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Ein abgelegenes Bergdorf im Engadin. Zwei Journalisten auf der Suche nach der Wahrheit. Ein Mörder grausamer als jedes Tier.
Als in den Schweizer Bergen ein Mann von einem Bären gerissen wird, soll der Journalist Marco Besana über das Unglück berichten. Doch Besana, schon lange in der Branche, glaubt an einen gewöhnlichen Bergunfall. Erst auf Drängen der jungen Reporterin Ilaria Piatti, die eine heiße Story wittert, beschließt Besana, gemeinsam mit ihr den Weg ins Hochtal Engadin anzutreten. Die beiden müssen nicht lange suchen, um weiteren mysteriösen Todesfällen auf die Spur zu kommen, und langsam beschleicht Besana eine dunkle Vorahnung: In dem vermeintlich so friedlichen Tal treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Ein Serienmörder, der wilder ist als jedes Tier …
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Seitenzahl: 506
Dario Correnti ist das Pseudonym zweier erfolgreicher italienischer Autoren. Ihr Thrillerdebüt »Kälter als der Tod« ist in 15 Ländern erschienen.
Kälter als der Tod in der Presse:
»Ein fesselnder Thriller – spannend, düster und überraschend«
Corriere della Sera
»Ein rasanter Thriller, der auf einer wahren Begebenheit beruht – spannend und mit einer guten Portion Ironie«
La Lettura
»Ein Thriller, der wahnsinnig schnell Fahrt aufnimmt«
L’Arena
»Ein düsterer, komplexer und faszinierender Thriller«
L’Eco di Bergamo
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DARIO CORRENTI
STILLER
ALS DER
TOD
THRILLER
Aus dem Italienischen von Brigitte Lindecke
Die italienische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Il destino dell’orso bei Giunti Editore, Mailand.
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Copyright © 2019 by Dario Correnti
First published in Italy by Giunti Editore 2019
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Cover: www.buerosued.de
Covermotiv: © mauritius images / Roberto Moiola / Alamy
Redaktion: Sigrun Zühlke
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-26193-1V001
www.penguin-verlag.de
Juli
»Kommt überhaupt nicht infrage.«
»Du kannst nicht immer Nein sagen, Marco«, insistiert der Ressortleiter. »Komm schon, es sind nur dreitausend Zeichen.«
»Wozu braucht man einen Kommentar? Was soll ich über einen Typen schreiben, der von einem Bären zerfleischt wurde? Willst du einen historischen Abriss von Herzog über Annaud bis Iñárritu? Frag doch einen von euren vielen Schriftstellern, für Geld geben die zu allem ihren Senf dazu. Warum nervst du mich mit so was?«
»Damit hättest du wenigstens mal wieder einen Auftrag, Marco. Ab und zu musst du doch mal was tun.«
»Seit ich in Rente bin, drückt ihr mir immer den Mist aufs Auge, den sonst keiner will. In der Reihenfolge: der Typ, den es beim Wingsuit-Fliegen an einem Felsen zerlegt hat, das Interview mit der Frau, die behauptet hat, ohne ihr Wissen geschwängert worden zu sein, Liebesbetrüger auf Facebook. Natürlich sage ich da Nein. Frag dich doch mal selbst, Roberto.«
»Hör zu, ich bitte dich um einen Gefallen. Dem Chefredakteur liegt daran, er kannte ihn.«
»Den Bären?«
»Ach, leck mich doch.« Dennoch muss Roberto lachen. Er bekommt von Besana nie, was er will, aber er mag ihn trotzdem. »Das Opfer ist ein großer Industrieller, Achille D’Ambrosio.«
»Eher ein großer Pleitier.«
»Stimmt, aber schreib das bitte nicht. Er ist gerade bei lebendigem Leib zerfleischt worden. Man hat seinen Kopf einen Kilometer weiter gefunden.«
»Heiliger Strohsack. Wo bitte ist das denn passiert, in Kanada?«
»In der Schweiz. In irgendeinem Wald in Graubünden.«
»Na schön, ich seh mir mal die Meldungen der Presseagenturen an.«
»Danke.« Der Ressortleiter seufzt erleichtert.
»Aber das ist das letzte Mal. Komm mir bloß nicht wieder mit solchem Unsinn.«
»Versprochen. Wir sehen uns heute Abend auf der Party. Du kommst doch, oder?«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Lust ich darauf habe. Da ist mir der Bär fast lieber.«
»Aber die ganze Redaktion wird da sein.«
»Eben.«
»Die Piatti macht dir die Hölle heiß, wenn du sie nicht begleitest.«
»Sie hat mich heute schon dreimal angerufen.«
Fluchend schaltet Besana den Computer ein. Der Vorfall hat sich in der Nähe des Ofenpasses ereignet, oberhalb von Zernez. D’Ambrosio war einen Tag zuvor verschwunden, und gegen Abend, nachdem er nicht ins Hotel zurückgekehrt war, wurde er als vermisst gemeldet. Wo genau er hingegangen war, konnte niemand sagen, nur, dass er im Nationalpark Steinböcke fotografieren wollte. Die Bergwacht schickte ihre Rettungshubschrauber los, Suchtrupps mit Hunden schwärmten aus. Doch das Gebiet war zu groß. Einen Tag später wurde der Leichnam durch Zufall entdeckt: Ein Förster fand ihn auf seinem Kontrollgang durch die Wälder unterhalb des Piz Daint. Der Bär hatte ein Halsband mit Sender getragen, der allerdings kaputt war und bereits seit Monaten keine Signale mehr sendete. Dennoch war bekannt, dass er sich in der Gegend aufhielt, weil er in Val Müstair bereits einige Kälber, zwei Schafe und einen Esel gerissen hatte.
Die Meldung geht noch weiter ins Detail, und Besana verliert allmählich die Geduld. Der Hauptverdächtige ist männlich, wiegt 189 Kilo, trägt den Namen M18, genannt Fulvio wegen seines falbfarbenen Fells. Er ist der Bruder von M13 und Sohn von KJ7, einer Bärin aus dem Trentino, wo er 2011 geboren wurde.
»Studienabschluss? Sexuelle Ausrichtung?« Besana schnaubt und streichelt seinen Hund, der die Schnauze auf sein Bein gelegt hat. »Ich muss jetzt die Biografie eines Sohlengängers schreiben. Schau mich nicht so an, Becks. Das ist doch eine gute Nachricht für dich. Eines Tages wird ein pensionierter Journalist auch deine Biografie schreiben.«
Becks wedelt mit dem Schwanz. Kaum zu glauben, dass er ihn anfangs gar nicht haben wollte, als Ilaria ihm den Hund geschenkt hatte. Bring ihn ins Tierheim zurück, hatte er gesagt. Ihn nach dem Bier zu benennen, war eine gute Entscheidung gewesen. Jetzt hat er ihn gerade mal seit ein paar Monaten und kann schon nicht mehr ohne ihn.
Becks war in einem Schuhkarton im Müllcontainer gefunden worden. Jetzt reicht er Besana bis zur Wade. Er ist eine Kreuzung aus einem Yorkshireterrier, einem Dackel und irgendwelchen anderen Mischungen. Sein Schwanz ist überproportional lang, wer weiß, von wem er den geerbt hat, die Beine sind kurz, die Schnauze ist die eines undefinierbaren Rassehundes. Und wenn man ihn streichelt, grunzt er vor Glück.
Besana beginnt wieder zu lesen. Nach ersten Informationen aus Sicherheitskreisen soll der Mann einen Schwächeanfall erlitten haben und erst in der Nacht von dem Tier angefallen worden sein. Da die Gegend nicht vom Handynetz abgedeckt ist, konnte er keine Hilfe rufen. Der Bär hat den Körper einen guten Kilometer von Kopf und Rucksack fortgeschleift und mit Laub bedeckt, um die Mahlzeit zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Zum Zeitpunkt des Angriffs lebte der Mann noch.
Besana probiert das einzige elegante Hemd an, das er besitzt, und flucht, weil er den Kragen nicht zubekommt. Vielleicht hat er zugenommen, aber er gibt lieber der Waschmaschine die Schuld. Bestimmt ist das Hemd beim Schleudern eingelaufen. Na schön. Dann zieht er eben keine Krawatte an, auch wenn eine Dame der gehobenen Mailänder Gesellschaft zum Essen eingeladen hat. Ihm doch egal. Er hat ohnehin nicht die geringste Lust hinzugehen, aber das Buch des Chefredakteurs wird vorgestellt, da darf er nicht fernbleiben.
Während er den Rasierschaum auf den Wangen verteilt, klingelt es an der Tür. Es ist noch nicht mal sechs, aber Ilaria ist schon da. Becks bellt wie verrückt, springt an ihr hoch und leckt ihr das Gesicht ab.
»Becks, runter mit dir«, ruft sie. »Du zerreißt mir noch den Rock.«
Besana mustert sie. »Was hast du denn da an, Piattola?«
»Warum? Stimmt was nicht damit?«
»Es sieht aus wie die Gardine meiner Oma.«
»Danke, Marco. Ich bin schon bis obenhin voll mit Angstlösern, deine aufmunternden Worte haben mir gerade noch gefehlt.«
Ilaria folgt Besana, der sich noch zu Ende rasieren muss, bis an die Badezimmertür, um ihm Gesellschaft zu leisten. Becks trägt ihr unermüdlich ein vollgesabbertes Stück Kordel hinterher, damit sie es für ihn durch den Flur zieht.
