Eisiger Hass - Alfred Wallon - E-Book

Eisiger Hass E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

Der Geschäftsmann Jürgen Hansen eröffnet eine neue Filiale einer Baumarktkette in Bad Marienberg im Westerwald. Auf der anschließenden Feier auf Schloss Friedewald flirtet er heftig mit Daniela Lange, der Sekretärin des Bürgermeisters. Sie wissen nicht, dass sie dabei beobachtet werden. Während in dieser verhängnisvollen Nacht der Wintereinbruch im Westerwald für ein Schneechaos sorgt, endet eine Kette von unglücklichen Umständen mit einem heimtückischen Mord.Der Frankfurter Hauptkommissar Paul Schumann will eigentlich nur einen ehemaligen Kollegen besuchen, der in Friedewald lebt. Er wird um Hilfe in diesem Mordfall gebeten. Auf seiner Suche nach dem Mörder begegnet er menschlichen Abgründen und Verdächtigen, die nichts mehr zu verlieren haben. Trotz der eisigen Kälte ermittelt Schumann weiter. Denn er wird den Mörder überführen - auch wenn dieser sich jetzt noch unerkannt glaubt ...

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Alfred Wallon

Eisiger Hass

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum

Kapitel 1

Freitag 20. Dezember 2013

Flughafen Siegerland, Burbach / Westerwald

Jürgen Hansen seufzte, als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf und ungeduldig darauf wartete, dass die Propellermaschine endlich sicher auf der Landebahn aufsetzte. Sekunden später spürte er einen kurzen Ruck, als die Räder des Fahrgestells aufsetzten und das kleine Flugzeug in der Nähe der Ankunftshalle ausrollte. Wenige Minuten später drosselte der Charterpilot Horst Bergmann den Motor, und der Propeller verstummte.

»Herr Hansen, ich rate Ihnen wirklich dringend, dass Sie noch heute Abend zurück fliegen«, sagte Bergmann zu seinem Fluggast. »Die Wettermeldungen versprechen nichts Gutes. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit starkem Schneefall und orkanartigen Stürmen zu rechnen. Ich würde an Ihrer Stelle so früh wie möglich wieder zurück fliegen.«

»Das überlassen Sie am besten mir«, antwortete Hansen. Er mochte es nicht, wenn jemand meinte, ihm unbedingt im unpassendsten Moment gute Ratschläge erteilen zu müssen. Denn der Geschäftsmann aus Hannover, der eine Investorengruppe vertrat und in deren Namen heute die offizielle Einweihung des neuen PROFI-Baumarktes in Bad Marienberg vornehmen sollte, war in Gedanken schon längst bei den Feierlichkeiten und der Rede, die er dort zu halten hatte.

Das war aber nichts, was ihm großes Kopfzerbrechen bereitete. Es war nur ein weiterer Termin von vielen, die er in den letzten Wochen und Monaten für die Investorengruppe vorgenommen hatte, und meistens liefen sie immer nach demselben Schema ab. Den örtlichen Honoratioren aus Politik, Handel und Gewerbe die Hände schütteln, freundliche Floskeln austauschen, abends am Geschäftsessen einen guten Eindruck hinterlassen und am nächsten Morgen wieder zeitig die Rückreise antreten.

Genau so hatte es Hansen auch dieses Mal geplant, und deshalb reagierte er sehr allergisch darauf, wenn ihm ausgerechnet jemand gute Ratschläge erteilen wollte, der keine Ahnung von geschäftlichen Dingen hatte. Deshalb öffnete er die Tür des kleinen Flugzeuges und stieg aus. Für den Piloten hatte er nur noch einen einzigen Satz übrig:

»Wir sehen uns hier dann morgen Mittag um 12.00 Uhr. Seien Sie pünktlich. Ich habe am späten Nachmittag in Hannover noch ein Meeting.«

»Am Sonntag?«, fragte der erstaunte Pilot.

