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Zwei Verbrechen so unheilvoll wie Gewitterwolken in den Bergen: Die atmosphärischen Thriller von Luca D'Andrea und Dario Correnti in einem Band!
»Das Böse, es bleibt« von Luca D'Andrea:
Südtirol, im Winter. Marlene ist auf der Flucht, panisch steuert sie ihr Auto durch den Schneesturm. Im Gepäck: ein Beutel mit Saphiren, den sie ihrem skrupellosen Ehemann aus dem Safe entwendet hat. Er ist der Kopf einer mafiösen Erpresserbande, und Marlene weiß, dass er seine Killer auf sie hetzen wird. Da stürzt ihr Wagen in eine Schlucht. Marlene erwacht in einer abgelegenen Berghütte, gerettet von einem wortkargen Alten. Bei ihm und seinen Schweinen glaubt sie sich in Sicherheit vor ihrem Mann. Bald jedoch stellt sie mit Entsetzen fest, dass von dem Einsiedler eine noch größere Gefahr ausgeht …
»Kälter als der Tod« von Dario Correnti:
Am Rand der Alpen nahe Bergamo wird eine junge Frau grausam ermordet aufgefunden. Gerichtsreporter Marco Besana ist einer der ersten am Tatort und von der Brutalität des Täters fasziniert. Als das nächste Opfer auftaucht, wird Besana klar: Das ist der Fall, auf den er sein Leben lang gewartet hat. Der Fall, der seine Karriere krönen könnte. Zusammen mit seiner Praktikantin folgt er der blutigen Spur, die der Serienkiller in dem kleinen verschneiten Dorf hinterlässt. Aber der Killer ist nicht nur schlau, sondern auch eiskalt. Und erst mit Hilfe einer alten Fallakte beginnt das ungleiche Ermittlerduo zu ahnen, wo das Böse eigentlich lauert ...
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Seitenzahl: 1022
Atemberaubende Bergthriller im Doppelpack!
»Kälter als der Tod« von Dario Correnti: Am Rand der Alpen nahe Bergamo wird eine junge Frau grausam ermordet aufgefunden. Gerichtsreporter Marco Besana ist einer der ersten am Tatort und von der Brutalität des Täters fasziniert. Als das nächste Opfer auftaucht, wird Besana klar: Das ist der Fall, auf den er sein Leben lang gewartet hat. Der Fall, der seine Karriere krönen könnte. Zusammen mit seiner Praktikantin folgt er der blutigen Spur, die der Serienkiller in dem kleinen verschneiten Dorf hinterlässt. Aber der Killer ist nicht nur schlau, sondern auch eiskalt. Und erst mit Hilfe einer alten Fallakte beginnt das ungleiche Ermittlerduo zu ahnen, wo das Böse eigentlich lauert ...
»Das Böse, es bleibt« von Luca D‘Andrea: Südtirol, im Winter. Marlene ist auf der Flucht, panisch steuert sie ihr Auto durch den Schneesturm. Im Gepäck: ein Beutel mit Saphiren, den sie ihrem skrupellosen Ehemann aus dem Safe entwendet hat. Er ist der Kopf einer mafiösen Erpresserbande, und Marlene weiß, dass er seine Killer auf sie hetzen wird. Da stürzt ihr Wagen in eine Schlucht. Marlene erwacht in einer abgelegenen Berghütte, gerettet von einem wortkargen Alten. Bei ihm und seinen Schweinen glaubt sie sich in Sicherheit vor ihrem Mann. Bald jedoch stellt sie mit Entsetzen fest, dass von dem Einsiedler eine noch größere Gefahr ausgeht …
Dario Correnti ist das Pseudonym zweier erfolgreicher italienischer Autoren. Ihr Thrillerdebüt »Kälter als der Tod« wurde in 15 Länder verkauft.
Luca D'Andrea wurde 1979 in Bozen geboren, wo er heute noch lebt. Er stieg mit seinem ersten Thriller sofort in die Riege der internationalen Top-Autoren auf: »Der Tod so kalt« erschien in rund 40 Ländern, wurde mit dem Premio Scerbanenco, dem renommiertesten italienischen Krimipreis, ausgezeichnet und stand in Deutschlang monatelang in den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Südtirol-Thriller »Das Böse, es bleibt« und »Der Wanderer« wurden ebenfalls zu Bestsellererfolgen.
Dario Correnti, Luca D‘Andrea
Eiskalte Bergthriller
Zwei Romane in einem Band
Kälter als der Tod
Das Böse, es bleibt
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»Kälter als der Tod«
Copyright © 2018 by Dario Correnti
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © GettyImages/Steven Beijer/EveEm
Redaktion: Amelie Thoma
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
»Das Böse, es bleibt«
Copyright © 2017 by Luca D‘Andrea
This edition published in agreement with Piergiorgio Nicolazzini Literary Agenca (PNLA)
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
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Umschlagmotiv: franckreporter/E+/Getty Images; © Erni/Fotolia.com
978-3-641-28617-0
www.penguin-verlag.de
Dario Correnti
Aus dem Italienischen von Brigitte Lindecke
»Ich will mindestens fünftausend Zeichen«, sagt Besana und betätigt den Scheibenwischer, ehe ihm klar wird, dass es kein Wasser ist, was da über die Windschutzscheibe rinnt. Denn in Wirklichkeit rinnt es nicht, und an den Seiten hat sich bereits ein weißer Rahmen gebildet. Schnee, das hat gerade noch gefehlt. Besana setzt den Blinker und zieht in die rechte Spur hinüber, den Artikel wird er in der Raststätte schreiben. Er kann nicht riskieren, ausgerechnet heute Abend auf der Autobahn nach Mailand stecken zu bleiben.
»Vertrau mir, verdammte Scheiße«, fügt er, immer noch über die Freisprechanlage, hinzu. Und er weiß nicht so recht, ob sich dieses so tief empfundene Scheiße auf den Lastwagen vor ihm bezieht, der ihn gerade geschnitten hat, oder auf den Ressortleiter, der sich immer anstellt, als würde er das Papier aus eigener Tasche bezahlen.
Dann bricht die Verbindung plötzlich ab. Der Akku ist leer. Und er hat schon wieder das Ladekabel fürs Auto zu Hause vergessen.
Besana parkt den Wagen, schlägt die Tür hinter sich zu und rennt los. Gebeugt, den Rucksack schützend über dem Kopf, erreicht er den Eingang der Raststätte.
»Ganz schönes Sauwetter, was?«, sagt eine junge Frau hinter der Kasse. Der erste Lichtblick seit zehn Stunden. Das war aber auch bitter nötig.
Mit leicht schwankendem Gang bewegt er sich auf sie zu. Er konnte noch nie richtig laufen, selbst wenn er nüchtern ist, wirkt er betrunken.
»Vielleicht darf ich ja hier übernachten?« Er lächelt sie an. Sie langweilt sich offensichtlich, da kann es nicht schaden, ein bisschen mit ihr zu flirten. Außerdem muss er sie gleich noch um einen Gefallen bitten: Er muss unbedingt sein Handy aufladen, und zwar schnell.
»Meine Schicht ist um acht zu Ende. Fragen Sie meinen Kollegen.« Aber sie lächelt zurück, sie hat angebissen, und nachdem sie ihm zwei Päckchen Zigaretten über den Tresen geschoben hat, hilft sie ihm, ein Brötchen auszusuchen.
»Bresaola? Ich bitte Sie. Ich habe Hunger bis unter die Arme«, sagt er und zeigt auf eins mit Speck und Brie. »Und ein Bier, ein kleines, fürs Erste.«
Er versteht selbst nicht, wie er nach diesem widerwärtigen Anblick einen solchen Hunger haben kann. Die Hälfte der Journalisten vor Ort musste sich übergeben, obwohl nur ein Foto gezeigt wurde.
Er entscheidet sich für einen Tisch am Fenster, mit Blick nach draußen. Zum Schnee ist es jetzt auch noch dunkel geworden. Wäre das Ambiente nicht so schäbig, könnte er sich einbilden, in einem Restaurant direkt am Wasser zu sitzen.
»Ich mach es Ihnen warm und bringe es Ihnen gleich«, ruft die junge Frau. Der Saal ist groß, aber vollkommen leer. Da sie beide heute Abend allein sind, kann seine neue Freundin einmal so tun, als wäre sie die Chefin. Vielleicht träumt sie ja wirklich davon.
»Danke, Sie sind ein Engel. Und da wir schon mal dabei sind, würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Solange Sie mich nicht fragen, ob Sie rauchen dürfen«, entgegnet sie lächelnd, als sie sieht, dass er mit Zigarette im Mund vor seinem iPad sitzt.
Besana schüttelt den Kopf und erläutert sein Problem, vernachlässigt auch nicht die Tatsache, dass er unbedingt seinen Chef anrufen muss, weil er an einer höchst wichtigen Sache dran ist.
»Ein Verbrechen?« Mit seinem Handy in der Hand, bleibt die junge Frau wie angewurzelt stehen.
»Ja, ein furchtbares Verbrechen«, fügt er hinzu und gibt ihr mit einer freundlichen Kinnbewegung zu verstehen, dass er bereit ist, ihr ein paar exklusive Details zu verraten, sofern sie ihren Hintern in Bewegung setzt und eine Steckdose sucht.
»Oh, natürlich, Verzeihung«, sagt sie und verschwindet gehorsam hinter dem Tresen, um eine Minute später mit einem großen Bier zurückzukommen, auf Kosten des Hauses.
»Wie nett«, bemerkt Besana. »Genau das Richtige. Woher wussten Sie, dass ich so besser schreiben kann?«
Die junge Frau lächelt zufrieden und setzt sich zu ihm an den Tisch. Doch in diesem Moment klingelt Besanas Handy.