»Weißt du, wie ich gelernt habe, mich zu rasieren? Durch Das Mädchen und der Mörder«, erzählt Besana, während er den Rasierer über die linke Wange gleiten lässt. »Alain Delon spielt Trotzkis Attentäter. Bevor er zur Tat schreitet, rasiert er sich. Bis zu dem Tag hatte ich wirklich keine Ahnung, ich wusste nie, wie ich an die Haare unter dem Kinn rankomme. Der Film war eine Offenbarung.«
Ilaria lacht. »Du bereitest dich also auf ein Verbrechen vor?«
»Heute Abend sind sicher jede Menge Leute da, die ich liebend gern ins Jenseits befördern würde.«
»Ich hab in der Redaktion gehört, dass morgen ein Artikel von dir erscheint. Worüber hast du geschrieben?«
»Vergiss es«, brummt Besana und schneidet sich prompt.
»Du hast ja eine Laune.«
»Ich will dich mal sehen, nachdem du einen Tag lang über einen Typen geschrieben hast, der bei lebendigem Leib von einem Bären zerfleischt wurde.«
»Ah, der Pleitier.«
»Das darf ich noch nicht mal schreiben, er war ein Freund des Chefredakteurs.«
Ilaria schaut zum wiederholten Male auf ihre Uhr. »Beeil dich, sonst kommen wir zu spät.«
»Aber es ist doch erst sechs.«
»Schon, aber wir müssen noch einen Parkplatz suchen. Das ist dort nicht so einfach.«
»Es gibt ja auch noch Carsharing, Piatti. Die Flotte besteht aus Smarts, die kriegst du sogar in deine Handtasche. Fährst du?«
»Ich bin in der Fahrprüfung durchgefallen.« Ilaria senkt den Blick.
»Schon wieder?«
»Ich bin immer so aufgeregt, und dann passieren mir die dümmsten Sachen. Heute habe ich den Außenspiegel abgefahren. Als ich den Knall gehört habe, wusste ich, das war’s jetzt.«
»Piatti, früher oder später musst du doch mal die Prüfung schaffen. Ich kann nicht ewig den Chauffeur für dich spielen.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich versuche es noch einmal mit einer anderen Fahrschule. In meiner hab ich keinen besonders guten Ruf mehr.«
Besana zieht sein blaues Jackett über, er schwitzt jetzt schon.
»Ich bin fertig«, sagt er.
»Die hat ja gar keine Knöpfe mehr«, stellt Ilaria fest.
»Macht nichts, geht eh nicht mehr zu.«
»Bei zwei Dingen sollte man niemals sehen, wie sie gemacht werden: Wurst und Zeitungen«, sagt Besana gerade, während er sich Vitello tonnato auf den Teller lädt.
Ilaria sitzt mit ihrem Glas ganz allein in einer Ecke. Sie ist mondäne Abendveranstaltungen nicht gewohnt und weiß nicht, was sie sagen soll. Nachdem sie ihre Kollegen begrüßt hat, sind ihr die Gesprächsthemen ausgegangen.
»Ist der Platz noch frei?«, fragt eine Frau mit einem Teller Quinoasalat in der Hand.
»Natürlich, natürlich, bitte«, antwortet Ilaria wohlerzogen.
»Ich hab Sie doch schon mal irgendwo gesehen«, sagt die Frau. »Bei Ceci zu Hause?«
»Ich kenne keine Ceci.« Ilaria zuckt entschuldigend die Schultern.
»Dann bei Lilli?«
»Nein, tut mir leid.«
Die Frau ist vermutlich in ihren Sechzigern, jung geblieben, aber von einer gesellschaftlich akzeptierten Jugendlichkeit: bunte Brille und Overknee-Lackstiefel mit hohen Absätzen.
»Ich bin Marta.« Die Frau streckt ihr die Hand hin, die voller Ringe ist.
Der kleine Salon beginnt sich zu füllen. Ilaria fühlt sich ein wenig unwohl und überlegt angestrengt, worüber sie mit der Frau reden könnte.
»Und was machen Sie so?«
»Ich bin Bäuerin«, erwidert die Frau.
Aber die anderen ringsum lachen, als nehme Marta sie auf den Arm.
»Sie ist Künstlerin«, sagt eine Blonde, deren Haut vor lauter Vitaminspritzen beinahe durchscheinend wirkt.
»Wirklich?«
»Ich mache Skulpturen aus Wachs«, erklärt Marta.
»Wie Medardo Rosso?«
Der Name sagt ihr offensichtlich nichts.
»Ich mache andere Sachen«, erwidert sie ausweichend.
Und dann erzählt sie, sie habe schon als Kind gewusst, dass sie Künstlerin sei. Sie seien vier Geschwister gewesen, und alle perfekt, mit Ausnahme von ihr, die immer auf die Dächer ausbüxste und an Legasthenie litt. Sie war Linkshänderin und wurde korrigiert, ein furchtbares Trauma. Und sie las auch falsch herum, von rechts nach links.
»Als ich dann die Fotokopierer entdeckte, aus denen die Blätter gespiegelt herauskamen, verstand ich, dass ich eine Begabung habe.«
Sie habe sich für Physik eingeschrieben, weil elektromagnetische Wellen und Spiritismus sie faszinierten.
»Ich habe nie einen Abschluss gemacht, aber in den Jahren an der Uni habe ich viel gelernt. Wenn man die Gravitationstheorie kennt, weiß man alles über Geister.«
Ilaria nickt stumm.
»Aber jetzt beschäftige ich mich mit biodynamischer Landwirtschaft. Unser Familiensitz verfügt über einen großen Park, dort baue ich vor allem Heidelbeeren an.«
Sie holt ihr Handy hervor und zeigt Ilaria Fotos von ihrem Esel, der Sir Simon heißt.
»Wie das Gespenst von Canterville«, präzisiert sie.
Dann zeigt sie ihr ein Album ihres Lieblingshuhns Berenike, so genannt zu Ehren des Gespenstes des Portikus der Octavia. Während sie durch ihre Bilder scrollt, sieht Ilaria auch kurz Fotos von Kindern vorbeiblitzen, vermutlich ihre Enkel, aber sie scrollt weiter, lieber möchte sie ihr ihren Esel in allen möglichen Posen zeigen. Dann aber hält sie inne. Nachdenklich betrachtet sie das Foto eines Bären. Zieht es mit den Fingern auseinander, um es zu vergrößern.
»Das ist Fulvio«, sagt sie.
»Haben Sie auch einen Bären?«
»Nein, das ist das Foto, dass ich für die Petition ausgesucht habe. Armer Kerl, sie wollen ihn erschießen. Aber er hat den Mann nicht getötet.«
»Meinen Sie den Industriellen, der in der Schweiz gestorben ist?«
»Achille. Ich kannte ihn gut. Natürlich war ich auch erschüttert. Aber der Bär hat damit nichts zu tun, das ist ein Justizirrtum.«
In dem Moment taucht Besana auf. Ilaria lächelt und winkt ihn heran. »Zufällig beschäftigt mein Kollege sich gerade mit dem Fall«, sagt sie.
»Wirklich?«
Sofort packt die Frau Besana am Arm. »Hören Sie, er ist unschuldig! Dieser Bär ist unschuldig!« Dann blickt sie sich besorgt um. »Es ist nicht gut, hier darüber zu sprechen. Hier sind zu viele Leute, wir können niemandem vertrauen. Aber Sie sind Journalist, Sie müssen die Wahrheit erfahren. Wenn Sie wollen, komme ich morgen zu Ihnen in die Redaktion und erzähle Ihnen alles.«
Besana nickt und versucht, sich loszumachen. Aber Marta hält ihn immer noch fest, reckt den Hals und geht mit dem Mund ganz nah an sein Ohr heran.
»Achille ist vergiftet worden, genau wie die anderen«, flüstert sie und starrt ihn mit angsterfüllten Augen an.
»Corrado! Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist, ich hab dich gar nicht gesehen.«
Auf dem Weg nach draußen trifft Besana auf der Treppe einen Kollegen, Corrado Frangi, der nach dreißig Jahren in der Wirtschaftsredaktion ebenfalls in Rente gegangen ist, aber immer noch den Leitartikel schreibt. Er ist ein bisschen schwerer geworden, sieht aber ansonsten in seinem blauen Anzug tadellos aus.
»Ach, es waren so viele Leute da«, erwidert Frangi und umarmt ihn. »Warum trinken wir nicht noch einen kleinen Grappa in der Bar unten an der Ecke, wie in alten Zeiten?«
»Der Chef wirkte nicht sehr bekümmert über den Tod seines Freundes«, beginnt Besana, nachdem sie sich in der Bar einen Platz gesucht haben.
»Na ja, Freund scheint mir auch ein bisschen übertrieben. Er war ein paar Mal auf seiner Jacht zu Gast.«
»Immerhin Freund genug, um mich zu bitten, nicht den Begriff Pleitier zu verwenden, wenn ich über ihn schreibe.«
»Das ist vernünftig«, erwidert Frangi. »Sonst hättest du schneller eine Klage am Hals, als du gucken kannst. Schließlich gab es noch kein endgültiges Urteil, bisher wurde er lediglich in erster Instanz wegen Veruntreuung verurteilt. Er hätte jetzt in Berufung gehen müssen.«
Wütend knallt Besana das leere Glas auf den Tisch. »Wenn ich schon nicht Pleitier schreiben darf, dann hätte ich wenigstens gern verkrachte Existenz geschrieben, was aufs Gleiche hinausläuft. Mag sein, dass er noch mal um eine Gefängnisstrafe herumgekommen wäre, aber seine Angestellten hat er in die Scheiße geritten.«
»Die Sache ist etwas komplizierter«, beginnt sein Kollege zu erklären, während er sich die Krawatte zurechtrückt. »Wir reden hier über eine Sicherheitsfirma, die er vor ungefähr zwanzig Jahren gekauft hat. Die Firma lief nicht gut, die Geldtransporter, die er hätte überwachen sollen, sind mehrfach ausgeraubt worden, und die Versicherungen wollten nicht mehr zahlen. Am Ende waren die Schulden erdrückend, und die Banken verloren die Geduld. Gleichzeitig schwand das Barvermögen im Firmentresor. Man hat ihn beschuldigt, das Geld, Millionen von Euro, selbst herausgenommen zu haben, um sich Oldtimer, Motorboote, Rennräder und sogar Wurstschneidemaschinen zu kaufen.«
»Und, stimmt das etwa nicht?«, fragt Besana.