»Ja, am Sonntag«, entgegnete Hansen leicht gereizt. »Wenn andere Leute am Wochenende nicht wissen, wie sie die Zeit totschlagen sollen, bin ich mit wichtigeren Dingen zugange.«

Bergmann ersparte sich eine Antwort. Hansen würde es sowieso nicht interessieren. In den Augen des Piloten wirkte der 50-jährige Geschäftsmann aus Hannover arrogant und überheblich. Wie eben einer dieser Herren aus den oberen Führungsebenen, der nichts anderes gelten ließ als die eigene Meinung.

Hansen ließ den Piloten einfach bestehen und begab sich zur Ankunftshalle. Das wenige Gepäck, das er bei sich hatte, passte in einen kleinen Koffer, den er hinter sich her zog. Als er das Terminal an der Flughafenstraße erreichte, war er froh, dem kalten Wind wenigstens für einen kurzen Moment entkommen zu sein. Das Klima im Westerwald war deutlich rauer und kälter als in Hannover.

»Bitte rufen Sie mir ein Taxi«, bat er die Angestellte am Infoschalter. »Ich möchte nach Bad Marienberg. Wenn´s geht, bitte schnell.«

Die Frau nickte und wählte eine Nummer.

»Nehmen Sie doch bitte einen Augenblick Platz«, bat sie ihn. »Das Taxi wird in ungefähr zehn Minuten hier sein.«

Hansen setzte sich auf einen der Stühle und blickte erneut auf seine Armbanduhr. In knapp einer Stunde begann die offizielle Eröffnungsfeier, und er war es gewohnt zu solch wichtigen Terminen immer pünktlich zu erscheinen. Schließlich musste er als Repräsentant des Firmenkonsortiums einen guten Eindruck hinterlassen – selbst wenn es sich in diesem Fall um einen Termin in der Provinz handelte. Aber er wusste auch, dass man sich von der Neueröffnung dieser Filiale der PROFI-Baumarktkette in der Region einiges versprach. Und wenn die Firmenleitung dieses Projekt als wichtig erachtete, dann würde es Jürgen Hansen natürlich ebenfalls tun.

Die zehn Minuten Wartezeit kamen ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. Endlich fuhr das Taxi vor und stoppte vor dem Eingang der Ankunftshalle. Die Angestellte wünschte ihm noch einen angenehmen Tag und gute Geschäfte. Gut gekleidete Geschäftsleute waren für sie etwas ganz Normales. Denn der Flughafen Siegerland wurde vor allem von diesem Klientel schon seit über 30 Jahren genutzt und stellte somit in der Region einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Davon profitierten auch die Cargo- und Transportunternehmen, die sich im unmittelbaren Umfeld des Flughafens angesiedelt hatten, und diese Gewerbegebiete waren ebenfalls in den letzten Jahren deutlich gewachsen.

Der Taxifahrer nickte Hansen freundlich zu und verstaute dessen Gepäck im Kofferraum. Er hielt dem Geschäftsmann die hintere Tür auf und ließ ihn einsteigen.

»Nach Bad Marienberg«, sagte Hansen. »Gewerbegebiet Jahnstraße.«

»In 15 Minuten sind wir da«, versprach der Taxifahrer, setzte sich schnell hinters Steuer und startete den Wagen. Von der Flughafenstraße bis zum Zubringer auf die B 414, die im Volksmund auch als Westerwaldstraße bekannt war, dauerte es noch nicht einmal fünf Minuten.

»Von woher kommen Sie denn?«, fragte der Taxifahrer und versuchte mit seinem Fahrgast ein nettes Gespräch anzufangen. Er konnte natürlich nicht ahnen, dass Hansens Gedanken schon um ganz andere Dinge kreisten. Trotzdem versuchte er nicht ganz unhöflich zu erscheinen und sagte, dass er aus Hannover kam.

