Eisige Nacht - Niklas Sonnenschein - E-Book
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Eisige Nacht E-Book

Niklas Sonnenschein

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Beschreibung

Im eisigen Norwegen lauert tödliche Kälte – und ein Mörder in der Dunkelheit
Der packende Kriminalroman vor der düsteren Kulisse Skandinaviens

Im hohen Norden Norwegens verschwinden Forscher von einer arktischen Wetterstation – ohne jede Spur. Kommissar Karl Sortland und sein neuer Partner Mats Samuelsson werden nach Bjørnøya entsandt, um das Mysterium zu lüften. Vor Ort erwarten sie eine verwüstete Forschungsstation, eine Leiche und eine schwer verletzte Stationsleiterin. Schnell werden die Ermittlungen zu einem Überlebenskampf gegen die eisige Wildnis und gegen die eigene dunkle Vergangenheit. In einer verzweifelten Jagd nach der Wahrheit enthüllen die Kommissare ein Netz aus Geheimnissen und Intrigen, das sie bis an ihre Grenzen bringt …

Erste Leser:innenstimmen
„Fesselnder Skandinavien-Krimi. Ein Page-Turner bis zum Schluss!“
„Ein rätselhafter Mordfall auf der eisigen Bäreninsel. Absolutes Muss für alle Krimi-Fans.“
„Intrigen, dunkle Geheimnisse und spannende Wendungen. Ein Thriller, der mich so in den Bann gezogen hat, dass es mir schwerfiel in die Realität des herbstlichen Deutschlands zurückzukehren.“

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Seitenzahl: 315

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Über dieses E-Book

Im hohen Norden Norwegens verschwinden Forscher von einer arktischen Wetterstation – ohne jede Spur. Kommissar Karl Sortland und sein neuer Partner Mats Samuelsson werden nach Bjørnøya entsandt, um das Mysterium zu lüften. Vor Ort erwarten sie eine verwüstete Forschungsstation, eine Leiche und eine schwer verletzte Stationsleiterin. Schnell werden die Ermittlungen zu einem Überlebenskampf gegen die eisige Wildnis und gegen die eigene dunkle Vergangenheit. In einer verzweifelten Jagd nach der Wahrheit enthüllen die Kommissare ein Netz aus Geheimnissen und Intrigen, das sie bis an ihre Grenzen bringt …

Impressum

Erstausgabe November 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-594-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-817-8 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-045-7

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © criskorah, © Janis Smits, © imageBROKER.com, © rybarmarekk, © Janice Chen stock.adobe.com: © by studio elements.envato.com: © PixelSquid360 Lektorat: Mona Dertinger

E-Book-Version 05.08.2024, 12:18:22.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Eisige Nacht

Kapitel 1

An jenem Morgen jagte ein eisiger Nordwind über die Barentssee.

In diesem Teil der Erde gab es fast nur Wasser und Himmel und dazwischen lag eine karge, schneebedeckte Insel. Eine Seemöwe segelte unter den tiefhängenden Wolken. Nervös folgte sie der Küstenlinie. Die Gezeiten pressten die ersten Eisschollen an das felsige Ufer und das Tier wusste instinktiv, dass der Winter unaufhaltsam auf dem Vormarsch war.

Eine scheinbar immerwährende Finsternis würde diesen Ort in Kürze vollends verschlucken, um ihn dann im Frühjahr, zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen, wieder auszuspucken. Doch das war es nicht, was den Vogel beunruhigte; die Möwe verfolgte zwei winzige Gestalten oben auf der Steilküste, die hier fast hundert Meter hoch aus dem aufgepeitschten Meer ragte. Sie sorgte sich um ihre Jungen, die in einer Felsnische auf sie warteten.

Die Punkte standen beinahe still. Sie kamen nur langsam gegen den Wind an. Zwei Männer auf Skiern, am oberen Rand der Klippe; dort, wo der steile Fels in eine flache Ebene überging.

Der hintere der beiden überragte den Vorläufer um beinahe eine Kopflänge. Er trug einen schwarzen Schneeanzug und ein paar Strähnen dünnes, blondes Haar lugten unter der Mütze hervor. Auf dem breiten Rücken trug er ein Gewehr.

Einem intelligenteren Betrachter als einer Seemöwe wäre aufgefallen, dass insbesondere der kleinere Mann mit der Witterung zu kämpfen hatte.

Zwischen den beiden lagen über zwanzig Meter. Als der Nachzügler stehen blieb und ein abgegriffenes Blatt Papier aus seiner Tasche zog, zitterte seine Oberlippe kaum merklich. Er hatte den Brief schon mehrmals gelesen. Auch jetzt stieg wieder eine tiefe Niedergeschlagenheit in ihm auf. Er blickte dem anderen nach, der sich vor ihm durch den Schnee mühte. Seine Bewegungen waren unregelmäßig. Immer wieder wirkte es, als ob er ausrutschen und dabei das Gewehr verlieren könnte, das auf seiner Schulter schaukelte.

Der Größere schnaubte, sah erneut auf die Notiz in seiner behandschuhten Hand. Dann wischte er sich über das orangefarbene Plastik seiner Skibrille und steckte den Brief in die Jackentasche.

Die Traurigkeit flaute ab und Zorn ersetzte sie.

Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen, so laut, dass es sogar das Heulen des Windes übertönte. Plötzlich blieb der Vorläufer ebenfalls stehen und drehte sich zu ihm um.

Mit zusammengekniffenen Augen sah der Hintere auf die Figur vor sich. Immer wieder verschwand der Winzling hinter einem weißen Vorhang aus Schnee, den der Wind fast waagrecht über die Klippen blies.

Was ist er doch für ein armseliger Kerl.

Doch dann stellte der Nachzügler erstaunt fest, dass die Hand des anderen auf dem Kolben seiner Waffe zu ruhen schien.

Das Jaulen des Windes drang nun kaum noch zu ihm durch. Auch spürte er die schneidenden Eispartikel nicht mehr, die auf die unbedeckte Haut um seinen Mund schlugen. Seine Augen waren nur noch zwei dünne Schlitze hinter gefärbtem Plastik.