»Wer weiß das schon. Ich bin ein Verfechter des Rechtsstaates und behalte bis zum endgültigen Urteil, das es nicht mehr geben wird, meine Meinung für mich.«
»Das endgültige Urteil hat jetzt der Bär gesprochen.«
»Du bist immer noch der Alte, Marco.«
»Also, hat mich gefreut, dich zu sehen, Corrado.« Besana erhebt sich von seinem Stuhl. »Die Runde geht auf mich. Gute Nacht.«
Während er leicht benebelt vom Alkohol nach Hause geht, denkt Besana noch einmal über Corrado und ihre so unterschiedlichen Lebenswege nach. Sie hatten zusammen als Praktikanten angefangen. Jeden Abend um elf, zwölf Uhr hatten sie den stellvertretenden Chefredakteuren ihre Artikel gebracht und waren danach noch etwas trinken gegangen. Einmal hatten sie sich sogar ein Mädchen geteilt. Und nun seht ihn euch an, Corrado, trotz seines Alters immer noch fein herausgeputzt, und noch immer wird er gelegentlich ins Fernsehen eingeladen, um über Machenschaften in der Wirtschaft zu reden. Aber Wirtschaft und Finanzen sind natürlich auch etwas völlig anderes als Kriminalreportagen.
Der eine verkehrt mit Bankern, Industriellen und Politikern und wird in die Salons der feinen Gesellschaft eingeladen. Der andere klappert auch als alter Mann noch die Kriminalkommissariate ab und schreibt über zerstückelte Frauen oder von Bären zerlegte Pleitiers. Wenn er nur an den ehemaligen Chefredakteur denkt, gegen den wegen Betruges ermittelt wurde, weil er, um die Verkaufszahlen zu schönen, Abonnenten erfand und Ausgaben drucken ließ, die direkt wieder eingestampft wurden. Heute ist er Direktor einer staatlichen Behörde. Deshalb ist es von Vorteil, da zu katzbuckeln, wo es zählt: Wenn du fällst, kommt immer von irgendwoher eine Hand, die dir wieder aufhilft. Erst recht, wenn du ein paar schöne Dokumente in der Schublade hast, mit denen du jemanden erpressen kannst. Als einsamer Wolf hingegen, der Tag und Nacht pflichteifrig vor sich hin schuftet, lässt man dich gnadenlos fallen. »Was bin ich doch für ein Idiot«, sagt er laut zu sich selbst. Ein vorbeigehendes Paar dreht sich nach ihm um und schüttelt dann lachend den Kopf.
Ilaria schließt die Badezimmertür hinter sich ab und blickt sich um. Das Badezimmer ist so groß wie ihre ganze Wohnung. Es gibt sogar einen Sessel, für den Fall, dass einen auf dem Weg von der Dusche zur Badewanne die Müdigkeit überfällt. Die Dusche selbstverständlich mit integriertem Dampfbad, die Badewanne mit Massagestrahl wie im Schwimmbad. Auf einer endlosen Marmorplatte ruhen zwei Waschbecken, daneben nur ein paar Parfümflakons. Ansonsten erinnert das Bad eher an ein Gewächshaus, so voll ist es mit Pflanzen. Oder an ein Wohnzimmer, mit dem riesigen Kristallleuchter. Vor allem die wie im Hotel ordentlich zusammengerollten Handtücher haben es ihr angetan. Irgendjemand muss sie immer wieder in Form bringen. Da hört sie auf einmal Stimmen. Sie erkennt ihre Kolleginnen. Der Türgriff wird ein paarmal heruntergezogen, dann geben sie auf. Ilaria sitzt auf der Toilette, schafft es aber nicht, Pipi zu machen. Ihre Anwesenheit hinter der Tür stört sie. Sie lachen die ganze Zeit. Habt ihr gesehen, wie die sich wieder angezogen hat? Sie sieht aus wie aus dem Versandhauskatalog. Erneut Gelächter.
Ilaria nimmt ein Stück von dem superweichen Toilettenpapier, es ist sogar parfümiert. Sie versucht, sich zu konzentrieren. Aber nichts zu machen. Also streckt sie den Arm nach dem Bidet aus und dreht den Wasserhahn auf, vielleicht hilft ihr ja das Geräusch fließenden Wassers.
Doch das Gegacker vor der Tür lähmt sie. Vor allem, als ihr bewusst wird, dass sie von ihr reden. Die Piattola, sagen sie. Bei der Zeitung nennen sie alle so. Piattola, Klette. Oder Transuse. Oder noch schlimmer, Filzlaus. Ein gehässiger Spitzname, den man ihr gleich zu Beginn verpasst hat, als sie noch Praktikantin war. Eine Verballhornung ihres Nachnamens, Piatti. Auch Besana nennt sie manchmal so, aber auf eine liebevolle, reinigende Weise, beinahe als könne er damit das grausame kollektive Ritual unwirksam machen.
In der Redaktion schließen wir schon Wetten ab, sagt gerade eine Kollegin. Kommt sie heute im Jogginganzug? Mit Gummistiefeln? Im grellen neonfarbenen T-Shirt? Wir sterben jedes Mal fast vor Lachen. Aber am besten ist es, wenn sie versucht, elegant auszusehen. Habt ihr ihren Rock heute gesehen? Als hätte sie ihn sich aus dem Sofabezug meiner Oma genäht!
Ilaria zieht die Toilettenspülung, auch wenn es ihr nicht gelungen ist, Wasser zu lassen. Sie wäscht sich die Hände, einfach nur wegen des Vergnügens, diese Handtücher durcheinanderzubringen. Dann schnuppert sie an den Parfüms, aber keines gefällt ihr. Schließlich befeuchtet sie ihren Zeigefinger und reibt sich die verwischte Wimperntusche unter dem Auge weg. Dann öffnet sie die Tür.
Die drei Kolleginnen starren sie mit offenem Mund an. Ilaria erwidert ihren Blick. »Entschuldigt, dass es so lange gedauert hat. Ich musste schnell die Vorhänge fotografieren. Ich suche noch nach einem schönen Stoff für eine Hose.«
Als sie mit der U-Bahn nach Hause fährt, schwört sie sich, nie wieder auf eine Redaktionsparty zu gehen. Der Chefredakteur hat sie nicht einmal erkannt, aber er kann sich ohnehin nie an ihren Namen erinnern. Sie ist zu ihm gegangen, um ihn zu begrüßen, und er hat ihr nur verlegen zugenickt. Wer ist die denn? Und jedes Mal, wenn sie sich neben ihren Ressortleiter setzen wollte, den einzigen Menschen, den sie etwas besser kennt, ist er unter irgendeinem Vorwand aufgesprungen, als sei es unschicklich, mit einer wie ihr gesehen oder, schlimmer noch, fotografiert zu werden. Entschuldige, ich hol mir nur schnell was zu trinken. Entschuldige, ich will mal sehen, was es am Büfett gibt. Entschuldige, ich muss kurz einen Freund begrüßen. Von den anderen ganz zu schweigen, die ohnehin nie das Wort an sie richten. Nie wieder will sie so gedemütigt werden. Was hat sie denn überhaupt falsch gemacht? Noch nie wurde auch nur eine Zeile von dem, was sie geschrieben hat, dementiert. Behandelt man sie nur deshalb von oben herab, weil sie keinen Glamour hat? Weil sie diesen oder jenen nicht kennt? Weil sie einfach nur ihre Arbeit macht und sonst nichts?
Ilaria kommt gegen elf in die Redaktion. Sie geht jeden Tag bei der Zeitung vorbei, auch wenn sie immer noch keine feste Stelle hat. Selbst dass sie einen Serienmörder entlarvt hat, hat daran nichts geändert. Als der Chefredakteur sie damals in sein Büro gerufen hatte, dachte sie: Jetzt ist es so weit, jetzt stellen sie mich ein. Doch der Chefredakteur wollte sie nur beglückwünschen. Ausgezeichnet, Piatti. Aber mit Komplimenten kann man keine Rechnungen bezahlen. Offen gestanden hatte sie etwas mehr erwartet. Dann hatte sich der Chefredakteur eine halbe Stunde lang über die katastrophale Lage der Zeitung ausgelassen, Verluste über Verluste, und war dann aufgestanden, weil er zu einer Besprechung musste. Ausgezeichnet, Piatti, ausgezeichnet. Machen Sie weiter so. Sie sind sehr wichtig für uns. Ciao, ciao. Auf Wiedersehen. Dann hatte er ihr die Hand gegeben. Ein lausiger Händedruck, und das war’s dann auch gewesen.
Ihr war nur geblieben, seine Abschiedsworte wörtlich zu nehmen – auf Wiedersehen, ein Gruß unter Leuten, die sich nur vorübergehend trennen – und von da an weiterhin jeden Vormittag bei der Zeitung zu erscheinen.
Nun winkt Roberto sie zu sich und zeigt ihr ein Foto auf dem Bildschirm seines Computers. »Ist das nicht die Frau, mit der du gestern auf der Party gesprochen hast?«
»Ja, warum? Was ist mir ihr?«
Roberto deutet auf eine Eilmeldung der Presseagentur. Raubmord in Mailänder Innenstadt. »Man hat sie für eine Gucci-Handtasche ermordet«, sagt er.