»Da war ich schon mal«, sagte der Taxifahrer. »Auf der Hannover-Messe. War ganz schön viel los dort und...«

»Können Sie bitte etwas schneller fahren?«, unterbrach ihn Hansen. »Ich habe einen wichtigen Termin und möchte nicht zu spät kommen.«

»Die B 414 ist nicht der Nürburgring«, murmelte der Taxifahrer angesichts des ungeduldigen Verhaltens seines Fahrgastes. »Wir sind doch gleich da. Da vorn der Ort ist die Gemeinde Hof. Und dann nur noch die Berge hinauf, und schon sind wir in Bad Marienberg. Haben Sie in Bad Marienberg geschäftlich zu tun?«

»Ja«, erwiderte Hansen, um nicht ganz abweisend zu wirken. »Heute ist die offizielle Eröffnung des neuen PROFI-Baumarktes. Ich bin sicher, Sie haben schon davon gehört, oder?«

»Es stand in der Zeitung«, bestätigte der Taxifahrer Hansens Vermutung. »Sind Sie der Chef des Marktes?«

»Nein, ich vertrete das Firmenkonsortium, dem unter anderem auch die Baumarktkette gehört«, klärte Hansen den Mann auf. »Zur Eröffnungsfeier muss ich natürlich anwesend sein – und die beginnt um 13.00 Uhr.«

»Das schaffen wir mit links«, beruhigte der Taxifahrer seinen ungeduldigen Fahrgast. »Sehen Sie – da kommt schon die Abfahrt. Gleich sind wir da.«

Das Taxi bog nach links in die abschüssige Kirburger Straße ab und passierte wenige Sekunden später das neue Schulzentrum am linken Stadtrand. Bei der Stadthalle und der Verbandsgemeindeverwaltung, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befand, führte der Weg nach links in die Jahnstraße durch ein kleines Wohngebiet, und am anderen Ende erstreckte sich das kleine Gewerbegebiet.

Hansen erkannte einen Gebäudekomplex am Straßenrand, vor dem zahlreiche Autos parkten. Er hatte schon einmal einige Fotos der alten Lagerhalle und der heruntergekommenen Gebäude gesehen, die sich einst auf diesem Grundstück befunden hatten. Innerhalb von sieben Monaten hatte die Firmengruppe nicht nur die alten Gebäude abreißen lassen und das Gelände von den Altlasten saniert, sondern hatte einen modernen Markt gebaut, der alle Forderungen und Konsumwünsche erfüllte.

Entsprechend groß war die Zahl der geladenen Gäste und Besucher, die sich vor einem Absperrband postiert hatten und es kaum abwarten konnten, bis der PROFI-Baumarkt endlich seine Türen öffnete.

»Das macht acht Euro«, sagte der Taxifahrer. »Brauchen Sie eine Quittung?«

»Selbstverständlich«, antwortete Hansen, gab dem Mann die abgezählte Summe und steckte anschließend den Quittungsbeleg in seine Jackentasche. Sekunden später stieg er aus und wartete geduldig, bis der Taxifahrer sein Gepäck aus dem Kofferraum geholt hatte und vor ihm abstellte.

Währenddessen ließ Hansen seine Blicke in die Runde schweifen. Wenn jetzt alles nach Plan verlief, würde man ihn gleich mit den verantwortlichen Vertretern der Verbandsgemeinde und natürlich mit dem Bürgermeister bekannt machen. Er musste nur abwarten. Seine Ankunft hatten einige der gut gekleideten Männer und Frauen auf der anderen Seite des Absperrbandes bemerkt. Irgendjemand würde sicher gleich zu ihm kommen.

Er musste noch nicht einmal eine Minute warten. Dann sah er eine schwarzhaarige schlanke Frau in einem raffiniert geschnittenen Kostüm, die ihm ein freundliches Lächeln schenkte.

»Herr Hansen?«, fragte sie. Der Geschäftsmann aus Hannover nickte. »Willkommen in Bad Marienberg. Mein Name ist Daniela Lange. Ich bin die Assistentin unseres Bürgermeisters.«

»Ah, Sie sind das also«, schmunzelte Hansen. »Wenn ich gewusst hätte, mit welch attraktiver Dame ich schon seit einigen Wochen telefoniere, dann hätte ich diese Reise in den Westerwald schon viel früher angetreten.«

Er bemerkte, dass Daniela Lange kurz errötete und seinem prüfenden Blick einen Moment auswich. Für Hansen bedeutete das, dass die Schwarzhaarige sich in seiner Gegenwart ein wenig unsicher fühlte. Trotzdem sprachen ihre Blicke eine eindeutige Sprache, und das sagte Hansen genug. Er kannte einige Frauen, die genau auf den Typ standen, den er repräsentierte. Groß, gut gekleidet, graue Schläfen und genügend Geld in der Tasche, um sich fast alles leisten zu können, ohne daran auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden.