Er springt auf und beugt sich über die Theke, um ranzugehen. Seine Haltung ist etwas fragwürdig, aber er entschärft die zweideutige Pose mit einem Augenzwinkern, während seine neue Freundin die Ohren spitzt. Eine solche Abwechslung kann sie sich nicht entgehen lassen.
»Fünftausend, das ist mein letztes Wort. Ich mache den Job seit dreißig Jahren, und so etwas habe ich noch nie gesehen. Die Ermittler schließen momentan auch Satanismus nicht aus, nur damit du eine Vorstellung hast, wovon ich rede. Mein Akku ist leer, ich fasse mich also kurz: Man hat ihr die Eingeweide rausgeholt, und ein paar Hundert Meter weiter hat man ein Stück aus der Wade gefunden. Sechstausend, perfekt. Aber ich muss in einer Raststätte schreiben, also sorg dafür, dass die Zeitung bis ultimo besetzt bleibt. Ich weiß, dass es kein Problem ist, ich weiß.«
Die junge Frau starrt ihn wie hypnotisiert an, sie ist bereit, ihm den ganzen Abend Bier auszugeben. Es stimmt nicht, dass sie um acht abgelöst wird.
Am nächsten Tag herrscht in der Redaktion dicke Luft. Bevor der Chefredakteur in die Redaktionskonferenz geht, legt er sich mit dem Ressortleiter an, weil der einen so aufsehenerregenden Fall diesem Querkopf von Besana überlassen hat, den er lieber gestern als heute in den Vorruhestand schicken möchte, statt Luca Milesi, seiner neuen Edelfeder.
»Milesi war gestern beim Fernsehen in Rom«, verteidigt sich der Ressortleiter, »irgendjemanden musste ich ja zum Ortstermin schicken.«
»Jetzt werden wir ihn nicht mehr los«, entlässt ihn der Chefredakteur verärgert. »Du weißt doch, wie stur er ist. Er wird jetzt sagen, dass es sein Fall ist.«
Gegen eins, nachdem die Konferenz zu Ende ist, erwartet den Ressortleiter eine weitere Unannehmlichkeit. Als er an seinen Schreibtisch zurückkehrt, sitzt da bereits Ilaria Piatti. Aber früher oder später muss ihr ja jemand beibringen, dass sie in der Branche keine Chance hat. Es weht nun mal ein rauer Wind, Stellen werden gestrichen, und die Gewerkschaften machen dauernd Ärger, das arme Mädchen hat sein Praktikum eben zur falschen Zeit gemacht.
Er grüßt knapp und mustert sie. Sie trägt aber auch nicht gerade dazu bei, ihre Lage zu verbessern. Immer kreuzt sie in fürchterlichen Klamotten in der Redaktion auf, und heute ist sie zu allem Überfluss auch noch klatschnass. Stimmt schon, es schneit wie verrückt, aber sie hätte doch einfach einen Schirm mitnehmen können. Stattdessen kommt sie in Regenmantel und Gummistiefeln, als wäre die Redaktion ein Fluss, den es zu durchwaten gilt.
»Ciao, Roberto, hast du mal kurz Zeit für mich?«
»Nein, ich, also …«
Der Ressortleiter kneift einen Moment die Augen zu. Bitte nicht, bitte frag mich jetzt nicht, ob du bei uns eine Zukunft hast. Nicht jetzt.
»Also, ich … ich müsste mal mit Besana sprechen. Weißt du, ich habe seinen Artikel gelesen … und ich hätte vielleicht eine Spur.«
»Eine Spur? Du?«
Piatti hält die Luft an. Die Ärmste, schon eine Kleinigkeit versetzt sie derart in Aufregung. Es ist aber auch wirklich zum Lachen. Sechs Monate lang hat sie bestenfalls Meldungen über Verkehrsunfälle geschrieben. Das war das höchste der Gefühle.
»Nein, es ist eher … Na ja, ich denke, es handelt sich vielleicht … Jedenfalls, ich habe eins und eins zusammengezählt, also …«
»Also?«
Sie ist langsam, die Piatti. Vor allem, wenn man es eilig hat. Leicht neurotisch windet sie sich um ihre Gedanken, unfähig, in zwei Sekunden eine klare Aussage zu formulieren, wie es sich gehört. Schnell, direkt, simpel. Nein. Denkt sie, sie hat einen Psychoanalytiker vor sich?
»A-also«, stottert sie immer verstörter, »a-also … jedenfalls, ich glaube, dass es sich um einen Serienmörder handelt.«
Der Ressortleiter lacht laut auf. Das wird ja immer besser. Aber genug, er hat keine Zeit zu verlieren.
»Erzähl das Besana.«
»Ja eben«, gibt sie zurück. »Hast du seine Handynummer?«
Zehn Minuten, um nach Besanas Handynummer zu fragen? Der wird sie ebenfalls auslachen. Und dann wundern sich die Leute, dass sie nicht eingestellt werden.
»Lass sie dir von der Redaktionssekretärin geben.«
»In Ordnung. Danke, danke.«
Danke wofür? Niemand wird sie auch nur eine Zeile über diesen Mord schreiben lassen, was denkt die sich? Aber Hauptsache, sie verschwindet. Und zwar bitte sofort.
Ungeachtet des Schneetreibens sitzt Besana wieder im Auto. Er muss unbedingt nach Bottanuco, um noch einmal mit den Ermittlern zu sprechen. Im Fernsehen wird die Geschichte schon durchgehechelt, und Milesi macht Druck, weil er ihm den Fall wegschnappen will. Aber diesen hier bekommt er nicht, das kann er sich abschminken. Und wenn es sein letzter ist, aber dieser Fall gehört ihm.
Das Handy klingelt, die Nummer ist nicht in seinem Telefonbuch gespeichert, und Besana beäugt das Display misstrauisch.
»Ja bitte?«
»Guten Abend, Dottor Besana, entschuldigen Sie die Störung, hier ist Ilaria. Ilaria Piatti.«
»Es ist noch nicht Abend«, erwidert Besana trocken.
»Ach ja. Natürlich, entschuldigen Sie. Guten Tag.«
Die Piattola, Transuse, so nennen sie in der Redaktion alle. Zumindest die, die überhaupt über sie reden, für die meisten existiert sie gar nicht. Und sie ist wirklich eine Transuse. Was will sie überhaupt von ihm?
»Worum geht’s?«
»Na ja, ich wollte … also ich wollte mit Ihnen reden.«
»Worum geht’s?«, fragt er noch einmal.
Herrje, ist das mühsam mit ihr, sie kommt einfach nicht zum Punkt.
»Das ist eine lange Geschichte, könnten wir uns vielleicht auf einen Kaffee treffen?«
»Geht nicht, ich bin auf dem Weg in die Bergamasca. Erzählen Sie. Aber versuchen Sie sich kurzzufassen. Sagen wir, Sie haben fünfzig Zeichen. Inklusive Leerzeichen.«
»In Ordnung … Also … Ich glaube, dass der Täter ein Serienmörder ist«, stößt sie in einem Atemzug hervor.
Besana lacht. »Ich schätze, das waren sechzig bis siebzig Zeichen. In Ordnung und also hätten Sie getrost weglassen können. Wollen Sie diesen Beruf lernen oder nicht?«
»Natürlich, natürlich. Danke.«
Stille. Die Piatti erwartet eine Antwort.
»Und wie kommen Sie darauf, dass es sich um einen Serienmörder handelt? Wegen der Art und Weise, wie er die Leiche zugerichtet hat? Momentan gehen die Ermittler von einer Gruppe von Satanisten aus, wegen der Eingeweide und dem Stück Wade, das irgendwo in den Karpaten gelandet ist. Es ist jedoch zu früh, um etwas Genaueres zu sagen.«
»Ich weiß, ich weiß, aber … die Umstände erinnern mich an …«
»Piatti, es freut mich, dass der Fall Sie so beschäftigt, aber wir sind hier nicht bei Criminal Minds«, fällt Besana ihr ins Wort. Nun gut, sie ist eine Zwanzigjährige ohne Zukunftsaussichten, die in Kürze gefeuert wird, doch das ist nicht seine Schuld. Abgesehen davon wird auch er in Kürze gefeuert.
»Hat man zufälligerweise Nadeln gefunden?«
Besana macht fast eine Vollbremsung. Ein Idiot in einem SUV hat ihn gerade rechts überholt, ohne zu blinken.
»Nadeln? Nicht dass ich wüsste«, erwidert Besana.
»Und hatte sie Erde im Mund?«
»Auch davon ist mir nichts bekannt.«
»Schade«, sagt Piatti, »sonst wäre es wirklich identisch. Sogar das Datum, der achte Dezember.«
»Identisch womit?«, fragt Besana, nun doch hellhörig geworden.
»Einem anderen Verbrechen«, erwidert Piatti endlich mal etwas knapper.
»Und welchem?«
»Einem Fall aus dem neunzehnten Jahrhundert«, flüstert sie.
Besana schüttelt den Kopf. Kommt die ihm mit einem Fall aus dem neunzehnten Jahrhundert. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren.
»Also schön, Piatti, es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Aber ich muss jetzt wirklich Schluss machen. Ich muss tanken. Halten Sie die Ohren steif, es wird schon werden.«
»Wir wollen es hoffen«, entgegnet sie sanft.
Besana nimmt die Ausfahrt zum Rastplatz. Auch er hofft, nämlich dass seine Lieblingskellnerin wieder in seiner Stammraststätte ist. Wer weiß.
Bevor er zum Polizeipräsidium in Bergamo fährt, muss er kurz in Bonate Sotto bei Rosella vorbei, der Schwester seiner Frau. Nicht dass er sie besonders ins Herz geschlossen hätte, aber ihr Mann arbeitet bei der Kripo. Giorgio ist ein aufgeweckter Bursche, er könnte ihm behilflich sein.
