsanwalt, als wäre er einem Modemagazin entsprungen. Linda wusste, dass Nostiz in seiner Freizeit Triathlet war. Das Training hatte seinen Körper unübersehbar gestählt. Vermutlich trainierte er schon für den Iron Man.
Linda konnte ihn nicht ausstehen. Schon bei früheren Ermittlungen waren sie immer wieder aneinandergeraten. Er hatte ihr Steine in den Weg gelegt, wann immer er nur konnte.
»Befragen Sie weiter die Nachbarn, Familie, Freunde, Kollegen, und überprüfen Sie die beruflichen und familiären Hintergründe der Lohmanns«, ordnete Nostiz an. »Aber alles im Rahmen.«
»Was soll ich den Journalisten über diesen Fall mitteilen?«, wollte Pressesprecher Ulf Sommer vom Staatsanwalt wissen, der im Begriff war, die Besprechung aufzulösen.
»Wir bleiben beim Offensichtlichen. Alles deutet auf familiäre Probleme und einen erweiterten Suizid hin. Wir erwähnen nichts von Lohmanns Vergangenheit bei der Drogenfahndung. Wir fahren diesen Fall so klein und unauffällig wie möglich.«
Sommer nickte und sah zu Linda. Sie musste unwillkürlich lächeln. Sommer war es gewesen, der sie damals mit Lukas bekannt gemacht hatte. Lukas, ein Krimiautor, hatte für eine Recherche bei Sommer um ein Interview mit einem »echten« Ermittler angefragt, und der hatte ihn dann an Linda verwiesen. So war eins zum anderen gekommen. Und nun schrieb Lukas Bestseller über ihre Fälle.
Sommer würde eine kurze, sachliche Meldung an die Redaktionen schicken, für eine Pressekonferenz gab dieser Fall im Moment nicht genug her.
»Musst du dich gleich an deinem ersten Tag mit Nostiz anlegen?«, schnauzte Lewandowski sie leise an, als der Staatsanwalt verschwunden war. »Geht’s auch eine Spur langsamer?«
»Das ist doch kein Kaffeekränzchen«, ätzte sie zurück und stand auf, um zu gehen.
Während die Kollegen sich verzogen hatten, blieb Schlubach in der Tür stehen und hielt Linda zurück. »Auf ein Wort.«
Lewandowski ließ die beiden allein. Schlubach setzte sich und wartete darauf, dass Linda seinem Beispiel folgte. Sie ließ sich etwas widerwillig schwer auf ihren Stuhl zurückfallen und wartete darauf, was der Dezernatsleiter mit ihr besprechen wollte. Sie hatte eine leise Ahnung. Es kam die erwartete Frage, die schlimmste von allen, die Frage, auf die es keine Antwort gab.
»Wie geht es Ihnen?« Schlubach ließ sich auf der Tischkante nieder. Er hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Es waren große, zupackende Hände.
Das geht dich einen Scheißdreck an. »Danke. Gut. Und ich bin einsatzfähig, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
Schlubachs Blick ruhte auf ihr. »Was Sie durchgemacht haben, war traumatisch. Ich hätte es lieber gesehen, wenn Sie von der Möglichkeit einer Therapie Gebrauch gemacht hätten, bevor Sie hier wieder einsteigen. Dass die Presse Sie zur Heldin stilisiert hat, war auch nicht hilfreich.«
Linda biss sich auf die Lippe. Was konnte sie dafür, was die Journalisten über sie schrieben? Aber allein der Gedanke an eine Therapie ließ ihre Wut auflodern. Was sollte die denn bringen? Sie hatte getan, was nötig war. Sie allein wusste, wann sie wieder einsatzfähig war. Warum konnten sie ihr seelisches Wohlbefinden nicht ihr selbst überlassen?
Schlubach wartete vergebens auf eine Reaktion von ihr.
»Ich kann Sie auch bei einem anderen Fall einsetzen, wenn diese Ermittlung zu bela–«, fuhr er schließlich fort.
»Nicht nötig«, fiel sie ihm ins Wort. »Am liebsten wäre es mir, Sie würden mich genauso behandeln wie all die anderen Kollegen. Ich möchte keine Sonderbehandlung.«
Er sah sie lange an. »In Ordnung. Aber wenn Ihnen nach Reden zumute ist, meine Tür steht Ihnen immer offen.«
»Vielen Dank.« Linda zwang sich zu einem Lächeln. »Eine Frage hätte ich allerdings noch.«
»Ja?«
»Sie kannten Lohmann?«
Nicken.
»Was war er für ein Ermittler?«
»Sie sind schon wieder ganz die Alte«, seufzte Schlubach. »Sie haben doch gehört, was der Staatsanwalt gesagt hat. Warum wollen Sie das wissen?«
Sie sah ihn nur an.
Schlubach gab nach. »Es hat Gerede über Lohmann gegeben, bevor er als Drogenfahnder aufhörte.«
Linda hob die Augenbrauen.
»Seine Methoden sollen nicht immer ganz sauber gewesen sein. Es gab auch ein paar Anzeigen, die aber zu nichts führten. Aber wie gesagt, das war alles nur Gerede. Belassen wir es dabei. Und gehen Sie es ruhig an. Sie müssen hier niemandem etwas beweisen.« Mit diesem Rat ließ er sie sitzen.