Die Sache fängt an, interessant zu werden, dachte Hansen im Stillen. Wenigstens ein Lichtblick in dieser Provinz. Mal sehen, wie sich die Dinge heute noch so entwickeln

*

Als der Bürgermeister ans Rednerpult trat und die Neueröffnung des PROFI-Baumarktes als wirtschaftlichen Aufschwung für die Verbandsgemeinde und die umliegenden Ortschaften pries, hörte Jürgen Hansen nur mit halbem Ohr zu. Weil sein Interesse weder dem Bürgermeister noch den örtlichen Kommunalpolitikern galt, die sich gegenseitig mit Lobreden zu übertrumpfen versuchten. Selbst als er an die Reihe kam, um für die Investorengruppe aus Hannover zu sprechen, war er nicht ganz mit Eifer bei der Sache. Aber zum Glück merkten die Zuhörer nichts davon, sondern applaudierten brav am Ende seiner zehnminütigen Rede. Anschließend war es seine Aufgabe, mit einer symbolischen Geste die Eröffnung zu vollziehen, und nur kurz darauf drängten bereits die ersten neugierigen Kunden hinein.

Hansen selbst nahm das nur beiläufig wahr, denn sein Interesse galt einzig und allein der attraktiven Schwarzhaarigen, die ihm von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick zugeworfen hatte. Vielleicht glaubte sie, dass ihm das nicht aufgefallen war. Aber solche Dinge bekam Hansen immer mit, und er freute sich schon insgeheim darauf, wie sich die Sache weiter entwickelte.

»Herr Hansen, wir haben einen kleinen Empfang für einige geladene Gäste auf Schloss Friedewald vorbereitet«, wandte sich der Bürgermeister an ihn und riss ihn aus seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen. Sie bleiben doch über Nacht hier, oder?«

»Ich denke schon«, antwortete Hansen. »Wo ist dieses Schloss denn genau?«

»Nur wenige Kilometer von hier entfernt. Meine Assistentin wird Sie gerne dorthin fahren, wenn Sie möchten.«

»Aber nur wenn es keine Umstände macht. Ich kann mir auch ein Taxi nehmen.«

»Auf keinen Fall. Sie sind unser Gast, Herr Hansen – und ich möchte, dass Sie diesen Aufenthalt in angenehmer Erinnerung behalten.«

Dafür werde ich alles tun, dachte Hansen und sah, wie der Bürgermeister kurz zu Daniela Lange ging und mit ihr einige Worte wechselte. Als sie nickte, wusste Hansen, dass dies eine Chance war, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte.

»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mich zu diesem Schloss zu fahren«, sagte Hansen. »Aber vielleicht sollte ich mich erst einmal um ein Hotel kümmern, Frau Lange.«

»Das Schloss Friedewald ist ein Hotel, Herr Hansen«, klärte ihn die Assistentin des Bürgermeisters auf. »Es liegt zwar ein Stück abseits, aber Sie werden dennoch sehr zufrieden sein. Im Schloss finden regelmäßig Tagungen statt, und die Verbandsgemeinde bringt dort auch besondere Gäste unter...«

Die Art und Weise, wie Daniela Lange die letzten Worte betonte, und der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, ließ ihn spüren, dass diese Frau noch an ganz andere Dinge dachte. Ihre Blicke und ihr Verhalten waren eindeutig. Auch wenn sie das mit keinem einzigen Wort erwähnte und ansonsten distanziert blieb.

Daniela Lange ging zu ihrem Wagen. Es war ein roter Golf 7, das neueste Modell. Als sie den Kofferraum öffnete, verstaute Hansen sein Gepäck dort. Sie stand jetzt so nahe bei ihm, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Und sie wich auch nicht zurück, sondern schenkte ihm wieder dieses bezaubernde Lächeln, das ihn nervöser machte, als er jemals zugegeben hätte.