Jedes Mal, wenn Besana durch diese Ortschaften fährt, wird ihm ganz eigenartig zumute. Sie haben etwas Beklemmendes an sich. Deswegen hat er oft mit Marina gestritten, bevor sie ihn hat sitzen lassen. Sie, die nicht in Mailand leben wollte, und er, der sich ein Leben im Einfamilienhaus mit Garten nicht vorstellen konnte. Doch dann gefiel es Marina in Mailand sogar zu gut. Hätte er ihrem Wunsch nachgegeben und wären sie ins öde lombardische Hinterland gezogen, hätte sie sich vielleicht nicht in einen jungen Finanzberater verliebt. Mit dem sie wenigstens die Vorzüge der Stadt genießen konnte, so sagte sie, nicht wie mit ihm, der ja immer nur bei der Zeitung war.
Rosas Einfamilienhaus unter zwanzig anderen wiederzuerkennen, die sich alle bis aufs i-Tüpfelchen gleichen, ist eine ziemliche Herausforderung. Vielleicht sollte er sie besser anrufen.
»Ach, Marco! Was machst du denn vor meinem Haus? Ich seh dich vom Fenster aus.«
»Wirklich? Ich dachte schon, ich hätte mich in der Straße geirrt. Krieg ich bei dir einen Kaffee?«
Besana parkt den Wagen. Es hat wieder zu schneien begonnen, und er durchquert rasch den Vorgarten. Auf der Fußmatte mit der Aufschrift Welcome tritt er gründlich die Schuhe ab.
Rosa umarmt ihn und verstrubbelt seine Haare, um ein paar Schneeflocken abzuschütteln.
»Das ist ja eine Überraschung! Bist du wegen dem Mord an der Rumänin hier?«
»Erraten.«
»Na komm, rein mit dir. Kevin ist noch in der Schule. Hast du schon Mittag gegessen?«
Besana schüttelt den Kopf. Seit er alleine lebt, isst er abends meist Fertiggerichte aus der Tüte, Tagliatelle mit Steinpilzen oder Hühnchen alla Diavola. Kochzeit zehn Minuten. Der Gedanke an eine anständig zubereitete Mahlzeit rührt ihn beinah.
»Ich hab auch noch nicht gegessen. Komm, ich mach dir eine schöne Pasta mit dem, was da ist.«
»Danke.«
Seine Exschwägerin hat ein hübsches Gesicht, sie sieht Marina sehr ähnlich, aber sie ist ungeheuer dick geworden. Sie lebt nur noch fürs Essen. Die Gespräche zwischen ihr und ihrem Mann drehen sich immer um Restaurants, die sie ausprobieren möchten.
»Wäre eine Carbonara in Ordnung?«
»Wow«, sagt Besana und trottet Rosa hinterher durch das mit Ethno-Möbeln eingerichtete Wohnzimmer. Als wäre dieses Scheißeinfamilienhaus eine Kolonialvilla auf Bali oder in Malindi.
»Ich hab letzten Sonntag deinen Sohn gesehen«, sagt Rosa nun, während sie ihm voran in die Küche geht.
»Du Glückliche.«
»Jetzt sei doch nicht so.« Rasch deckt sie den Tisch und legt Platzsets hin, auf denen noch Marmelade und fossilisierte Cornflakes vom Frühstück kleben.
»Marina erfindet immer neue Ausreden, damit ich ihn nicht sehe«, beklagt sich Besana.
»Das stimmt doch gar nicht, sie kann nichts dafür.« Rosa träufelt Öl in eine Pfanne, um den Speck anzubraten. »Jacopo ist halt mittlerweile groß, er verbringt das Wochenende lieber mit seinen Freunden. Er ist siebzehn, da ist das völlig normal.«
»Mag sein«, gibt Besana zurück, während er den Kühlschrank öffnet, als wäre er zu Hause.
»Suchst du Bier? Das steht unten im Partykeller.«
Besana hasst Partykeller, aber für ein kühles Bier ist er zu allem bereit.
Als er in die Küche zurückkehrt, verquirlt Rosa gerade die Eier, und der Tisch ist für drei gedeckt.
»Giorgio hat angerufen, er kommt zum Mittagessen. Er freut sich, dich zu sehen.«
Besanas Gesicht hellt sich auf. Perfekt. Er muss sie nicht mal um einen Gefallen bitten und kann so tun, als hätte er tatsächlich nur vorbeigeschaut, weil er gerade in der Nähe war. Das Thema kommt so oder so auf den Tisch.
»Ich hatte richtig Lust auf Carbonara.«
»Und ich hatte Lust, mit dir zu reden«, entgegnet Rosa. »Du meldest dich ja nie.«
»Ich arbeite viel«, murmelt Besana.
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich wollte dich auch schon anrufen. Weißt du, ich mache mir Sorgen um Marina. Sie wirkt nicht gerade glücklich mit diesem Typen.«
Besana zieht die Schultern hoch.
»Warum gehst du nicht mal bei ihr vorbei? Lass dir eine Ausrede einfallen, Jacopos Ferien oder was weiß ich.«
Besana schüttelt den Kopf, er hat keine Lust, darüber zu reden.
»Wir kommunizieren nur noch über SMS.«
Außer Atem kommt Giorgio herein. Er musste einem Rentner, der ins Rutschen geraten war und die ganze Straße blockiert hatte, helfen, Schneeketten aufzuziehen.
»Das ist das reinste Chaos da draußen. Als wären die Winterreifen noch nicht erfunden worden.« Er legt Besana eine Hand auf die Schulter. »Na, mein Guter, hast uns wohl die Sonne mitgebracht, was?«
In ihrer gewohnt fröhlichen Art – ein guter Charakter, denkt Besana, im Gegensatz zu ihrer Schwester – bittet Rosa die beiden Männer zu Tisch.
»Die Pasta ist fertig, und jetzt will ich endlich alles über dieses Verbrechen wissen«, sagt sie.
Besana lächelt zufrieden. Was für ein Glück, er kann die Höflichkeitsfloskeln überspringen.
»Frag lieber deinen Mann, der weiß sicher besser Bescheid als ich.«
Mit vollem Mund beginnt Giorgio zu sprechen. Er hat eine Menge Vorzüge, aber gute Manieren gehören nicht dazu.
»Eine furchtbare Geschichte. Da denkt man immer, hier wäre alles so friedlich, aber in Wirklichkeit wird fast jeden Monat einer umgebracht. Und oft finden sie gar keine Leiche, viele bleiben einfach verschollen. Trotzdem, diese Geschichte hat alle schockiert. Das arme Mädchen. Wer ihr das angetan hat, muss ein Monster sein.«
Rosa platzt fast vor Neugier.
»Nun erzähl doch mal.«
Ihr Mann schüttelt den Kopf, während er seinen Teller mit einem Stück Brot auswischt.
»Willst du nicht erst zu Ende essen?«
Nein, das will sie nicht.
»Sie haben sie aufgeschlitzt wie ein Schwein und ihr die Eingeweide rausgeholt. Und da sie kein Schwein war, sondern eine hübsche junge Frau mit allem Drum und Dran, haben sie ihr auch die Genitalien entfernt.«
»Warum verwendest du den Plural?«, unterbricht ihn Besana.
»Weil ein derartiges Massaker an eine Sekte denken lässt.«
»Richtig, das wurde mir auch gesagt. Hab ich auch so geschrieben«, bestätigt Besana.
»Aber das ist noch nicht alles«, setzt Giorgio nachdenklich hinzu.
»Was denn noch?«
»Da waren Kannibalen am Werk. Es wurde auch ein Stück Fleisch herausgebissen.«
»Mein Gott!«, ruft Rosa aus und schlägt sich die Hände vor den Mund.
Besana wird hellhörig. Davon wusste er noch nichts.
»Gebissen? Aber dann müsste derjenige, der an ihr geknabbert hat, seine DNA hinterlassen haben.«
»Geknabbert ist gut. Wer auch immer es gewesen ist, hat fast die komplette Wade entfernt«, erklärt Giorgio. »Jedenfalls ermitteln wir gerade in der Richtung.«
»Das kommt mir allerdings ein bisschen merkwürdig vor«, überlegt Besana. »Eine Sekte wäre doch viel vorsichtiger, sie würde niemals derart offensichtliche Spuren hinterlassen.«
Giorgio nimmt sich noch etwas Pasta nach.
»Es ist bestimmt eine Sekte. Schon allein wegen der Nadeln, die man auf einem Felsen gefunden hat. Die müssen was zu bedeuten haben.«
Besana läuft es kalt über den Rücken. »Nadeln?«
»Ja, zehn Stück. Um einen kleinen Stein herum angeordnet. Wie eine Art Ritual.«
»Sonst noch irgendwas Auffälliges?«
»Sie hatte Erde im Mund.«
Besana springt auf.
»Entschuldigt mich, ich muss mal dringend telefonieren.«
Ilaria Piatti ist im Supermarkt, bei der Zeitung hat man sie mehr oder weniger vor die Tür gesetzt. Erst haben alle herumgedruckst, und dann hat man ihr ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nur im Weg sei und es nichts Sinnvolles mehr für sie zu tun gebe.
»Nicht mal Bildunterschriften?«
Als sie sich umgeschaut hat, saß neben dem Ressortleiter ein neues Mädchen. Ilarias Praktikum endet offiziell erst in einer Woche, aber sie hatten nicht einmal den Anstand, noch so lange zu warten.
Was sie aber am meisten verletzt hat, waren die Kolleginnen. Sie hat genau gehört, wie sie über sie gelästert und gelacht haben. »Wie die sich immer anzieht! Wie in Der Sturm.« Zwar flüsterten sie, aber sie kicherten laut.