»Oh, nein! Das ist ja verrückt.«
»Schreibst du mir was drüber?«
»In Ordnung.«
Während Ilaria zu Fuß zur Polizeiwache in der Via Fatebenefratelli eilt, ruft sie Besana an. »Marco, die Frau, mit der wir gestern Abend gesprochen haben, ist ermordet worden.«
»Die mit dem Bären?«
»Genau, Marta Guerra. Sie ist auf dem Heimweg überfallen worden. Ich bin gerade auf dem Weg zur Polizeiwache.«
Auf der anderen Seite herrscht Schweigen. Besana überlegt. »Piattola? Du nimmst doch wohl den Unsinn, den sie von sich gegeben hat, nicht ernst?«
»Sie war vollkommen irre, ich weiß. Aber es ist schon ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«
»Soll ich dir sagen, wie viele Raubüberfälle es pro Jahr in Mailand gibt? Ungefähr fünfzehntausend. Und einige gehen leider nicht gut aus.«
»Entschuldige, ich bin da. Ich rufe dich später wieder an«, sagt Ilaria nicht sonderlich überzeugt.
Sie betritt das Gebäude und fragt nach Hauptkommissar Ricci, zu dem sie mittlerweile ein ausgezeichnetes Verhältnis hat. Dann nimmt sie im Laufschritt die Treppe und erreicht sein Büro.
»Ich bin in Eile, Ilaria, ich habe gleich eine Besprechung«, sagt er, »also ganz kurz: Sie wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet, mit einer Schlagwaffe, die wir bislang noch nicht identifiziert haben. Wir sichten derzeit die Aufnahmen aus den Überwachungskameras.«
»Kann ich sie sehen?«
»Natürlich, Filangeri begleitet dich.«
»Seid ihr sicher, dass es sich um einen Raubüberfall handelt?«
»Hundertprozentig. Der Angreifer hat die Handtasche mitgenommen. Vermutlich ein Ausländer.«
»Gibt es viele Handtaschendiebstähle in der Gegend?«
»Nicht allzu viele, es ist ja kein Vorort. Aber es kommt schon mal vor.«
»Und wer hat sie gefunden?«
»Ein Anwalt, der gerade seinen Wagen geparkt hatte. Er hat sofort den Notarzt gerufen. Er kannte sie, er hat uns gleich ihre Personalien gegeben, und wir haben bereits ihre Tochter verständigt.«
»Kannst du mir ihre Kontaktdaten geben?«
»Ich leite dir ihre Handynummer weiter, sie wohnt im CityLife.« Dann steht er auf. »Warum interessierst du dich so sehr für einen Handtaschenraub?«
»Weil ich erst gestern Abend auf einer Party mit ihr gesprochen habe«, erwidert Ilaria. Einen Moment lang ist sie versucht, ihm von ihrer Unterhaltung zu erzählen, doch dann beißt sie sich auf die Lippe. Auch er würde nur sagen, dass die Frau eine Verrückte war. Doch Ilaria hat ein komisches Gefühl bei der Sache, und das lässt ihr keine Ruhe.
Es ist Mittag, Ilaria wartet in einem Restaurant nahe der Zeitung auf Besana. Endlich erblickt sie ihn, wie er zusammen mit Becks das Lokal betritt, der ihn mit fröhlichem Schwanzwedeln zielstrebig zu ihrem Tisch zieht, der immer derselbe ist. Becks staubt hier oft ein paar Fleischreste ab, daher seine Vorfreude. Marco setzt sich, während der Hund sich zu Ilarias Füßen niederlässt, die ihm gleich ein paar Grissini zusteckt. Die Kellnerin wartet gar nicht erst auf die Bestellung, Besana nimmt ohnehin immer das Gleiche: Puntarelle mit Anchovis, Artischockensalat, Schinken, Büffelmozzarella und Rosmarinfoccacia. Und eine schöne Flasche kühlen Gewürztraminer, weil es so warm ist.
»Ich hab mir das Video aus einer Überwachungskamera angesehen, die über einer Toreinfahrt an der Straße angebracht ist«, beginnt Ilaria sofort. »Die Aufnahme ist nicht sehr deutlich, es war ja dunkel und die Kamera ziemlich weit weg. Das Gesicht des Täters ist nicht zu erkennen. Aber man kann dennoch sehr gut sehen, wie die Sache sich abgespielt hat. Und drei Dinge haben mich verblüfft, die definitiv ungewöhnlich sind.«
»Piattola, ich weiß, worauf du hinauswillst, aber da geh ich nicht mit«, entgegnet Besana und schenkt ihr Wein ein.
»Hör mich doch erst mal an«, beharrt sie. »Der Täter schlägt der Frau dreimal brutal auf den Kopf und entreißt ihr erst dann die Tasche. Findest du das nicht ein bisschen übertrieben für einen Handtaschenräuber?«
»Vermutlich wollte er sie nur bewusstlos schlagen.«
»Na schön, nur mal angenommen, es war so. Erinnerst du dich noch an ihre Armbanduhr? Die war von Cartier. Warum hat er die nicht mitgenommen? Und die Ringe? Die waren echt. Das ist die zweite Sache, die ungewöhnlich ist.«
»Vielleicht ist er gestört worden«, erwidert Besana, »vielleicht hat er jemand kommen sehen.«
»Es ist mindestens fünf Minuten lang nicht mal ein Auto vorbeigefahren. Ich habe es überprüft.«
»Und die dritte Anomalie?«
»Das ist das Interessanteste, Marco. Natürlich hat man auch sämtliche anderen Überwachungskameras der näheren Umgebung ausgewertet, aber der Räuber taucht nirgendwo mehr auf. Er hat sich in Luft aufgelöst. Aber irgendwie muss er doch nach Hause gekommen sein. Die einzige Erklärung ist, dass er in einem der Häuser in unmittelbarer Nähe des Tatorts verschwunden sein muss. Hältst du es für wahrscheinlich, dass ein Handtaschendieb in einem solchen Viertel wohnt?«
»Aber warum sonst hätte jemand diese Irre umbringen sollen? Sie hatte nicht alle Tassen im Schrank, das war doch offensichtlich. Ich bitte dich, Ilaria, du bist nicht fest angestellt, und der Chefredakteur ist kein Freund von Verschwörungstheorien. Du tust dir damit keinen Gefallen.«
»Aber weißt du denn nicht mehr, was sie gesagt hat? Achille ist vergiftet worden wie all die anderen. Welche anderen?«
Ilaria betritt die Hadid-Residenzen zum ersten Mal. Sie ist mit Diletta, Marta Guerras Tochter, verabredet. Aber erst wird sie von einem Portier zurückgehalten, der sich telefonisch vergewissert, ob sie nach oben darf, dann von einer singhalesischen Haushälterin in blauer Schürze, die sie bittet, einen Augenblick im Eingang zu warten, die Signora sei am Telefon. Die Luxus-Penthouse-Wohnung erstreckt sich über zwei Stockwerke. Sie ist ringsum verglast und mit wenigen ausgewählten Designermöbeln eingerichtet. In dem weitläufigen Raum spielen drei Kinder Fangen. Das kleinste, ein Mädchen, schlittert über das Parkett, rasselt gegen Ilarias Beine und sieht an ihr hoch. »Warum ziehst du dich so komisch an?«
Ilaria möchte ihr am liebsten einen Tritt verpassen, doch stattdessen lächelt sie. »Wie heißt du denn?«
»Sveva. Und das ist mein Bruder Leone«, sagt das Mädchen und zeigt auf einen kleinen Irrwisch, der jetzt auf dem Sofa auf und ab hüpft.
In dem Moment ist ein vorwurfsvolles Rufen zu vernehmen, vermutlich die Mutter. »Cosimaaa! Hör auf, Chandra an den Haaren zu ziehen!«
Dann kommt Diletta mit eiligen Schritten herein. »Entschuldigen Sie, die Babysitterin holt gerade meinen Mann vom Flughafen ab. Er arbeitet in London«, sagt sie und streicht sich die Haare zurück. Ihre Augen sind geschwollen, sie ist ungeschminkt und barfuß, trägt jedoch eine Seidentunika von Etro. »Es ist alles ein bisschen schwierig im Augenblick.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Ilaria.
Diletta fragt sie leise, ob sie sich im Arbeitszimmer unterhalten können, damit die Kinder sie nicht hören, doch noch ehe sie darin verschwinden können, ist schon Leone bei ihnen.
»Mama, Mama! Im Fernsehen reden sie über Oma. Sie sagen, sie haben sie umgebracht, um ihr fünfzig Euro und eine Gucci-Handtasche zu klauen. Stimmt das?«
Diletta beugt sich zu ihm hinunter und nimmt ihn in den Arm.
»Wir reden heute Abend darüber, wenn Papa zurück ist. Versprich mir, deinen Schwestern nichts zu sagen, ja? Ihr könnt ein bisschen Peppa Wutz gucken.«
»Aber kommt man so denn trotzdem in den Himmel?«
»Was meinst du mit trotzdem, mein Schatz?«
»Auch ohne Geld?«
Ilaria muss sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Zum Glück hat Diletta ihr den Rücken zugekehrt, um die Tür zu schließen. »Jetzt bin ich für Sie da.«
»Ich werde Ihnen nicht viel Zeit stehlen, versprochen«, beginnt Ilaria. »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, ich bin nicht wegen eines Interviews hier.«
»Umso besser«, seufzt Diletta, »die lassen mir keine Ruhe.« In dem Moment klingelt das Handy. »Entschuldige, Franci, ich rufe dich später zurück, ich habe Besuch.« Sie schaltet den Klingelton aus, doch schon vibriert das iPhone auf dem Tisch erneut.
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil ich Ihre Mutter gestern Abend getroffen habe. Und sie hat da ein paar Dinge gesagt, die mich sehr bestürzt haben.«
Diletta erstarrt, offensichtlich fürchtet sie, was ihre Mutter gesagt haben könnte. »Sie war ein ungewöhnlicher Mensch«, sagt sie dann kühl.
