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Claudia, nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt gerade nach Heidelberg zurückgekehrt, hat den Kontakt zu ihrer besten Jugendfreundin Regina wieder aufgenommen. Kurze Zeit später ist Regina tot - sie wird mit schweren Kopfverletzungen in ihrer eigenen Tiefkühltruhe aufgefunden. Reginas Mann gerät unter Mordverdacht und Claudia fühlt sich verpflichtet, Reginas Familie, die ihr in der Kindheit die eigene Familie ersetzt hat, zu unterstützen. Reginas kleine Tochter Tanja schließt sich in ihrer Trauer eng an Claudia an und Claudia nimmt ihre bittersüße Liebesgeschichte mit ihrem Schweizer Freund Max wieder auf. Als die Polizei nicht weiterkommt, beginnt Claudia eigene Nachforschungen. Intensiv setzt sie sich mit den Briefen ihrer Jugendfreundin auseinander und macht schlussendlich eine schreckliche Entdeckung. Marlies Kemptners Kriminalerzählung ist ein belletristisches Stück der leisen Töne. Das Drama entwickelt sich unterschwellig, um dann wie ein tosender Bergbach alle Strukturen und Fassaden mit sich fortzureißen. Ein spannender Roman mit Tiefgang, der Heidelberg und seine schöne Umgebung in die Handlung miteinbezieht.
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Seitenzahl: 315
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Marlies Kemptner
Eisesruh
Kriminalerzählung
Satz & Gestaltung: Verena Kessel
ISBN E-Book EPUB
978-3-86476-631-2
ISBN E-Book PDF
978-3-86476-632-9
Verlag Waldkirch KGSchützenstraße 1868259 MannheimTelefon 0621-79 70 65Fax 0621-79 50 25E-Mail: [email protected]
© Verlag Waldkirch Mannheim, 2015Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.
Marlies Kemptner
Kriminalerzählung
Warum tun Menschen einander Schreckliches an?
Niemand kann mir sagen, wie ich mit Verlust und Zorn umgehen soll.
Die, die fragen: „Bist du noch immer nicht darüber hinweg?“, haben keine Ahnung.
Was bleibt, ist ein stechender Schmerz.
Auch heute, Jahre nach den Ereignissen, überfällt mich, aus dem Nichts heraus, dieses Bild.
Zwei in steriles Weiß gekleidete Männer tragen eine Gefriertruhe in einen mit grauen Fliesen gekachelten Raum. Kaltes Neonlicht spiegelt sich auf einem Seziertisch aus blankem Edelstahl.
Einer der Männer öffnet den Deckel der Truhe. Er sieht auf eine Tote. Eine junge Frau, die etwas verkrümmt, mit starren, offenen Augen auf einem Rest Gefriergut liegt. Sie trägt eine hellblaue Sportbluse, Jeans, flache braune Schuhe und Ohrringe aus Perlmutt.
In ihren Haaren wachsen Eiskristalle. Der Körper ist starr, leicht angefroren. Einer der Männer schaut auf ein Formular.
Name: Regina Kattwig
Alter: 30 Jahre
Familienstand: verheiratet
Mutter einer sechsjährigen Tochter
Beruf: Arzthelferin
Vermutete Todesursache: Einwirkung von äußerer Gewalt im
Schläfenbereich
Datum: 15.10.2005
Einlieferungszeit: 22:45 Uhr
Gestern waren wir an Reginas Grab. Ich und das Kind. Tanja ließ auf dem Weg zum Friedhof meine Hand nicht los. Sie stolperte in ihren neuen Winterstiefeln neben mir her, den Mund fest zusammen gepresst, als wollte sie verhindern, dass Worte herauskamen.
Unsere Schritte knirschten im Kies. Unser Atem malte kleine Wölkchen in die Novemberluft. Ein frischer Wind wiegte die Birken an der Friedhofsmauer. Letzte Blätter trennten sich von den Ästen, tänzelten zu Boden und legten ein gelb-braunes Mosaik auf die Gräber. Auf Reginas Grab hatte jemand zwischen Efeu und verblühten Astern eine frische Erikapflanze gesetzt.
Tanja stellte sich vor mich und drückte sich gegen meinen Mantel. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern.
Auf dem hellen Marmorgrabstein vor uns stand in goldenen Buchstaben Reginas Name:
Regina Kattwig 21.4.1975 – 15.10.2005.
Darunter war der Spruch eingemeißelt.
Wir haben hier keine bleibende Stätte,
sondern wir suchen die Zukünftige.