Während Ilaria nun also ein Angebot für sechs Dosen geschälter Tomaten studiert – sechs? Was soll sie mit sechs Dosen? Sie hat ja nicht mal Freunde, die sie einladen könnte, und was die wiegen, immerhin muss sie sie bis in den sechsten Stock ihres Siebzigerjahre-Hochhauses schleppen, in dem der Aufzug dauernd kaputt ist –, klingelt ihr Handy. O Gott, Besana. Sie stolpert und wirft dabei zwei Pakete Fusilli herunter.
»Hallo?«
»Piatti, nehmen Sie den Wagen und kommen Sie sofort nach Bottanuco. Sobald Sie im Ort sind, rufen Sie mich an.«
»Ich hab keinen Führerschein.«
»Sie wollen Kriminalreporterin sein und haben keinen Führerschein? Na gut, dann nehmen Sie eben den Zug. Ich komme Sie am Bahnhof abholen. Sagen wir Bergamo, falls Sie keinen näheren Bahnhof finden. Aber ich kenne mich mit den Regionalzügen nicht aus. Suchen Sie sich im Internet die Fahrpläne raus und rufen Sie mich dann zurück.«
»Ich bin im Supermarkt, ich hab auf dem Handy kein Internet.«
»Scheiße noch mal, Sie sind ja eine Katastrophe. Wie wollen Sie denn etwas auf die Reihe kriegen, wenn Sie so hinter dem Mond leben?«
»Entschuldigung.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Piatti. Sie müssen nur mal in die Gänge kommen.«
»Keine Sorge, ich finde schon eine Lösung. Und dann ruf ich Sie sofort zurück.«
Ilaria legt auf und starrt noch einen Moment mit einem fast debilen Lächeln auf ihr Handy. Dann blickt sie sich um. Eine Mutter tippt auf ihr iPhone ein, während ihr Kind im Einkaufswagen Süßigkeiten auspackt. Ilaria geht auf sie zu.
»Signora?«, sagt sie so höflich wie nur möglich. »Ich fürchte, Ihr Kind sucht nach der Kinderüberraschung.«
»Huch, oh, danke«, erwidert die Frau. »Schatz, man darf die Eier nicht aufmachen, bevor man bezahlt hat. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Ilaria ist keine geübte Lügnerin, vielleicht muss sie auch das lernen.
»Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten? Ich müsste mal kurz im Internet nachsehen, wann ein Zug fährt, aber der Akku meines iPhones ist leer. Es dauert nur eine Sekunde.«
»Bitte«, erwidert die Frau und reicht ihr freundlich das Handy, beobachtet sie jedoch die ganze Zeit misstrauisch, nicht dass sie mit dem neuesten Modell durchbrennt.
Ilaria tippt blitzschnell. Mist, in Bottanuco gibt es keinen Bahnhof. Es gibt nur einen Zug nach Bressana Bottarone. Wo zum Teufel ist das? Rasch gibt sie das Handy seiner Eigentümerin zurück.
»Vielen Dank!«
Die sechs Dosen mit den geschälten Tomaten lässt sie links liegen und stürmt nach draußen.
»Besana? Es gibt nur einen Zug nach Bressana Bottarone. Ich kann um neunzehn Uhr sechsunddreißig da sein«, sagt sie und verschluckt die Wörter beinah vor Zufriedenheit.
»Wieso denn jetzt Bressana Bottarone? Das ist doch bei Pavia! Wie kommen Sie denn darauf, Piatti? Lassen Sie, ich such Ihnen eine Verbindung raus, das geht schneller. Verdammt noch mal, können Sie nicht mal Fahrpläne lesen?« Damit legt er auf.
Kurze Zeit später ruft Besana wieder an: »Los, laufen Sie zum Bahnhof. Aber bitte zum Hauptbahnhof, machen Sie nicht auch das noch falsch. Um achtzehn Uhr zehn geht ein Regionalzug. Steigen Sie in Verdello-Dalmine aus. Ich warte dort auf Sie. Kriegen Sie das hin?«
Als Ilaria Piatti das Bahnhofsgebäude verlässt, steht auf dem Parkplatz davor ein alter blauer Subaru, der kurz aufblendet. Schnell läuft sie über den Schnee und schlittert dabei wie auf Schlittschuhen, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, rutscht dann aber doch aus und knallt gegen die Beifahrertür.
Mit einem Seufzer hilft Besana ihr in den Wagen.
»Piatti, Ballerinas sind wohl kaum das passende Schuhwerk.«
Ilaria lässt sich auf den Beifahrersitz fallen und reibt die Hände zwischen den Oberschenkeln, um sie zu wärmen.
»Ich hab eiskalte Füße.«
»Das kann ich mir vorstellen. Wo ist Ihr Koffer?«
»Was für ein Koffer?«
»Wir schlafen heute Nacht hier, damit wir keine Zeit verlieren. Ich habe in einem Motel zwei Zimmer reserviert. Na gut, dann leih ich Ihnen eben einen Pulli. Wenn wir eine Apotheke finden, die noch auf hat, können Sie sich eine Zahnbürste kaufen.«
Ilaria sieht ihn verunsichert an. Besana bemerkt ihre Verlegenheit. Sie denkt doch wohl nicht allen Ernstes, dass er sie angraben will? Er lacht.
»Jetzt trinken wir erst mal einen Aperitif«, sagt er. »Ein bisschen Alkohol wird Sie wieder aufwärmen.«
Ilaria erwidert nichts, sondern blickt nur gebannt auf den Scheibenwischer, der wie ein Metronom das Verrinnen der Zeit unterstreicht und dabei laut quietscht.
»Der Aperitif ist mir heilig«, fügt Besana hinzu. »Ganz egal, was passiert. Selbst wenn die Welt untergeht, es interessiert mich nicht. Ich trinke in Ruhe mein Glas Weißwein, und wehe, jemand stört mich.«
Ilaria bleibt stumm.
»Piatti? Wie soll ich Ihr Schweigen deuten? Unterkühlung?«
Ilaria dreht sich zu ihm und lächelt ihn ein wenig melancholisch an.
»Ich hab nur gerade über etwas nachgedacht.«
»Über den Fall?«
»Nein, über diesen Beruf. Darüber, dass er selbst mit Eisfüßen wunderschön ist. Schade.«
Besana schnaubt.
»Hören Sie, Piatti, ich habe Sie nicht eingeladen, um Sie zu trösten, sondern damit Sie mir helfen, zu verstehen. Wenn Ihre Spur tatsächlich interessant ist, verspreche ich Ihnen, dass Ihr Name neben meinem unter den Artikeln stehen wird.«
Ilaria sperrt ungläubig den Mund auf.
»Wirklich?«
»Sie müssen es sich allerdings verdienen. Und vergessen Sie nicht, dass ich schon genug Probleme habe. Eine weinerliche Kollegin kann ich nicht auch noch gebrauchen, ist das klar?«
Ohne zu überlegen, fällt Ilaria ihm um den Hals.
»Ich bin so glücklich. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Das ist das Schönste, was mir je passiert ist. Ich habe immer Ihre Artikel gelesen und …«
Besana schneidet ihr das Wort ab: »Piatti? Ihr Praktikum ist zu Ende. Von heute an sind Sie Journalistin. Führen Sie sich also nicht auf wie ein kleines Mädchen, sondern bewahren Sie etwas Haltung. Sonst drehe ich sofort um und bringe Sie zum Bahnhof zurück.«
»Entschuldigung.«
»Jetzt suchen wir uns erst mal eine anständige Bar. Um auf gute Ideen zu kommen, braucht man ein ordentliches Glas Wein. Verdammt, die klappen in diesem Kuhdorf ja wirklich um sechs die Bürgersteige hoch.«
Schließlich finden sie doch noch eine Gaststätte mit einer Bar im Eingangsbereich. Nicht gerade glamourös, aber Besana ist mit seiner Geduld am Ende. Sie suchen sich einen Tisch in einer Ecke und bestellen zwei Gläser Sauvignon, die mit einem Schälchen labbriger Chips gebracht werden.
»Also«, sagt Besana und erhebt zum Anstoßen das Glas, »erklären Sie mir die Sache mit den Nadeln.«
»Dann waren welche da?« Vor lauter Aufregung verschüttet Ilaria ihren Wein auf die furnierte Tischplatte.
»Ja, es waren welche da«, bestätigt Besana ruhig, »Akupunkturnadeln, aber das kann man ja durchaus gelten lassen, oder?«
»Zehn? Auf einem Stein verteilt?«
»Genau. Was hat das zu bedeuten?«
»Das weiß ich nicht.«
Besana platzt fast der Kragen.
»Wie, das wissen Sie nicht? Warum haben Sie diese blöden Nadeln dann überhaupt erwähnt?«
»Weil dieses Verbrechen mich an ein anderes erinnert.«
»Das aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
»Richtig. In dem Fall waren es Nadeln, wie die Bäuerinnen sie benutzten, um ihre Haare hochzustecken, und natürlich keine Akupunkturnadeln.«
»Fahren Sie fort.«
»Haben Sie schon mal von Vincenzo Verzeni gehört?«
Besana schüttelt den Kopf.
»Er war der erste italienische Serienmörder. Na ja, eigentlich nicht ganz, denn vor ihm gab es noch einen gewissen Antonio Boggia, auch das Monster von der Via Bagnera genannt. Wissen Sie, Boggia hat nämlich in Mailand auch mehrere Leute umgebracht.«
»Piatti, Sie sind hier nicht in der mündlichen Prüfung. Kommen Sie zum Punkt.«
»Natürlich, Entschuldigung. Ich hatte mir nur gedacht, ich sage Ihnen …«
»Sagen Sie einfach und fertig. Denken Sie nicht.«
»Also, Boggia tötete, um seine Opfer auszurauben. Vincenzo Verzeni aber mordete aus reiner Mordlust. Es erregte ihn, die Frauen zu erwürgen, verstehen Sie? Das hat er während des Prozesses gestanden. Man kann es in den Akten nachlesen.«
»Also kurz gesagt, er kam so zum Orgasmus.«
»Genau. Und es steigerte seine Lust noch, wenn er ihr Blut trank. Hat man an der Leiche vielleicht auch Bissspuren gefunden?«
Besana nickt. Auch das konnte niemand wissen. Er selbst hat es ja gerade erst von seinem Exschwager erfahren.