Langsam ließ er den Riemen seines Gewehrs nach unten gleiten, legte die Stütze vorsichtig an seine Schulter.

Über ihm, und für den Mann durch das Wetter nicht auszumachen, hatte der Vogel bereits abgedreht.

***

Nicht viel später, auf dem norwegischen Festland, saß eine Frau mittleren Alters vor einem Funkgerät.

Eine grüne Lampe blinkte auf.

Plötzlich war ein abgerissenes Rauschen aus dem Lautsprecher zu hören. Dann ein Knacken.

Schließlich eine gedämpfte Frauenstimme: „Mayday. Mayday.“

Erneut ertönte ein Knirschen, dann wieder atmosphärisches Rauschen aus dem Funkgerät.

Anita Hansen, die wachhabende Funkerin des Küstenradios Nord-Norwegen, drehte sich um und nahm ihren Kopfhörer auf. Die Station war für die Überwachung des maritimen Funkverkehrs und die Koordinierung von Rettungseinsätzen auf Schiffen und Bohrinseln in der Region verantwortlich. Trotz des rauen Wetters war es an diesem Abend ihr erster Notruf. Sie drückte auf einen viereckigen roten Knopf und sprach langsam und deutlich in das Mikrofon: „Hier spricht das Küstenradio Nord-Norwegen, Station Tromsø. Wir empfangen Sie. Was ist Ihre Position und wer meldet den Notfall? Over.“

Routiniert öffnete sie eine detaillierte Karte der Seegebiete, für die die Station zuständig war – die nördliche Norwegische See, bestehend aus dem Nordatlantik und der Barentssee. Gebiete, die immerwährend den zügellosen Naturgewalten ausgesetzt waren.

Sie wartete auf eine Antwort.

Auf dem Bildschirm war auch das Wetter eingeblendet. Eine Sturmfront hatte die gesamte Nordwestküste Norwegens, von Ålesund bis zum Nordkap, fest im Griff. Die Windgeschwindigkeiten wurden mit Windstärke 11 angezeigt. Anita wusste, dass sie es mit einem orkanartigen Sturm zu tun hatten. Mittlerweile wurde das gesamte Seegebiet in ihrem Zuständigkeitsbereich wegen der Wetterlage als Risikogebiet eingestuft. Folglich waren die Rettungskräfte in generelle Alarmbereitschaft versetzt und die Öffentlichkeit gewarnt worden. Anita hoffte inständig, dass der Notruf nicht aus diesem unheilvollen Wettergebiet kam.

Sie biss sich auf die Lippe, prüfte mit einem Blick den Empfang der Funkanlage. Mit dem System war alles in Ordnung, doch aus dem Lautsprecher kam weiterhin nur ein Rauschen. Sie klopfte mit dem Zeigefinger dagegen. Nichts. Anita atmete tief ein, wippte den Kugelschreiber zwischen Zeige- und Ringfinger, sah schließlich auf die Uhr an der Wand und trug in den Notfallrapport auf dem Tisch vor sich Uhrzeit und Datum ein: 22:12 Uhr, 11. Oktober 2010.

Erneut betätigte sie den Mikrofonknopf und wiederholte ihre Nachricht, doch auch dieses Mal blieb eine Reaktion aus.

Anita nahm das Telefon auf. Sie musste die Station in Bodø anrufen, um zu prüfen, ob die Kollegen den Notruf ebenfalls erhalten hatten. Möglich, dass sie dort, mehrere hundert Kilometer weiter im Süden, besseren Empfang hatten. Es klingelte, aber noch bevor ein Operator abnehmen konnte, ertönte plötzlich erneut die Frauenstimme aus dem Lautsprecher des Funkgerätes: „Hier spricht die Wetterstation Herwighamna auf Bjørnøya. Wir brauchen Hilfe!“

Anita neigte verwundert den Kopf und setzte sich den Kopfhörer wieder auf. Sie hatte erwartet, dass der Notruf von einem Schiff oder einer Bohrinsel stammte. „Hier Küstenradio. Herwighamna, wir können Sie hören. Bitte beschreiben Sie die Art des Notfalls. Over.“

Erneutes Knacken und Rauschen.

Anita griff nach dem Notizzettel und schrieb Bjørnøya, Wetterstation in den Kasten, der für die Position des Notrufes vorgesehen war.

Der Lautsprecher erwachte wieder zum Leben.

„Ich werde angegriffen. Verdammt, ich werde sterben, wenn Sie nicht schnell Hilfe schicken …“, erklang die Stimme.

Anitas Augen weiteten sich hinter ihrer Brille. Ihre Finger, die den Kugelschreiber hielten, zitterten plötzlich. „Wetterstation Herwighamna, bitte wiederholen Sie. Wer greift Sie an? Over.“ Sie hatte schon viele schreckliche Situationen auf See erlebt, aber noch niemals solch einen Funkspruch. Die Angst in der Stimme der Frau war nicht zu überhören.

Bjørnøya – Anita Hansen wusste nicht viel über die felsige Insel im Nordmeer. Nur dass es dort mehr wilde Tiere als Menschen gab. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Eisbären, der an der Scheibe der Wetterstation kratzte.

Das Rauschen stoppte und wurde abermals durch die erregte Frauenstimme abgelöst: „Schicken Sie Hilfe … Verdammt!“

Etwas wie ein Aufschrei war zu hören. Dann brach die Übertragung endgültig ab.

Kapitel 2

Am Abend hatte der Sturm über Sør-Varanger, der Gemeinde am nördlichsten Zipfel Norwegens, sich vorübergehend gelegt.

Auch hier trug er Schnee mit sich, der auf die dunkle, eisige Wildnis der Finnmark herabfiel. Immer wieder hob der Luftstrom die zusammengefrorenen Eiskristalle auf, nur um sie einen Moment später abermals loszulassen.

Ein Windstoß änderte die Bahn einer Schneeflocke, die von der Barentssee über das Land geweht worden war, und ließ sie auf die winzigen Lichter einer Stadt zufliegen – die nächtlichen Schimmer von Kirkenes.