Nachdem eine ganze Weile vergangen war und sich unser leises Schluchzen ein wenig beruhigt hatte, kniete sich das Kind hin und bohrte mit dem Daumen ein kleines Loch in die Erde. Sie sah zu mir auf. Die dunklen Augen schwammen in Traurigkeit. „Ich habe der Mama eine Murmel mitgebracht.“ Sie zog die kleine, blaue Kugel aus der Tasche ihres Anoraks. Ich beugte mich zu ihr, legte den Arm um sie und drückte einen Kuss auf ihre nassen Wangen.
„Claudi?“ „Ja, Tanja?“ „Wie ist es im Himmel? Es ist doch warm dort?“ Ich presste meinen Schal fest an meine Lippen. „Klar Kleines, da ist es warm.“ „Ich will nicht, dass sie friert“, flüsterte Tanja.
Eine Amsel flog von einem Tannenzweig und setzte sich neben die kleine Schale mit Herbstastern, die ich abgestellt hatte. Tanja drehte sich zu mir und legte einen Finger auf den Mund. Die kleinen Knopfaugen der Amsel sahen uns unverwandt an. Der Wind bewegte heftig die Zweige der Tanne. Es fing zu nieseln an. Die Amsel schlug mit den Flügeln, als wolle sie sich verabschieden. Dann flog sie weg.
„Komm, Tanja, wir gehen.“ Die Kleine zögerte, scharrte Streifen mit ihren Stiefeln in den Kies, dann sagte sie leise: „Tschüss Mama.“
Eilig schritten wir die Wege ab. Es war, als ob sich die Toten hinter uns zu einem Chor erhoben, zu einer einzigen Anklage, was das Leben ihnen schuldig geblieben war. Bei der letzten Grabstelle hielten wir kurz inne. Auf schwarzem Stein war ein Text eingraviert:
Sterben ist leicht,
glaub’ mir, es gleicht
glückhaftem Traum.
Weit wird der Raum,
du schenkst dich im
uferlos strömenden Glück
dem Urmeer zurück.
Wir verließen den Friedhof und schlossen das Eisentor, das mit einem hässlichen, schnarrenden Geräusch zufiel.
In der Nacht, als Tanja neben mir im Bett lag und ich den warmen Mädchenkörper spürte, ließ ich zu, dass mich die Bilder von damals wieder überwältigten.
Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.
Es stimmt nicht, dass man vergessen lernen kann.
Ich dachte an Regina in ihrem Grab. An ihren weichen Körper, der nun immer weiter der Erde entgegensank.
Tanjas Bein lag auf meinem Körper, als wolle sie mich im Schlaf noch festhalten.
Der Regen wurde stärker. Er trommelte gegen das Schlafzimmerfenster. Ich hörte die Glockenschläge von Heiliggeist. Zwei Uhr, vier Uhr, fünf Uhr. Immer kurz danach folgten die gleichen Schläge der Jesuitenkirche.
Ich lag bewegungslos da und horchte. Nicht einmal die Nacht tröstete mit Vergessen. Selbst wenn man schlief, schlich sich das Vergangene permanent in die Träume.
Wenn ich die Augen schloss, lief immer dieser Film ab. All die schrecklichen Bilder, die ein Schaudern produzierten, gegen das ich mich nicht wehren konnte.
Tanjas warmer, atmender Körper brachte mich in die Gegenwart zurück. Ich strich über ihre Wange. Wie ähnlich sie Regina sah. Die gleichen glatten, braunen Haare. Das Grübchen im Kinn. Die kleinen Ohrläppchen. Über der rechten Augenbraue hatte sie eine kleine Narbe und sie trug Ohrringe. Kleine Herzen aus Koralle. Über dem Stuhl lagen ihre Kleider. Eine lila Latzhose, ein weißer Pullover mit einem aufgestickten Hasen. Sachen, die Regina für sie ausgesucht hatte.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Vorsichtig löste ich mich von dem Kind.
Mir war kalt. In letzter Zeit war mir immer kalt. Es war, als wäre mit Reginas Tod auch alle Wärme aus meinem Körper geflossen. Ich rieb meine Arme über den Schlafanzugärmeln, dann ging ich in die Küche und stellte Wasser für Tee und eine Wärmflasche auf. Yvonne hatte mir indischen Tee geschenkt. Ich löste einen Beutel aus der Verpackung und nahm meine Lieblingstasse aus dem Glasschrank.