»Sind Sie auch heute Abend bei dem Empfang mit dabei?«, wollte Hansen wissen, während Daniela Lange den Motor startete und vom Parkplatz fuhr.

»Ja«, sagte sie. »Als Assistentin des Bürgermeisters muss ich oft solche Termine wahrnehmen. Auch am Wochenende. Aber das gehört eben mit zu meinem Job.«

»Hoffentlich ist das kein Problem für Ihre Familie«, konnte sich Hansen diese Bemerkung nicht verkneifen, als er einen kurzen Blick auf den goldenen Ring an ihrer Hand warf und sich dabei im Stillen fragte, warum ihre Blicke eine ganz andere Sprache sprachen.

»Gewisse Dinge muss man eben akzeptieren, Herr Hansen«, erwiderte sie ausweichend. »Mein Beruf macht mir sehr viel Spaß, und dafür tue ich auch einiges. Bei Ihnen in Hannover ist das sicherlich anders – aber hier im Westerwald kann man froh sein, wenn man einen guten Job hat. Und um den auch zu behalten, muss man schon ein bisschen mehr tun als nur von acht bis fünf am Schreibtisch zu hocken und darauf zu warten, dass endlich Feierabend ist.«

»Das könnte ich mir bei Ihnen auch nicht vorstellen«, erwiderte Hansen, während Daniela Lange mit dem roten Golf wieder auf die Kirburger Straße einbog und schließlich die B 414 erreichte. Dort bog sie links in Richtung Kirburg ab, aber knapp 100 Meter später folgte sie rechts einer schmalen Landstraße.

Auf dem Hinweisschild standen zwei Ortsnamen, die Jürgen Hansen zum ersten Mal hörte: Lautzenbrücken und Nisterberg. Sein eigentliches Interesse galt jedoch den trüben Wolken, die mittlerweile aufgezogen waren. Es war erst 15.00 Uhr am Nachmittag, aber für ihn sah es so aus, als würde es gleich dunkel werden. Ausgerechnet jetzt musste er wieder an die Worte des Charterpiloten denken, der ihn vor einem Wetterumschwung gewarnt hatte. Waren das jetzt die ersten Hinweise darauf?

»Sie schauen so nachdenklich aus«, brachten ihn die Worte der attraktiven schwarzhaarigen Frau wieder in die Wirklichkeit zurück. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Es ist nichts«, erwiderte er, während der Wagen das Ortsschild von Lautzenbrücken passierte. Ein kleines Dorf mit einem Bürgerhaus und zwei Geschäften. Kein Mensch hielt sich auf der Straße auf. Der Ort wirkte verloren. Genauso wie Nisterberg, das sich zwei Kilometer weiter befand.

»Hier soll ein Schloss sein?«, fragte er stattdessen.

»Darüber wundern sich die meisten Gäste, die zum ersten Mal nach Bad Marienberg kommen«, antwortete Daniela Lange. »Man würde es nicht vermuten. Sie glauben vermutlich, dass Sie sich mit jedem weiteren Kilometer immer mehr von der Zivilisation entfernen, oder? Sie können es ruhig zugeben, Herr Hansen. Wie schon gesagt – ich kenne das. Ich wohne ja selbst hier.«

»Wo? In diesem...?«

In letzter Sekunde konnte Hansen das Wort Kaff noch zurückhalten, während der rote Golf durch Nisterberg fuhr. Aber sein Blick war für Daniela Lange eindeutig genug, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

»Sprechen Sie es ruhig aus, Herr Hansen«, sagte sie kurz darauf. »Ich weiß selbst, dass es nicht einfach ist, gewisse gesellschaftliche Verhaltensstrukturen zu akzeptieren. Aber entweder fügt man sich in das dörfliche Leben ein, oder man wird gleich abgestempelt.«

»Und das geschieht mit Ihnen?«, wunderte sich Hansen, obwohl er längst ahnte, was ihm die attraktive Frau damit hatte sagen wollen. »Sie sind doch intelligent und aufgeschlossen, Frau Lange. Schon als wir telefonierten, wusste ich, dass Sie mehr wollen. Vielleicht sollten wir nach dem Empfang einmal darüber reden, welche Chancen sich für Sie in Hannover ergeben könnten.«