Zu guter Letzt schwebte die Flocke in ein Wohnviertel und näherte sich gemächlich dem trüben Lichtkegel einer Straßenlaterne.

Die Laterne beleuchtete die Einfahrt und die Veranda eines gelben Holzhauses. In der Auffahrt stand ein älteres Modell, ein grüner Audi 80.

Die Flocke landete sanft auf der Windschutzscheibe des Autos, auf der sich bereits eine Schicht feinkörnigen Schnees abgelagert hatte.

Von draußen war es kaum zu erkennen, doch hinter dem Steuer saß eine Person. Der Mann musste eine ganze Weile dort verbracht haben, denn die Fußabdrücke im Schnee, die von der Veranda des Wohnhauses zu dem Fahrzeug führten, waren vom Wind längst verwischt worden.

Der Mann auf dem Fahrersitz trug einen selbstgestrickten, abgetragenen Wollpullover mit dem typischen Norweger-Muster. Aus seinem Mund entwich mit jedem Atemstoß eine Dampfwolke, die an der Windschutzscheibe kondensierte und zu einer dünnen Eisschicht gefror. Es war still im Auto; nur gelegentlich stieß der Insasse einen leisen Seufzer aus. Er zitterte. Doch anstatt ins Haus zu gehen, um sich aufzuwärmen, nahm er einen tiefen Schluck aus einer Flasche.

Der Alkohol schien die gewünschte Wirkung zu erzielen und der Mann entspannte sich etwas. Er ließ seinen Kopf gegen die Nackenstütze fallen und fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen, schmeckte den scharfen Wodka darauf. Dann wischte er sich mit dem Ärmel über das bärtige Kinn. Er erinnerte sich nicht, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte; früher hatte er das täglich getan. Kari hatte es gefallen, sie hatte sich an den Stoppeln gestört. Wobei „früher“ auch nicht länger als ein knappes Jahr her war. Es fühlte sich trotzdem an wie ein ganz anderes Leben. Jetzt waren die Stoppeln egal, es war niemand mehr da, der sich daran störte.

Langsam kroch ein Gefühl von Wärme durch seinen Körper und er schloss die umschatteten Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er auf die Armaturen vor sich. Er schürzte die Lippen und strich hingebungsvoll mit der Hand über das abgegriffene Leder des Lenkrades. Dann blickte er auf und berührte den Wimpel von Rosenborg Trondheim, des Fußballvereins, der am Rückspiegel hing. Er dachte an das letzte Fußballspiel, das sie zusammen gesehen hatten, er und sein Vater.

Ein Stöhnen entkam seiner Kehle. Er konnte sich gut an den Tag erinnern, als sein Vater Anfang der 1990er Jahre mit dem Audi nach Hause gekommen war. Olav war so stolz gewesen. Er hatte ihn hier in der Einfahrt abgestellt, weil er sich nicht getraut hatte, ihn in der engen Garage zu parken. Aus Angst, ihn zu beschädigen. Das Auto hatte seinem Vater viel bedeutet. Nun war es das Einzige, was von ihm geblieben war.

Seine Augen verengten sich.

Warum bist du nicht früher zum Arzt gegangen, du eitler Kerl?

Er vergrub sein Gesicht in den rauen Händen und seufzte erneut.

Es verging eine ganze Weile, bis er die Haltung aufgab und das Radio einschaltete. Die Stille in dem Fahrzeug wurde urplötzlich von Countrymusik zerrissen. Er hörte einen Augenblick mit hängenden Mundwinkeln zu, drückte dann erneut auf den Knopf und nahm die Kassette aus der Anlage. Auf dem Label stand mit einem roten Filzstift Big Hand Johansen geschrieben. Eine Träne bildete sich in seinem Augenwinkel, rollte langsam über die bärtige Wange, die von braunen Locken eingerahmt wurde.

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche.

Eine Bewegung riss den Mann aus seinen Gedanken; er starrte aus dem Fenster, war sich sicher, dass er einen Schatten gesehen hatte, der sich durch die Schneewehen vor dem Haus kämpfte. Seine Miene hellte sich etwas auf. Begleitet von einem leisen Knirschen kurbelte er die Fensterscheibe runter, versuchte, seine müden Augen zu fokussieren.

Die Pupillen in den grünen Iriden hatten sich geweitet, sich den Lichtverhältnissen angepasst. Doch der Schnee vor der Veranda lag nun wieder still und reglos da.

Dann bewegte sich doch etwas und ein schwarzes, pelziges Etwas watete geduldig über die Schneedecke auf das Haus zu.

„Nossan“, sagte er und ein fragiles Lächeln breitete sich von den Mundwinkeln bis hin zu den verweinten Augen aus.

Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und öffnete die Fahrertür.

Die halbleere Flasche in der einen Hand versuchte er mit der anderen, das Auto zu verschließen. Es war gar nicht so einfach, den Metallstift in das schmale Türschloss zu bekommen; immer wieder traf die Schlüsselspitze den grünen Lack rechts und links des Schlosses.

Der Mann stieß ein irritiertes Grummeln aus, gab dann auf und drehte sich um. Kein Krimineller mit einem Funken Verstand würde sein Auto stehlen. Jeder in Kirkenes wusste, wer und vor allem was er war.

Niemand würde Kommissar Karl Sortland beklauen.

Er lachte voller Bitterkeit und wankte die Auffahrt Richtung Veranda hinauf. Der Boden war glatt unter dem Schnee und er verfluchte sich dafür, dass er nicht gestreut hatte.

Auf halbem Weg zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Der Kommissar reagierte zu langsam, versuchte, den Sturz mit den Händen abzufedern. Ein klirrendes Geräusch, dann ein stechender Schmerz. Sein benebeltes Gehirn hatte Schwierigkeiten, die in kurzer Reihenfolge auftretenden Sinneseindrücke richtig einzuordnen. Verständnislos sah er sich um und bemerkte, dass sich in die Lache aus Wodka eine zähe, rote Flüssigkeit gemischt hatte.