»Sie hatte gerade erst erfahren, dass einer ihrer Freunde gestorben ist«, sagt Ilaria aufs Geratewohl.
»Ach ja, natürlich, Achille. Eine furchtbare Geschichte.«
»Richtig. Und sie schien sehr erschüttert. Sie sagte, dass der Bär nichts damit zu tun hätte.« Ilaria bemüht sich, ihre Informationen häppchenweise preiszugeben, um ihr Gegenüber nicht zu erschrecken.
»Gott, dieser Bär. Sie hat mich bestimmt fünfmal deswegen angerufen! Sie wollte eine Petition aufsetzen, damit er nicht getötet wird. Meine Mutter war überzeugte Tierschützerin, fast schon ein bisschen fanatisch.«
»Das habe ich bemerkt. Sie hat mir Fotos von Sir Simon gezeigt.«
Dilettas Augen füllen sich mit Tränen, sie schüttelt den Kopf. »Auf ihrem Nachttisch standen keine Bilder ihrer Enkelkinder, sondern ein Porträt des Esels. Aber so war sie nun mal.«
»Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil Ihre Mutter an einem gewissen Punkt etwas gesagt hat, was mich sehr beunruhigt hat.« Ilaria schluckt. »Sie war der Ansicht, dass D’Ambrosio nicht von dem Bären getötet, sondern vergiftet wurde.«
Diletta verdreht die Augen. »Noch so eine ihrer Obsessionen: Gift.«
»Also halten Sie das für eher unwahrscheinlich? Sie meinen, ihre Theorie war unbegründet?«
Diletta schüttelt gerührt den Kopf. »Arme Mama«, sagt sie schließlich. »Sie war so leicht zu beeinflussen.«
Als Ilaria wieder auf die Via Senofonte hinaustritt und ihr Handy einschaltet, findet sie eine Nachricht von Commissario Ricci vor. Sofort ruft sie ihn zurück.
»Entschuldige, Max, mein Telefon war aus.«
»Ich wollte dir nur sagen, dass der Gerichtsmediziner davon ausgeht, dass die Kopfverletzungen von einem Eispickel stammen könnten.«
»Einem Eispickel, mit dem man das Eis für Cocktails zerkleinert?«
»Nein, einem Eispickel für Bergwanderer, mit gezackter Haue.«
»Findest du es normal, dass ein Handtaschendieb mit einem Eispickel herumläuft?«
»Ganz sicher nicht. Wir ermitteln schon in die Richtung.«
»Na gut, danke, Max. Halt mich auf dem Laufenden.«
Im Laufschritt kehrt Ilaria in die Redaktion zurück, um den Artikel zu schreiben. Sie schaltet den Computer ein, öffnet ein neues Dokument und hält inne. Sie ruft die Facebook-Seite von Marta Guerra auf, die ihre Tochter glücklicherweise noch nicht gelöscht hat. Wahrscheinlich ist sie noch nicht dazu gekommen, weil sie erst einmal den Schock verdauen und obendrein die Bestattung organisieren muss. Ilaria will so viel wie möglich speichern, bevor es zu spät ist. Sie holt ihr Tablet heraus, das Besana ihr geschenkt hat, und fotografiert Screenshot für Screenshot jeden einzelnen Post. Einige ziemlich überspannt, keine Frage, aber es sind auch rätselhafte Posts darunter (»Wenn der Bär erschossen wird, hebe ich nie wieder die drei Finger der rechten Hand«). In vielen Posts bezieht sie sich auf eine Giftmörderin des achtzehnten Jahrhunderts, Giovanna Bonanno, auch bekannt als die »Alte mit dem Essig«, die 1789 in Palermo gehängt wurde. Das Motto, das Marta Guerra für ihr Profil gewählt hat, ist in Altgriechisch. Ilaria übersetzt: Möge kein Nichteingeweihter eintreten. Was mag das zu bedeuten haben?
Es ist spät geworden, der Redaktionsschluss naht. Vielleicht sollte sie einfach abgeben. Ilaria schreibt den Artikel schnell runter, entschließt sich dann jedoch, noch zu bleiben.
Roberto verabschiedet sich. »Bis morgen, Piatti.«
Es dämmert, auf den Fluren haben die Putzfrauen inzwischen träge mit ihrer Arbeit begonnen. Doch sie rührt sich nicht von ihrem Platz. Sie öffnet eine neue Mail und schreibt an den Gerichtsmediziner in Chur, der den Leichnam untersucht hat. Zu ihrer Überraschung antwortet er sofort und gibt ihr sogar seine Handynummer. Ilaria ruft ihn sofort zurück.
Nach dem Gespräch mit dem Mediziner ruft Ilaria den Ressortleiter an: »Roberto, ich muss dich kurz sprechen.«
»Weißt du, wie spät es ist? Meine Frau hat heute Geburtstag. Ich bitte dich, Ilaria. Willst du, dass ich mich auch noch scheiden lasse? Eins sage ich dir gleich, ich habe nicht vor, wie Besana zu enden.«
»Entschuldige.«
»Na schön, jetzt bin ich eh aufgestanden und steh draußen vor dem Restaurant, also schieß los.«
In so wenigen Worten wie möglich beschreibt Ilaria ihm Marta Guerras Facebook-Seite und nutzt die letzten wertvollen Sekunden, das soeben erfolgte Gespräch mit dem Gerichtsmediziner aus Chur zusammenzufassen.
»Verstehst du? Er hat D’Ambrosios Leichnam gerade eben obduziert.«
»Und er hat tatsächlich gesagt, dass er vergiftet wurde? Können wir ihn zitieren?«
»Nein, das besser nicht. Aber er musste zugeben, dass der Fall komplizierter ist und der Bär nicht die alleinige Todesursache. Gib mir eine Chance, nur eine einzige. Lass mich mit Besana in die Schweiz fahren. Bitte.«
»Besana will mit dem Fall nichts zu tun haben. Ich musste ihn auf Knien anflehen, damit er mir fünfzig Zeilen dazu schreibt. Was glaubst du, was ich mir alles von ihm anhören musste.«
»Ich rede mit ihm«, schlägt Ilaria vor.
»Wenn du meinst«, erwidert Roberto skeptisch, dann seufzt er. »Mir käme ein Artikel über den zerfleischten Typen jedenfalls sehr gelegen. Und irgendjemanden müssen wir ja schicken.«
»Vielleicht kann ich ihn ja überreden, wenn ich ihm sage, dass Becks sicher Spaß daran hätte, über Almwiesen zu tollen.«
»Marco ist verrückt nach dem Hund. Er kommt schon nicht mehr in die Redaktion, weil er ihn nicht mitbringen darf.«
»Eben.«
Als Ilaria gegen Mitternacht nach Hause kommt, sieht sie sich trostlos um. Sie hat schon seit einer Woche keine Wäsche mehr gewaschen, der Wäschekorb quillt über. Und in der Küche gibt es kein einziges sauberes Glas mehr. Wann hat sie das letzte Mal die Bettwäsche gewechselt? Es sieht schlimmer aus als bei Besana. Vielleicht ist es das, was der Job des Krimimalreporters aus einem macht. Oder die Einsamkeit.
Sie hat noch nichts gegessen, und so öffnet sie den Kühlschrank. Aber es ist nur ein Joghurt darin, obendrein abgelaufen. Tatsächlich klebt an der Kühlschranktür ein Zettel: Einkaufen! Dreimal unterstrichen. Seit zehn Tagen hängt er da. Sie schaut auf ihre Deliveroo-App. Sie könnte sich Frühlingsrollen und gebratenen Reis mit Gemüse bestellen. Aber sie fällt fast um vor Müdigkeit. Vermutlich würde sie schon einschlafen, bevor das Essen da wäre.
Sie geht unter die Dusche und stellt fest, dass das Duschgel leer ist. Sie hasst Seife, aber sie hat keine andere Wahl. Früher oder später muss sie sich unbedingt mal einen Tag freinehmen. So kann es nicht weitergehen. Während sie sich abtrocknet, fragt sie sich, ob das wirklich das Leben ist, das sie sich gewünscht hat.
Vielleicht hat sie es sich ja nicht so vorgestellt. Aber sie ist auch selbst schuld. Sie kann sich einfach nicht distanzieren, nie. Da stirbt eine Frau, die sie zufällig kennengelernt, mit der sie sich gerade mal fünf Minuten unterhalten hat, und schon fühlt sie sich verantwortlich. Das ist doch nicht normal. Ein Bär tut, was Bären eben tun, und frisst, was ihm unterkommt. Aber sie fühlt sich verpflichtet herauszufinden, was dahintersteckt. Dabei ist es vielleicht nur ein grausames, seit Urzeiten bestehendes Naturgesetz.
Einmal war sie bei einer Psychologin. Alle haben ihr gesagt, dass das bei ihrer Vergangenheit unbedingt notwendig sei. Es war eine tüchtige und freundliche junge Diplompsychologin, aber sie war nicht lange hingegangen. Auch, weil die Sitzungen zu teuer waren. »Sie haben das Bedürfnis, sämtliche Verbrechen der Welt aufzuklären, weil Sie den Mord an Ihrer Mutter nicht verhindern konnten. Sie müssen sich von diesem sinnlosen Schuldgefühl befreien, Ilaria.« Sinnloses Schuldgefühl. Der Ausdruck geht ihr noch heute manchmal durch den Kopf.
Hätte sie den Mord an ihrer Mutter verhindern können? Natürlich nicht. Und aufklären schon gar nicht, als Sechsjährige. Dass der Täter ihr Vater war, war das Letzte, was sie sich hätte vorstellen können. Im Gegenteil, nach dem Verschwinden ihrer Mutter hat sie sich um ihn gekümmert, als sei er das eigentliche Opfer. Ist es das, was sie sich nicht verzeihen kann? Ist das der Knoten, den sie lösen muss?