»Dann ist der Modus Operandi also tatsächlich identisch.« Ilaria ballt die Hände zu Fäusten und boxt triumphierend in die Luft. »Yeah!«
Besana zieht eine Augenbraue hoch. Sie benimmt sich wirklich wie ein Teenager, das kann ja heiter werden.
»Und warum wissen Sie so viel über Verzeni?«
»Weil sich Cesare Lombroso mit ihm beschäftigt hat. Und ich hab während des Studiums eine Hausarbeit über ihn geschrieben. Über Lombroso, meine ich.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Es war Lombrosos zweiter Fall. Aber der erste Fall in der Geschichte, zumindest in Italien, in dem man mit einer wissenschaftlichen Analyse arbeitete. In gewisser Weise markiert er den Beginn der modernen Kriminologie.«
»Interessant«, sagt Besana nachdenklich.
Ilaria wühlt in ihrem Rucksack und zieht kurz darauf ein paar zerknitterte Blätter hervor.
»Hier. Die wollte ich Ihnen heute Morgen in der Redaktion geben, aber Sie waren ja nicht da.«
»Ihre Hausarbeit?«
»Ja, damit Sie einen kleinen Überblick haben. Wenn Sie mich fragen, haben wir es mit einem Nachahmer zu tun.«
»Sie meinen, einem Nachahmer eines Serienmörders aus dem neunzehnten Jahrhundert?«
»Nicht irgendeines Serienmörders. Des ersten Serienmörders.«
Besana blättert durch die Seiten.
»Lombroso war ein junger Psychiater, der noch ganz am Anfang seiner Karriere stand«, erklärt Ilaria. »Er interessierte sich für den Fall des jungen Bauern aus der Bergamasca, weil er seiner Ansicht nach kein Geisteskranker war. Er beschreibt ihn als sexuellen Sadisten und Vampir, der Menschenfleisch verzehrt. Aber er hält ihn für geistig völlig klar, verstehen Sie? Also sucht er nach einer anderen Erklärung für seinen Mordtrieb. Er untersucht zum Beispiel, ob dieser mit der Epilepsie zusammenhängt, an der seine Mutter litt, oder mit den Pellagrafällen, die in der Familie aufgetreten sind. Eine der Folgeerkrankungen einer Pellagra war zum Beispiel eine Form von Demenz, die Lombroso als Kretinismus bezeichnete.«
Besana schüttelt den Kopf.
»Piatti, niemand hat Sie um eine Zusammenfassung Ihrer Hausarbeit gebeten.«
»Entschuldigung.«
»Heute Abend lese ich alles. Darf ich den Ausdruck behalten?«
»Natürlich«, sagt Ilaria lächelnd.
Der Tag bricht an, über den Feldern liegt dichter Nebel. Giovanna folgt der Straße, doch wenn sie zurückschaut, verschwindet hinter ihr alles. Auch vor ihr ist das Nichts, und nur nach und nach, mit jedem Schritt, erobert sie ein winziges Sichtfeld. Das Fehlen jeglicher Perspektive lässt sie schwindeln, sie beinah die Orientierung verlieren. Ihr Vater, der oft die Kühe zur Weide in den Bergen hinauftreibt, sagt immer, wenn du in einer Wolke bist, merkst du nicht, ob du hinauf- oder hinabsteigst.
Es riecht nach Dung, und das mit Reif bedeckte Gras erscheint mal gelb, mal rosig. Der Schnee hat hier und da weiße Schollen hinterlassen. In dieser geisterhaften Landschaft tauchen die Dinge auf und verschwinden plötzlich wieder, dass einem fast bange wird. Was ist das dahinten? Ein Tier? Ein Pferd? Ein Esel? Durch den Nebel ist lediglich ein großer dunkler Schemen zu sehen. Als Giovanna näher kommt, erkennt sie einen Schuppen mit Strohdach, in dem Geräte aufbewahrt werden. Und das dort, was ist das? Den Schal fest um sich gezogen, weil es auch sehr kalt ist, geht sie weiter. Ach, ein Karren.
Sie hätte ohnehin nicht später aufbrechen können, auch wenn der Weg nach Suisio bei Tage, vielleicht sogar mit ein wenig Sonne, angenehmer gewesen wäre. Es ist Mariä Empfängnis, und sie muss zeitig ankommen, damit sie ihrer Mutter bei den Vorbereitungen für das Mittagessen helfen kann. Heute gibt es Fleisch. Ihr Vater hat extra einen Kapaun geschlachtet. Endlich einmal werden sie nicht nur Polenta essen. Zu Hause sind zu viele hungrige Münder zu stopfen, da schafft man es kaum, alle satt zu bekommen. Zum Glück haben die Ravasios sie aufgenommen, die sie wie eine Tochter behandeln.
Ihre Eltern hat Giovanna seit über einem Monat nicht gesehen. Aber nicht nur deshalb ist sie aufgeregt. Sie läuft eilig, voller Vorfreude, denn auch ihr Cousin kommt zum Fest. Vielleicht werden sie ja heiraten. Das würde ihr zumindest gefallen. Er ist so schön. Und außerdem ist sie schon vierzehn, da ist es Zeit. Sonst wird sie zu alt. Hier verliert sie für einen Augenblick das Gleichgewicht, sie ist auf einem Schneeklumpen ausgerutscht. Doch sie fängt sich wieder, zupft ihr Kopftuch zurecht und vergewissert sich, dass sie auch nicht ihr Medaillon mit Papst Pius IX. verloren hat, das sie stets um den Hals trägt. Ein Geschenk ihrer Großmutter, damit Gott sie beschützen möge. Da vernimmt sie ein Geräusch.
Sie dreht sich um, doch wohin sie auch blickt, ist nichts als Nebel. Also setzt sie ihren Weg fort, noch ein wenig schneller als eben. Aber nun hört sie wirklich Schritte. Umso besser, diese so leere und stille Straße hat ihr schon ein wenig Angst gemacht. Sie hebt eine Hand, um den Schatten zu grüßen, der sich ihr nähert. In Bottanuco kennt sie inzwischen jeden, auch wenn sie in Suisio aufgewachsen ist. Als sie jedoch sieht, dass die Gestalt hinkt, begreift sie, dass es sich um Vincenzo Verzeni handelt, und freut sich etwas weniger. Denn der ist ein merkwürdiger Kauz. Die ganze Familie ist merkwürdig.
Einmal hat sie gesehen, wie seine Mutter sich mit Speichel vor dem Mund am Boden wälzte, als wäre sie vom Teufel besessen. Sie ist entsetzt nach Hause gerannt. Glücklicherweise war gerade der Arzt bei den Ravasios. Der Doktor erklärte ihr, dass das mit dem Teufel rein gar nichts zu tun habe, sondern die Frau an Epilepsie leide und mit Blutegeln behandelt werde. Giovanna glaubt dem Doktor, doch die Familie Verzeni ist ihr trotzdem nicht geheuer.
Gerade gestern hat sie Maria Previtali getroffen, die war völlig aufgelöst und hat ihr erzählt, dass Verzeni sie soeben überfallen und in eine dunkle Straße gezogen hätte. Sie hat ihr geraten, sich vor ihm in Acht zu nehmen. Aber Giovanna hat ihr nicht geglaubt. Die Maria ist nämlich erst kürzlich aus dem Irrenhaus entlassen worden. Und denkt sich Sachen aus.
Nun aber, als Verzeni näher kommt, beschleunigt Giovanna ihren Schritt noch ein wenig. Er grüßt sie und fragt, wohin sie geht. Giovanna senkt den Blick. »Nach Suisio«, antwortet sie. Sie will mit ihm nicht vertraulich werden. Aber dennoch muss sie sich andauernd zu ihm umdrehen, um nach der Sichel zu sehen, die Verzeni bei sich trägt. Geht er auch am Tag der unbefleckten Empfängnis zum Arbeiten aufs Feld? Dann soll er die Sichel wenigstens gut festhalten, sonst tut er ihr damit noch weh. Doch Verzeni geht mit seinem eigentümlichen schwankenden Gang direkt neben ihr, die Schneide, die fast ihren Rock berührt, genau zwischen ihnen. Irgendwann verliert Giovanna die Geduld und sagt zu ihm: »Halt bitte dieses Ding da weg, sonst zerschneidest du noch mein Kleid. Das ist mein gutes Kleid, pass ja auf, sonst bring ich dich um.«
Zwei Tage später, am Samstag, herrscht auf dem Hof der Ravasios große Aufregung. Die Signora läuft auf und ab, ihr schwarzer Rock raschelt über den Boden. Immer wieder sagt sie zu ihrem Mann, wie seltsam es ihr erscheint, dass Giovanna noch nicht zurückgekehrt ist. So jung das Mädchen auch ist, so ist sie doch sehr zuverlässig. Was sie sagt, das tut sie. Und sie hatte ihr versichert, dass sie nur einen Tag in Suisio bleiben wolle. Gewiss kann sie sich ihr Mieder auch ohne sie ausziehen, die Köchin hilft ihr dabei, und kämmen kann sie sich allein. Aber sie ist besorgt, Giovanna ist für sie wie eine Tochter. Sie ist besorgt, weil gestern der Bauer Battista Mazza ins Dorf gelaufen kam, um allen zu erzählen, dass ein Wolf sein Unwesen treibe. Er hatte in der Höhle eines Maulbeerbaums die Eingeweide eines Lämmchens gefunden. Gegen Abend bittet die Signora Ravasio ihren Mann, sein Gewehr zu nehmen und sich mit ein paar Männern auf den Weg zu machen, um herauszufinden, wo das Mädchen abgeblieben ist. Das arme Ding, gütiger Gott. Ganz allein, wo ein solches Untier umherstreift.