Der Kommissar fluchte laut auf. Er war in die Scherben seiner Wodkaflasche gefallen, hatte seinen letzten Alkohol vergossen.

Einen Moment lang blieb er auf dem Rücken liegen und sah hinauf in das verschwommene Schneegestöber. Was hätte sein Vater wohl gesagt, hätte er ihn so zu Gesicht bekommen. Was Kari gesagt hätte, wusste er nur zu gut.

Er rieb sich mit der Hand über die Augen.

Was ist bloß aus mir geworden?

Einige Augenblicke lang verharrte er in dieser Position. Dann hörte Karl erneut ein Geräusch von der Veranda, das ihn aus den finsteren Gedanken riss. Eindeutig Miauen. Er raffte sich auf und begutachtete die Schnittwunde an seiner rechten Hand. Der Schnee und die Kälte schienen die Blutung gestoppt zu haben. Der Kommissar ließ die Scherben liegen und stapfte zielstrebig auf das Haus zu. Der Sturz hatte seine Gedanken seltsam aufklaren lassen.

Auf der Veranda schoss ihm die Katze durch die Beine und beinahe wäre er erneut gestürzt. Er wankte, kniete sich schließlich vor das Tier und kraulte ihm das dicke Fell. Nossan schien es zu gefallen, denn er gab ein zufriedenes Schnurren von sich.

„Na, dann komm mal mit rein, du Rumtreiber“, brummte Karl und öffnete ihnen beiden die Tür.

Als sie sich hinter dem breiten Rücken des Polizisten wieder schloss, wurde es aufs Neue totenstill unter der Straßenbeleuchtung im Doktor-Palmstrøms-Vei.

Lautlos fiel mehr und mehr Schnee auf die Veranda und den Audi. Die kalten Flocken füllten alsbald die frischen Fußabdrücke, mischten sich mit dem Blut und ließen schließlich nur eine gleichmäßige, weiße Decke zurück.

Kapitel 3

„Was hast du mit deiner Hand gemacht?“ Der Tonfall der Frau mit den tiefschwarzen Locken suggerierte, dass sie die Antwort bereits kannte. Sie stellte eine Tasse dampfenden Kaffee vor ihm auf den Schreibtisch und musterte Karl, ihre linke Augenbraue hochgezogen, die Arme vor der Brust verschränkt.

Der Kommissar blickte seine Vorgesetzte Aino Petersen zögerlich und aus zusammengekniffenen Augen an. Er senkte den Blick, sah auf den verschmutzten Verband, der dilettantisch um seine rechte Hand gewickelt war. Zu guter Letzt zuckte er teilnahmslos mit den Schultern.

„Wenn du es unbedingt wissen musst: Ich habe mich an einer Konservendose geschnitten“, sagte er.

Aino betrachtete ihn noch einen Augenblick wortlos durch die ovalen Gläser ihrer Panto-Brille, mit einem Blick, der eher Besorgnis als Ärger ausdrückte. „Willst du damit nicht lieber zum Arzt gehen? Nicht, dass sich die Wunde entzündet.“

Er machte eine wegwerfende Geste, versuchte dabei unbeholfen, die verletzte Hand hinter seinem Rücken zu verbergen. „Vergiss die Verletzung.“

Der Kommissar setzte sich auf seinen Bürostuhl und sah auf den Schirm, drehte der Abteilungsleiterin dabei demonstrativ den Rücken zu, als wollte er ihr nahelegen, dass das Gespräch zu Ende sei. Insgeheim wusste er, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war.

„Ich brauche keinen neuen Partner“, fügte er etwas leiser hinzu.

Aino Petersen hatte die Leitung der Ermittlungseinheit der Polizei in Kirkenes erst vor etwas über einem Jahr übernommen. Die stämmige Frau mit finnischen Wurzeln war aus Bergen in den hohen Norden versetzt worden und nur wenig älter als Karl. Sie hatte von Anfang an bewiesen, dass sie sich von ihren männlichen Kollegen nicht würde einschüchtern lassen. Wenn die Situation es verlangte, konnte sie aber durchaus auch Einfühlungsvermögen zeigen.

Sie lehnte sich an den Fensterrahmen neben Karl und legte ihre Hand auf seine Schulter. In dieser Position verharrte sie ein paar Augenblicke und atmete langsam ein und aus. „Ich weiß, dass du Trygve gern mochtest. Ihr habt auch gut zusammengearbeitet. Aber er ist nun mal in Pension gegangen, und es ist besser für dich, wenn du nicht allein unterwegs bist.“

Karl verzog den Mund und dachte an den älteren Mann, der in den ersten Jahren bei der Polizei wie ein Mentor für ihn gewesen war. Er hatte nach Trygves Pensionierung im Frühjahr ein paar Monate allein gearbeitet und eigentlich hatte ihm das ganz gut gefallen. Er hatte seinen Arbeitsalltag selbst bestimmen können. Ganz ohne jemanden, der ihm vorwurfsvolle Blicke zuwarf, wenn er spät erschien oder zu früh aus dem Büro verschwand.

Mit einem Seufzen strich sich er sich mit der linken Hand über die geschlossenen Augenlider. Er hatte einen furchtbaren Kater.

„In Ordnung“, sagte er. „Wie wäre es mit Sven? Er könnte mein Partner werden.“

Aino lächelte und klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Nein. Ich möchte, dass du mit dem Neuen zusammenarbeitest. Er heißt Mats und ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstehen und ergänzen werdet. Er ist nicht wie …“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Er ist ein netter Kerl. Eine Frohnatur.“ Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Ihre flachen Schuhe klackten gedämpft auf dem Parkettfußboden.

Karl, der sich langsam nach ihr umdrehte, sah, dass sie im Türrahmen stehen geblieben war.

„Und seit wann stellen wir Schweden ein?“, fragte der Kommissar in einem letzten verzweifelten Versuch, die Autorität seiner Vorgesetzten zu untergraben.