»Wollen Sie mir einen Job anbieten?«

»Wir müssten darüber einmal reden«, sagte Hansen. »Das setzt natürlich voraus, dass Sie mobil und flexibel sind. Würde Ihr Mann das denn verstehen, wenn Sie eine gute berufliche Chance nutzen wollen?«

Die Antwort dauerte etwas zu lange, so dass Hansen ahnte, in welch innerem Konflikt sie sich jetzt befand. Aber das interessierte ihn nicht, denn sein Vorschlag mit dem Job in Hannover sollte lediglich dazu dienen, um sie ins Bett zu bekommen. Meistens funktionierte das, denn Frauen wie Daniela Lange sehnten sich nach Geld, Einfluss und einem besseren Leben. Jürgen Hansen wusste sehr gut, wie man dieses Spiel beherrschte. Vermutlich wäre seine Frau entsetzt darüber gewesen, wenn sie jemals erfahren hätte, welchen privaten Interessen er während seiner Geschäftsreisen nachging, wenn sich ihm solch eine Gelegenheit bot. Aber diese Eskapaden hatte er in all den Jahren immer geschickt vor ihr verborgen. Sie wusste und ahnte nichts, und das war auch gut so.

»Es kommt darauf an, welche Perspektiven mir geboten werden«, meinte Daniela Lange. »Dazu müsste ich aber mehr wissen.«

»Gut, dann reden wir nachher mal darüber. Dieser offizielle Teil wird ja nicht so lange dauern, oder?«

»Eine Stunde, vielleicht auch zwei – aber mehr nicht.«

»Manchmal muss man eben etwas Geduld haben und warten, wenn man ans Ziel kommen will«, erwiderte er zweideutig. Dass Daniela Lange diese Anspielung verstanden hatte, ließ sie ihn mit einem kessen Augenaufschlag wissen. Für Hansen war das ein Zeichen, dass er aller Wahrscheinlichkeit heute Abend noch zum Ziel kommen würde. Er kannte solche Frauen. Sie gaben sich cool und flirteten dennoch auf Biegen und Brechen. In der Hoffnung, den tristen Alltag wenigstens für ein paar Stunden vergessen zu können.

Der Geschäftsmann aus Hannover wusste nichts über Daniela Langes Ehemann – und im Grunde genommen interessierte es ihn auch nicht. Auf jeden Fall schien seine Frau tun und lassen zu können, wonach ihr der Sinn stand. Ihm war das nur Recht.

Wieder fuhr der Wagen durch ein Waldstück. Dann fiel die Straße etwas ab, und danach tauchten die ersten Häuser des Ortes Friedewald auf. Es wirkte wie ein kleines unauffälliges Dorf, mit Bauernhöfen und vielen Einfamilienhäusern. Aber wo in aller Welt sollte denn hier ein Schloss sein?

»Da vorn, sehen Sie es?«, sagte Daniela Lange und zeigte nach rechts. Hansens Blicke folgten ihrem Hinweis, und dann erblickte er das Schloss. Es befand sich tatsächlich so versteckt in der Ortsmitte, dass man es erst erkannte, wenn man sich in unmittelbarer Nähe befand. Als der Golf vor dem Torbogen stoppte, war der Blick frei auf den Innenhof des Schlosses – und auf das große, noch sehr gut erhaltene Gebäude auf der anderen Seite.

»Der Empfang ist nachher im Rittersaal«, informierte ihn Daniela Lange. Aber am besten checken Sie erst einmal ein und machen Sie es sich in Ihrem Zimmer gemütlich. Es wird Ihnen an nichts fehlen.«

»Das kann ich nur behaupten, wenn Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten«, startete Hansen einen weiteren Versuch, um festzustellen, wie weit er jetzt schon bei ihr gehen konnte. Aber ganz so leicht war es dann doch nicht, denn Daniela Lange winkte mit einem Lächeln ab.