Giovanni Battista Ravasio braucht nicht weit zu gehen. Bei einem Unterstand in der Nähe des Hofes findet er sie. Nackt bis auf den linken Strumpf liegt sie auf der Erde. Ihr Körper ist wie entzweigeschnitten, ausgeweidet. Ihr geöffneter Mund ist mit Erde gefüllt. Er läuft die anderen holen.
Und dann beginnt die Prozession. Das ganze Dorf kommt herbei, um die Leiche anzusehen. Die Leute flüstern. Dann waren die Eingeweide nicht die eines Lämmchens, es waren die von der Giovanna. Dann war es kein Wolf. Alle haben die zehn Haarnadeln bemerkt, die in geometrischer Anordnung auf einem Stein ausgelegt sind. Was ist das für ein makabres Ritual? Was für ein Teufel kann so etwas getan haben? Kurz darauf findet jemand in einer Hütte das Medaillon mit Papst Pius IX., das das Mädchen um den Hals trug. Auf dem Strohdach ein Stück Wade. Die Leute schwärmen aus, um überall nach weiteren Teilen dieses grauenvollen Puzzles zu suchen. Überall erleuchten Laternen die dunklen Straßen von Bottanuco und die noch dunkleren Felder: Die Jagd nach dem grausigen Schatz hat begonnen. Unter einem Heuhaufen finden ein alter Schuster und sein Enkel die Kleider. Eine Frau entdeckt im Schnee das Kopftuch, es lag gleich vor der Kirche von Bottanuco.
Niemandem ist danach, schlafen zu gehen. Die Männer reden bis tief in die Nacht. Am meisten überrascht alle, dass ein derartiges Verbrechen so nahe an einer belebten Straße geschehen konnte, obendrein an einem Feiertag, an dem vor der Kirche reges Kommen und Gehen herrschte. Und dann auch noch in einem zu allen Seiten offenen Schuppen, der schon von Weitem zu sehen ist. Diese zehn geometrisch angeordneten Nadeln müssen doch etwas zu bedeuten haben. Sie wirken fast wie ein okkultistisches Symbol. Wollte der Mörder eine Botschaft hinterlassen? Wenn ja, welche?
Auch die Frauen reden. Man munkelt, dass die Genitalien entfernt wurden. Aber was hat man ihr davor angetan?
Wie alle anderen geht sich auch Vincenzo Verzeni die Leiche ansehen. Nur etwas später, als man sie schon mit einem Tuch zugedeckt hat. Anschließend kommt er mit finsterem Blick nach Hause. Er sagt seiner Mutter, dass er zutiefst erschüttert ist, so sehr, dass er nicht an Essen denken mag. Das ganze Dorf ist zutiefst erschüttert. So etwas hat noch keiner gesehen. Nicht einmal die Wölfe bringen so was fertig.
Schließlich trommelt Besana auf seinen Bauch und verkündet, dass er Hunger hat. Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Gastraums im hinteren Bereich des Lokals.
»Was meinen Sie? Begnügen wir uns mit diesem einfachen Etablissement, oder sollen wir uns ein Sternerestaurant suchen?«
Ilaria senkt den Blick. Sie schämt sich zuzugeben, dass sie sich kein Sternerestaurant leisten kann. Aber sie braucht gar nichts zu sagen, denn Besana hat schon verstanden.
»Keine Sorge, die Zeitung zahlt. Ich lasse mir eine Rechnung für eine Person geben. Kost und Logis für Sie sind gedeckt.«
Ilaria bedankt sich schüchtern.
»Ich hab nicht mal eine Mehrwertsteuernummer.«
Besana klopft ihr freundschaftlich auf die Schulter.
»Als ob ich mir das nicht schon längst gedacht hätte. Was soll jemand, der keinen Führerschein und kein Smartphone hat, mit einer Mehrwertsteuernummer? Na los, wählen Sie einen Tisch aus.«
»Da drüben am Kamin«, schlägt Ilaria vor.
»Auch noch romantisch, das Mädel«, bemerkt Besana mit einem Zwinkern. Einem freundlichen und ironischen Zwinkern. Damit sie sich bloß nichts dabei denkt.
Sie bestellen eine Karaffe roten Hauswein und je eine Portion Polenta mit geschmolzenem Käse.
»Erzählen Sie mir von diesem Verbrechen«, fordert Besana Ilaria auf, »dem aus dem neunzehnten Jahrhundert, meine ich.«
Ilaria, die keinen Alkohol gewöhnt ist, ist schon ein wenig angeheitert und lässt sich zu einem leidenschaftlichen Vortrag hinreißen. Vor lauter Angst, einen schlechten Eindruck zu machen, redet sie wie in einem Fernsehbeitrag, als hätte sie ein Mikrofon vor der Nase. Besana hört ihr bis zum Schluss aufmerksam zu, unterbricht sie nicht ein Mal.
»Unglaublich«, sagt er schließlich. »Giovanna Motta war auch noch Hausmädchen, genau wie Aneta Albu. Das heißt also, er sucht seine Opfer nicht zufällig aus.«
»Ich weiß nicht viel über die Albu«, entgegnet Ilaria, »außer dass sie Rumänin war, das stand ja in jeder Zeitung. Ich dachte, sie wäre eine Prostituierte.«
»Nein, nein, sie war die Pflegerin von Notar Lecchi. Er ist vierundneunzig und sitzt im Rollstuhl, ihn können wir also als Verdächtigen ausschließen. Albus Verschwinden wurde von seiner Tochter, Giulia Maria Lecchi, und deren Ehemann, Franco Vimercati, gemeldet.«
»Wie alt?«, fragt Ilaria.
»Giulia Lecchi wird um die sechzig sein. Sie hat einen jüngeren Mann geheiratet, Vimercati ist ungefähr fünfzig.«
»Verdächtig?«
»Möglicherweise«, entgegnet Besana.
»Und wie alt war das Opfer?«
»Aneta war siebenundzwanzig und hatte einen dreijährigen Sohn, der bei ihren Eltern in Rumänien geblieben ist. Kein Ehemann, kein offizieller Verlobter. Mehr wissen wir im Moment nicht. Wie auch immer: Ich bestell uns einen Magenbitter, um die Polenta zu verdauen.«
Ilaria reißt die Augen auf. Wenn das so weitergeht, wird er sie ins Hotel tragen müssen. Aber Besana besteht darauf.
»Zwei, bitte«, sagt er zur Kellnerin.
»Nachher wird mir noch schlecht.«
»Keine Angst, sie werden sich morgen sowieso übergeben, wenn ich Ihnen die Fotos vom Tatort zeige. Aber jetzt stoßen wir erst mal an: Wir haben einen Scoop in den Händen, Piattola!«
»Was ist denn das für ein Spitzname?«
»Das ist nur nett gemeint«, beruhigt Besana sie. Dann sieht er auf seine Uhr. »Halb zehn«, sagt er, »wir schaffen es noch, den Artikel zu schreiben.«
»Was, jetzt?«
»Natürlich, sonst klaut uns noch jemand die Idee. Verzenis Geschichte ist hier in der Gegend sicher ziemlich bekannt, da können auch andere drauf kommen. Ich geh kurz raus und ruf den Ressortleiter an, hier drin ist es zu laut.«
»Aber dann verzögern wir den Redaktionsschluss, er bringt uns um.«
»Piattola, als Kriminalreporterin darf man vor nichts Angst haben.«
Um zehn Uhr abends schreiben Besana und Ilaria ihren ersten gemeinsamen Artikel vierhändig auf dem iPad. Um das Ganze zu beschleunigen, diktieren sie alles Siri, einem angeblich intelligenten Programm, das aber wie üblich alles falsch versteht.
»Schnell, lesen Sie mir den Artikel noch mal vor. Auf Siri können wir uns nicht verlassen. Das dumme Ding liegt immer daneben«, sagt Besana.
»Giovanna Motta – vierzehn Jahre alt – benahm die Erlaubnis, ihre Eltern zu …«
»Bekam die Erlaubnis! Korrigieren Sie, los! Sonst denken die noch, wir wären betrunken gewesen«, befiehlt Besana.
»Sind wir doch auch.«
»Ach was, da bin ich ganz anderes gewöhnt. Das Problem ist eher, dass ich eine besoffene Software erwischt habe.«
»Aus Suisio ist Physio geworden«, verkündet Piatti und blickt vom Bildschirm hoch.
»Korrigieren Sie und fahren Sie fort, sonst schließt die Zeitung um Mitternacht.«
Eifrig führt Ilaria den Befehl aus.
»Am frühen Morgen verlässt sie warum eingeparkt den Brauerhof der Familie rar war sie, auf dem sie als Markt arbeitet, und schlägt den Weg wir dich verstandene Felder ein. Du sie soll nicht in Physio ankommen. Niemand wird überleben sehen.«
Besana fasst sich an die Stirn. Dann winkt er verzweifelt die Kellnerin heran und bestellt den dritten Magenbitter.
»Ach du Schande, es wäre schneller gegangen, wenn wir selbst geschrieben hätten. Und dann besitzen sie die Frechheit, Siri als persönliche Assistentin anzupreisen. Was für ein Riesenbeschiss. Da richten ja Sie noch weniger Schaden an, Piattola. Und das will was heißen.«
Ilaria lacht, sie amüsiert sich prächtig. Zwar ist Besana reichlich speziell, aber er ist großzügig und sympathisch. Und außerdem versteht er sein Handwerk wie kein anderer. Sie begreift gar nicht, warum man ausgerechnet ihn in den Vorruhestand schicken will, obwohl er doch erst achtundfünfzig ist.