Nun grinste sie ihn geradewegs an, während sie die Arme ausbreitete. „Jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Mats hat die Staatsbürgerschaft beantragt. Für einen Schweden ist das kein Problem hier bei uns. Wir brauchen hier oben ja dringend Leute. Er ist also schon bald Norweger. Morgen fängt er an und ihr beide bildet ein Ermittlerduo.“

In diesem Moment klingelte Ainos Mobiltelefon. Sie kramte es aus der Tasche und sah auf das Display, dann wieder zu Karl. „Widerrede ist zwecklos. Versuch lieber, ihm den Einstieg zu erleichtern, als dich dagegen zu wehren.“

Noch bevor er antworten konnte, hatte die Abteilungsleiterin das Gespräch angenommen und war im Gang verschwunden.

Kapitel 4

„Könntest du bitte Norwegisch sprechen?“, sagte Karl mit übertriebener Höflichkeit. „Ich kann leider kein Schwedisch.“

Aino, die offenbar keine Lust auf diese Nachbarschaftsrivalität zwischen Norwegen und Schweden hatte, legte ihm die Hand auf den Arm und lächelte wissend. „Karl, du verstehst doch wohl …“

Der blonde Mann fiel ihr jedoch eifrig nickend ins Wort.

„Ja, natürlich kann ich das“, antwortete er dem Kommissar mit einem einnehmenden Lächeln.

Er sprach noch immer mit schwedischem Akzent, aber die Worte waren eindeutig norwegisch. Dass er beides beherrschte, war nicht weiter verwunderlich, schließlich ähnelten sich die Sprachen sehr. „Mein Name ist Mats Samuelsson. Schön, dich kennenzulernen.“

Der Kommissar verzog den Mund und murmelte eine kurze Begrüßung. Dann griff er aber nach der ihm entgegengestreckten Hand und schüttelte sie fest.

„Karl Sortland“, sagte er ohne große Begeisterung und musterte den sportlichen Mann. Er hatte einen kräftigen Händedruck, daran war nichts auszusetzen. Vermutlich war er ein paar Jahre jünger als er, Mitte zwanzig, und etwa einen Meter achtzig groß. Karl musste sich eingestehen, dass sein neuer Partner freundlich und charmant wirkte, sicher war er bei den Frauen beliebt. Er sah gut aus, was womöglich der Grund dafür gewesen war, dass Aino ihn eingestellt hatte.

Die Vorgesetzte lachte, als ob sie Karls Gedanken gelesen hätte, und legte den beiden Männern ihre Hände auf die Schultern. „Schön, dass ihr euch gleich so gut versteht.“

Sie bedeutete den Polizisten, sich an den Konferenztisch in der Mitte des Besprechungsraumes zu setzen, nahm dann ebenfalls Platz und ließ ihren zufriedenen Blick erst einen Augenblick auf dem Kommissar, dann auf seinem neuen Partner vom Dienstgrad Polizeimeister ruhen. „Karl zeigt dir das Präsidium und stellt dich den Kollegen vor.“

Der Kommissar nickte resigniert.

„Schön. Der erste Fall, an dem ihr zusammenarbeitet, ist der Raub in der Kirkegata. Der Kerl ist gefährlich“, erklärte sie dann.

Energisch griff Mats nach der Mappe, die sie über den Tisch schob, und blätterte die verschiedenen Dokumente durch. Seine Aufmerksamkeit blieb schließlich an einem Polizeifoto hängen. Der Mann hatte einen breiten Kiefer, kleine, zusammengekniffene Augen und schmale Lippen. Sein Haar war schwarz und kurzgeschoren. Er mochte Ende dreißig sein. An Mats’ Gesichtsausdruck erkannte Karl, dass der neue Kollege wohl ebenfalls fand, dass Ivar Nielsen gefährlich aussah.

Aino fuhr fort: „Das ist unser Verdächtiger. Er ist Stammgast bei uns auf dem Präsidium, wenn er nicht gerade im Gefängnis sitzt.“

Karl biss sich auf die Lippe. Er kannte Nielsen noch aus der Schule. Der Mistkerl hatte ihm auf dem Pausenhof die Nase gebrochen.

Aino musterte nun ebenfalls das Foto. „Vermutlich hat er ein niederländisches Rentnerpaar ausgeraubt. Wir haben heute Morgen die Bestätigung von unseren Kollegen in Rotterdam erhalten.“ Sie lehnte sich zurück und ihre Miene wurde ernst. „Karl erklärt dir alles Weitere, aber ich denke, ihr fangt am besten damit an, Ivar herzubringen. Dann vernehmen wir ihn gemeinsam. Aber passt auf, der Bursche ist dafür bekannt, Gegenwehr zu leisten.“ Sie stand auf, musterte ihren neuen Kollegen vergnügt und klopfte ihm erneut auf die Schulter. „Ihr beide schafft das schon, seid ja zu zweit. Karl war gestern auch schon alleine bei ihm. Da war er nur nicht zu Hause“

Karl nickte matt. Ja, er war dort gewesen, hatte sich dann aber entschieden, gar nicht erst zu klingeln. Er war einfach zu verkatert gewesen.

Schließlich richtete Aino ihre Aufmerksamkeit ein letztes Mal auf Karl und ihr Ton wurde härter: „Ich erwarte, dass du Mats einen angenehmen Empfang bereitest.“

Karl biss sich erneut auf die Lippe. Eine Angewohnheit, die er sich abgewöhnen musste. Doch Ainos Blick war schon wieder zu dem blonden Schweden neben ihm gewandert.

„Nochmals herzlich willkommen“, sagte sie und verließ den Raum.