Sie hat ihm die Wäsche gewaschen, obwohl sie noch ein Kind war. Sie konnte das. Mama hatte es ja auch getan. Und sie hatte es sich von ihrer Mutter abgeschaut, es war für sie wie ein Spiel gewesen. Vierzig Grad, richtig? Und hier drücken? Sie wusste auch mit dem Geschirrspüler umzugehen, oft hatte sie ihn eingeräumt. Es hatte ihr Freude bereitet. Da sind viele Töpfe drin, soll ich das Intensivprogramm einschalten? Einmal hatte sie sogar versucht zu bügeln und sich dabei die Hand verbrannt. Die schmerzhafte Erfahrung hatte sie wieder zum Kind werden lassen: Sie weinte und brüllte. Mama, Mamaaaa. Doch der Schmerz über den Tod ihrer Mutter hatte sie von einem zum anderen Moment in eine Erwachsene von einem Meter dreiundzwanzig verwandelt. Die, in Abwesenheit des zuständigen Elternteils, die Wohnung sauber hielt, kochte, Wäsche wusch und den Geschirrspüler ein- und ausräumte. Damit sich der Vater nicht allein und vernachlässigt fühlte.
Ilaria schaut sich verwundert um, als ihr klar wird, was für ein Saustall ihre eigene Wohnung geworden ist. Im Grunde eine gesunde Reaktion für die Tochter einer vom eigenen Ehemann ermordeten Hausfrau.
»Habt ihr die Anruflisten überprüft?«, fragt Ilaria Commissario Ricci.
»Natürlich, aber da ist nichts Besonderes zu finden. Außer dass Marta Guerra an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, neun Mal D’Ambrosios Frau angerufen hat. Wahrscheinlich wollte sie ihr ihr Beileid aussprechen.«
»Neun Mal?«
»Tja, sie war halt ein bisschen verrückt. Das sagen alle.«
»Und wo war Signora D’Ambrosio zu dem Zeitpunkt? War sie mit ihrem Mann in der Schweiz?«
»Nein, sie war am Meer, in Sizilien.«
Erneut studiert Ilaria aufmerksam die Anrufliste. Dann hebt sie den Kopf.
»Die Anrufe sind alle ganz kurz, alle nur vierzig, fünfzig Sekunden lang.«
»Vielleicht wollte die D’Ambrosio nicht gestört werden«, erwidert Ricci.
»Findest du das nicht ein bisschen aufdringlich?«
»Worauf willst du hinaus, Ilaria?«
»Ich weiß auch nicht.« Doch dann entschließt sie sich zu reden, damit der Kommissar ihr folgen kann. Sie erzählt ihm von ihrem Gespräch mit Marta Guerra.
Ricci hört ihr skeptisch zu, die Arme vor der Brust verschränkt. »Hör zu, die Frau war total durchgeknallt. Wenn du willst, zeig ich dir die Petition, die sie aufgesetzt hat, um gegen die Tötung des Bären zu protestieren. Dann verstehst du, wovon ich rede.«
Der Appell ist mehrere Seiten lang, Marta Guerra spricht von Tiermord und Psychoterror gegen Sohlengänger, von Hexenjagd. Sie gibt sich empört, behauptet, der Bär M18 sei nicht problematisch, man müsse lediglich Methoden der Abschreckung finden. Sie kommt von der Bedeutung der Biodiversität auf konfuse Argumente, die sich auf Paracelsus und das Licht der Natur beziehen, und schließt mit dem Zitat: »Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.«
Für einen Moment ist Ilaria verblüfft, dann sieht sie den Kommissar an. »Siehst du, dass sie von Gift spricht?«
»Ja, aber sie redet von den Betäubungsmitteln, die den Bären töten können, wenn sie zu hoch dosiert sind.«
Ilaria nickt nicht sehr überzeugt. »Und den Ehemann von Marta Guerra, habt ihr ihn befragt?«
»Er ist tot.«
»Tja, dann hat er wohl ein wasserdichtes Alibi«, erwidert Ilaria und lacht nervös.
»Papa, meinst du, ich kann in meinem Vikings-T-Shirt gehen?«, fragt Jacopo. »Es bringt mir Glück, beim Kickern gewinne ich damit immer.«
Sie sind bei Marina, in wenigen Tagen hat Jacopo mündliche Abiturprüfung.
Besana reißt die Hand hoch, als wollte er ihn ohrfeigen. »Hast du sie noch alle? Du ziehst gefälligst ein Jackett an.«
»Aber Papa, das war zu deiner Zeit. Heute wird man damit ausgelacht. Unser Philosophielehrer unterrichtet in Bermudashorts und Birkenstocks.«
»Das interessiert mich nicht, ich möchte, dass du dich anständig anziehst. Du musst ja nicht unbedingt Krawatte tragen, aber wenigstens eine lange Hose und ein Hemd.«
»Aber Papa, es ist total heiß.«
»Du wirst es überleben. In ein paar Tagen hast du es hinter dir. Na komm, gehen wir es noch mal durch.«
Marco schlägt das Buch über italienische Literatur auf.
»Sag mir doch mal, wie Vergas Ideal der Auster aussieht.«
»Oh nein, bitte nicht Verga! Ich war gar nicht da, als wir den durchgenommen haben.«
»Spielt keine Rolle, er steht auf dem Lehrplan. Ich geb dir einen kleinen Tipp: Was fällt dir zu Austern ein?«
»Champagner?«
»Sehr witzig.«
»Ich sag doch, ich weiß es nicht.«
»Hast du die Malavoglia gelesen?«
»Nein, aber waren die nicht von D’Annunzio?«
»D’Annunzio? Ich bitte dich.«
»Aber natürlich. Der, der irgendwas mit Sport zu tun hatte. War er nicht Athlet oder so?«
»Er war Ästhet, Jacopo. Herrgott noch mal, ich geb’s auf.« Besana erhebt sich.
»Jetzt werd doch nicht gleich sauer.«
»Schon gut. Versuchen wir’s mit Lyrik. Warum wird Ungaretti als ›hermetischer‹ Dichter bezeichnet?«
»Weil man einen Scheiß von dem versteht, was er schreibt?«
»Du gibst dir wirklich überhaupt keine Mühe!« Besana platzt beinahe der Kragen, aber er bringt sich wieder unter Kontrolle und liest seinem Sohn die Definition von Hermetismus vor. »Hörst du mir überhaupt zu? Was gibt’s denn jetzt auf deinem Handy zu sehen?«
»Nichts. Eine Freundin hat auf Instagram ein Foto gepostet.«
Besana seufzt und greift nach dem Geschichtsbuch. »Jetzt bleib mal bei der Sache. Wer war der erste Ministerpräsident des vereinten Italiens?«
»Das ist einfach. Giuseppe Mazzini.«
»Du blöder Esel. Mazzini?«
»Ich meinte Garibaldi.«
»Cavour. Camillo Benso, Graf von. Alles klar?«
»Ach ja, Cavour. Wie Piazza Cavour, wo das Kino ist.«
Besana fasst sich an die Stirn. »Versuchen wir es mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: In welches Land ist Hitler 1939 einmarschiert?«
»Das weiß ich. Italien.«
»Aber nein, Jacopo, Polen. Polen, verdammt noch mal!«
»Opa und Oma haben immer gesagt, dass während des Krieges die Deutschen hier waren.«
»Das war nach 1943. Heilige Scheiße, hast du überhaupt irgendwas gelernt?«
»Ich muss eben alles noch mal wiederholen.«
»Ich würde eher sagen, du musst bei null anfangen.«
In dem Augenblick kommt Marina mit einer Karaffe Eistee herein. »Und? Wie läuft’s?«
»Papa meint, ich weiß nichts«, erwidert Jacopo und breitet die Arme aus.
»Marco, schikanier den Jungen nicht immer so. Keine Sorge, mein Schatz. Mama hilft dir jetzt.«
Gegen sieben Uhr abends ruft Ilaria Besana an. Sie gönnt ihm aber auch keine Verschnaufpause.
»Machst du mir einen Teller Nudeln?«
»Ich bin doch nicht deine Haushälterin.«
»Gehen wir dann was essen?«
»Piatti, wir haben erst gestern zusammen Mittag gegessen. Hast du schon wieder Sehnsucht nach mir? Du bist ja anhänglicher als eine Verlobte.«
»Ich muss mit dir reden«, beharrt sie.
»Hoffentlich nicht über Bären.«
»Sie ist mit einem Eispickel ermordet worden, Marco. Hast du schon mal erlebt, dass jemand mitten in der Stadt mit einem Eispickel für Bergsteiger überfallen wurde?«
»In meinen fünfunddreißig Berufsjahren hab ich schon alles Mögliche erlebt. Raubüberfälle mit einer Spritze, einem Sicherheitsschlüssel, einem kaputten Bierglas, sogar mit einem Nagelknipser. In Kalifornien haben die Verkäuferinnen eines Sexshops mal Vibratoren nach einem Räuber geworfen und ihn so in die Flucht geschlagen.«
Ilaria muss lachen. »Ach, Marco, ich kann nichts dafür, aber ich hab dich gern.«
»Ich dich aber nicht. Vor allem dann nicht, wenn ich mit dir irgendwelchen absurden Fährten nachgehen soll.«
»Also kein Abendessen?«
»Piatti, du hast Glück. Ich habe einen zu großen Steinbutt gekauft, der reicht für zwei. Ich erwarte dich um acht.«
Ilaria sieht auf die Uhr. Es ist halb acht. Sie stürzt nach draußen.