Nachdem sie endlich den Artikel abgeschickt haben, der dank Siri das reinste Schlachtfeld war, machen sie sich auf den Weg zum Motel. Im Auto schläft Ilaria ein – mit einem Lächeln auf den Lippen. Es ist ihr allererster Artikel, und sie hat ihn gemeinsam mit einer lebenden Legende geschrieben. Genauer gesagt, mit ihrem Lieblingskriminalreporter, ihrem ganz persönlichen Helden. Noch dazu hat sie gleich mit einem Scoop begonnen, das ist nun wirklich nicht übel. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung, dass sie bei der Zeitung bleiben darf.
Besana tätschelt Ilarias Arm, um sie zu wecken.
»Wir sind da, Piatti. Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie auf Ihren Füßen rein, ich bin nicht mehr der Jüngste, und wenn ich Sie mir über die Schulter werfe, riskiere ich einen Herzinfarkt.«
Ilaria streckt sich gähnend. Dann schlüpft sie in ihre durchnässten Ballerinas und trottet zur Rezeption.
Die übergewichtige Empfangsdame hat platinblond gefärbte Haare. Während sie die Ausweise entgegennimmt, knabbert sie unbeirrt weiter ihre Fonzies und starrt auf den Fernseher.
»Wir haben Themenzimmer. Das Einzige, das noch frei ist, ist Blütenblätter.«
»Aber wir hatten zwei Zimmer reserviert«, protestiert Besana.
»Steht hier nicht. Wir haben nur noch ein Doppelzimmer. Blütenblätter, wie gesagt. Mit Rosenblättern dekoriert.«
Besana und Piatti sehen einander an.
»Eins sage ich Ihnen gleich, ich schnarche«, warnt Besana sie.
»Ich auch«, erwidert Ilaria schulterzuckend.
Bevor sie sich am nächsten Tag auf die Suche nach einer Bar machen, in der sie ein anständiges Frühstück bekommen, holen sie noch schnell die Zeitung. Ilaria kauft sich gleich zwei Exemplare.
»Eine für meine Tante«, erklärt sie, »sie wohnt in New York.«
»Das ist die größte italienische Tageszeitung, Piatti. Es dürfte wohl kaum ein Problem sein, sie in New York zu bekommen.«
»Man kann nie wissen.«
Als Besana das Blatt aufschlägt, verfinstert sich seine Miene schlagartig.
»Diese Schweinebande, das haben die mit Absicht gemacht. So sieht es aus wie irgendein x-beliebiger Artikel. Und in der hingerotzten Bildunterschrift ist auch noch ein Druckfehler. Vollidioten«, schimpft er und schleudert seine Ausgabe in einen Mülleimer.
Ilaria läuft ihm hinterher. Sie hatte nicht mal Zeit, die Freude über ihren ersten Artikel auszukosten.
»Wo gehen Sie hin?«
»Zum Wagen. Wir müssen mit den Ermittlern sprechen, sofort.«
»Und unser Frühstück?«
»Mir ist der Appetit vergangen.«
»Aber ich brauche einen Kaffee, sonst kann ich nicht denken«, protestiert Ilaria.
»Was Sie alles wollen, Piatti. Wir lassen uns dort einen Kaffee geben.«
Während Besana den Wagen durch das Schneetreiben lenkt, erklärt er Ilaria, dass es kein Zuckerschlecken werden wird, mit der stellvertretenden Staatsanwältin zu sprechen.
»Beim vorigen Mal hat sie mich wie den letzten Dreck behandelt. Aber kein Wunder, die Lega Nord hat Unterschriften gesammelt, um sie loszuwerden. Man wirft ihr Unfähigkeit vor, weil es ihr nicht gelungen ist, den Mord an einem Kind aufzuklären, der Fall hat vor ein paar Jahren die ganze Gegend hier erschüttert. Die Petition gegen sie läuft gerade, und jeden Tag stehen irgendwelche fahnenschwenkenden Idioten vor ihrer Tür, da können Sie sich ja vorstellen, dass sie gerade etwas gereizt ist.«
Mit einem Mal reißt Besana das Lenkrad herum und macht eine Kehrtwende, wobei sie nur knapp einem Frontalzusammenstoß entgehen.
»Was ist passiert?«
»Ich hab’s mir anders überlegt«, erklärt er. »Wir fahren zu meinem Exschwager und erzählen ihm die ganze Geschichte. Er ist Polizist. Da haben wir größere Chancen, angehört zu werden.«
»Okay«, sagt Ilaria ein wenig erschrocken. Ganz schön launisch, dieser Besana. Wenn ihn etwas nervt, ist mit ihm nicht gut Kirschen essen.
Vor einem Einfamilienhaus macht Besana eine Vollbremsung, lässt die Scheibe runter und beginnt zu rufen.
»Rosa? Rosa! Rosaaaa!«
In der Tür taucht eine korpulente Frau in Morgenmantel und Pantoffeln auf.
»Willst du einen Kaffee?«, brüllt sie.
»Nein danke, ich muss dringend mit Giorgio sprechen. Ist er noch zu Hause oder schon in Bergamo?«
»Er ist noch hier, er duscht gerade. Komm rein!«
Besana parkt und steigt wortlos aus.
»Und ich? Was ist mit mir?«
»Na, was wohl? Glauben Sie, ich lasse Sie im Wagen festfrieren?«
Als Rosa das Mädchen sieht, stutzt sie kurz, ehe sie Besana leise fragt: »Ist das deine neue Freundin?«
»Was? Die da?«, gibt er uncharmant zurück. »Nein, das ist nur eine Kollegin.«
Rosa führt die beiden in die Küche, wo Kevin noch seine Schüssel Frühstücksflocken leert.
»Möchten Sie einen Kaffee, Signorina?«
»Danke, sehr gerne.«
»Warum so viel Aufregung am frühen Morgen?«, fragt Rosa.
Inzwischen kommt auch Giorgio im Bademantel hereingeschlurft. Er hat nicht damit gerechnet, dass Marco eine Kollegin mitbringt, und begrüßt sie verlegen. Besana nimmt Ilaria eine der beiden Zeitungen aus der Hand, die sie fest umklammert hält, und reicht sie seinem Schwager
»Hier, lies das. Sagt dir der Name Vincenzo Verzeni was?«
Während der Kaffee im Espressokocher auf dem Herd vor sich hin gurgelt, fasst Besana in wenigen Worten ihre Theorie zusammen und erklärt kurz, warum ihm nicht danach war, mit der zuständigen stellvertretenden Staatsanwältin über die Sache zu plaudern.
»Die Ärmste, ich kann mir gut vorstellen, dass sie nervös ist«, sagt Giorgio mitfühlend, »die legen ihr selbst zu Hause Drohbriefe unter die Fußmatte. Ich kann ja mit ihr reden.«
»Danke«, entgegnet Besana.
»Und ich hab noch etwas für dich. Du hast mir doch von dem Medaillon erzählt. Tatsächlich haben wir am Tatort ein Heiligenbildchen von Papst Johannes XXIII. gefunden.«
»Wirklich?«, fragt Ilaria ungläubig.
»Ja, trotzdem passt es nicht so ganz zusammen. Der Untersuchungsrichter denkt weiterhin, dass wir es mit einer Sekte zu tun haben, weil mehrere DNA-Spuren gefunden wurden. Natürlich die vom Biss am Unterschenkel. Aber man hat noch eine weitere gefunden: Sperma. Sie werden gerade beide analysiert.«
»Ist jemand befragt worden?«, erkundigt sich Besana.
»Soweit ich weiß, bisher nur die Familie, bei der die Albu gearbeitet hat. Aber da ist nichts Interessantes bei rausgekommen.«
Auf der Rückfahrt nach Mailand betrachtet Ilaria sich im Außenspiegel und lacht still in sich hinein. Es kommt ihr immer noch so unwirklich vor, dort neben Besana zu sitzen. Dass er ein wenig ruppig ist, macht ihr nichts. Sie möchte ihn so viele Dinge über seine Arbeit fragen, doch sie getraut sich nicht.
»Piatti, schlafen Sie?«
»Nein, ich denke über all die Fälle nach, über die Sie berichtet haben. Für mich ist es unglaublich aufregend, mich mit einem Serienmörder zu beschäftigen, aber Sie sind es vermutlich gewöhnt.«
»Gewöhnt würde ich es nicht nennen«, erwidert Besana, »an Serienmörder gewöhnt man sich nie. Und glücklicherweise gibt es nicht allzu viele. Aber ich gebe zu, dass diese Fälle einen sehr viel mehr mitnehmen als andere. Wenn ich recht überlege, ging es in meinem ersten Aufmacher auch um einen Serienmörder. Und nun werde ich meine Karriere mit einem Serienmörder beenden, fürchte ich. So schließt sich der Kreis. Ich frage mich, ob mir das Blut fehlen wird, wenn ich in Rente bin.«
»Glauben Sie wirklich, Sie werden es vermissen?«
»Na ja, im Grunde habe ich mein ganzes Leben damit verbracht. Zu Beginn meiner Karriere habe ich gelernt, es mir mit bloßem Auge anzusehen, dann wurde die Spurensicherung immer moderner, und Luminol kam auf. Also lernte ich, es mir im Dunkeln anzusehen. Plötzlich war es nicht mehr das rote Zeug, wie ich es kannte, sondern eine bläuliche Chemoluminiszenz. Das verändert die Perspektive auf einen Schlag. Anfangs versuchst du, herauszufinden, wo es herkommt und wohin es dich führt, dann wird plötzlich die DNA entdeckt, und dir wird klar, dass der Weg, dem du folgen musst, innen drin ist. Mein Verhältnis zum Blut hat sich oft verändert. Es ist ein bisschen wie mit der Ehe: Man durchläuft verschiedene Phasen. Deshalb frage ich mich, ob es mir fehlen wird.«
»Die Vorstellung gefällt mir. Dass man eine Art nostalgische Sehnsucht nach Blut haben kann. Ich glaube, ich kann es nachvollziehen.« Für einen Moment wirkt Ilaria abwesend, doch dann fasst sie sich wieder und fragt: »Wer war Ihr erster Serienmörder?«
»Giancarlo Giudice. Sie haben ihn durch Zufall geschnappt, bei einer Routinekontrolle, wenn ich mich recht erinnere, in Santhià. Verkehrspolizisten haben einen Wagen angehalten und bemerkt, dass der Beifahrersitz voller Blut war. Auf der Rückbank lagen zwei Pistolen und ein ebenfalls blutgetränktes Handtuch.«
Ilaria lauscht fasziniert. Sie hat schon immer von diesem Beruf geträumt, aber sie hat noch nie mit jemandem gesprochen, der ihn tatsächlich ausübt. Nicht mal während ihres Praktikums bei der Zeitung, wo immer alle zu beschäftigt waren, um ihr überhaupt irgendetwas zu erzählen.