„Du hast den Boss gehört“, sagte Karl mit einem Augenzwinkern und erhob sich. „Komm, ich zeig dir unser Büro. Dann holen wir uns Nielsen.“

Er führte seinen neuen Partner in das Eckbüro im vierten Stockwerk, das sie sich von nun an teilen sollten. Dort zeigte er auf einen Schreibtisch, der gleich neben der Glastür an der Wand stand. Trygve hatte dort während der letzten zehn Jahre seiner Karriere bei der Polizei in Kirkenes gesessen. „Das ist dein Platz. Ich sitze dort am Fenster.“

Mats sah zögerlich zu dem Schreibtisch, von dem aus man auf den Korridor blickte, dann auf Karls Arbeitsplatz, von dem aus man das Treiben auf dem Fjord bewundern konnte. Er kratzte sich am Kopf. „Könnte ich meinen Computer nicht neben deinen stellen? Dort, am Fenster? Da ist doch genug Platz.“

„Mats. Bist du zum Arbeiten hier oder um die Aussicht zu genießen?“ Karl legte den Kopf schief und blickte den Neuling vorwurfsvoll an. Dann wurde seine Miene etwas milder. „Außerdem ist es wichtig, dass einer von uns den Korridor im Auge behält. Nicht, dass Aino uns überrascht. Sie kann ganz schön giftig werden. Kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man sie so sieht, was?“

Der Schwede nickte verständig und legte seine Tasche letztlich auf den Bürostuhl, den der Kommissar ihm zugewiesen hatte.

***

Karl deutete auf einen silbernen Kombi, der in der Tiefgarage auf Platz 7 geparkt stand. Er konnte an Mats’ Gesicht ablesen, dass er nicht sonderlich beeindruckt von dem VW Passat war.

„Hattest du einen Porsche als Dienstwagen erwartet? Dass wir das ganze Ölgeld für so einen Unfug verschwenden?“

Mats sah ihn erschrocken an.

„Nein, nein. Der Wagen ist in Ordnung. Möchtest du, dass ich fahre?“, fragte er. „In Schweden muss immer der jüngere Kollege fahren.“

„Nein, danke. Nicht nötig.“ Karl steuerte das Zivilfahrzeug aus der Tiefgarage und bog nach links stadtauswärts auf die E6, die direkt am Hafenkai vor dem Präsidium vorbeiführte. Eine ganze Weile saßen die Polizisten schweigend nebeneinander. Mats sah aus dem Fenster. Er schien die schneebedeckten Hügel hinter dem Fjord zu betrachten.

„Schön habt ihr’s hier. Kommst du aus Kirkenes?“, fragte er schließlich unvermittelt.

Karl sah seinen Partner einen kurzen Moment an. „In Trondheim geboren, aber größtenteils hier aufgewachsen.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder schweigend auf die Straße vor ihnen.

Dem Neuling schien die Stille unbehaglich zu sein. Er drehte am Lautstärkeregler der Musikanlage. Als laute Countrymusik aus den Lautsprechern ertönte, weiteten sich seine Augen. Überrascht sah er Karl an, der zuerst errötete und dann erbost die Stirn in Falten legte.

„Mach das aus“, fauchte er.

Mats folgte seiner Anweisung umgehend. Wieder ein Moment Stille, dann fragte er: „Was war das denn für Musik? Hörst du so was?“

Da Karl ihm nicht antwortete, sah er erneut auf die wilde Natur, die sich direkt hinter den Außenbezirken der Stadt erstreckte. „Ich bin in Luleå aufgewachsen. Ziemlich viel Wald und Wasser, gar nicht mal so anders als das hier. Wir haben dort nur keine Berge. Luleå liegt ganz oben an der Ostsee.“

„Ich weiß, wo das ist“, sagte Karl forsch und schob sich ein Snus in den Mund.

Mats biss sich auf die Unterlippe. „Leider gibt es in Nordschweden nicht so viele Jobs. Ich war erst bei der schwedischen Marine und wollte danach Polizist werden. Genau wie mein Vater. Aber nach der Ausbildung habe ich keine Stelle in Norbottens Län gefunden. In die großen Städte des Südens wollten wir nicht ziehen. Silja und ich sind beide ziemliche Landeier.“

„Ja, das Leben tritt einem manchmal kräftig in den Arsch“, sagte Karl mit einem bitteren Unterton in der Stimme.

Mats zuckte mit den Schultern.

„Ach, so sehe ich das nicht. Ich versuche, in einer Niederlage immer auch eine Möglichkeit zur Veränderung zu sehen. Sonst wäre ich wahrscheinlich nicht hier bei euch gelandet.“

„Ich persönlich schätze Beständigkeit“, antwortete Karl in getragenem Tonfall.

„Geschmäcker sind halt verschieden. Außerdem wird man in Norwegen besser bezahlt und die Steuern sind hier in der Finnmark noch mal niedriger.“

Zum ersten Mal nickte Karl zustimmend. „Irgendwas mussten sie sich ja einfallen lassen, sonst würde hier niemand mehr wohnen wollen.“ Er sah über die Schulter und wechselte die Spur. Dann beobachtete er den Schweden aus dem Augenwinkel. Schließlich seufzte er. „Es tut mir leid. Ich bin heute nicht besonders gut drauf. Könnten wir unsere Unterhaltung ein anderes Mal fortsetzen?“

„Ja, klar.“

Karl wechselte das Thema. „Dieser Kerl, den wir reinbringen sollen, Ivar, er ist nicht ganz ungefährlich. Es ist schon vorgekommen, dass er die Kollegen angegriffen hat. Meinst du, wir schaffen das, an deinem ersten Tag? Oder sollen wir Verstärkung rufen?“

Mats schüttelte den Kopf. „Oh, kein Problem. Wir packen das. Hat Aino doch gesagt.“ Er lächelte erneut sein offenes Lächeln, deutete dann im Vorbeifahren auf das Ortsschild, auf dem Hesseng geschrieben stand. „Ich wohne gleich hier um die Ecke, mit meiner Freundin Silja. Sie wird mich sicher bald dazu zwingen, dich und deine Frau zu uns einzuladen.“

Karl verzog keine Miene. Er starrte auf die Fahrbahn und schwieg.

Mats entging seine Reaktion nicht. „Hab ich was Falsches gesagt?“

„Wir sind gleich bei Ivars Haus, mach dich bereit.“

Karl sah in den Rückspiegel, bog ab und parkte den Wagen schließlich an derselben Stelle, an der er am Vorabend gestanden hatte. Er schaltete den Motor aus und ließ seinen Blick über die flachen Holzhäuser des Wohnviertels gleiten. „Siehst du das blaue Haus dahinten?“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf ein schmales Reihenhaus ein paar Meter weiter zu ihrer Rechten.