»Armer Becks«, sagt sie, als sie Besanas Wohnung betritt, »er geht hier ja ein bei der Hitze. Du hast nicht mal einen Balkon.«
Er hat bereits verstanden und schüttelt den Kopf. »Versuchst du mir etwa zu sagen, dass er in der Schweiz viel besser aufgehoben wäre?«
»Ich habe mit dem Gerichtsmediziner in Chur gesprochen, Rudi Hofer«, sagt sie mit schuldbewusstem Lächeln. »Er erwartet uns morgen Nachmittag um drei.«
»Uns? Wie zum Teufel soll ich dir klarmachen, dass mich dieser Scheißbär nicht interessiert.«
»Marco, er hat mir gesagt, dass er etwas entdeckt hat.« Sie hebt trotzig das Kinn und sieht ihm direkt in die Augen. »Etwas Merkwürdiges.«
»Seit wann verstehst du Deutsch?«
»Hab ich in der Schule gelernt. Außerdem spricht Hofer perfekt Italienisch. Jedenfalls hatte Marta Guerra recht, der Bär ist nicht allein schuld an D’Ambrosios Tod. Wir könnten es mit einem gerissenen Mörder zu tun haben.«
»Unterschätze niemals einen Bären«, erwidert Besana. Er nimmt die Backform aus dem Ofen und stellt sie auf den Tisch, dann sieht er Ilaria ernst an. »Bären sind sehr intelligente und komplexe Wesen. Und einige von ihnen haben eine dunkle Seite, genau wie Menschen. Auch sie können gerissene Mörder sein.«
Wie tief bin ich gesunken, denkt Besana, während er die Spülmaschine einräumt. Ilaria ist gegangen, ohne ihre Hilfe auch nur anzubieten. Sie sei müde, hat sie gesagt. Dabei ist sie erst siebenundzwanzig, verdammt noch mal. Mittlerweile bin ich schon zu ihrem Assistenten geworden, denkt er, als er den Spültab in die Dosierkammer einlegt.
Sei’s drum, vielleicht hat alles seine Richtigkeit so. Als er angefangen hat, mit ihr zu arbeiten, war sie eine Katastrophe auf zwei Beinen. Wirklich alles musste er ihr beibringen. Sie war nicht mal in der Lage, ein Interview zu führen, und wenn sie nur eine halbe Stunde für einen Artikel hatte, geriet sie in Panik. Die interessanten Nachrichten hatte fast immer er aufgespürt. Jetzt dagegen haben sich die Rollen umgekehrt: Ilaria ist eine unerbittliche Kriminalreporterin geworden. Zwar geht manchmal die Fantasie mit ihr durch, und sie lässt sich von ihrer Begeisterung mitreißen, aber alles in allem ist sie eine brillante Journalistin geworden. Und der alte Besana dackelt ihr brav hinterher. Ohne die Piatti hätte man ihn längst entsorgt. Er ist zum Ersatzrad geworden, zum schwächeren Part eines Duos.
Er drückt auf den Startknopf. Und bleibt an den Küchentresen gelehnt stehen, um zu lauschen, wie das Wasser hereinrauscht. Vielleicht ist die Zeit gekommen, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen. Nicht mehr dauernd irgendwelchen neuen Nachrichten hinterherzujagen. Er könnte Bücher schreiben, wie viele andere in seinem Alter. Vielleicht sogar einen Roman. Bis gestern noch hat er sich stets lustig gemacht über die Journalisten-Schrägstrich-Schriftsteller, die die gesamte Redaktion mit ihren literarischen Ergüssen nerven, und dann muss man sie auch noch rezensieren – und wehe, du sparst mit Adjektiven, dann gibt’s gleich einen Anpfiff vom Chefredakteur. Wir sind doch ein Haufen megalomaner Narzissten, denkt er. Mit dem Presseausweis geben wir uns nicht mehr zufrieden, nein, wir wollen auch noch den Premio Strega gewinnen.
Er muss an den ehemaligen Chefredakteur denken, der mal in einem Interview gesagt hat: Ich bin kein Journalist, ich bin Politologe. Oder ein anderer, der sich auf Wikipedia als »Philosoph und Erkenntnistheoretiker« bezeichnete. Als bezöge er Gehalt und Betriebsrente von der Universität oder der Italienischen Gesellschaft für Philosophie. Besana zündet sich eine Zigarette an und lässt den Blick über das Regal voller Bücher schweifen, die von Kollegen verfasst wurden. Da sind sie. So viel Papier für die Tonne: Aufsätze, Gedichte, Romane, Krimis. Wer gebietet ihnen Einhalt, den Journalisten? Fast scheint es ein ganz und gar naheliegender Schritt, schließlich ist Schreiben ihr Beruf, was macht es schon für einen Unterschied, ob man zwei Zeitungskolumnen füllt oder dreihundert Romanseiten? Und Journalisten sind einflussreich, und oft auch ziemlich nachtragend, also finden sie immer einen Verleger.
Besana nimmt ein Buch aus dem Regal. Der Autor war seinerzeit Herausgeber eines Magazins und hatte sich für eben dieses von einer seiner Mitarbeiterinnen (einer Ex-Geliebten, tuschelte man) interviewen lassen. Bohrende Fragen und kritische Anmerkungen waren also nicht zu erwarten gewesen. Ein anderer Kollege, Chef der Kulturbeilage, hatte schön sichtbar die Rezension zu seinem Buch platziert, geschrieben von einem der angesehensten Literaturkritiker Italiens, der mit den Worten schloss: Danke für dieses Buch, Filippo. Und sich nicht einmal dafür geschämt.
Nein, bevor er so endet, verschwindet er lieber einfach so von der Bildfläche. Das hat er sich geschworen. Er wird nie einen Roman schreiben. Niemals. Auch nicht als Greis, auch nicht im Angesicht des Todes. Auf seinem Grabstein sollen nur drei Worte stehen: Nur ein Journalist.
Chur ist eine gähnend leere und aufgeräumte Provinzstadt. Wo sind nur die Einwohner geblieben? Auf den Straßen ist keine Menschenseele zu sehen. Alles verströmt Langeweile und Wohlstand. Ilaria und Besana spazieren zur spätgotischen Kathedrale, die schrecklich düster wirkt und von Häusern aus dem sechzehnten Jahrhundert umgeben ist, in denen niemand freiwillig wohnen wollen würde. Vor den herrschaftlichen Häusern Stühle mit Schaffell und Papyruspflanzen, die irgendwie fehl am Platz wirken. Mittelalterliche Laternen und Holzhäuser, ebenfalls aus dem Mittelalter, aber mit neuen und hochmodernen Fenstern, leider nach schweizerischem Geschmack dekoriert (vor den Scheiben baumelnde Schmetterlinge, Windrädchen, akkurate Topfpflanzen und Kürbisse auf den Briefkästen).
Die Überdosis Steinböcke ist erdrückend. Brunnen mit Steinböcken, Wappen mit Steinböcken, die vergoldete Kirchturmuhr ringsum verziert mit Steinböcken, ein Obelisk mit Steinböcken. Steinböcke, wohin das Auge blickt. Auch in den Schaufenstern: Steinböcke aus Holz, Steinböcke auf Kissen, Stoffen, Tischdecken.
»Wir müssen unbedingt das berühmte Bärenloch sehen«, sagt Ilaria.
Sie betreten eine enge Gasse, eine Unterführung, die zwei schmale Höfe miteinander verbindet.
»Das ist alles?« Ilaria ist enttäuscht.
Wenigstens Becks ist begeistert: Er schnüffelt, pinkelt überall hin und markiert die Mauern. Unterdessen stimmen Glocken und Glöckchen eine Melodie an, eine Art kollektives, tieftrauriges Kuckuck. Nichts als Stille und Glockengeläut. Eine beklemmende Kombination. Nie sind mehr als zwei Menschen gleichzeitig auf den Straßen zu sehen. Eine Stadt wie geschaffen zum Fotografieren, weil man keine Angst haben muss, dass jemand durchs Bild läuft.
Die einzige Abwechslung zum Steinbock ist der Buddha. Und überall gibt es Geschäfte, die der Gesundheit gewidmet sind: Praxen, die Reha, Massagen, Physiotherapie anbieten, Naturkostläden, Heilkräuterläden, mit Schaufenstern im unpassenden Ostasien-Stil. Der Triumph der Naturheilkunde: Bachblüten, Geschäfte, die sich auf Steine spezialisiert haben, die Auslagen spärlich mit ein paar Kunstpflanzen dekoriert, daneben langatmige Erklärungen auf Deutsch. Drogerien, Apotheken und Läden, die sich der Wellness verschrieben haben – Allheilmittel gegen die Verzweiflung. Selbst in den Buchläden ausschließlich Bücher über Alternativmedizin und alternative Religionen, sonst nichts.
Anscheinend haben die Leute hier nur den einen Wunsch: sich mit irgendetwas zu betäuben. Und so schießen die Gegenmaßnahmen aus dem Boden – Placebostrategien an jeder Ecke. Bis hin zur modernsten Straße, in der wie ein Leuchtturm ein Cannabisladen emporragt. Ringsum nur Migranten. Von dem ein oder anderen durch und durch autochthonen Junkie oder Alkoholiker abgesehen.
»Ich brauche ein Bier«, verkündet Besana.
Die tiefe Schweiz macht selbst ihn fertig, der die letzten Kuhdörfer der italienischen Provinz gewohnt ist. Die auf ihre Weise noch einladend sind.
Sie kommen am x-ten Brunnen mit Steinbock vorbei, der gern ein Löwe wäre, an einem Renaissancehaus mit einem Zwerg als Karyatide, die x-te menschenleere Straße, durch die jemand auf dem Fahrrad rast, als wäre er auf der Flucht, die x-te blitzblanke Straße. Nicht eine Zigarettenkippe auf dem Boden, alle zwei Meter ein Mülleimer. Der einzige Hinweis, dass die Moderne auch vor diesem Ort nicht haltgemacht hat, ist ein libanesisches Restaurant im alten Haus zum Bären.