Die Gedanken hämmerten in meinem Kopf. Ein Satz, den ich irgendwo gelesen hatte, kam mir in den Sinn:
„Es gibt eine Verantwortung, aus der ich nicht entlassen werden kann. Es ist die Verantwortung für die Spur, die durch mich im anderen gelegt wird.“
Ich nahm das kleine Rähmchen mit Reginas Bild in die Hand. Ich stellte es auf das Tischchen neben dem Fenster. Mit Tee und Wärmflasche setzte ich mich in meinen Lieblingssessel. Die Stille war mächtig. Sie zauberte eine Stimme in mein Ohr, die erst flüsternd und dann immer lauter wurde. Ich wandte mich ab, ging ans Fenster und sah in den schwarzen Himmel. Die Stimme drängte.
Ich wandte mich dem Regal zu, wo die CD lag, die ich in letzter Zeit immer wieder hörte. Die Lieder von Alexandra. Der warme, samtige Gesang brachte eine Schwingung in das Zimmer, die mir gut tat. Viele Male hatten Regina und ich die wunderbar gesungenen Texte gehört: „Mein Freund, der Baum“, „Zigeunerjunge“, „Sehnsucht“.
Ich lehnte in meinem Sessel. Im Ablagefach unter meinem Tischchen lag der Schreibblock und ein Mäppchen mit Stiften.
Die Stimme in meinem Kopf forderte. Und diesmal beugte ich mich dem Drängen, dem Versprechen, das ich meiner toten Freundin in einer kleinen Kirche auf einer einsamen Insel gegeben hatte.
Ich nahm einen Stift und den Block, und fing zu schreiben an.
Meine Gedanken trugen mich zurück … zurück … zurück.
Wir waren kleine Mädchen und unzertrennliche Freundinnen, seit Regina sich in der ersten Schulklasse neben mich gesetzt hatte. Sie war klein, sehr zierlich und ziemlich schüchtern. Ihre glatten braunen Haare waren stets ordentlich unter einem Haarreif aufgehoben.
Ich war das, was man ein Pummelchen nennt, mit kräftigen Oberarmen und rotbraunen Haarwuscheln, die zu keiner rechten Frisur taugten.
Man sah uns ständig zusammen. Jeden Morgen trafen wir uns für den Schulweg. Ich klingelte bei Regina. Ihre Mutter brachte sie an die Haustür. Dann schob sie uns beide an das kleine Weihwasserkesselchen unter einer Marienfigur direkt am Eingang, tauchte ihre Hand in das winzige Becken und zeichnete uns das Kreuz auf die Stirn. Jede bekam einen Apfel für die Schulpause zugesteckt. Wir machten uns auf den Weg und Frau Beringer blieb vor der Haustür stehen, bis wir uns an der Straßenecke umdrehten und winkten.
In meiner Erinnerung aus dieser Zeit sehe ich Reginas Mutter immer in einer ihrer bunten Kittelschürzen mit aufgekrempelten Blusenärmeln, die breiten Arme vor der Brust verschränkt, die Haare an der Seite mit großen Kämmen zurückgesteckt, auf der Haustreppe stehen.
Als wir in die zweite Klasse wechselten, kam mein Vater eines Tages nicht mehr nach Hause. Meine Mutter verließ kaum mehr die Wohnung. Sie stapelte im Badezimmerschränkchen kleine weiße Schachteln mit hellblauen Pillen, die ihre einzige Mahlzeit am Tag waren und die dafür sorgten, dass sie mir hin und wieder ein Lächeln schenkte. Wenn sie von meinem Vater sprach, kamen schlimme Worte aus ihrem Mund. Worte, die meinem Vater galten und einer anderen Frau, dieser „Schnalle“, die ihn uns weggenommen hatte.
Mein eigentliches Zuhause in dieser Zeit war Reginas Familie. Fast täglich ging ich nach der Schule mit zu meiner Freundin. Ich machte mit ihr die Hausaufgaben. Ich blieb über den Nachmittag hinaus und hoffte, dass Frau Beringer mich fragte, ob ich nicht auch zum Abendessen bleiben wollte.
Im Beringerhaus war es heimelig. Hier tanzten die blauen Gasflämmchen am Herd, in den Töpfen schmorte und dampfte es und wunderbare Gerüche, die Appetit machten, entstanden.
Reginas Mutter kochte wunderbare Sachen. Gerichte, die bei uns daheim nie auf dem Speiseplan standen. Da gab es Ofenschlupfer, Pfitzauf und Vanilläpfel. Auch Spätzle mit Linsen mochte ich sehr gern. An Festtagen gab es Hasenbraten, von dem ich aus Loyalität zu Regina, die sich weigerte Fleisch zu essen, auch nichts anrührte.
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