»Ich muss noch einmal zurück ins Büro«, erwiderte sie. »Aber wir sehen uns ja nachher. Um 18.00 Uhr werde ich da sein.«

»Das hoffe ich doch sehr«, sagte Hansen und stieg aus. Er nahm seinen Koffer und die Aktentasche und sah zu, wie Daniela Lange wieder die Schlossstraße hinauf fuhr. Sekunden später war sie seinen Blicken entschwunden.

Es wird ein sehr interessanter Abend werden – und hoffentlich gilt das auch für die Nacht, dachte er, während er mit seinem Gepäck zur Rezeption ging. Die kleinen Schneeflocken, die der Wind hin und her wirbelte, registrierte er aber nicht. Weil seine Gedanken bei Daniela Lange weilten.

*

Kurz bevor Daniela Lange den Gebäudekomplex der Verbandsgemeindeverwaltung in Bad Marienberg wieder erreicht hatte, klingelte ihr Handy. Es war ihr Mann Holger, und Daniela ahnte schon, warum er anrief. Sie seufzte. Konnte er sie denn nicht einfach mal in Ruhe lassen und sie nicht andauernd nerven? Sie hatte nun mal einen Job, der mehr von ihr verlangte als von 8 Uhr bis 5 Uhr im Büro Aktenordner von einer Seite des Schreibtisches auf die andere zu heben. Aber irgendwie hatte Holger das noch immer nicht begriffen.

»Ja?«, meldete sie sich schließlich. »Holger, was ist denn? Ich habe noch zu tun.«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich schon zuhause bin«, erklärte er ihr dann. »Wann kommst du?«

»Holger, hast du vergessen, dass ich gleich noch auf Schloss Friedewald zu einem Empfang muss?«, erwiderte sie leicht gereizt. »Das habe ich dir letzte Woche schon gesagt. Aber du weißt es nicht mehr.«

»Entschuldige bitte«, hörte sie seinen leicht gekränkten Tonfall. »Aber die Nachtschicht war letzte Woche so anstrengend – da habe ich eben nicht daran gedacht, dass...«

»Schon gut«, fiel sie ihm ins Wort. »Holger, ich muss jetzt Schluss machen. Ich habe im Büro noch einige Dinge zu erledigen, und dann muss ich auch schon rüber nach Friedewald fahren.«

»Du kannst ja mal kurz anhalten.«

»Ich habe keine Zeit, Holger«, versuchte sie nochmals ihm fast schon gebetsmühlenartig klarzumachen, dass es eben nicht ging. »Es wird spät heute. Warte also nicht auf mich. Tschüss dann.«

Bevor er noch etwas darauf erwidern konnte, hatte sie das Gespräch auch schon abgebrochen und schaltete Sekunden später das Handy aus. Jetzt und auch in den nächsten Stunden wollte sie einfach nicht gestört werden. Nicht wenn sich ihr eine Möglichkeit bot, einen besseren Job zu bekommen. Und wenn es erforderlich war, zu demjenigen besonders nett zu sein, der ihr zu dieser Chance verhalf, dann gab es für Daniela Lange nicht das geringste Problem damit. Sie wusste, wann sich ihr eine Möglichkeit bot und wie sie diese am besten und effektivsten nutzen konnte. Und im Gegensatz zu früheren One-Night-Stands würde diesmal für sie etwas dabei herauskommen.

Auf dem Weg zu ihrem Büro begegnete sie dem Bürgermeister und lächelte ihm freundlich zu.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. Ich habe Herrn Hansen ins Schlosshotel gefahren. Ich glaube, es gefällt ihm dort. Zumindest war er sehr angenehm überrascht, als er vor dem Schloss stand.«

»Sehr gut, Frau Lange«, lobte sie ihr Chef. »Sie würden mir übrigens einen großen Gefallen tun, wenn Sie sich heute Abend ein wenig um unseren Gast kümmern. Sie sind doch eine gute und intelligente Gesprächspartnerin.«

»Das tue ich gerne«, versicherte sie dem Bürgermeister. Allerdings mit dem Hintergedanken, dass dabei ihre persönlichen und weiteren beruflichen Interessen im Vordergrund standen.

*

18.00 Uhr

Im Rittersaal »Graf Heinrich« auf Schloss Friedewald