»Es lag genug vor, um einen sofortigen Haftbefehl zu erwirken. Vor dem Richter gestand Giudice seelenruhig, ohne jedes Motiv eine Prostituierte ermordet zu haben, und er gab sogar den Ort an, an dem er die Leiche versteckt hatte. Sofort durchsuchte man Giudices Wohnung: Sie war bis unter die Decke vollgestopft mit Pornoheften, Fotos von nackten Frauen und Waffen aller Art. Es stellte sich heraus, dass er für all die Verbrechen verantwortlich war, die das Piemont über Jahre in Atem gehalten hatten: Zwischen 1983 und 1986 wurden dort neun Prostituierte ermordet.«
»Und wie?«
»Sechs wurden erwürgt, einer hat man die Kehle durchgeschnitten, und zwei wurden mit einem Nackenschuss getötet«, erklärt Besana.
»Keine einheitliche Vorgehensweise. Seltsam, oder?«
»Den Ermittlern hat Giudice damals gesagt, er wisse nicht, warum er diese Frauen getötet habe, er begreife selbst nicht, was in dem Moment, in dem er beschlossen habe, sie zu töten, über ihn gekommen sei. Er konnte nur sagen, dass es ein unwiderstehlicher Drang war. Anscheinend war es nicht die Vorgehensweise, die ihn interessierte.«
»Steckte ein Trauma dahinter?«
»Natürlich haben die Richter und Psychologen Giudices Kindheit durchleuchtet. Er war erst dreizehn, als seine Mutter starb, sein Vater war schwach und so gut wie nie zu Hause. Sobald er Witwer war, wurde er Alkoholiker, und wenig später heiratete er erneut, eine Frau aus Kalabrien, die er über eine Partnervermittlung kennengelernt hatte. Giancarlo hasste die Stiefmutter, träumte davon, sie umzubringen, und mit fünfzehn versuchte er sogar, sie zu vergewaltigen. Was natürlich Folgen hatte: Der Vater zog mit seiner neuen Frau nach Kalabrien und ließ ihn allein zurück. Giudice begann zu trinken und zu kiffen, nahm LSD und Kokain, das ganze Programm. Er war nicht in der Lage, normale Beziehungen zu Frauen zu unterhalten, ging aber auch nicht zu Prostituierten. Bis er 1983 die erste Prostituierte umbrachte.«
»Haben Sie ihn kennengelernt?«
»Nein. Aber ich habe mit den Psychiatern gesprochen, bei denen er in Behandlung war. Sie haben ihn als vollkommen unauffällig beschrieben, jemanden wie Sie und ich. Allerdings hat er in allen Einzelheiten den Todeskampf seiner Opfer geschildert und sich im Gefängnis mit seiner Grausamkeit gebrüstet. ›Wer weiß, wie viele ich noch umgebracht hätte, wenn ich nicht verhaftet worden wäre‹, soll er gesagt haben.«
»Wie Verzeni«, überlegt Ilaria. »Auch er hat zu Lombroso gesagt, man solle ihn besser im Gefängnis behalten, sonst würde er weiter töten.«
»Vielleicht wünschen sich das tief in ihrem Inneren alle«, sagt Besana. »Alle Mörder, meine ich. Vielleicht wollen sie aufgehalten werden.«
»Was ist aus Giudice geworden?«
»Das Schwurgericht in Turin hat ihn zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Berufung wurde das Strafmaß in dreißig Jahre Freiheitsentzug mit anschließender dreijähriger Sicherheitsverwahrung in der forensischen Psychiatrie umgewandelt. Mittlerweile ist er also wieder auf freiem Fuß, und niemand weiß, wo er sich aufhält.«
»Brrr.« Ilaria zieht schaudernd die Schultern hoch.
»Er wurde wegen einer angeblichen Exterroristin verhaftet, die an der Landstraße zwischen Asti und Alessandria auf den Strich ging. Eine unglaubliche Geschichte. An ein Detail erinnere ich mich noch genau: Sie wartete immer unter einer Werbetafel mit der Aufschrift Wir verkaufen Barbera auf Kunden. Zehn Jahre zuvor war sie an genau derselben Stelle in eine Straßensperre geraten und verhaftet worden. Da war sie mit einer Freundin in einem Cinquecento unterwegs und hatte fast zwanzig Millionen Lire an Bord, die Beute aus einem Raubüberfall, den wenige Stunden zuvor der Stiefbruder besagter Freundin begangen hatte. Sie bekam fünf Jahre Knast wegen Terrorismus, auch wenn die Bande, zu der sie gehörte, vor allem ein Haufen Provinzgangster war. Als sie wieder rauskam, setzte sie ihr erbärmliches Leben fort: Prostitution, Alkohol, Drogen. So traf sie eines Tages auf Giudice. Er bot ihr fünfzigtausend Lire, wenn sie sich nackt und mit Handschellen gefesselt fotografieren ließ, doch sie hat ihn zum Teufel gejagt. Das war ihr Todesurteil.«
Besana hat schon lange keinen so ruhmreichen Moment mehr erlebt. Der Artikel wird in allen Onlinezeitungen gebracht und immer wieder im Fernsehen zitiert.
»Ach was, die anderen hatten einfach nicht genug Fantasie«, spielt er seinen Erfolg mit der gewohnten Selbstironie herunter.
Obwohl er völlig blank ist und seine Frau ihm die Hölle heißmacht, weil er mit dem Unterhalt dauernd im Rückstand ist, lädt er die gesamte Nachrichtenredaktion zum Mittagessen ein. Natürlich das Tagesmenü zum Festpreis (Risotto alla Milanese oder Roastbeef + ein Soft-Getränk + ein Kaffee), aber schon das ist mehr als großzügig, gerade in Zeiten der Kurzarbeit.
»Ein Liter Hauswein für alle«, bestellt er.
Sofort macht eine Kollegin einen auf Asketin: »Ich trinke nie zum Mittagessen.«
Besana dreht sich zu ihr um und sagt treffsicher und gnadenlos: »Schatz, du könntest auch stocknüchtern über Modenschauen schreiben, das würde nicht das Geringste ändern.«
Allgemeines Gelächter. Hin und wieder, wenn er nicht gerade allen auf den Wecker fällt, ist Besana eigentlich ganz beliebt. Niemand weiß, wie viel er dazuerfindet, aber alle wissen, dass er die Wahrheit sagt. Der Ressortleiter – ein jungscher Typ von dreißig Jahren, der mit seiner Position alles andere als zufrieden ist, weil er eigentlich zum Politikressort wollte und eine Beförderung in der Nachrichtenredaktion für ihn einer Niederlage gleichkommt – bringt einen Toast aus.
»Auf Marco! Wir hatten seinen Artikel gerade hochgeladen, da hatte er schon zweihundert Likes! Die Verkaufszahlen der Printausgabe sind zwar immer noch im Keller, aber dann feiern wir jetzt einfach diese scheiß Likes. Auch wenn die kein Geld bringen, aber was soll’s. Ein Hoch auf die Likes!«
Besana ist fast so weit, seine Meinung über ihn zu ändern. Alles in allem ist er doch ein anständiger Kerl.
»Wie’s aussieht, stoßen nur wir beide an«, sagt er also freundlich zu Roberto, »die anderen haben alle Coke Zero bestellt. Und eigentlich ist es vor allem dein Erfolg. Du hättest ja auch sagen können, dass es eine totale Schnapsidee ist, einen Serienmörder aus dem neunzehnten Jahrhundert aus der Mottenkiste zu holen. Aber du hast mir vertraut.«
Roberto grinst: »Du Schweinehund hast mich bis Mitternacht in der Zeitung schmoren lassen. Allerdings hat es sich gelohnt«, gibt er zu.
Besana ist Komplimente nicht mehr gewöhnt. Mag sein, dass er bald abgesägt wird, allein schon, damit die Zahlen der Zeitung wieder stimmen, aber er ist eben doch ein wandelndes Stück Geschichte des Kriminaljournalismus, zumindest wenn er nicht zu besoffen ist zum Laufen. Trotzdem wünscht ihm seit Jahren – seit sich der Journalismus, oder die Wirtschaft im Allgemeinen, verändert hat – keiner mehr »Hals- und Beinbruch«, wenn er einen Artikel an die Zeitung schickt. Er erfährt nicht einmal mehr, ob er angekommen, seine Mail überhaupt durchgegangen ist.