Mats nickte.

„Da wohnt er. Wir klingeln, erklären ihm höflich, was wir wollen, und nehmen ihn mit aufs Revier. Easy-peasy. Wenn er sich wehrt, dann kannst du Gewalt anwenden.“ Und damit stiegen die beiden Polizisten aus und gingen langsam auf das Haus zu.

Es war still in der Straße; Karl konnte weder Fußgänger noch sich bewegende Autos entdecken. Das musste am Wetter liegen. Und daran, dass es Dienstagvormittag war. Er drehte sich um. Mats hatte seine Jacke geöffnet und fingerte an seiner Dienstwaffe herum. Für einen Augenblick musterte Karl ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Meinetwegen kannst du ihm eine reinhauen. Ich denke aber, dass Aino ihn lebend haben will.“

Der blonde Mann sah ihn einen Moment lang verständnislos an, nickte dann aber eifrig. „Natürlich. Ich wollte mich nur vergewissern, dass die Waffe gesichert ist.“

Die zwei Polizisten näherten sich der Einfahrt, die nur sporadisch geräumt war. Karl warf einen prüfenden Blick in den Briefkasten und erspähte einige Werbeprospekte. Dann warf er dem Kollegen einen Blick zu, nickte und stieg vorsichtig die schmale Treppe zur Eingangstür hinauf.

Ein Hund bellte im Nachbarhaus. Karl erwischte sich dabei, wie er zusammenschrak. Er drehte sich zu seinem Partner um. „Ich klingele jetzt.“

Dann ging er den letzten Meter bis zur Haustür und drückte auf das Schild, auf dem mit krakeliger Schrift Nielsen geschrieben stand. Von drinnen hörte er ein penetrantes Klingelgeräusch. Dann herrschte wieder Stille. Die Polizisten richteten ihre Aufmerksamkeit gespannt auf die milchige Glasscheibe. Nichts geschah.

Karl klingelte erneut. Wieder keine Reaktion. Leise fluchend verwünschte der Kommissar den Verdächtigen. Schließlich klopfte er mit der Faust gegen die Tür. Als sich weiterhin nichts tat, drehte er sich zu Mats um.

„Vielleicht sehen wir mal hinter dem Haus nach, oder fragen einen Nachbarn, wann sie Ivar das letzte Mal gesehen haben?“, schlug er vor.

Die Polizisten gingen die Treppe hinab und langsam an der Garage vorbei. Plötzlich vernahmen sie ein klirrendes Geräusch von drinnen. Karl glaubte, es als leere Bierflasche, die auf dem Parkettboden umgefallen war, erkannt zu haben. Abrupt blieben die beiden Männer stehen.

„Bleib du hier an der Vordertür. Ich gehe im Garten nachsehen“, sagte Karl leise, aber bestimmt.

Er eilte zur Ecke des Hauses, an der zwischen der Straße und dem winzigen Garten ein hüfthoher Lattenzaun verlief. Er schwang sich darüber und versank auf der anderen Seite bis zu den Knöcheln im Schnee. Instinktiv suchte er nach der Dienstwaffe unter seiner Jacke, ließ seine Hand einen Moment darauf ruhen, zog sie aber wieder zurück. Dann machte er einen Schritt auf die Glastür zu, zog mit einem Finger an dem Griff. Sie war verschlossen. Er trat an die Scheibe und versuchte, durch den grauen Vorhang in das Wohnzimmer zu blicken, glaubte, dort eine Bewegung wahrzunehmen. Nur eine leichte Regung der Gardine. Vielleicht ein Luftzug. Hatte Ivar vielleicht vorne die Eingangstür aufgemacht?

Es lief ihm kalt den Rücken runter, und während er begann mit festen Schlägen der Faust gegen den Türrahmen zu hämmern, hoffte er inständig, dass der Mann nicht auf Mats losgegangen war.

„Ivar, komm raus! Wir wollen mit dir reden“, schrie er.

Wieder vollkommene Stille.

Er schluckte, seine Kehle war trocken. Er wischte sich über die Stirn, auf der einige Schweißtropfen standen. Das Bellen des Nachbarhundes ließ ihn erneut erschrocken herumfahren – dann plötzlich etwas Hartes an seinem Hinterkopf. Es knirschte ihn seinen Ohren und in seinem Kopf explodierte der Schmerz. Ihm wurde schwarz vor Augen. Das Keuchen, das er noch hörte, musste sein eigenes sein. Er spürte seine Knie nachgeben und er ging zu Boden.

***

Langsam öffnete er die Augen. Er ächzte, und es dauerte einen Augenblick, bis er verstand, was vorgefallen war. Ivar musste ihm den Metallrahmen der Terrassentür gegen den Hinterkopf gerammt haben, als er sich nach dem Hundegebell umgedreht hatte.

Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und spürte eine warme Flüssigkeit. Er blutete. Karl raffte sich auf, sah sich hektisch um, wobei jede Bewegung den dumpfen Schmerz zu verstärken schienen.

Da! Hinter dem Zaun, da war er.

„Mats! Mats! Er ist hier hinten!“, schrie er schließlich aus vollem Hals und sprang von der Veranda in den Schnee, stürzte die wenigen Meter auf den Zaun zu. Sein Partner musste ihn gehört haben, denn er hatte bereits die Verfolgung aufgenommen.

Karl musste zugeben, dass es ihn beeindruckte, wie der schwedische Polizist dem norwegischen Gauner wie ein Irrsinniger hinterher sprintete, das blonde Haar um seinen Kopf wehend. Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen. Da würde er sicher nicht mithalten können. Er fühlte sich von dem Schlag noch immer etwas benommen.

„Ich hol den Wagen!“, schrie er seinem Partner darum hinterher. Aber Mats war längst um eine Straßenecke verschwunden. Der Kommissar hielt sich den Hinterkopf und stieß ein paar leise Kraftausdrücke aus, während er zum Auto eilte.