»Ich ertrage dieses verdammte Kaff nicht länger, ein Himmelreich für ein Bier«, sagt Besana immer wieder, fast wie ein Mantra.
Aber Ilaria hört gar nicht hin. Sie betrachtet fasziniert ein paar alte Schweizerinnen: alle etwas nachlässig gekleidet, aber gut in Schuss, vermutlich, weil sie viel zu Fuß gehen und oft an der frischen Luft sind. Kein Lippenstift, kein Schmuck, kurz geschnittene weiße Haare, nicht gefärbt, burschikose Kleidung. Nicht der Hauch von Koketterie. Aber ihre Gesichter sind frisch, ihr Gang schwungvoll. Sie strahlen eine ganze eigene wunderbare, schlichte Frische aus.
»Sieh mal, wie toll sie aussehen.«
»Wer?« Besana kann an nichts anderes mehr als eine Kneipe denken. Irgendwo muss doch eine sein.
Endlich findet er eine und stürzt hinein. Was kein Fehler ist. Sie scheint das Epizentrum einer irgendwie gearteten Form menschlichen Lebens zu sein, sofern es hier überhaupt existieren kann. Endlich ansatzweise so etwas wie Wärme und Vergnügen, das sich wortreich manifestiert, mit Stift an die Wände geschrieben oder in die Tischplatten geritzt. Die Worte der Rolling Stones in gotischen Buchstaben wärmen ihm das Herz. Was für eine Erleichterung. Offensichtlich stammen die Kritzeleien von Leuten, die sich volllaufen lassen müssen, um zu spüren, dass sie am Leben sind, aber sei’s drum. Eine Kuckucksuhr made in China, gesponsert von Calanda, mit einem Bier als Pendel, erinnert alle daran, dass es Mittag ist.
»Lass mich schnell was trinken, bevor wir zu dem Gerichtsmediziner gehen.«
Ilaria und Besana fahren in eine Parkgarage. Sie müssen Becks bei heruntergelassenem Fenster im Wagen lassen, er darf nicht mit ins Krankenhaus. Doktor Rudi Hofer erwartet sie in der Abteilung für Gerichtsmedizin. Er sieht erschöpft aus, doch seine Augen blicken hellwach und verleihen ihm etwas Ironisches, was nicht so recht zu seiner restlichen Erscheinung passen will. Vielleicht der Blick eines Menschen, der dieses Metier gut genug kennt, um zu wissen, dass man sich manchmal auch vor Leichen in Sicherheit bringen muss.
»Willkommen«, sagt er auf Deutsch.
Sie geben einander die Hand.
»Ich treffe mich eigentlich nicht gern mit Journalisten, die meisten sind oberflächlich.«
Ilaria und Besana wechseln einen traurigen Blick. Da ist es wieder, das alte Klischee. Ob es wohl eine Berufsgruppe gibt, über die mehr Vorurteile kursieren? Es ist müßig, immer wieder erklären zu müssen, dass es ja auch unter Ärzten welche gibt, die ihren Beruf anständig machen, und andere, die es nicht tun. Sie gehören nur zufällig derselben Berufsgruppe an und haben sonst nicht viel gemeinsam.
»Aber bei Ihnen ist das etwas anderes«, fährt der Arzt fort. »Ich habe Ihre Ermittlung über den Serienmörder in der Bergamasca verfolgt, das war wirklich faszinierend.«
»Danke«, antworten beide.
»Sie haben gute Arbeit geleistet.«
»Zum Glück.«
»Deshalb wollte ich persönlich mit Ihnen sprechen.«
Besana und Piatti bedanken sich erneut und seufzen erleichtert. Glück gehabt.
Der Gerichtsmediziner breitet ein paar Fotos auf dem Schreibtisch aus. Ilaria fällt es schwer hinzusehen, aber sie zwingt sich dennoch dazu. Besana setzt seine Brille auf.
»Wie Sie hier sehen, hat der Bär ihn ziemlich übel zugerichtet«, sagt Hofer. »Was mich allerdings überrascht hat, ist, dass er so oder so gestorben wäre.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Er wäre innerhalb kürzester Zeit erstickt. Ein anaphylaktischer Schock aufgrund einer heftigen allergischen Reaktion.«
Er legt eine lange Pause ein.
»Ich habe in der Lunge, an den oberen Atemwegen einschließlich Kehlkopf und Kehldeckel, auf der Haut und an den inneren Organen oder dem, was davon übrig ist, Gewebsödeme festgestellt.«
»Was kann die allergische Reaktion hervorgerufen haben?«
»Noch kann ich nicht sagen, was das auslösende Antigen war. Ich kann lediglich Vermutungen anstellen, indem ich bestimmte Ursachen ausschließe. Es sind keine Insektenstiche festzustellen, allerdings muss man den Zustand des Leichnams und das Fehlen einiger Körperteile berücksichtigen. Der toxikologischen Untersuchung zufolge scheint er keine Medikamente genommen zu haben, das ist das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen können. Bleiben die Lebensmittelallergien. Leider können wir den Darminhalt nicht überprüfen, ohne den Bären zu obduzieren.«
»Oh Gott.« Ilaria verzieht das Gesicht.
»Dafür haben wir an Lippen und Fingern Spuren von Schokolade gefunden, die unser Labor derzeit analysiert. Ich rechne jeden Moment mit dem Ergebnis.«
»Hat er denn nicht versucht, Hilfe zu rufen?«
»In dem Gebiet gibt es keinen Handyempfang, er konnte keinen Notruf absetzen. Man hätte ihm sofort Adrenalin spritzen oder eine Sauerstoffmaske aufsetzen und ein Antihistaminikum verabreichen müssen. Bei einem anaphylaktischen Schock geht alles sehr schnell, innerhalb kürzester Zeit treten Schluckbeschwerden auf, es kommt zu einer akuten Verkrampfung der Bronchialmuskulatur, der Betroffene kann nicht mehr sprechen, geschweige denn schreien. Ohne Hilfe überlebt man maximal sechzig Minuten. Und der Bär hatte ein erstaunlich gutes Timing, er ist genau zu dem Zeitpunkt aufgetaucht, als der Mann nicht mehr in der Lage war, wegzulaufen oder sich zu verteidigen.«
In diesem Moment kommt eine junge blonde Frau im Kittel herein und überreicht dem Arzt die Laborergebnisse.
»Eine seltsame Schokolade«, sagt Hofer nachdenklich, während er liest. »Man hat Spuren von Tropomyosin gefunden.«
»Was ist Tropomyosin?«
»Ein Eiweiß, das in Krusten- und Schalentieren enthalten ist. Aber normalerweise nicht in Schweizer Schokolade.« Er lacht. »Verzeihen Sie, aber in meinem Beruf darf man sich nun mal keine Gefühle erlauben. Ich muss mir immer wieder sagen, dass der Leichnam vor mir auf dem Tisch nicht ich bin, dass es nicht mein Schicksal ist.«
»Und könnte das Tropomyosin die allergische Reaktion ausgelöst haben?«
»Allerdings«, bestätigt er. »Es ist eine der unbekannteren Allergien, aber eine der gefährlichsten. Tropomyosin ist hitzestabil, übersteht also den Kochprozess. Und ist außerdem verdauungsresistent. Wer gegen Krusten- und Schalentiere allergisch ist, muss äußerst vorsichtig sein. Schon eine verschwindend geringe Menge kann Reaktionen auslösen. Mitunter genügt schon der Hautkontakt oder das Einatmen des Moleküls. Bestenfalls ruft es Nesselausschlag oder Asthma hervor, schlimmstenfalls führt es zum Tod.«
»Glauben Sie, die Kantonspolizei wird den Fall als Unfall zu den Akten legen?«
»In meinem Beruf geht es nicht darum herauszufinden, warum jemand gestorben ist, sondern woran«, erwidert der Arzt. »Die Frage, die ich mir stelle, lautet: Ist es ein natürlicher Tod oder nicht? In diesem Fall ist es ein natürlicher Tod. Er ist von einem Bären zerfleischt worden, bevor er an der Schokolade sterben konnte. Er hatte einfach doppelt Pech.«
Eingeschüchtert betrachten Besana und Piatti die Fassade des Kempinski Grand Hotel des Bains in St. Moritz.
»Dafür, dass er bis an den Hals verschuldet war, hat er es sich aber gut gehen lassen«, bemerkt Besana.
»Die haben hier Suiten für vier-, fünftausend Euro die Nacht. Ich habe nachgesehen«, erwidert Ilaria.
Als sie die Eingangshalle betreten, wedelt Becks aufgeregt mit dem Schwanz und schnüffelt an den Teppichen.
»Bitte nicht, Becks, mach hier bitte nicht Pipi.«
Sie gehen zur Rezeption, erklären, dass sie Journalisten sind und mit dem General Manager sprechen müssen. Dann warten sie eine Weile auf ihn. Schließlich kommt ein Schweizer in den Fünfzigern mit runder Brille und zu großem Krawattenknoten. Er ist sehr freundlich, aber auch ein wenig misstrauisch.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagt er und deutet auf einen niedrigen Tisch mit Sesseln ringsum.
Sowie sie Achille D’Ambrosio erwähnen, hebt er abwehrend die Hände. »Ich sage Ihnen gleich, wir wollen keine negative Publicity für unser Hotel, und Bären kommen hier nicht rein. Darüber hinaus legen wir hier größten Wert auf Vertraulichkeit, wir geben keinerlei Auskünfte über unsere Gäste.«
»Wir haben soeben vom Gerichtsmediziner erfahren, dass Herr D’Ambrosio an einer Lebensmittelallergie litt«, kontert Besana. »Hat er das Hotel darüber in Kenntnis gesetzt?«
Das Gesicht des General Managers verhärtet sich, wahrscheinlich sieht er das Hotel bereits auf Schadensersatz in Millionenhöhe verklagt.