Schon kurz darauf schoss er den Hessengveien entlang. Doch nachdem er die Kurve passiert hatte, konnte er weder Mats noch den flüchtigen Mann irgendwo ausmachen. Er bremste, biss sich nervös auf die Lippe, nahm das Funkgerät von der Mittelkonsole. „Hier Karl, Wagen 7. Over.“

Es rauschte in den Lautsprechern, dann ein Knacken. „Hier Zentrale, wir hören, Wagen 7. Over.“

Karl rollte über eine Kreuzung, tippte mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad. „Wir brauchen Unterstützung in den Hessengveien. Ivar Nielsen, zu Fuß auf der Flucht. Trägt eine graue Jogginghose und eine schwarze Jacke. Over.“

„Alles klar, Wagen 7. Ich gebe das an alle verfügbaren Einheiten durch. Over.“

Karl war schon im Begriff, das Funkgerät wieder in die Halterung zu klemmen, da fiel ihm etwas ein. „Noch was, Zentrale. Schickt einen Krankenwagen. Wagen 7 over and out.“

Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen, als er das Gaspedal durchtrat.

***

Der Kommissar fuhr eilig bis ans Ende des Hessengveien. Er begann allmählich, sich Sorgen zu machen. Was, wenn sein Partner Ivar eingeholt und dieser ihn niedergeschlagen hatte? Mats hätte sicher keine Chance gehabt. Und er war den ganzen Morgen unfreundlich zu ihm gewesen.

In diesem Moment rollte er um eine lang gezogene Kurve, die ihn letztlich wieder auf die E6 führen würde. Es war unmöglich, dass die beiden so weit gerannt waren; wahrscheinlich war Ivar auf einem der Spazierwege in die Wildnis geflüchtet.

Karl stöhnte und ließ sich seufzend im Sitz zurücksinken. Während er in Gedanken bereits die Fahndung durchspielte, nahm er eine Bewegung im Rückspiegel wahr. Er bremste abrupt ab, drehte sich um und sah gerade noch einen Mann, der aus einem Garten geschossen kam. Nielsen. Ihm folgte eine weitere Person, die sich gerade anschickte, über den Gartenzaun zu klettern. Mats.

Karl lächelte. Sein Partner war offenbar ein Bullterrier. Nicht so leicht abzuschütteln, wenn er sich erst einmal festgebissen hatte.

Er drehte den Wagen und schoss hinter den beiden Männern her. Nach wenigen Augenblicken hatte er zu Mats aufgeschlossen. Er warf nur einen kurzen Blick auf den jungen Polizisten; sein Kopf war knallrot, sein blondes Haar vom Schweiß zu dünnen Strähnen zusammengeklebt.

Dann konzentrierte Karl sich wieder auf Nielsen und trat erneut aufs Gaspedal. Auf einmal kreuzte Nielsen die Fahrbahn auf die linke Seite. Dort lag eine Autowerkstatt. Auf dem Schild stand in gelber Schrift Mekonomen geschrieben. Zwischen der Halle und einem Maschendrahtzaun, der das Gelände zum Nachbargrundstück hin abgrenzte, war ein schmaler Durchgang. Nielsen schien begriffen zu haben, dass Karl ihm mit dem Auto nicht dorthin würde folgen können. Als er sich erneut umsah zierte ein hämisches Grinsen das breite Gesicht.

O nein, mein Freund.

Karl drückte das Gaspedal vollends durch und der Wagen tat einen Satz nach vorne, an dem flüchtenden Mann vorbei, bis Karl dessen verwundertes Gesicht nun im Seitenspiegel sehen konnte. Dann bremste er und riss das Lenkrad scharf nach links.

Der Wagen schlitterte direkt in Nielsens Laufweg. Der versuchte zwar noch auszuweichen, aber es war zu spät. Mit voller Wucht prallte er gegen den Kotflügel des Polizeiwagens, knickte mit den Knien ein, schlug mit dem Gesicht auf die Motorhaube und vollführte unfreiwillig einen Salto. Alles geschah wie in Zeitlupe und Karl konnte in Nielsens weit aufgerissene Augen blicken, als er an ihm vorbeiflog.

Dann stürzte er auf der Beifahrerseite auf den Parkplatz vor der Autowerkstatt und blieb reglos liegen.

Karl stellte den Motor ab. Er blickte in den Rückspiegel, sah seinen Partner, der wenige Meter hinter dem Wagen angelaufen kam und sich dann auf Ivar stürzte, um ihn an einer weiteren Flucht zu hindern. Der Kommissar kratzte sich im Nacken, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Er umrundete den Wagen und trat zu Mats, der auf Nielsens Rücken kniete. Er hatte dem Mann bereits Handschellen angelegt.

Nielsens Gesicht war blutverschmiert und die Nase stand in einem unnatürlichen Winkel ab. Er spuckte eine rötliche Flüssigkeit aus und fluchte laut.

Karl klopfte seinem Partner auf die Schulter. „Du kannst vielleicht rennen.“

Mats, noch immer außer Atem, grinste zufrieden.

„Geht es dir gut?“, wandte Karl sich dann an den am Boden liegenden Mann, allerdings ohne wirklich viel Sorge zu empfinden.

Nielsen sah ihn aus großen wütenden Augen an.

„Du hast mich überfahren, du Bullenschwein!“, schrie er. „Ich werde dich anzeigen!“

Karl ging neben Nielsen in die Knie. „Ich befürchte, du hast dir die Nase gebrochen. Das solltest du mal einen Arzt ansehen lassen.“ Er sah den Mann mit gespielter Besorgnis an, stand dann auf. In der Ferne konnte er eine Sirene hören. „Da kommt dein Krankenwagen.“ Dann drehte er Nielsen den Rücken zu. „Ich würde sagen, dass wir jetzt quitt sind.“

***

„Mats, könnte ich bitte mit dir sprechen? Allein?“ Aino öffnete die Beifahrertür.